Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 12

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Toni kam in die Küche der Berghütte. Er lächelte Anna an.

»Es ist Zeit für unsere kleine Pause!«, sagte er.

Anna warf einen Blick auf die Küchenuhr.

»Die Zeit vergeht so schnell! Lass mich dies hier noch fertig machen!«

Toni lächelte seine Frau an.

»Nix da, des kann warten!«

Toni trat hinter sie und zog die Schleife der Schürzenbänder ihrer Küchenschürze auf, die Anna über ihrer Dirndlschürze trug.

»Toni!«, rief Anna. »Kannst du nicht warten?«

»Naa, des kann ich net! Und ich will des auch net, besonders heute net.«

Er zog seiner Frau die Arbeitsschürze aus und reichte ihr einen Becher mit Kaffee. Liebevoll legte er den Arm um ihre Schultern und ging mit ihr hinaus auf die Terrasse der Berghütte. Wenn es möglich war, machten Toni und Anna jeden Morgen eine kleine Pause, nämlich dann, wenn die Hüttengäste nach dem Frühstück zu ihren Bergtouren und Wanderungen aufgebrochen oder abgereist waren. Erst zum Mittagessen füllte sich die Berghütte wieder.

»Des wird eine ruhige Woche geben, mei, des gefällt mir!«

Toni schaute Anna an.

»Oder hat meine Finanzchefin Bedenken?«

Mit der Frage spielte Toni auf Annas Beruf an. Anna, die mit vollen Namen Dorothea Annabelle hieß, war Bankerin gewesen, bevor sie Tonis Frau wurde. So war es nicht verwunderlich, dass sich Anna um die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Hüttenbetriebes kümmerte.

»Nein, ich bin auch ganz froh, dass es einmal einige Tage ruhiger ist.«

»Es sind net nur einige Tage, Anna, es ist eine ganze Woche. Diese Betriebsgruppe hatte den ganzen Hüttenboden reserviert und einige Kammern.«

»Sie mussten die Betriebsferien verschieben, weil die Firma einen größeren Auftrag bekommen hat. Das ist doch schön, dass es bei ihnen so gut läuft, in der heutigen Zeit. Sie haben gesagt, sie kommen in einigen Wochen. Ich freue mich auf die ruhigeren Tage.«

Anna sah Toni an und lächelte.

»Wir haben auch viel mehr Zeit für uns und für die Kinder. Wenn es nicht so voll ist, dann kann Alois die Berghütte einen Tag übernehmen und wir machen mit den Kindern einen Ausflug oder eine schöne Wanderung. Was hältst du davon?«

»Des ist eine prächtige Idee, Anna. Wie wäre es, wenn wir mit den beiden eine Nacht oben im ›Paradiesgarten‹ biwakieren?«

»Ich habe eher daran gedacht, mit den beiden einen längeren Tagesausflug zu machen, vielleicht auch zu übernachten. Ich dachte daran, meine Freundin Sue in Frankfurt zu besuchen. Ich könnte dann mit Sue mal so wieder richtig tratschen. Derweil könntest du mit Franziska in den Zoo gehen. Sebastian könnte das Architekturmuseum besuchen.«

»Das ist eine gute Idee! Es muss ja nicht gleich morgen sein oder?«

Anna warf Toni einen Blick zu.

»Du hast noch etwas anderes auf deiner Liste?«

»Ja! Ich will den Hüttenboden renovieren. Wir räumen alles aus und streichen neu. Das können wir sonst nur im Winter machen. Aber jetzt bei dem schönen Wetter trocknet die Farbe viel schneller und die Matratzen können gut in der Sonne lüften.«

»Gute Idee, Toni! Dann lass uns damit anfangen.«

Toni gab Anna einen Kuss aufs Haar.

»Langsam, langsam, Anna! Jetzt trinken wir in Ruhe unseren Kaffee und genießen die Aussicht. Was ist das heute wieder für ein schöner Tag!«

»Ja, das ist er!«

Anna lächelte Toni an und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir keinen Hüttengast hatten, dass nur du und ich und der alte Alois allein hier waren.«

»Des ist schon eine ganze Weile her«, rief Alois.

Er saß nebenan am Tisch und las die Zeitung. Er faltete sie und legte sie neben sich auf den Stuhl.

»Des kam schon früher bei mir mal vor, dass eine große Reisegruppe abgesagt hat oder erst später gekommen ist. Des ist net so tragisch, ganz im Gegenteil, dann wird eben Großputz gemacht«, sagte der alte Alois. »So hab’ ich des früher auch immer gemacht.«

Er bot an, die Aufgaben in Küche und Wirtsstube zu übernehmen, so könnten Toni und Anna die Arbeit auf dem Hüttenboden erledigen.

»Dann seid ihr spätestens übermorgen damit fertig. Ich halte des für eine gute Idee, mit den Kindern nach Frankfurt zu fahren. Des macht den beiden bestimmt Freude. Euch tut so ein Kurzurlaub auch gut. Um die Berghütte müsst ihr euch net sorgen. Ich koche meine beliebten Eintöpfe. Die schmecken gut und alle werden satt.«

Der alte Alois grinste.

»Trinkt schön euren Kaffee aus, dann geht es an die Arbeit! Ich freue mich darauf, mal wieder so ganz und gar Hüttenwirt zu sein. Des ist wie ein Jungbrunnen für mich.«

»Ja, Alois, wenn die viele Arbeit, die du ganz alleine machen willst, ein Jungbrunnen für dich ist, dann wollen wir des net verhindern. Des wäre ja direkt eine Sünd’, meinst net auch, Anna?«, lachte Toni.

Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen hinauf auf den Hüttenboden, um mit dem Großputz und der Renovierung zu beginnen.

Aus der Küche der Berghütte schallte Alois brummige Stimme herauf, und die Volkslieder aus den Bergen, die er vor sich hin trällerte.

*

Nieselregen hüllte die Stadt ein. Saskia Pirner trat aus der Hintertür und lief über den Hof. Sie holte ein trockenes Handtuch aus den großen Taschen ihrer Regenjacke und wischte den Sattel ihres Fahrrades ab. Sie schwang sich auf das Rad und fuhr zum Hof hinaus. Der Regen legte sich wie eine feine Feuchtmaske auf ihr Gesicht. Die Kapuze rutschte ihr immer wieder vom Kopf. Ihre Hände wurden klamm. Nach fast einer halben Stunde Strampelei kam sie endlich bei der Zeitung an. Sie stellte ihr Fahrrad an die Wand neben dem Druckereigebäude, aus dem der Lärm der Druckmaschinen heraus hallte. Saskia liebte dieses Geräusch. Ihr Vater und ihr Großvater waren Drucker gewesen. Sie hatten ihr die Liebe zu allem vermittelt, was lesbar war und gedruckt wurde. Für Saskia wäre es denkbar gewesen, das Handwerk des Druckers zu erlernen. Aber ihr Vater hatte ihr davon abgeraten, nicht weil sie ein Mädchen war, sondern weil die Elektronik und die Computer die Arbeit in der Druckerei verändert hatten.

»Kind, gehe weiter zur Schule«, hatte ihr Vater gesagt. »Es werden Leute gebraucht, die dafür sorgen, dass etwas Gutes in einer Zeitung steht, gleich wie sie auch hergestellt wird.«

So hatte Saskia ihr Abitur gemacht und die Journalistenlaufbahn eingeschlagen. In einem halben Jahre würde sie ihr Examen in Publizistik machen. Jetzt waren Sommersemesterferien. Saskia absolvierte ein Praktikum bei der Zeitung. Es war ein Traum von ihr, dort eines Tages eine Stelle zu bekommen. Dass es ein Traum war, dessen war sich Saskia bewusst, aber sie hatte schon immer an Träume geglaubt und daran festgehalten. Als zukünftige Reporterin brachte sie die Jugendlichkeit und Sorglosigkeit mit, die alle Berufsanfänger auszeichnete. Kurz, Saskia ging auf ihr Ziel los.

Den Klang der ratternden Druckmaschinen in den Ohren, eilte sie über den Hof, der zwischen der Druckerei und dem alten zweistöckigen Redaktionsgebäude lag. Hinter der Hintertür saß ein alter Pförtner, ein Drucker, der schon lange in Rente war und sich auf diese Weise etwas dazu verdiente.

»Guten Morgen, Onkel Fritz!«, grüßte sie ihn.

Als kleines Kind hatte er sie auf seinen Knien geschaukelt und ihr Bleibuchstaben geschenkt. Saskia mochte den alten Mann, der für sie ein Nennonkel war.

»Guten Morgen, Saskia! Warte, ich muss dir etwas sagen!«

Bis der alte Mann am Stock aus seiner Pförtnerloge kam, hatte sich Saskia aus der Regenjacke geschält.

»Hänge das Ding bei mir neben die Heizung! Die nasse Jacke kannst net mit raufnehmen. Heute Morgen musst du adrett aussehen, Kind! Besonders gut musst aussehen!«

»Wieso?«

Der alte Mann musterte sie von oben bis unten. Saskia trug eine Jeans und eine bunte Bluse. Ihre Füße steckten in weißen Joggingschuhen.

Der alte Mann blinzelt ihr zu.

»Du sollst zum Chef, zum Seniorchef!«

»Oh!« Saskia errötete.

»Hast etwas angestellt? Der Alte hatte mich gleich heute früh auf dich angesprochen.«

»Angestellt …, Onkel Fritz, ich weiß nicht, ob ich das so nennen kann?«

»Rede nicht so lange drum herum. Was hast du gemacht? Du musst etwas ausgeheckt haben, sonst würde der Alte net mit dir reden wollen. Sollst net in die Redaktion gehen, sondern sofort zu ihm kommen. Womit hast du seine Aufmerksamkeit erregt?«

»Ich habe ihm vor zwei Tagen meine Bewerbung auf den Schreibtisch gelegt, als er nicht in seinem Büro war. Ich habe die Putzfrau abgepasst. Sie lässt die Tür offen. Als sie abends spät die Büros säuberte, bin ich einfach hineinmarschiert und habe ihm meine Bewerbungsunterlagen hingelegt.«

»So? Warum hast du die nicht im Personalbüro abgegeben?«

»Weil er sie dann wahrscheinlich nie gesehen hätte! Ich bewerbe mich um eine Stelle, für die es genügend Kollegen gibt, die älter sind und mehr Erfahrung haben. Das Personalbüro hätte meine Bewerbung nie in die engere Wahl genommen. Aber wie heißt es? ›Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!‹ Es war nur so eine Idee. Ich denke nicht, dass ich wirklich eine bessere Chance habe. Aber ich wollte dem Alten beweisen, dass ich kreativ und ehrgeizig bin.«

»Auf welchen Posten hast du dich beworben?«

Saskia errötete tief. Selbst vor Onkel Fritz war es ihr jetzt peinlich, sich dazu zu bekennen.

Er sah ihr tief in die Augen.

»Es gibt nicht viele offenen Stellen in der Redaktion! Eigentlich gibt es überhaupt keine. Es ist nur bekannt, dass der Redakteur für Politik bald in Rente geht, und sein Kollege für die Wochenendbeilage auch. Du hast doch nicht nach den Sternen gegriffen, oder?«

Saskia Pirner errötete.

»Also doch! Kind, Kind! Auf der einen Seite verstehe ich deine jugendliche Begeisterung. Auf der anderen Seite solltest du dir überlegen, ob du dir nicht besser Schritt für Schritt eine Position erarbeitest.«

»Onkel Fritz! Wir reden heute Mittag darüber. Ich muss gehen!«

»Egal wie, Saskia! Viel Glück!«

»Danke, Onkel Fritz! Halte mir die Daumen!«

»Das werde ich«, rief er ihr nach, als sie die Treppe hinaufrannte.

»Das Mädchen wird seinen Weg gehen«, sagte er vor sich hin. »Sie hat vor nichts und niemandem Angst und packt alles an, was sich ihr in den Weg stellt. Das können nicht viele von sich behaupten«, sagte er leise vor sich hin.

Er setzte sich wieder in seine Pförtnerloge und dachte noch eine Weile an Saskia.

