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10.
Оглавление»Okay, wo soll’s hingehen?«
Lars hatte ruckzuck den Schrank in seine Einzelteile zerlegt und diese mitsamt Mias Fahrrad in seinem Lieferwagen verstaut. Nun sprang er energiegeladen hinters Steuer. Mia stieg auf den Beifahrersitz.
»Moosstraße.«
»Ist nicht dein Ernst. Kann man da wohnen?«
»Gewerbe-Mischgebiet.« Sie hatte sich die Gegend nicht ausgesucht. Nicht freiwillig. Wohnen in Bamberg war teuer geworden, und sie konnte sich nichts leisten, was näher an der Innenstadt lag. In den letzten Monaten hatte sie jedoch die Vorzüge dieser Lage schätzen gelernt. Es gab ein Café mit Konditorei ein paar Meter die Straße runter. Manchmal frühstückte sie da. In der Nähe lag ein Biomarkt. Am Wochenende herrschte Ruhe, Touristen waren in interessanteren Stadtteilen unterwegs. Und es war auf alle Fälle besser, in einer eigenen Wohnung zu wohnen, als bei den Eltern unterzukriechen.
Lars legte den Gang ein. Der Motor zickte, bevor er ansprang.
»Man merkt, dass Osterferien sind, finde ich. Weniger Verkehr als sonst.« Lars schaltete das Radio ein. BR-Klassik. Violinenklänge. »Tschaikowsky. Ich wette, das ist Tschaikowsky.«
Mia schielte auf das Radiodisplay.
»Stimmt. Bist du Klassikfreund?«
»Ich habe sogar ein Abo bei den Symphonikern. Hättest du nicht gedacht, was?« Er summte ein paar Takte mit. »Klassik habe ich schon immer geliebt. Meine Oma hatte ein Album mit Schellackplatten. Klassische Musik. Aufnahmen, die sie als Jugendliche gesammelt hatte. Als ich ungefähr 14 Jahre alt war, habe ich das entdeckt und bin in eine neue Welt eingetaucht.«
»Ungewöhnlich für einen Jungen in der Pubertät.«
»Wahrscheinlich habe ich sie deshalb ohne Drogen überstanden. Die Musik war meine Droge. Vor allem die Russen. Tschaikowsky. Rachmaninow. Das zweite Klavierkonzert von ihm hat mich umgehauen.«
Mia musste zugeben, dass dieser Mann in seinen Cargohosen sie neugierig machte. »Wieso?«
»Das ging mir wahnsinnig tief. Ist heute noch so. Die Musik trägt einfach immer. Wie eine Arznei ohne Nebenwirkungen.« Er lachte. »Ist das hier die Moosstraße?«
»Ja, fahr einfach noch 100 Meter weiter und halte vor dem Haus mit den gelben Fensterläden an.«
»Klar doch. Hier?«
»Hm.«
Er hielt und drehte den Zündschlüssel. Die Musik brach ab.
»Schade«, murmelte Mia.
»Wenn du willst, überspiele ich dir mal was. Wobei ich ja am liebsten Platten höre. Vinyl. Auf meinem guten alten Dual-Plattenspieler.«
»Ich habe mir sagen lassen, Vinyl wäre wieder im Kommen, vor allem bei den echten Musikliebhabern.«
»Es war nie aus der Mode, genau genommen.« Lars sprang aus dem Wagen. »Welche Etage?«
»Erste.« Mia drückte die Haustür auf.
»Nimm die Bretter.« Lars drückte ihr einen Stapel Einlegeböden in die Arme.
Mia stieg die Treppen nach oben, stellte die Bretter ab und steckte den Schlüssel ins Schloss. In der Wohnung roch es muffig. Rasch stieß sie die Fenster im Wohnzimmer auf.
Ein paar Minuten später hatte Lars alles andere nach oben geschleppt.
»Wo soll der Schrank hin?«
Sie führte ihn ins Schlafzimmer. »An die linke Wand .«
»Räum doch zuerst mal die Kartons beiseite.« Er machte sich an seinem Werkzeugkasten zu schaffen.
Ich muss ihm mehr bezahlen, dachte Mia, während sie die Umzugskisten an die andere Wand schob. Er ist jetzt schon eine Stunde lang mit mir zugange. Und mit dem Schrank natürlich. Sie musste unwillkürlich grinsen. Es tat gut, eine Weile nicht an den Schädel zu denken. Aber gerade jetzt drängte sich das ganze Elend wieder in ihre Gedanken. Ob André noch bei der Polizei war? Jetzt rief sie ihn lieber nicht an, für den Fall, dass Eyrich noch nicht mit ihm fertig war.
»Willst du was trinken?«, fragte Mia.
»Ehrlich gesagt schon: Hast du ein Bier?«
»Habe ich.« Sie ging in die Küche. Nur eine winzige Nische, in der kaum zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Aber ihre Küche. Mit zwei Flaschen kam sie zurück.
»Danke.« Er nahm einen tiefen Zug. »Schön kalt. Seit wann wohnst du hier?«
Die Hinterwand des Schranks stand bereits.
»Ein paar Monate.«
»Wo hast du denn studiert?«
»In München und Florenz.«
»Nein, echt?«
»Wirklich!« Mia lachte. »Wo sonst sollte man Kunstgeschichte studieren? Wenigstens zwei Semester Italien mussten sein.«
Lars betrachtete ihr Gesicht einen Moment. Es kam ihr vor, als gefiele ihm, was er sah. Er lächelte. »Nee, da hast du echt recht.« Er stellte die Flasche ab. »Ich mache mal weiter.«
Im Nu hatte er das Möbelstück montiert. Mia reichte ihm die Einlegeböden zu. Fast tat es ihr leid, dass sie so schnell fertig waren.
»Warum bist du nicht in Italien geblieben? Da gibt es bestimmt eine Menge Arbeit für Kunsthistoriker.«
»Dort ist auch nicht alles Gold, was glänzt.« Mia würde ihm nicht sagen, dass sie im Hinblick auf einen Job nie richtig in die Gänge gekommen war. Sie hätte mehr tun können: Kontakte ausnutzen, sich breiter bewerben.
Hätte, hätte, Fahrradkette.
»Kann ich mir vorstellen.« Er griff wieder zum Bier.
Mias Handy klingelte. André.
»Entschuldige, da muss ich ran.«
»Klar.«
»Hallo, André? Wie geht’s dir, ist alles in Ordnung?«
Sie verließ das Schlafzimmer, wo Lars nun mit einem Lappen über die Einlegeböden fuhr und die Türen auf Leichtgängigkeit testete.
»Verdammt, Mia, ich halte das nicht aus.«
»Hat er dich in die Mangel genommen?«
»Ich gelte denen nach wie vor als Verdächtiger Nummer eins.«
Mia konnte Andrés Verzweiflung deutlich hören.
»Das ist Unsinn. André, du hast ein bombensicheres Alibi.«
»Vielleicht habe ich einen Killer angeheuert.«
»Das ist doch nicht dein Ernst.«
»Meiner nicht.«
Mia ging ins Wohnzimmer, setzte sich an ihren Schreibtisch. Dort lag die zweite Zeichnung von Monika. Die mit Haaren, die ganz eindeutig Monika war.
»Sie haben nicht den geringsten Hinweis dafür«, versuchte sie, André zu beruhigen.
»Bisher nicht. Sie haben auch sonst nichts. Wo, bitte, soll Eyrich neue Zeugen hernehmen? Neue Beweise? Da ist nichts zu holen. Bloß: Irgendjemand hat Monika ermordet. Elf Jahre sind ins Land gegangen. Ich muss mich damit abfinden, dass ich nie erfahren werde, was wirklich passiert ist.« Er holte tief Luft. »Das werde ich nicht mehr los, Mia. Ich komme nicht klar. Alles bricht wieder auf.«
Mir geht es genauso, dachte Mia müde. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die feinen Linien von Monikas Gesicht. Die Stupsnase, das spitzbübische Lächeln, die Ohrhänger.
»Sollen wir uns treffen? Ich komme zu dir.«
»Sei mir nicht böse, Mia. Ich muss eine Runde schlafen. Habe die halbe Nacht wach gelegen. Ich bin hundemüde.«
»Wo bist du jetzt? Bist du inzwischen zu Hause?« Sie merkte selbst, wie kontrollierend sie sich ihm gegenüber verhielt.
»Ich stehe vor der Polizeidirektion.«
»Wir könnten uns in der Nähe treffen. Auf eine Pizza?«
»Nicht jetzt.«
»Du wirst doch nicht trinken, André?«
Er legte auf.
»Shit.« Mia ließ das Smartphone sinken.
»Dein Freund?« Lars lehnte in der Tür, die Bierflasche lässig in der Hand.
Wütend starrte sie ihn an. Was ging ihn das an?
»Entschuldige. Ich wollte nur sagen, ich bin fertig.«
»Danke. Was bin ich dir schuldig?« Die Frage fühlte sich falsch an. Eben noch hatte Mia seine Gesellschaft genossen, nun war sie sie leid.
»Gib mir 25 für den Schrank. Er steht wie eine Eins. Ich habe ein bisschen was untergelegt. Der Boden ist nicht ganz gerade.«
Mia nahm wortlos ihren Geldbeutel aus der Tasche.
»Das war nicht mein Freund«, sagte sie leise.