Diese stand jetzt doch mit klopfendem Herzen vor der schweren Holztür in der oberen Etage des Redaktionsgebäudes. Hier hatte der alte Verleger sein Büro, seit er seinem Sohn den Chefsessel überlassen hatte. So ganz schaffte es der alte Zeitungsverleger doch nicht, sich völlig von der Arbeit zurückzuziehen, die ihm im Leben so viel bedeutete hatte. Als seine Aufgabe hatte er sich die Betreuung und Förderung des journalistischen Nachwuchses ausgesucht.

Saskia atmete tief durch und klopfte an.

»Komm rein!«

Die dunkle Stimme des alten Verlegers war gut zu hören.

Saskia trat ein.

»Guten Morgen, Chef! Sie wollen mich sprechen!«

Sie blieb in der Nähe der Tür stehen.

»Komm her, und setze dich!«

Er musterte sie.

»Mit deinen nassen Haaren schaust aus wie ein begossener Pudel.«

»Die trocknen wieder. Ich bin in den Regen gekommen.«

»Du bist wieder mit dem Fahrrad gekommen. Ich habe dich gesehen.«

Er ging in den Nebenraum seines großen Büros und holte ein Handtuch. Saskia frottierte sich das kurze Haar. Sie hängte sich das Handtuch um den Hals.

Der Seniorchef saß hinter dem Schreibtisch und lächelte.

»Ja, Saskia, ich dachte mir, wir unterhalten uns mal! Ich habe hier etwas von dir gefunden.«

Er duzte alle Praktikanten und Praktikantinnen. Außerdem kannte er Saskia seit ihrer Kindheit.

»Bist ein cleveres Mädchen und hast Mut. Nicht viele wären auf die Idee gekommen, mir ihre Bewerbungsunterlagen auf den Schreibtisch zu legen. Ich habe mir alles genau angeschaut. Dein Brief gefällt mir besonders gut. Er ist wie ein guter Artikel aufgebaut und beantwortet die W-Fragen, die ein guter Reporter immer im Kopf haben soll: Wer? Was? Wann? Wo? Warum?«

Saskia strahlte. Ihr alter Chef rieb sich das Kinn.

»Dir ist schon klar, dass du nach den Sternen greifst?«

Sie nickte und räusperte sich.

»›Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‹. Mehr als schiefgehen kann es nicht.‹ Entweder ich schaffe die Aufgabe oder ich scheitere. Das Risiko gehe ich ein«, sagt sie und blickte ihm dabei in die Augen.

»Dass du das vom Wissen her schaffst, das bezweifele ich nicht. Du wirst bei Kollegen einen sehr schweren Stand haben. Sie werden es dir nicht leicht machen. Sie werden sagen, die Saskia ist noch feucht hinter den Ohren und sollte sich erst einmal ihre Sporen verdienen.«

Er schmunzelte.

»Auf der Jagd nach einer guten Geschichte ist man nie alleine. Da muss man sich durchsetzen können. Will man Erfolg haben, dann muss man den anderen Reportern immer einen Schritt voraus sein. Wie du weißt, sind wir ein Familienbetrieb. Mein Vater, der die Zeitung und das Druckhaus gegründet hatte, warf mich damals nach der Schule ins kalte Wasser. ›Du lernst alles, wenn du es machst‹, sagte er zu mir. Damals konnte man Journalismus nicht studieren. Geschadet hat es mir nicht!«

Er blätterte in Saskias Unterlagen. Saskia hatte ihm einige Arbeitsproben beigelegt. Sie hatte sie in ihrem Urlaub in Waldkogel geschrieben.

»Deine Texte gefallen mir. Sie sind lebendig und packend. Aus jedem Satz spricht Freude und Begeisterung für diese Gegend in den Bergen. Da bekommt man richtig Lust, einmal dorthin zu verreisen. Das scheint ja sehr idyllisch zu sein, dieses Waldkogel! Wie?«

»Oh ja, das ist es! Wir fahren seit vielen Jahren dorthin in Urlaub.«

»Ein wenig kommt es mir vor, als sei die Zeit dort stehengeblieben.«

»Oh nein, das ist sie nicht. Modern sind sie auch. Vielleicht hätte ich das in meinen Texten mehr betonen müssen.«

»Warum hast du das nicht getan?«

»Weil es in Waldkogel keine Seilbahnen gibt, keine Sessellifte und keine Schlepplifte für die Skifahrer im Winter. Die Waldkogeler machen mehr in sanften Tourismus, was nicht heißt, dass sie altmodisch sind. Sie achten nur die Natur in einem sehr hohen Maße. Vor Jahren wurden sie von den umliegenden Ortschaften in den Bergen belächelt. Diese bauten ihre Lifte, legten Skipisten für den Winter an, die im Sommer von den Bikern für Abfahrten benutzt werden. Dort verschandeln große Hotels die Hänge. Die Schönheit der Berge wurde zerstört. Anfangs hatten diese Gemeinden mehr Zulauf. Doch jetzt zieht es immer mehr Touristen nach Waldkogel. Der Plan der Waldkogeler geht auf. Immer mehr Touristen suchen nach der unverfälschten Natur.«

Er nickte ihr zu.

»Also, liebe Saskia! Ich mache dir einen Vorschlag. Du machst in einem halben Jahr dein Examen. Ich gebe dir eine Chance, wenn ...«

Sie strahlte ihn an. Er sprach weiter.

»Bis dorthin legst du mir zwei vollständig ausgearbeitete Ausgaben für die Wochenendbeilagen vor. Du kannst hier von deinem Material ausgehen. Aber da muss noch mehr hinein. Führe Interviews! Hinterfrage alles, was dir die Leute erzählen! Blicke dahinter, schaue um die Ecke, hinter die Fassade. Es sind die ganz persönlichen Lebenserinnerungen, die unsere Leser interessieren.«

Er schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein.

»Dabei darfst du aber nicht die Vorbereitungen für dein Examen vernachlässigen! Hörst du?«, ermahnte er sie.

Saskia nickte.

»Ich habe mir das so gedacht! Im Augenblick machst du ein Praktikum bei uns. Ich werde dich versetzen. Du fährst nach Waldkogel. Hast du einen Führerschein?«

»Ich habe einen Motorradführerschein!«

»Hast du ein Motorrad?«

»Nein, ein Motorrad steht auf meiner Wunschliste, sobald ich richtig Geld verdiene. Ich träume von einer alten Maschine mit Beiwagen.«

»Das verstehe ich! Ich bin selbst so ein Motorradfreund.«

»Ich weiß! Ich habe Sie aber schon lange nicht mehr auf einem Motorrad gesehen.«

»Ich fahre sehr selten. Man wird eben älter. Da macht der Rücken nicht mehr so mit.«

Er lächelte sie an.

»Aber mein Motorrad habe ich noch. Wenn du mir versprichst, vorsichtig zu fahren, dann leihe ich es dir!«

Saskia stieg die Röte ins Gesicht.

»Wirklich? Ich werde es hüten wie meinen Augapfel!«

»Das glaube ich dir! Also, dann machen wir es so. Du fährst jetzt heim und packst.«

Er warf einen Blick aus dem Fenster.

»Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne kommt heraus. Das Wetter bessert sich. Du wirst eine schöne Fahrt haben. Also, noch einmal. Du packst! Wie lange brauchst du dafür?

»Ich bin schnell! In meinem, in unserem Beruf muss man schnell sein!«

»Gute Antwort! Ich hole dich in einer Stunde ab. Ich komme mit meinem Motorrad bei dir vorbei. Es hat einen Beiwagen. Da kannst du dein Gepäck hineintun, deinen Computer und was du sonst noch so brauchst. Meine Sekretärin wird sich um eine Unterkunft kümmern.«

»Es gibt in Waldkogel ein Wirtshaus mit Pension. ›Beim Baumberger‹ heißt es. Dort bin ich bekannt. Dort quartieren wir uns immer ein, schon seit Jahren.«

Der alte Verleger machte sich Notizen.

Saskia stand auf. Sie reichte ihm die Hand.

»Danke für die Chance! Ich werde Sie nicht enttäuschen und mein Bestes geben.«

»Das glaube ich dir! Spüre die besonderen Menschen in Waldkogel auf. Halte dich abseits der ausgetretenen Pfade! Bringe mir Geschichten von Menschen, die den Spagat zwischen der guten alten Tradition und der Moderne meistern. Tradition ist nichts Festes. Sie lebt. Sie wird von Menschen gelebt, die sich immer wieder für die Tradition entscheiden müssen. Dazu werden die alten Regeln und Bräuche an die Moderne angepasst, und wenn alles gut geht, dann bleibt der tief verwurzelte Sinn erhalten. Er bekommt nur eine neues Aussehen.«

»Wie die moderne Landhausmode, die neu kreiert wurde, in Anlehnung an die traditionelle Trachtenmode.«

»Das hast du gut beschrieben! Dann wünsche ich dir viel Glück. Bis in einer Stunde!«

»Ich werde fertig sein und vor dem Haus auf Sie warten!«

Er nahm ihr das Handtuch ab und begleitete sie hinaus.

Saskia schwebte auf Wolken, als sie in der Pförtnerloge ihre Regenjacke holte. Sie war froh, dass der alte Pförtner einen Augenblick nicht da war. Sie wollte mit niemanden sprechen. Sie wollte ihr inneres Glücksgefühl für sich behalten. Saskia zog die Regenjacke an, rannte über den Hof, schwang sich auf das Rad und radelte stehend auf den Pedalen davon, damit sie schnell Tempo bekam. Der alte Verleger stand oben am Fenster und sah ihr nach.

Sie wird ihren Weg machen, dachte er. Dann fuhr er mit dem Wagen heim in die Vorstadt. Dort stand in der Garage unter einer Plane sein altes Motorrad.

*

Saskia fühlte sich wie eine Prinzessin auf ihrem Pferd, als sie später mit den Motorrad ihres Chefs unterwegs war. Sie fuhr vorsichtig immer auf der rechten Spur der Autobahn. Das alte Motorrad zog die Aufmerksamkeit auf sich. Die Autofahrer hupten und winkten, als sie überholten.

Die sind ganz schön neidisch auf das Vehikel, dachte Saskia.

Am späten Nachmittag kam sie in Waldkogel an. Meta Baumberger schloss sie in die Arme.

»Da bist du ja, Madl! Was für eine Freud’!«

»Grüß dich, Meta! Hallo Xaver!«

»Grüß Gott, Saskia! Ich habe dir im Schuppen schon Platz gemacht, gleich nachdem du angerufen hattest. Da kannst des gute Stück unterstellen. Der Schuppen ist abgeschlossen. Da kann kein Unbefugter rein.«

Saskia ging mit Xaver hinaus. Sie fuhr das Motorrad in den Schuppen. Xaver Baumberger, Tonis Vater, half Saskia ihr Gepäck in das Zimmer bringen. Die wenigen Pensionszimmer, die Tonis Eltern vermieteten, waren ausgebucht. So durfte Saskia eines der Zimmer von Toni und seiner Familie beziehen, die im Haus oben unter dem Dach lagen.

»Toni und Anna freuen sich, dich zu sehen. Die Kinder wollten nach der Schule sogar auf dich warten und dich dann gleich mit hinauf auf die Berghütte nehmen. Besonders die kleine Franziska freut sich auf dich, Saskia!«

»Ich freue mich auch auf die Kleine. Ich habe die Franzi richtig ins Herz geschlossen. Wenn ich später einmal eigene Kinder bekomme, dann hoffe ich auf ein Mädchen.«

»Bist verliebt? Hast denn schon einen Burschen?«, fragte Meta.

»Ach, Meta! Es gibt genug Männer. Ich kenne viele. Aber der Richtige war noch nicht dabei. Sie sind alle nicht übel und einige geben sich viel Mühe, mich zu umgarnen. Sie tun mir richtig leid. Ja, ich habe Mitleid mit ihnen. Sie sind verliebt in mich. Aber ich bin nicht verliebt in sie. So ist es eben.«

Saskia zuckte mit den Schultern und machte eine hilflose Handbewegung.