»Schon okay, es geht mich nichts an. Du hast keinen Freund.«
Sie sah auf, drei Zehner in der Hand. »Wie kommst du …«
»Du lebst allein, und es ist niemand da, der dir mit einem Schrank helfen könnte. Außerdem wirkst du einsam.«
Mia stieß ein ärgerliches Lachen aus.
Er hob die Hände in einer defensiven Geste. »Sorry. Ich …«
»Kennst du diese Frau?« Mia hielt ihm die Zeichnung von Monika hin.
Neugierig griff er danach. »Nie gesehen. Wer ist sie?«
»Monika Böhme. Sie ist vor elf Jahren spurlos verschwunden. Vor Kurzem haben Waldarbeiter ihren Schädel in der Nähe des Ellertals gefunden.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Leider nicht.« Mia legte die Hand auf ihren Magen. Der Krampf ebbte ab, bevor er richtig begonnen hatte. »Sie ist ermordet worden.«
Lars schluckte. »Wer ist sie? Deine Schwester?« Er legte das Blatt auf den Schreibtisch.
»Wieso denkst du das?«
»Also, nicht, dass ihr euch ähnlich seht …«
»Aber?«
»Da ist so ein Ausdruck. In deinem Gesicht. Und in ihrem hier auch. Was Hintergründiges. Schwer zu greifen. Ich kenne dich ja erst seit ein paar Stunden.«
»Monika war meine Freundin. Die beste, die ich je hatte. Als sie starb, war sie 34. Verflucht jung, oder?« Mia blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. »André, der eben angerufen hat … er ist ihr Mann. War ihr Mann. Die beiden haben sich wirklich geliebt. Ein Traumpaar. Die Polizei sagt, es sei nicht mehr nachzuvollziehen, ob der Schädel nach ihrem Tod vom Körper getrennt oder ob sie sozusagen geköpft wurde.«
»Ach du Scheiße!« Lars setzte sich aufs Sofa.
»Kann man wohl sagen.«
»André ist damals zusammengebrochen. Er hat zu trinken angefangen, sein Restaurant aufgegeben.«
Ihr Handy gab Laut. Sie ignorierte die Nachricht.
»Zum Glück kam er weg vom Alkohol. Ich habe Angst, dass er rückfällig wird. Die Polizei hat keine neue Spur. Die haben mich heute wieder befragt. Sie meinen, die beste Chance, Monikas Mörder zu finden, wäre, neue Zeugen aufzutreiben. Leute, an die man seinerzeit nicht gedacht hat. Bloß, woher nehmen und nicht stehlen?«
Lars zog das bunte Stirnband herunter und band damit seine Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Man müsste ein Detail finden. In der Persönlichkeit des Opfers.«
»Was meinst du damit?«
»Irgendeine Variable, etwas Individuelles, das dieses Opfer von allen anderen Menschen unterscheidet.«
Mia verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, aber seine Worte gaben ihr das Gefühl, dass von irgendwo frische Luft herbeiströmte.
»Eine Kleinigkeit, die bei den Ermittlungen bisher niemandem ins Auge fiel oder nicht bekannt war. Nein, warte: Diese Kleinigkeit war bekannt, sie lag wahrscheinlich sogar offen vor den Augen aller da, und gerade deshalb hat sie niemand beachtet.«
»Was sollte das sein?«
Lars strich sich über die Stirn. »Jeder Kriminalfall weist etwas Einzigartiges auf. Schwer zu präzisieren, wenn man gar keine Anhaltspunkte hat. Oft handelt es sich um einen speziellen Charakterzug des Opfers, der schließlich zu einer Eskalation führt.«
»Eskalation?«
»Wenn ein Mord geschieht, brennen alle Sicherungen durch.«
Mia lehnte sich zurück. »Müsste man, um das zu beurteilen, nicht die Persönlichkeit des Mörders kennen?«
»Das wäre natürlich einfach. Aber da uns das nicht möglich ist, müssen wir uns auf die Wesenszüge des Opfers konzentrieren.«
Ein individuelles Charaktermerkmal des Opfers. Mia schüttelte den Kopf. »Ich stehe da wie der Ochs vorm Scheunentor. Mir fällt absolut nichts ein.«
»In der Theorie klingt es immer einfacher, als es in der Praxis ist. Um ehrlich zu sein, ich habe nur ein Semester lang ein Seminar in Operativer Fallanalyse belegt.« Er legte den Kopf schief. »Du willst ihn finden, oder?«
»Wen?«
»Den Mörder.«
Sie verschränkte die Arme. »Wie soll ich den Mörder finden? Nach so vielen Jahren! Wenn die Polizei es nicht geschafft hat …«
»Sie war deine Freundin. Du kanntest sie besser als die Ermittler.«
Womit er recht hatte.
»Deswegen bist du diejenige, die den entscheidenden Hinweis liefern kann.«
Vielleicht lag er richtig. Mia nickte langsam.
»Ich glaube, da ist was Wahres dran.«