»Es funkt nicht zwischen uns. Ich war noch nie so richtig verliebt. Es klappt einfach nicht. Ich finde niemanden. Meine Freundinnen und Studienkolleginnen, die sind alle in festen Händen. Einige sind schon verlobt. Nur ich bin noch alleine. Ganz allmählich komme ich mir blöd vor. Vielleicht sind auch meine Ansprüche zu hoch. Das werfen mir meine Freundinnen vor.«

»Schmarrn, Saskia! Beim Mann für das Leben können die Ansprüche net hoch genug sein. Man entscheidet sich nur einmal, und dann soll – muss es schon der Richtige sein.«

»Vielleicht bin ich auch zu kritisch! Meine Mutter sagt, ich würde die Nadel im Heuhaufen suchen. Ich will eben den perfekten Mann, einzigartig muss er sein.«

Meta Baumberger schmunzelte.

»Ach Kindl! Saskia, ich bezweifle, ob es den perfekten Mann gibt. Jeder Bursche hat seine Macken, wie man sagt. Aber wenn du dich wirklich verliebst, dann liebst du auch diese Macken. Niemand ist perfekt, Madl! Wir Weiber haben auch unsere Macken. Weißt, Saskia, wenn du dich verliebst, dann denkst nimmer nach. Des geschieht einfach. Du siehst einen Burschen, und tief in deinem Innern weißt du, des ist er! Er ist es, und kein anderer, dann schaust über manches hinweg. Die Liebe gleicht alles aus.«

»Das klingt alles sehr gut, wie du mir das sagst. ›Liebe macht blind‹, das ist auch eine Erfahrung. Einige meiner Freundinnen hatten sich zuerst für den falschen Kerl entschieden. Ich habe jedes dieser Dramen aus nächster Nähe miterlebt. Das war mir eine Warnung! Ich sage mir, es ist nicht schlecht, wenn man seinen Kopf einschaltet. Wozu hat der Mensch ein Gehirn?«

»In der Liebe bringt das Denken niemand weiter. Denke net so viel, Saskia. Sei einfach nur offen und hoffnungsvoll. Die Liebe wird dich ereilen, wenn du am wenigsten damit rechnest. Liebe kann man net planen wie einen Einkauf. Liebe ist ein Himmelsgeschenk. Aber ich kann dir noch so viel davon erzählen, glauben wirst du es mir nicht. Erst wenn du selbst die Liebe erlebst, wirst du erkennen, dass ich Recht habe. Aber jetzt genug damit! Jetzt tust auspacken, dann lade ich dich zu einer schönen Brotzeit ein.«

»Danke, Meta, das ist lieb von dir. Aber noch lieber wäre es mir, wenn du mir Proviant zusammenstellen würdest.

Es ist Hochsommer und noch lange hell. Ich würde gern einen langen Spaziergang machen. Vielleicht gehe ich ein Stück den Hang hinauf und schaue mir den Sonnenuntergang an.«

»Bist voller Tatendrang, Madl! Mei, des kann ich verstehen! Dann richte ich dir eine schöne Brotzeit und zeige dir, wie du ins Haus kommst. Gehst hintenherum durch den Glasanbau und dann durch die Küche. Nachts müssen wir die Küchentür abschließen, des hat uns die Versicherung zur Auflage gemacht. Aber ich zeige dir, wo wir einen Zweitschlüssel versteckt haben.«

Meta Baumberger ging hinunter. Saskia packte ihre Sachen aus. Sie machte sich etwas frisch. Sie vertauschte den Motorradanzug mit Jeans und einer Bluse mit Weste und die Motorradstiefel mit den Wanderschuhen.

Meta Baumberger reichte ihr einen kleinen Wanderrucksack mit Proviant.

»Danke, Meta! Und wartet nicht auf mich! Es kann spät werden, bis ich komme!«

»Hier, nimm die Stablampe mit, Saskia!«, sagte Xaver Baumberger. »Ich weiß ja, dass du dich gut auskennst, aber man kann nie wissen.«

»Danke, Xaver! Danke, Meta! Ich gehe! Pfüat euch!«

»Pfüat di!«, riefen sie ihr nach.

*

Saskia schulterte den Rucksack und lief los. Sie schlug den Weg zum Forsthaus ein. Auf halber Strecke bog sie auf einen kleinen Pfad ab, der durch einen Mischwald führte, der sich den Hang hinaufzog und sich dann auf einer Almwiese verlor. Saskia ging weiter querfeldein. Sie atmete tief durch. Sie liebte den Geruch nach Erde, Wiesen und Wald. Von Weitem schallte das leise Geräusch von Kuhglocken an ihr Ohr. Saskia schaute sich um. Weiter hinten sah sie eine große Kuhherde, die anscheinend auf eine Almhütte zugetrieben wurde, die direkt mit der Rückseite an einen Felshang angebaut war. Aus dem Kamin stieg Rauch senkrecht empor. Es ging kein Lüftchen an diesem herrlichen Sommerabend.

Saskia wunderte sich. Sie erinnerte sich, dass sie an dieser Almhütte schon oft vorbeigegangen war. Niemals war sie bewohnt gewesen.

»Da werde ich doch mal nachsehen«, sagte Saskia leise vor sich hin.

Sie änderte die Richtung und lief oben am Hang entlang weiter. Der Weg zur Almhütte war länger, als sie vermutete hatte. Endlich kam sie an.

Neben der Almhütte stand ein Brunnen. Saskia ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten. Sie hielt ihre Hände in den Wasserstrahl und kühlte sich Gesicht und Hände.

»Grüß Gott! Des Wasser kannst trinken, Madl!«

Erschrocken fuhr Saskia herum. Sie hatte niemanden kommen gehört.

Da stand er vor ihr, groß, breitschultrig, mit strahlend blauen Augen und dunklem Haar. Er trug eine alte Lederhose mit Hosenträgern. Darunter war sein Oberkörper nackt, genau wie seine Füße, an denen er derbe alte Haferlschuhe trug.

»Grü… Grü… Grüß Gott!« stotterte Saskia.

Sie fühlte, wie ihr heiß wurde. Sie konnte ihren Blick nicht von seinen Augen lösen. Was für ein Mann!, schoss es ihr durch den Kopf. Trotz seiner verschwitzten Haare, seinem Dreitagebart und seinen schmutzigen Händen zog er sie auf eine Art an, die Saskia völlig durcheinander brachte.

»Was schaust mich so an, Madl? Ich bin kein Außerirdischer!«, lachte er. »Ich bin der Florian Basler. Hier bist auf der Basler-Alm.«

Saskia nickte nur. Er streckte ihr die Hand hin. Als er sah, dass Saskia sich zierte, zog er sie wieder zurück. Verlegen sagte er: »Hier wird gearbeitet! Also, ich bin der Florian!«

»Saskia Pirner!«

Er lächelte sie an.

»Was treibt dich in diesen Teil der Berge? Hier kommt selten jemand vorbei. Hast dich verlaufen?«

»Ah …, mm! Ich bin querfeldein. Dann sah ich den Rauch. Seit wann ist die Almhütte bewohnt? Hier war früher niemand.«

»Des stimmt!«

Eine ausführliche Antwort blieb er ihr schuldig. Stattdessen musterte er Saskia von Kopf bis Fuß und dann wieder von Fuß bis Kopf. Was er sah, gefiel ihm. Das war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Saskia spürte, wie ihr heiß und heißer wurde. Sie kühlte sich wieder das Gesicht.

»Also, wenn du dich setzen willst, dann gern!«

Ein alter Mann kam dazu.

»Des ist der Hubertus Basler, mein Vater! Vater, des Madl heißt Saskia!«

»Grüß Gott, Saskia! Bist zu Besuch in Waldkogel?«

»Ja, das bin ich!«

»Gefällt die der Ort?«

»Ja, ich finde Waldkogel sehr schön, Herr Basler!«

»Des ist schön! Aber man sagt hier net Herr Basler. Ich bin der BaslerBauer!«

»Gut, dann Grüß Gott, Basler-Bauer!«

In Saskias Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Da standen die beiden Männer vor ihr wie aus dem Bilderbuch, ein alter und ein junger Mann, zwei urige Typen. Eine Reportage über das Leben der beiden, das würde dem alten Verleger bestimmt gefallen. Wenn ich die Armbanduhr übersehe, die Florian trägt, könnte ich denken, ich sei in ein Zeitloch gefallen. Die beiden sind so urig und könnten aus einem anderen Jahrhundert stammen, dachte Saskia.

»Florian, willst des Madl net bitten, mit uns später die Vesper einzunehmen?«

»Oh ja!«

Florian strahlte Saskia an.

Sein Vater bemerkte, wie der Sohn das Madl betrachtete und nach passenden Worten suchte. So sagte der alte Bauer: »Saskia, kannst schon mal in die Hütte gehen. Wir schauen nur noch mal auf der Weide nach dem Vieh.«

Vater und Sohn steckten die Hände in die Hosentaschen ihrer Lederhose und gingen quer über die Almwiesen.

Saskia setzte sich erst einmal auf den Brunnenrand und atmete durch. Sie versuchte, ihr Herz zu beruhigen. Es pochte schnell. Es raste, wie es Saskia noch niemals vorher gespürt hatte. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

War es die Möglichkeit einer besonderen Chance auf eine außergewöhnliche Reportage, die sie so verwirrte?

Oder waren es die blauen Augen von diesem Florian, an die sie wieder und wieder denken musste?

Ich bin ein Profi, ich will ein Profi sein, wie ein Profi meine Arbeit tun. Ich darf mich durch persönliche Gefühle nicht beeinflussen lassen, ermahnte sich Saskia selbst. Sie erinnerte sich an die Leitsätze, die ihr alter Chef oft gepredigt hatte.

»Wenn du Erfolg haben willst, Saskia, dann musst du alle Gefühle unterbinden. Reporter sehen Schönes und weniger Schönes. Sie dürfen sich niemals in den Sog der Emotionen hineinziehen lassen. Ein guter Journalist fühlt nichts, er nimmt nicht Anteil. Er bleibt immer neutral. Er ist nur der Beobachter, der Chronist, der alles wiedergibt.«

Saskia hörte in ihrem Inneren die Stimme ihres Chefs. Doch die Ermahnung half ihr nicht. Sie war fasziniert von den Baslers, hauptsächlich von Florian.

Was für ein Mann!

Was für ein kraftvoller Bursche!

Welche Ausstrahlung!

Was für strahlend blaue Augen!

Saskia spürte, wie ihr Herz schneller schlug, wenn sie an ihn dachte. Sie spürte tief in sich, dass sich etwas in ihrem Leben veränderte. Auf der einen Seite war da das hoffnungsvolle Gefühl, ein Gefühl, dem sie nicht nachgeben wollte. Denn es war gefährlich! Es ließ Träume aufsteigen, die Saskia nie zuvor gekannt hatte, Träume nach dem erneuten Blick in diese wunderschönen blauen Augen. Ich muss einen klaren Kopf behalten. Ich darf an Florian nicht als einen Burschen denken. Ich bin nicht zum Urlaub machen hier. Ich will arbeiten. Er ist nur jemand, den ich beschreiben werde. Ich kann ihn interviewen. Ich muss Abstand wahren. Ich muss unbedingt auf Distanz achten. Ich darf persönliches Interesse nicht mit beruflichen Anforderungen vermischen, sonst geht alles schief, ermahnte sie sich selbst.

Saskia atmete mehrmals hintereinander tief durch. Sie versuchte ruhiger zu werden. Es gelang ihr nur mit Mühe. Sie baute sich eine Eselsbrücke.

Gut, sagte sie sich. Florians Augen sind besonders schön. Er sieht unglaublich gut aus, wenn auch etwas verwahrlost. Aber dass ich so durcheinander bin, kommt nur daher, dass ich vorhin mit Meta Baumberger über die Theorie der Liebe geredet habe. Und auf dem Weg hierher habe ich zu viel über das Gespräch nachgedacht. Das war nicht gut. Ich bin zum Arbeiten hier. Das ist die Chance meines Lebens. Ich kann den Grundstock für eine glänzende Karriere legen. Deshalb wird mich nichts und niemand davon ablenken. Das wird auch einem Florian Basler mit seinen blauen Augen nicht gelingen. ›Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps‹, dachte Saskia, und beides soll man nicht mischen. Deshalb werde ich mit der Arbeit anfangen.

Sie stand auf und ging auf die Almhütte zu. Sie stellte ihren kleinen Rucksack mit Proviant auf der Bank vor der Almhütte ab.

Die Tür stand auf. Saskia trat in den Türrahmen und schaute in das Innere. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Sonnenlicht herein. Saskia benötigte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.

Die Almhütte bestand aus einem großen Raum, der wohl Küche, Wohn- und Arbeitsraum, war. Im Hintergrund führten zwei Türen in weitere Räume. Saskia vermutete, dass es die Schlafkammern waren.

»Himmel, wie es hier aussieht!«, flüsterte Saskia völlig entsetzt leise vor sich hin. »Oh Gott!«

Auf einem Tisch gegenüber dem Ofen stapelte sich schmutziges Geschirr. Saskia vermutete, dass es sich schon Tage dort angesammelt hatte. Fliegen schwirrten herum. In einer nach oben hin offenen Tonne, die einem alten Benzinfass nicht unähnlich war, türmten sich leere Konservendosen. Der Fußboden war sehr schmutzig. Die Farbe der Scheibengardinen konnte Saskia nur erraten. Irgendwann waren sie wohl einmal weiß gewesen.

Saskia schaute sich weiter um. In einer Ecke stapelten sich verschiedene Kartons. In einer anderen Ecke lag ein Berg schmutziger Wäsche, Hemden, Hosen und Tücher.

»Himmel, dass es so etwas gibt?«, flüsterte Saskia vor sich hin.

Das Entsetzen stand ihr im Gesicht.

Wie kann man so eine schöne Almhütte nur so herunterkommen lassen, fragte sich Saskia.

»Ich würde nicht glauben, dass es so etwas gibt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde«, flüsterte Saskia vor sich hin.

Ihr war klar, dass sie keinen Schritt in diese Almhütte setzen würde, noch dort etwas essen. Sie war erschüttert. Sie musste erst einmal nachdenken. Gab dieses Chaos eine brauchbare Geschichte ab?

Saskia setzte sich auf die Bank vor die Almhütte. Auf dem Tisch, der vor der Bank stand, waren die Essensspuren von mehreren Tagen zu erkennen.

So leben Menschen normalerweise nicht, überlegte sich Saskia. Sicher, die beiden sind Männer, aber selbst die müssten doch fähig sein, wenigs­tens ein wenig Ordnung und Sauberkeit zu halten. So kann sich doch niemand wohl fühlen!

Saskia saß eine Weile auf der Bank. Dann verspürte sie Hunger. Sie war Tonis Mutter Meta dankbar, dass sie ihr etwas eingepackt hatte. Die Brote mit Wurst und Käse waren einzeln in sauberes Butterbrotpapier verpackt. Ein Stück Extrakäse am Stück steckte in einem sauberen, frischen Plastikbeutel. Die Thermos­kanne mit dem warmen Kräutertee war sauber. Meta hatte noch schönes ein buntes frischgebügeltes Geschirrtuch dazugelegt.

Saskia schenkte sich Tee ein. Sie stellte den Becher neben sich auf die Sitzbank, weil sie ihr sauberer erschien. Dann breitete sie das Küchenhandtuch auf ihrem Schoß aus und begann zu essen. Es schmeckte gut. Saskia durfte nur nicht an das Chaos denken, das hinter ihr in der Almhütte herrschte.

Es dauerte nicht lange, da kamen Florian und sein Vater über die Wiese zurück.

»Ah, du bist schon am Essen! Hast drinnen etwas gefunden?«, fragte der Bauer.

Saskia schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Sie kaute schnell leer und trank einen Schluck Tee.

»Ich hatte etwas dabei!«

»Musst entschuldigen, dass wir net eher gekommen sind. Aber der einen Kuh geht es net so gut. Wir denken, dass sie in der nächsten halben Stunden kalben tut.«

»Oh! Ein Kälbchen kommt! Kann ich zusehen? Ich habe noch nie erlebt, wie eine Kuh kalbt.«

»Des kannst gerne tun! Wir müssen auch gleich wieder zurück auf die Wiese. Ich will nur noch ein Seil holen.«

Florian ging davon. Sein Vater lief ihm nach. Saskia hörte, wie die beiden in der Almhütte miteinander redeten. Leider verstand sie nicht, was sie sagten.

Es dauerte nicht lange, dann kamen sie wieder heraus. Gemeinsam gingen sie auf die Almwiese.

Die Kuh hatte sich etwas außerhalb der Herde zurückgezogen. Es war der Bereich der Wiese, auf der Gras und Büsche wuchsen.

»Bleib hier stehen, Saskia! Die Kuh kennt dich net. Wir wollen net riskieren, dass sie nervös wird. Des ist sie ohnehin schon, denn es ist ihr erstes Kalb.«

Saskia nickte. Sie zückte ihr Handy und machte Bilder. Es dauerte noch eine ganze Weile, dann waren die Beine des Kalbes zu sehen. Der Bauer band das Seil darum. Florian prüfte durch einen Griff, wie der Kopf lag.

»So ist es gut, Vater!«, sagte er.

Der alte Bauer zog an dem Seil und das kleine Kalb erblickte das Licht der Welt.

Es war für Saskia ein einmaliges Erlebnis. Sie hatte alles fotografiert. Jetzt sah sie zu, wie das junge Kälbchen die Zitzen der Mutter suchte.

»Es ist ein Kuhkalb, also ein weibliches Tier«, sagte Florian. »Du bist dabei gewesen. Hast dich tapfer gehalten. So eine Geburt ist nicht immer ein schöner Anblick. Des Kuhkalb braucht einen Namen. Hast du eine Idee? Kannst gerne einen Vorschlag machen, Saskia.«

Saskia zuckte mit den Schultern.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Ich werde morgen unserer Tierärztin Bescheid geben, dass wir wieder ein Kalb haben. Sie wird dann bei Gelegenheit vorbeikommen und sich das Tier ansehen, es untersuchen und die Papiere ausstellen. Des Kälbchen wird im Laufe seines Lebens viele Papiere, Stempel und Ohrmarken bekommen. Des ist nun mal so Vorschrift.«

Saskia hörte zu. Sie ließ das junge Kalb nicht aus den Augen. Als es fertig getrunken hatte, zupfte es sein ers­tes Gras.

»Das frisst ja schon Gras!«, wundert sich Saskia. »Wird es davon nicht krank?«

»Naa, des bekommt ihm schon. Es frisst die ersten Tage nicht viel. Schaden tut es ihm net. Kühe sind Grasfresser und Wiederkäuer. Des geht alles so, wie des die Natur vorgesehen hat. Das meiste davon wird es wieder ausscheiden. Es dauert einige Zeit, bis es das Gras richtig verdauen kann.«

»Wie lange darf das Kalb bei der Mutterkuh trinken? Wann wird es von seiner Mutter getrennt? Sie muss doch irgendwann wieder Milch geben, dazu sind Milchkühe doch da, oder?«

»Wir haben keine Milchkühe. Wir melken nur für uns einige Liter am Tag. Das sind alles Fleischkühe, die ganze Herde. Es sind alles Biokühe, die sich nur von saftigem Gras ernähren. Und im Winter bekommen sie Heu.«

»Ah, so!«, sagte Saskia leise.

Die Sonne war über den Bergen nur noch ein Viertel zu sehen. Der Himmel im Osten war schon ganz dunkel. Sie gingen zurück zur Almhütte. Der Bauer kam mit einer Flasche Schnaps und drei Gläsern.

»Jetzt stoßen wir auf das neue Herdenmitglied an. Es ist ein prächtiges Kalb.«

Der Bauer goss zwei Wassergläser halb voll. Saskia wehrte ab. Sie lächelte verlegen.

»Danke, für mich nicht!«

»Des ist aber net sehr höflich, Madl!«, sagte der Bauer.

»Nun gut, dann geben Sie mir einen kleinen Schluck hier in meinen Teebecher. Bitte, nur einen Fingerhut voll! Ich bin Obstler nicht gewöhnt. Außerdem habe ich noch den Rückweg vor mir. Es war sehr interessant. Vielen Dank, dass ich dabei sein durfte. So etwas habe ich noch nie erlebt.«

Saskia trank ihren Becher leer und schraubte ihn auf die Thermoskanne. Sie packte ihre Sachen in den Rucksack und verschnürte ihn.

»Wo gehst hin?«, fragte Florian.

In dem Augenblick läutete Saskias Handy. Sie nahm das Gespräch an. Es war Anna. Die Kinder hatten Anna gedrängt, Saskia anzurufen. Anna reichte das Gespräch erst an Sebastian weiter und dann an Franziska. Diese bedauerte sehr, dass Saskia heute nicht gekommen war. Saskia versuchte, Franzi zu trösten. Sie versprach, bald zu kommen.

Florian ließ Saskia nicht aus den Augen. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Lederhose und trat unruhig von einem Bein auf das andere.

»Schad’, dass du schon gehst! Willst net noch ein bisserl bleiben?«

Saskia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Lass ihn nur nicht merken, wie verlegen du bist, dachte sie. Sie wandte sich schnell um und zog ihren Rucksack auf.

»Ich muss runter nach Waldkogel. Will früh schlafen gehen, und mich morgen gleich beim Sonnenaufgang auf den Weg zur Berghütte machen.«

»Toni und seine Familie erwarten dich, wie? Ich mein’, des denke ich mir … nach deinem Telefongespräch mit der Anna und den Kindern.«

»Ja, sie erwarten mich. Ich bin eng mit ihnen befreundet. Seit meiner Kindheit verbringt meine Familie ihre Sommerferien in Waldkogel. Da kennt man viele und es sind Freundschaften entstanden.«

»Mei, wir sind auch aus Waldkogel. Ich bin auch hier aufgewachsen. Wir sind uns nie begegnet.«

Bedauern lag in Florians Stimme.

»Nun, das stimmt. Aber jetzt kennen wir uns und ich konnte gleich Augenzeugin werden, als eine eurer Kühe kalbte. So etwas hat mir hier noch niemand geboten. Es war ein aufregendes Erlebnis. Nochmals vielen Dank, dass ich dabei sein durfte.«

»Gern geschehen! Wenn du noch länger hier bist, kannst uns ja noch einmal besuchen. Bist jederzeit herzlich willkommen«, bemerkte der alte Bauer.

Saskia lächelte.

»Man wird sehen!«, sagte sie leise.

Florian rieb sich das Kinn.

»Du weißt, dass du von hier aus relativ schnell zur Berghütte raufkommst?«

»So?«, staunte Saskia. »Ich verstehe nicht ganz. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich links gehalten und die Berghütte liegt weiter oben rechts.«

»Des ist richtig! Aber wenn du jetzt den Weg zurückgehst, dann kannst in das Tannenwäldchen einbiegen. Einen richtigen Pfad gibt es nicht. Gehst einfach durch, bis du zur Felswand kommst. Die gehst du rechts entlang. Dann kommst zu einem schmalen Felseinschnitt mit einem kleinen Bach. Wir Waldkogeler sagen ›Wolfsgrub‹ dazu. Wenn du keine Angst vor kaltem Wasser hast, weil du einige Meter im Bach waten musst, dann kannst durch die ›Wolfsgrub‹ hinaufsteigen. Es geht steil bergauf. Die ›Wolfsgrub‹ ähnelt einem Treppenhaus, es geht einfach hinauf. Oben kommen ein paar Bäume und dann bist auf dem ›Pilgerweg‹, von dem nach einigen hundert Metern der Pfad am ›Erkerchen‹ vorbei zur Berghütte führt.«

»Ich habe nie etwas von der ›Wolfsgrub‹ gehört. Sie ist auch auf keiner Karte verzeichnet, oder?«

»Naa, die ist nirgends verzeichnet! Davon wissen nur die Einheimischen!«

»Danke, dann gehöre ich jetzt wohl dazu!«

Saskia nickte Florian und seinem Vater zu und ging schnellen Schrittes davon. Sie drehte sich nicht mehr um. Es fiel ihr schwer, spürte sie doch Florians Blicke in ihrem Rücken.

Ich muss ihn vergessen! Er schaut ja ganz gut aus. Aber ich darf keine Gefühle haben. Ich bin zum Arbeiten hier, und nur zum Arbeiten. Nun ja, der Besuch auf der Basler-Alm war ja ganz nützlich. Ich habe die Geburt eines Kuhkalbes erlebt, und habe erfahren, dass es die ›Wolfsgrub‹ gibt. Beides sind gute Anregungen für schöne Artikel, dachte Saskia.

*

Sie kam zum Wäldchen. Die Neugierde brach durch. Saskia änderte ihre Route. Sie hatte nicht vor, durch die ›Wolfsgrub‹ aufzusteigen. Sie wollte sie nur suchen.

Die Bäume standen nicht sehr dicht. Saskias Augen gewöhnten sich bald an die Lichtverhältnisse. Sie ging immer gerade aus, bis sie vor der Felswand stand. Dann hielt sie sich rechts. Während sie an der Felswand entlangging, betrachtete sie die aufgemalten Herzen. Verliebte hatten sich hier verewigt. Manchmal standen die Jahreszahlen und die Namen dabei, oft waren es nur die Anfangsbuchstaben. Saskia zückte ihr Handy und machte Fotos. Sie ging weiter und erreichte die ›Wolfsgrub‹. Es war eine sehr enge Felsschlucht, durch die ein kleiner Bach plätscherte. Die Schlucht verlief fast gerade. Saskia konnte oben die Wipfel der Bäume in der Abendsonne sehen.

»Warum nicht?«, sagte sie laut.

Saskia lief los. Der Bach führte nicht viel Wasser, so dass Saskia bequem eine große Strecke im Bachbett entlanglaufen konnte. Später musste sie für einige Meter ihre Schuhe ausziehen und durch das knöcheltiefe kalte Wasser waten, wie es Florian ihr gesagt hatte. Es ging steil nach oben. Saskia, die sportlich gut durchtrainiert war, bewältigte den Aufstieg gut. Stolz trat sie oben auf den ›Pilgerweg‹. Sie legte eine Rast ein und trank den Rest des Kräutertees, den ihr Tonis Mutter eingepackt hatte. Dann ging sie weiter.

Beim ›Erkerchen‹ legte sie eine zweite Rast ein. Sie schaute sich die Fotos auf ihrem Handy an und machte sich stichwortartige Notizen in das kleine Notizbuch, das sie immer in ihrer Hosentasche bei sich trug. Saskia war ganz mit sich zufrieden, jedenfalls, was die berufliche Seite anging. Sie hatte viel erlebt, gleich am ersten Tag. Besonders die Herzen, die einst Liebende an die Felswand gemalt hatten, regten ihre Fantasie an.

Wer waren sie?

Was ist aus ihnen geworden?

Haben sie geheiratet?

Sind sie glücklich geworden?

Saskia überlegte, wie sie es anstellen könnte, einige von ihnen zu finden. Sie sah sich die Fotos noch einmal an und erstellte eine Liste mit den Anfangsbuchstaben. Sie notierte:

A und B; S und F; G und H; A und T und so weiter.

A konnte Adam heißen oder Antonius oder auch Anna oder Amalia oder Auguste. Es gab viele Möglichkeiten, immer konnten die Buchstaben für ein Madl stehen oder für einen Burschen. Ich werde die Liste Meta Baumberger zeigen. Vielleicht kennt sie Paare, auf welche die Anfangsbuchstaben zutreffen.

Während Saskia beim ›Erkerchen‹ saß und über die Liebespaare nachdachte, die unweit der ›Wolfsgrub‹ sich zum Stelldichein getroffen hatten, kam ihr Florian mit seinen blauen Augen wieder in den Sinn. Er machte so einen guten Eindruck! Er hatte Ausstrahlung, richtig Charisma. Aber wie konnte er in einem solchen Chaos leben, in so einem Durcheinander? Kein normaler Mensch kann so hausen, dachte sie. Diese Almhütte ist die reinste Mülldeponie. Da passte Florian nicht hin mit seinen strahlend blauen Augen. Sie versuchte ihn sich im feinen Lodenanzug auf einem schmucken Hof vorzustellen, rasiert und sauber.

»Himmel! Jetzt denke ich schon wieder an diesen Florian! Das muss aufhören! Ich könnte höchstens eine Reportage ›Vorher – Nachher‹ daraus machen«, lachte sie leise vor sich hin. »Das wäre doch vielleicht auch ein guter Artikel.«

Sie dachte darüber nach. Es gab in Frauenzeitschriften eine Rubrik, darin wurden Frauen neu gestylt. Florian würde sicherlich ein gutes Objekt dafür abgeben, überlegte sie.

Saskia schüttelte den Kopf. Sie versuchte erneut alle Gedanken an Florian zu verdrängen. Die Idee fand sie gut, aber um Florian wollte sie einen Bogen machen. Dafür werde ich mir jemanden anderes suchen und sicherlich auch finden.

Sie seufzte. Die Sonne ging langsam über den Bergen unter. Die Gletscher und Schneefelder leuchteten rosa im Abendlicht.

Der nackte Fels sah aus, als würde er von innen beleuchtet, als glühte er. Es war ein herrlicher Anblick und Saskia genoss ihn. Er lenkte sie für eine Weile von ihren Gedanken über Florian ab.

Aber nur für eine Weile, dann drängten sich seine strahlend blauen Augen wieder in ihr Bewusstsein. Saskia seufzte.

Nach einer Weile stand sie auf und machte sich auf den Weg zur Berghütte.

*

An einigen wenigen Tischen auf der Terrasse der Berghütte saßen Gäs­te. Sie tranken Bier und unterhielten sich. Saskia nickte ihnen zu, als sie vorbeiging. In der Berghütte stand Toni hinter dem Tresen und spülte Gläser.

»Anna, die Saskia ist da«, rief er erfreut.

Anna und der alte Alois kamen aus der Küche.

»Grüß Gott, Saskia!«

»Hallo, Anna!«

Die beiden Frauen lagen sich in den Armen. Dann begrüßte Saskia Toni und den alten Alois.

»Ich dachte, du wolltest erst morgen kommen«, sagte Toni.

»Das stimmt. Aber dann zog mich die ›Wolfsgrub‹ magisch an. Da muss­te ich rauf!«

»Himmel, höre dir das an, Anna. Die Saskia hat die ›Wolfsgrub‹ durchstiegen. Mei, des ist ja ein Ding! Die ›Wolfsgrub‹ ist so gut wie unbekannt.«

Saskia lächelte.

»Ich weiß!«

»Wer hat dir davon erzählt? Am Ende hast ein Gespusi, und hast dich mit dem Burschen dort getroffen?«

Saskia errötete tief. Sie lachte laut, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Nein, Toni, ich habe kein Gespusi! Es war zwar ein Bursche, der mir davon erzählt hat, aber nur damit ich die Abkürzung auf den Berg kenne. Er gab mir einfach nur eine Wegbeschreibung.«

»Da bin ich mir net so sicher, Saskia! Wer war es denn?«

Saskia errötete wieder.

»Toni, was bist du so neugierig? Die Frage werde ich dir nicht beantworten. Ein guter Journalist oder eine gute Journalistin gibt niemals ihren Informanten preis. Das widerspricht zutiefst dem publizistischen Ehrenkodex!«

Toni grinste.

»So nennt man des? Ich sehe des ein bisserl anders. Wenn der Bursche jung war und ledig, dann wollte er dir damit einen Wink geben. Hat er nicht angeboten, dich zu begleiten?«

»Toni, jetzt hörst du auf, die gute Saskia weiter so in Verlegenheit zu bringen!«, sagte Anna laut und deutlich.

»Mei, ich hab‹ eben ein bisserl laut gedacht. Du weißt doch auch, dass die Felswand unterhalb der ›Wolfsgrub‹ ein Platz für Verliebte ist. Warum sollte ein Bursche einem Madl, an dem er kein Interesse hat, von der ›Wolfsgrub‹ erzählen? Des macht für mich keinen Sinn.«

Toni rieb sich das Kinn. Anna wandte sich an Saskia.

»Höre nicht auf ihn!«

Anna nahm Saskia mit in die Küche. Sie bot ihr einen Kaffee an.

»Sind die Hüttengäste schon schlafen gegangen?«, fragte Saskia.

»Einige schlafen schon. Eine ganze Reisegruppe hat abgesagt. Sie kommen erst in einigen Wochen. Ich habe nichts dagegen, wenn es etwas ruhiger ist.«

Anna lächelte Saskia an.

»So habe ich auch viel mehr Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Wie geht es dir? Wie lange bleibst du hier? Wie geht es daheim?«

»Anna, gleich drei Fragen auf einmal! Also, mir geht es gut, sehr gut! Ich soll euch alle schön von den Eltern und den Großeltern grüßen. Ich werde länger in Waldkogel bleiben.«

Saskia erzählte Anna von ihrer großen Chance.

»Das ist ja wunderbar! Dazu kann man dich nur beglückwünschen. Du wirst das schaffen, Saskia!«

Saskia errötete.

»Was ist?«, fragte Anna.

»Ach, Anna, heute Morgen war ich mir noch ganz sicher, dass ich das Zeug habe, eine gute Journalistin zu werden. Aber jetzt bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Im Gegenteil, ich war noch nie so unsicher, was meine berufliche Zukunft betraf. Ich habe ernsthaft Zweifel, ob ich mich wirklich dazu eigne.«

Anna schenkte sich einen Kaffee ein. Sie setzte sich zu Saskia an den Tisch.

»Was du im Augenblick durchmachst, ist die Angst vor dem Erfolg! So etwas gibt es. Du fühlst, dass wenn du Erfolg hast, dass dann eine Menge auf dich zukommt. Du musst immer besser und besser werden. Je erfolgreicher du bist, desto größer sind deine eigenen Erwartungen an dich und die Erwartungen, die von außen auf dich zukommen. Glaube mir, Saskia, ich weiß, von was ich rede. Leider leben wir in einer Gesellschaft, in der sich niemand damit zufrieden gibt, etwas erreicht zu haben. Jeder Erfolg wird nur als eine Stufe einer endlosen Leiter gesehen. Aufsteigen, noch höher hinauf, immer weiter und weiter, so ist es. Bleibt man irgendwo stehen, dann ist es ein Misserfolg.«

Anna schaute Saskia an.

»Früher habe ich die Welt auch einmal so gesehen. Ich war eine Getriebene und habe dabei mich fast selbst verloren. Heute bin ich restlos glücklich. Das Leben hat seine täglichen einfachen Pflichten, denen wir hier auf der Berghütte nachkommen. Am Abend sind wir müde und glücklich und freuen uns auf den nächsten Tag. Unser Leben wird bestimmt von der Natur. Bei schönem Wetter kommen mehr Gäste und bei Regenwetter und verhangenem Himmel sind es weniger. Das ist auch gut, dann haben Toni und ich mehr Zeit für uns und die Familie. Nur die Beziehungen zwischen Menschen geben dem Leben den richtigen Sinn, besonders bei den Menschen, die wir innig lieben.«

Saskia nippte am Kaffee.

»Ich verstehe schon, was du mir damit sagen willst, Anna. Doch bei mir ist es etwas anderes. In dem Beruf, den ich mache, muss man tief in eine Sache hineinsteigen. Es geht um Hintergründe und Ursachen. Ich muss mit Leidenschaft dabei sein. Doch ich darf dabei keine persönlichen Gefühle haben. Ich muss immer die Distanz wahren. Es ist unerlässlich, dass ich Abstand halte!«

»Du zweifelst, ob dir das gelingt?«, warf Anna ein.

»Ja, das tue ich! Ich habe mich wohl hoffnungslos überschätzt.«

»Das ist nicht schlimm! Um Erfolg zu haben, muss man sich etwas überschätzen, sonst würde man niemals schwierige Aufgaben angehen. Du musst dir keine Sorgen machen, Saskia. Du schreibst einen sehr guten Stil. Deine Briefe sind etwas Besonderes. Ich habe sie alle aufgehoben und lese sie immer wieder gern.«

»Du hast eine liebe Art, mich zu trösten, Anna. Aber ich denke, mit dem Problem, das mich beschäftigt, da muss ich alleine fertig werden. Vielleicht ist es gut, dass es passiert ist. Ich kann daran prüfen, ob ich mich wirklich für den Beruf eigne. Ich muss herausfinden, ob ich die Härte mitbringe, die der Beruf verlangt. Ich habe es mir nicht so schwer vorgestellt. Wie soll ich mich emotional auf etwas einlassen, wenn ich mir selbst jedes Gefühl versagen muss?«

Anna schaute Saskia nachdenklich an.

»Kannst du mir ein Beispiel geben, Saskia?«

»Anna, das ist ganz einfach. Ich komme in meinem Beruf mit Menschen zusammen. Ich schreibe Reportagen. Dazu muss ich mich auf die Menschen einlassen. Ich erzeuge bei den Lesern Gefühle, gute Gefühle oder negative Gefühle. Dabei darf ich selbst niemals Gefühle haben. Ich muss immer neutral bleiben. Ich darf niemanden unsympathisch oder nett finden. Das würde mich beeinflussen. Verstehst du? Das macht alles so schwer. Ich fühle mit! Ich sehe, wie die Menschen leben. Ich frage mich, warum sie so leben? Warum sie nichts ändern? Was sie dazu gebracht hat? Wieso sie eine Sache nicht einfach anpacken und ändern? Mir fällt es schwer, nur Beobachterin zu sein. Es ist schwer für mich, nicht einzugreifen.«

»Indem du über einen Menschen oder eine Sache schreibst, greifst du doch auch ein.«

»Ja, das stimmt. Ich kann aufbauen und zerstören. Das Wort hat eine große Macht. Das Geschriebene und Gesagte kann die schärfste Waffe sein, das sagt der alte Verleger. Er hat Recht. Deshalb muss man in meinem Beruf neutral sein. Aber ich habe Schwierigkeiten, diese Neutralität zu wahren. Da sind einfach zu viele Gefühle!«

Anna betrachtete Saskia. Das Madl tut etwas verbergen, nicht nur vor mir, vor uns, sondern sie will es auch für sich nicht wahrhaben. Anna hatte Mitleid. Sie lächelt Saskia an.

»Jetzt hörst du auf, zu grübeln! Du machst dir zu viele Gedanken. Bleibe doch erst einmal einige Tage bei uns hier oben auf der Berghütte. Stimme dich auf die Berge ein. Lass einfach deine Seele baumeln. Höre auf dein Herz, auf deine innere Stimme.«

»Anna, ich danke dir! Ich bleibe gern einige Tag hier. Aber auf mein Herz will ich auf keinen Fall hören. Das ist unprofessionell.«

Anna schmunzelte.

»So, so, Saskia! Das hört sich für mich fast an, als …«, verliebt wollte Anna nicht sagen, so formulierte sie es neutraler: »Es hört sich an, als hätte dein Herz etwas gefunden oder wäre von einer Macht ereilt worden, als wäre ein Sturm der Gefühle über dich hereingebrochen. Ist es so?«

Saskia schluckte. Sie schaute Anna in die Augen und stand auf.

»Ich setze mich noch eine Weile auf die Terrasse. Vielleicht hilft mir die klare Nachtluft. Sauerstoff soll sehr gut für die Organe sei, für das Gehirn und auch das Herz. Wenn ich wieder besser denken kann, bekomme ich die Sache mit dem Herzen auch in den Griff. So hoffe ich wenigs­tens.«

Anna sah ihr nach. Saskia hat mir zwar keine genaue Antwort auf meine Frage gegeben, aber ich kann gut zwischen den Zeilen lesen, dachte sie. Anna griff nach Saskias Rucksack und brachte ihn in eine Kammer.

»Was ist mit dem Madl, Anna? Die Saskia schaut net gut aus! Was hat sie?«, sagte Toni leise.

Anna zuckte mit den Schultern.

»Sehr deutlich ist sie nicht geworden. Ich kann da nur meine Vermutung haben.«

»Und welche Vermutung hast du?«

Anna trat ganz dicht zu Toni heran.

»Ich vermute stark, dass es etwas mit dem Herzen ist, aber es ist nicht etwas, was der Martin als Arzt behandeln könnte.«

»Ah, du meinst, sie hat sich verliebt?«

»Pst! Sei nicht so laut, Toni!«

»Das arme Madl! Sie kann nur unglücklich verliebt sein. Wer ist es? Ist er aus Waldkogel?«, flüsterte Toni.

Anna zuckte mit den Schultern.

»Meinst, es hat Sinn, wenn ich mit dem Madl rede?«, fragte er.

»Nein, Toni, nein! Lass sie in Ruhe! Wenn ein Madl Liebeskummer hat, wird es sich nie einem Mann anvertrauen, sondern nur einer Frau! Wir müssen ihr Zeit lassen.«

»Mach der Saskia einen schönen Grog und setz dich noch etwas zu ihr. Ich bin fertig hier. Der alte Alois ist schon in seine Kammer gegangen. Ich ziehe mich auch zurück, dann bist mit der Saskia alleine. Vielleicht fällt es ihr dann leichter zu reden?«

»Schon möglich! Es kommt eben viel zusammen bei ihr. Sie hat von ihrem alten Zeitungsverleger eine Chance bekommen. Eigentlich müss­te sie vor Glück auf Wolke Sieben schweben. Doch stattdessen wirkt sie auf mich wie ein Häufchen Elend.«

»Vielleicht muntern die Kinder Saskia morgen auf. Du kennst doch Franzi, mit ihren naiven Fragen dringt sie mühelos in jedes noch so verschlossene Herz vor.«

»Ja, das stimmt! Aber bis morgen ist noch viel Zeit. Es scheint mir, dass Saskia eine schlaflose Nacht bevorsteht. Da hilft sicherlich ein schöner heißer Grog.«

Anna machte in der Küche zwei große Becher mit Grog. Sie häufte Kekse auf einem Teller. Franziska hatte sie gebacken, ›Waldkogler Bergspitzen‹, die die kleine Franziska gebacken hatte. Mit diesem Rezept war Franzi sogar Siegerin bei einem Backwettbewerb in Waldkogel geworden. Anna ging mit dem Tablett hinaus auf die Terrasse der Berghütte.

*

Nach dem Saskia gegangen war, nahmen Florian und sein Vater die Arbeit wieder auf. Sie schauten nach einem Teil der großen Rinderherde, die auf einer anderen Weide standen. Die Baslers hatten die größte Rinderherde an Fleischrindern in der ganzen Gegend. Auf der anderen Weide gab es auch einige Kälber.

»Des war ein besonderer Tag heute, Florian! Ein richtiger Glückstag war des, meinst net auch?«

»Ich freue mich auch, dass wir so viele gesunde Kälber bekommen haben. Auf den anderen Weiden wird es nicht anders aussehen. Es ist schon eine prächtige Herde.«

»Ich denke dabei nicht nur an die Kälber, Florian. Wir hatten auch netten Besuch. Des war mal eine schöne Abwechslung, auch wenn des Madl net lange geblieben ist.«

Florian gab in keiner Weise etwas zu erkennen. Er stand am Rand der Weide und schaute über die Herde, so sah es wenigstens aus. In Wirklichkeit sah er nicht die schönen Rinder, sondern hatte Saskias Anblick vor Augen.

Florian räusperte sich.

»Wir sollten noch die anderen Weiden abgehen. Dort haben sicherlich auch einig Kühe gekalbt.«

»Des können wir auch noch morgen machen, Florian! Es war ein langer Tag.«

»Des ist schon richtig. Aber schlafen kann ich nicht, da bin ich mir sicher. Gehe du nur zurück, Vater. Ich schaue noch nach einem weiteren Teil der Herde. Es ist noch eine Weile hell. Ich muss morgen mit der Viehdoktorin telefonieren. Die Beate muss wissen, wie viele Kälber wir haben. Du weißt, dass die Kälber innerhalb von sieben Tagen ihre Papiere und die Ohrmarken bekommen müssen. Ich will wissen, wie viele es bis jetzt sind. Es kann dauern, bis ich zurückkomme. Kannst dich hinlegen, musst net auf mich warten.«

Hubertus Basler bemerkte, dass Florian alleine sein wollte. So ließ er ihn gehen. Florian war nie ein Bub gewesen, der viel redete. Er war immer sehr still gewesen. Hubertus hatte darunter gelitten, dass Florian sich immer mehr in sich zurückgezogen hatte, je älter er wurde. Der Rückzug gipfelte darin, dass Florian nach dem frühen Tod seiner Mutter fortgegangen war. Er war einige Tage nach der Beerdigung volljährig geworden. Mit fester Stimme hatte er damals erklärt, er müsse sich den Wind um die Nase wehen lassen. Dann war er gegangen. Zehn Jahre war er fortgewesen. Nur zum Geburtstag, und zu Weihnachten hatte Florian kurz geschrieben. Dann, im Frühjahr, stand er plötzlich vor der Tür. Hubertus war glücklich gewesen. Er hatte keine Fragen gestellt, vor allem weil Florian ihm geholfen hatte. ›Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.‹ An dieses Sprichwort hatte sich Hubertus gehalten.

Als Hubertus am Nachmittag das Leuchten in Florians Augen gesehen hatte, als dieser Saskia betrachtete, da hatte er sich gefreut. In der Mauer, die Florian um sich herum aufgebaut hatte, war für einen Augenblick ein winziges Fenster aufgegangen. Hubertus Basler hatte es mit Freude gesehen und gehofft, dass Saskia noch etwas bleiben würde. Als stiller Zuhörer der beiden hätte er vielleicht Antworten auf die Fragen bekommen, die er Florian nicht zu stellen wagte. Aber Saskia war gegangen und mit ihr Hubertus’ Hoffnung auf einen fröhlicheren geselligen Abend.

Florian ging quer über die Wiesen. Er wanderte fast eine halbe Stunde, bis er zur nächsten Weide kam, auf der ein weiterer Teil der Rinderherde stand. Es waren alles Pinzgauer Rinder. Für diese genetisch hornlose Rinderrasse hatte sich Florian entschieden, weil sie sehr robust waren und als Fleischrinder einen hohen Ertrag brachten.

Als die Sonne unterging, saß Florian am Rand einer Weide auf einem Holzstapel. Er schaute hinauf in die Sterne. Dabei dachte er an diese Saskia. Sie hatte ihm gleich gefallen. Mit ihren kurzen Haaren und ihrer zierlichen Figur wirkte sie sehr burschikos. Sie schien ihm eine junge Frau zu sein, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Nichts an ihr war gekünstelt. Sie hatte weder Lippenstift, noch sonst ein Make-up getragen. Ihre Natürlichkeit war ihre besondere Schönheit. Sie ist ein richtig fesches Madl, wenn sie auch ganz anders ist, als man sich so im Allgemeinen ein fesches Madl vorstellt. Florian wusste auch nicht genau, wie er Saskia einordnen sollte. Er wusste nur, sie war anders, ganz anders als alle jungen Frauen, die er sich bisher näher angesehen hatte. Ihre großen Augen hatten ihn verzaubert. Es lag so viel Leben darin und Neugierde, Erwartung und Interesse auf alles. Sie zierte sich nicht, als wir ihr anboten, mit auf die Weide zu kommen, um bei der Niederkunft des Kalbes dabei zu sein. Dort zierte sie sich nicht. Sie blieb ruhig, stellte keine dummen Fragen. Sie hielt sich im Hintergrund und fotografierte. Da muss ich auch auf den Fotos sein, dachte Florian. Ob sie mich betrachtet, wenn sie die Bilder ansieht? Er hoffte es. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass er ihr nicht angeboten hatte, ein Bild von ihr mit der Kuh und dem Kalb zu machen. Was bin ich für ein Dussel, dachte er. Ich hätte sie zuerst mit ihrem Handy ablichten und dann ein Bild mit meinen Handy machen können. Sie hätte keine Einwände haben können, und es wäre nicht verdächtig gewesen. Aber ich habe nicht daran gedacht. Florian ärgerte sich über sich.

Er saß eine ganze Weile da, schaute in die Sterne und betrachtete Saskias Bild in seinem Herzen, das einzige Bild, das er von ihr hatte. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er zur Berghütte wandern sollte. Ich könnte unsere Begegnung zwanglos darstellen. Toni habe ich, seit ich damals fortging, nicht mehr gesehen. Seine Frau Anna kenne ich nur vom Hörensagen und die beiden Adoptivkinder Sebastian und Franziska auch.

Florian rieb sich das Kinn. Er schmunzelte über sich. Da sitze ich nun und überlege, ob ich einem Madl nachlaufen will, das offensichtlich nichts von mir wissen will, denn sonst wäre sie geblieben. Zugleich hoffte Florian, dass er bei Saskia einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Er lächelte vor sich hin, als er sich erinnerte, wie verlegen Saskia geworden war und sie ihre aufsteigende Röte zu verbergen versuchte.

Wieder schaute Florian hinauf in die Sterne. Es wäre schön, wenn ich jetzt nicht alleine hier sitzen würde, dachte er.

Bisher war er bewusst alleine durch das Leben gegangen. Das hieß nicht, dass er keine Frauenbeziehungen gehabt hatte, doch Florian hatte sorgfältig darauf geachtet, dass sich eine Beziehung nie zu einer festeren Bindung entwickeln konnte. Dann wäre es vielleicht zu Fragestellungen gekommen, die er unbedingt hatte vermeiden wollen. Als er damals den Basler-Hof verlassen hatte, hatte er das nicht grundlos getan. Es hatte ihm das Herz geblutet. Florian erinnerte sich, wie ihm die Tränen über die Wangen gelaufen waren, als er im Bus gesessen hatte. Aber bleiben hatte er auch nicht können. Es war ihm unmöglich gewesen, weiter in Waldkogel zu leben. Jeder, der ihn auf der Straße grüßte, ließ die eine Frage in ihm aufsteigen, eine Frage, auf die er keine Antwort bekommen würde. Eine Fragestellung, die ihm jedes Weiterleben in Waldkogel unmöglich gemacht hätte. Obwohl Florian sich ein neues Leben eingerichtet hatte und auch glücklich war, so lag immer noch dieser Schatten auf seiner Seele, der ihm die Unbefangenheit, die Freiheit des Herzens genommen hatte.

Es war einsam mit dem Bauern auf der Alm. Aber Florian war das recht. So ging er Fragen aus dem Weg. Ich werde Saskia nicht auf die Berghütte folgen, dachte er. Ich kann nicht. Ich muss mir die Begegnung mit Toni und seiner Familie auch versagen. Belügen will ich Toni nicht. Ausreden liegen mir fern. Also lasse ich es so, wie es ist.

Florians Herz schmerzte. Es zog ihn zu Saskia. Aber dazu hätte er sein selbstgewähltes Schneckenhaus verlassen müssen. Das fiel ihm nicht nur schwer, sondern es war ihm unmöglich. So litt er still vor sich hin. Saskia, Saskia, Saskia, flüsterte sein Herz bei jedem Schlag. Er suchte nach einer Möglichkeit, ihr zwanglos zu begegnen. Vielleicht an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit? Es durfte nicht in Waldkogel sein.

Florian dachte nach. Nein, es war noch schlimmer. Er wollte Saskia nie mehr sehen. Ich werde nicht mehr an sie denken. Das ist besser. Ich will keinerlei Risiko eingehen. Nur so kann ich allem entgehen. Bei dem Gedanken schnürte der Schmerz sein Herz zusammen. Ich muss sie vergessen! Es war ja nur eine kurze Begegnung. Ich werde sie vergessen. Irgendwann wird mir eine andere Frau begegnen, nicht in Waldkogel, und das wird besser sein. Es wird vielleicht noch eine Weile schmerzen, aber dann wird die Erinnerung an Saskia verblassen, redete er sich ein. Das Leben hatte ihn hart gemacht und ihm nichts geschenkt, ihm schon als junger Mann die Last auferlegt, die er zu tragen hatte. Damit der Schmerz darüber nicht noch mehr zerstörte, hatte sich Florian für das Leben entschieden, das er führte. Davon durfte ihn nichts abbringen.

Florian schnäuzte in sein Taschentuch. Er stand auf und ging zur nächs­ten Weide. Er versuchte sich ganz auf seine Arbeit zu konzentrieren. Das hatte er im Leben immer so gemacht. Arbeiten und nichts anderes zu tun, als zu arbeiten, nur das hatte ihn vieles überstehen lassen. Abends war er so müde gewesen, dass er gleich in einen tiefen Schlaf gefallen war und er nicht ins Nachdenken und ins Grübeln gekommen war. Florian beschleunigte seine Schritte.

*

Als Anna auf die Terrasse der Berghütte kam, saß Saskia auf einem Stuhl und hatte die Füße auf das Geländer gelegt. Sie schaute hinauf in die Sterne.

»Es ist ein besonders schöner Sternenhimmel heute Nacht«, bemerkte Anna.

»Ja! Ich liebe den Himmel über Waldkogel!«

»Hier, ich habe uns einen Grog gemacht! Darf ich mich zu dir setzen?«

»Bitte!«

Saskia schaute sich um.

»Toni hat sich zurückgezogen. Das ist gut, dann können wir Weiber ein bisserl reden, ohne dass wir uns beobachtet fühlen«, sagte Anna. »Es geht nichts über ein gutes Gespräch unter Frauen. Frauen reden anders miteinander als sie mit Männern reden. Und sie reden noch anderes, wenn keine Männer in der Nähe sind.«

Sie nippten an den Bechern.

»Schmeckt gut, Anna! Der Grog ist schön kräftig und süß, so wie ich ihn mag.«

»Saskia, dich bedrückt doch mehr, als du mir vorhin angedeutet hast. Ich will nicht in dich dringen. Ich will dir nur sagen, dass du in mir eine gute Zuhörerin hast, falls du reden willst.«

»Danke, Anna! Ich gestehe dir, ich bin heute sehr verwirrt.«

»Das habe ich bemerkt! Dich beschäftigt etwas, vor dem du gerne davonlaufen würdest, aber es dir versagst. Du drehst dich im Kreis.«

»Du bist eine gute Menschenkennerin, Anna.«

»Man lernt viel über Menschen hier auf der Berghütte. In der Einsamkeit der Berge kann es vorkommen, dass langverdrängte Gefühle, Erinnerungen und Konflikte an die Oberfläche steigen, dass sie aufbrechen. Im Alltag sind die Menschen mit so vielen Aufgaben beschäftigt, dass sie das, was sie wirklich bedenken und vielleicht auch lösen sollten, dem sie sich stellen sollten, verdrängen können. Hier in den Bergen bei der Ruhe, ohne Radio, Fernsehen, Kino, Internet ist das nicht so einfach. Hier gibt es nur den kleinen Menschen und die großen Berge.«

Saskia trank wieder einen Schluck. Sie umklammerte den Becher mit beiden Händen, als wollte sie sich an ihm festhalten.

»Ich bin hierher gekommen, um zwei Ausgaben der Wochenendbeilagen zu schreiben. Ich habe auch schon einige Themen. Ich war heute Zeugin, wie eine Kuh gekalbt hat. Und ich sage dir, es war ein ganz besonderes Erlebnis. Dann habe ich die Herzen an der Felswand fotografiert. Ich versuche, die Paare aufzustöbern und sie zu ihrem Leben befragen. Zumindest hoffe ich, einige zu finden.«

»Frage Meta, sie kennt alle! Meine Schwiegermutter ist ein wandelndes Geschichtsbuch, was Ereignisse in Waldkogel angeht.«

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

Anna trank einen Schluck Grog.

»Wer hat dir von der ›Wolfsgrub‹ erzählt, Saskia?«, fragte Anna direkt.

»Ach, ich bin nach meiner Ankunft gleich losgegangen. Ich wollte nur einen harmlosen Abendspaziergang machen …«

Saskia brach den Satz ab.

»Klingt, als sei dieser geplante Spaziergang dann ganz anders verlaufen?« Anna zeigte Verständnis und ermutigte Saskia.

»Ja, das ist er. Das Wort ›Verlaufen‹ kann man verschieden anwenden, einmal dass etwas vorbeigeht, dann, dass man vom Weg abkommt. Bei mir ist alles irgendwie anders gekommen. Ich habe mich zu Anfang zwar nicht verlaufen. Ich war neugierig und habe den Weg bewusst gewählt. Ich wollte dahin. Und jetzt kommt es mir vor, dass ich mich verlaufen habe und es nicht gut für mich war. Ich frage mich, ob ich mich in meiner Lebensplanung auch verlaufen habe. Ich weiß gar nicht mehr, was ich will, und wie ich es machen will, und ob ich es kann. Ich bin mir auf alle Fälle nicht mehr sicher, dass das Opfer sich lohnt.«

»Welches Opfer?«

»Nun, das Opfer, niemals Ich selbst zu sein. Ich muss neutral sein, ein Unwesen, ein geschlechtsloses und herzloses Neutrum. Nur so kann ich es beschreiben. Anna, ich muss in der Lage sein, alles zu sehen, zu hören und wiederzugeben, ohne dass es mich persönlich berührt …, wie eine Filmkamera, ein Rekorder. Das sind tote Gegenstände, die nur funktionieren. Ich bin ein Mensch! Ich schaue anderen Menschen in die Augen. Ich sehe, wie sie leben und ich verstehe es nicht.«

Saskia seufzte tief.

»Anna, dir muss mein Gestammel ziemlich wirr vorkommen, nicht wahr?«

»Wirr, das ist vielleicht übertrieben. Aber es zeigt mir, dass du sehr durcheinander bist.«

»Anna, ich habe einen Typen gesehen! Wow, kann ich da nur sagen! Ein irrer Typ, ein Exemplar von Mann, wie du ihn dir nicht vorstellen kannst. Groß ist er. Breite Schultern hat er. Er hat die allerblausten Augen, die du dir nur vorstellen kannst. Seine Augen leuchten in einer ganz intensiven blauen Farbe, wie es sich nur schwer beschreiben lässt. Sie sind nicht himmelblau, nicht azurblau, nicht meerblau, nicht blau wie der Enzian. Es ist eine Mischung aus allen Blautönen der Welt.«

»Dich hat es ganz schön erwischt, wie?«

»So ist es, Anna! Das darf nicht sein! Das ist wirklich eine Katastrophe! Dieser Zustand gefährdet meine Objektivität.«

»So, so! Es beeinträchtigt deine Objektivität?«

Anna unterdrückte ein Schmunzeln.

»Ja, diese blauen Augen, die lassen mich nicht mehr los. Anna, er sah großartig aus. Er trug nur eine alte Lederhose mit Hosenträgern und Haferlschuhe. Ich dachte, ich falle in Ohnmacht, als er plötzlich vor mit stand. Aber …«

»Was ist aber?«

»Nun, mit dem Burschen und seinem Vater stimmt etwas nicht. Sie hausen in einer Almhütte, die nur von außen als Almhütte zu erkennen ist. Innen gleicht sie mehr einer Müllhalde. So etwas habe ich noch nie gesehen, Anna! Überall stand schmutziges Geschirr herum, gebrauchte Wäsche auf dem Boden, Fliegen überall, mehrere Benzinfässer voller leerer Konservendosen. Die Vorhänge waren fast schwarz. Spinnweben überall. Der Boden war voller Schmutz.«

»Jetzt fragst du dich, wie der schöne Bursche so leben kann?«

»Genau! Kein Mensch kann so leben!«

»Offensichtlich doch! Männer sehen Ordnung mit anderen Augen. Wenn es dort in der Almhütte keine Frau gibt, dann ist es eben eine Männerwirtschaft. Nicht jeder Mann hat das Talent eines Hüttenwirts, kann kochen und putzen, Gläser spülen und viele Dinge, die sonst jede Frau kann.«

»Aber dort war es besonders krass, Anna. Es herrscht einfach nur Chaos! Ich war erschüttert. Wie kann er dort leben? Wie kann jemand, der so ästhetisch ausschaut, so dahinvegetieren in einem solchen Schweinestall. Ja, Schweinestall, wobei das eine Beleidigung für jedes Schwein ist! Es war so abstoßend. Es war einfach unzivilisiert.«

Anna unterdrückte ein Schmunzeln.

»Aber dich zieht dieser unzivilisierte Bursche an?«

»Ja, ich gebe es zu. Er raubt mir den Verstand. Er interessiert mich. Aber das darf nicht sein. Ich muss es mir unbedingt versagen. Doch es gelingt mir nicht. Ich kann nicht mehr klar denken. Wie soll ich über die Geburt des Kalbes schreiben, oder über die Herzen an der Felswand, wenn er mir im Kopf herumgeht?«

Anna dachte nach.

»Saskia! Das mit dem beruflichen Abstand, der Distanz, die du halten willst, das ist Unsinn. Du machst dir selbst etwas vor. Für mich stellt sich das Ganze etwas anders dar.«

»Wie?«

»Langsam! Du erzählst mir jetzt alles, und zwar schön langsam der Reihe nach, von dem Augenblick an, als du bei meinen Schwiegereltern das Wirtshaus verlassen hast, bis zu dem Zeitpunkt, als du hier eingetroffen bist.«

»Warum?«

»Saskia! Bitte, tue es einfach! Ich höre!«

Anna schaute Saskia kein einziges Mal an, während diese redete. Es dauert lange, bis sie zu Ende war.

»Fertig!«, sagte Saskia.

»Gut!«, sagte Anna nach einer Weile. »Ich würde sagen, du hast dich in den Basler-Florian verliebt. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß, dass es einen Basler-Hof gibt. Meta und Xaver haben darüber geredet. Der BaslerHof war im Frühjahr in aller Munde.«

»So, warum?«

»Ich kann dir da nichts Genaues sagen. Ich weiß nur, dass die Bäuerin schon lange tot ist. Sie starb, kurz bevor Florian volljährig wurde. Sein Geburtstag lag einen Tag nach der Beerdigung. Florian ging an diesem Tag fort. Der Bauer igelte sich darauf hin ein. Er ging nicht mehr zum Stammtisch und nicht in die sonntägliche Messe. Nach und nach verkaufte er das Vieh. Er verpachtete seine Almen und lebte so vor sich hin. Der Hof verkam. Er besserte nichts aus, kümmerte sich um nichts. Das Geld muss auch knapp gewesen sein. Dann im Frühjahr kam eine Baufirma und renovierte den Hof. Eine Haushälterin zog ein und schaut seither nach allem. Der Basler-Bauer kaufte eine Menge Pinzgauer Rinder und zog auf die alte Almhütte. Es wurde sehr gerätselt, woher er das Geld hatte und der plötzliche Sinneswandel kam. Jetzt erzählst du mir, dass der Florian auf der Almhütte ist. Das ist eine Neuigkeit! Niemand in Waldkogel weiß davon. Dann scheinen die beiden sich nach all den Jahren ausgesöhnt zu haben. Das finde ich schön. Sicherlich ist die Geschichte kein Stoff für eine Reportage, aber das ist auch nicht wichtig. Saskia, halte dich nicht an Äußerlichkeiten fest. Mir scheint es, dass du dein Herz an Florian verloren hast. Er hatte dich eingeladen, zu bleiben. Du hast abgelehnt. Er hoffte auf ein Wiedersehen. Gib ihm eine Chance! Und vor allen Dingen, gib dir eine Chance! Das meine ich in doppelter Hinsicht. Erstens wegen dir selbst. Verschaffe dir Klarheit über deine Gefühle. Und zweitens hast du Stoff für eine Reportage über das Almleben eines Rinderzüchters.«

»Ich halte es auf dieser Almhütte keine Minute aus. Da muss man ja im Schutzanzug hin!«

»Dann mache sauber! Oder bringe Florian dazu, dass er sauber macht.«

»Du bist verrückt, Anna! An die Almhütte sollte man ein Streichholz halten und abbrennen.«

»Die alten Almhütten stehen unter Denkmalschutz!«

»Aha! Dann stehen die leeren Konservendosen, die schmutzige Wäsche, die dreckigen Vorhänge auch unter Denkmalschutz, wie?«

»Was greifst du mich an, Saskia?«

»Entschuldige, Anna! Ich bin nicht ganz bei mir!«

»Das weiß ich ja! Es fragt sich nur, was du jetzt tust? Die Kraft, die Begegnung zu vergessen, hast du offensichtlich nicht. Denn du bist in Florian verliebt. Seine blauen Augen bringen dich um deinen Verstand. Gib es zu!«

»Ja, schon, ich gebe es zu!«

»Dann packe zu!«

»Wie? Wie meinst du das?«

»Besen, Seife, Schrubber!«

»Du bist verrückt!«

»Und du bist verliebt! Also, wenn mir die Augen eines Mannes so gefallen würden, dann würde ich den ›Engelssteig‹ versetzen und das ›Höllentor‹ abtragen!«

Saskia seufzte tief.

»Anna, ich kann doch da nicht einfach hingehen und die Putzfrau spielen.«

»Nein, du kannst aber als Reporterin um ein Quartier bitten. Natürlich würdest du es bezahlen, in dem du etwas saubermachst. Himmel, Saskia! Du hast doch Fantasie!«

»Das klingt so einfach, wenn du es sagst, das ist es aber nicht.«

»Nichts ist einfach im Leben! Das weißt du! Es geht hier nur um die Frage, willst du Florian näher sein oder nicht? Wenn du ihm näher sein willst, dann habe ich dir vielleicht einen Weg gezeigt. Gibt es Strom auf der Almhütte?«

Saskia überlegte.

»Ich denke ja. Es hing eine Glühbirne an der Decke. Sie war auch voller Fliegendreck.«

»Das ist gut, dann kannst du dort deinen Computer einschalten.«

Anna trank ihren Becher leer. Sie gähnte.

»Liebste Saskia! Ich gehe schlafen. Du kannst gerne noch hier sitzen bleiben und nachdenken. Bello bleibt bei dir. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Anna! Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast. Es tat mir gut, mit dir zu reden!«

Die Frauen umarmten sich. Saskia ging mit hinein. Sie setzte sich an den Kamin und schaute in die Glut. Bello, der junge Neufundländerrüde, legte sich auf den Boden und schlief.

*

»Saskia! Saskia!« Von weitem drang eine Stimme an ihr Ohr

Sie kam langsam zu sich, öffnete die Augen.

»Saskia, sag mal, hast du heute Nacht hier im Schaukelstuhl am Kamin geschlafen?«

Saskia rieb sich die Augen. Sie stand auf und streckte sich.

»Ja, so war es wohl. Anna und ich haben erst draußen geredet. Anna ist dann ins Bett und ich setzte mich hier hin. Ich muss eingeschlafen sein.«

»Dann lege dich jetzt noch etwas schlafen. Es ist noch sehr früh!«

Draußen ging die Sonne auf. Saskia lief hinaus auf die Terrasse der Berghütte und streckte sich.

»Ich bin nicht müde, Toni! Danke, dass du mich geweckt hast! Hast du einen Kaffee?«

»Das Wasser kocht gleich! Willst Eier mit Speck?«

Saskia schüttelte den Kopf.

»Toni, bewahre! Wir haben kurz nach fünf Uhr. Schon beim Gedanken an Eier mit fettem Speck um diese Uhrzeit dreht sich mir der Magen um, auch wenn ich Eier mit Speck gerne esse. Um diese Zeit schläft mein Magen noch. Dafür ist mein Gehirn putzmunter. Ein Becher Kaffee und ein Stück von Annas selbstgebackenem Brot mit Butter von der Oberländer Alm machen mich restlos glücklich.«

Saskia folgte Toni in die Küche. Er gab ihr Brot und Butter. Saskia machte sich ein Butterbrot. Sie begann, es im Stehen zu essen.

»Willst dich nicht setzen? Der Kaffee ist gleich fertig.«

»Danke, Toni! Ich esse schnell mein Brot und trinke meinen Milchkaffee, dann mache ich mich auf den Weg.«

Toni schaute sie überrascht an.

»Du willst uns schon wieder verlassen? Des ist schade. Da werden die Kinder enttäuscht sein.«

»Sage ihnen liebe Grüße! Ich bin ja nicht aus der Welt. Ich muss nur etwas erledigen, dass ich es aus dem Kopf bekomme.«

»So?«

»Ja, schau nicht so, Toni! Es ist etwas Persönliches, sehr persönlich, extrem privat!«

»Ich verstehe voll und ganz! Die Anna hat eine Andeutung gemacht, als sie ins Bett kam. Soll ich raten?«

Toni grinste über das ganze Gesicht.

»Du bist in den Florian Basler verliebt! Mei, des ist net verwunderlich. Schon als er hier in die Schul‹ gegangen ist, waren alle Madln hinter ihm mehr. Es ist nicht überraschend, dass er dir gefällt. Es ist nur überraschend, dass er wieder in Waldkogel ist. Niemand hat ihn bisher gesehen. Sein Vater hat nix erzählt. Es wurde viel geredet, als der Hubertus den Hof renovieren ließ und die Herde Pinzgauer Rinder gekauft hat. Am Ende steckt der Florian dahinter. Mei, des ist alles sehr seltsam. Naja, vielleicht kommst du als Journalistin dahinter.«

»Du spekulierst, Toni! Ich habe mit keinem Wort von Florian Basler gesprochen.«

»Gut, dann will ich auch nichts gesagt haben.«

Der Kaffee war fertig. Toni schenkte die Becher voll. Saskia nahm nur einen halben Becher und füllte den Rest mit Milch auf. Sie gab Zucker dazu, rührte um und trank aus.

»Himmel, musst du es eilig haben!«, staunte Toni. »Madl, jetzt machst du mich doch neugierig. Wo willst du um diese Uhrzeit hin? Was hast vor?«

»Ich mache ein Experiment!«

Toni lachte.

»So nennt man das jetzt, ein Experiment! Was tust denn experimentieren? Oder soll ich besser fragen, mit wem?«

»Toni, sei still!«

Saskia errötete.

»Dann bleibt mir nur übrig, dir Glück zu wünschen!«

»Danke, das kann ich gebrauchen! Ich habe das Gefühl, dass ich womöglich in ein Wespennest steche!«, fügte Saskia leise hinzu.

»Also, Pfüat di, Toni! Grüße mir Anna, die Kinder und den alten Alois. Und halte mir als Zufluchtsort die Kammer frei.«

»Das werden wir! Und grüße du mir die Eltern!«

»Himmel, Toni! Deine Eltern dachten, dass ich bei ihnen übernachte. Sie werden beunruhigt sein!«

»Sorg‹ dich net, Saskia! Ich rufe sie an und sage ihnen, dass du bei uns gewesen bist. Aber es ist noch früh. Vielleicht haben sie dich noch nicht vermisst.«

Saskia ging in die Kammer. Sie benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser und putzte schnell die Zähne. Dann zog sie ihren Rucksack auf und ging hinaus. Toni war dabei, den Kamin in der großen Wirtstube von Asche zu säubern. Sie nickte ihm zu und ging davon.

Toni wartete einen Augenblick, dann spähte er aus der Tür der Berghütte. Saskia wanderte mit großen Schritten das Geröllfeld hinauf.

»Des Madl ist doch auf dem Weg zur Basler-Alm übers ›Erkerchen‹, dann den ›Pilgerpfad‹ entlang. Sie wird die ›Wolfsgub‹ hinuntersteigen«, sagte Toni leise und streichelte dabei Bello, der neben ihm stand.

Die Tür zur Basler-Almhütte stand offen, als Saskia ankam. Florian und sein Vater saßen am Tisch. Sie tranken Kaffee, jeder hatte ein Stück trockenen Kuchen vor sich liegen.

»Ja mei, Madl! Da bist ja wieder! Bist wieder unterwegs!«

»Guten Morgen! Eh …, mmm…, ich meine ›Grüß Gott‹, wie man hier in den Bergen sagt. Ja, ich bin noch einmal vorbeigekommen, weil …, weil …, ja weil ich eine Frage habe.«

Saskia lief rot an.

»Was wirst denn so rot im Gesicht, Madl! Fragen kann man immer, es ist nur ungewiss, dass man auch eine Antwort bekommt«, sagte der alte Bauer.

Florian saß dabei. Saskia fiel auf, dass er sie nicht ansah und sich auch nicht am Gespräch beteiligte.

»Also, Madl, was willst fragen? Nur Mut!«

Saskia räusperte sich. Ihr Hals war wie zugeschnürt, ihr Herz raste.

»Ich bin Studentin! Ich habe mich bei einer Zeitung um eine Stelle beworben für nächstes Jahr nach meinem Examen. Die Zeitung will zwei große Reportagen. Da … da … dachte ich mir, ich könnte über die Rinder hier schreiben und über die Kälbchen.«

Sie räusperte sich wieder.

»Dazu müsste ich schon öfters herkommen … Ich könnte auch hierbleiben … Ich meine, ich würde auf meine Art dafür bezahlen … Ich könnte aufräumen und sauber machen …«

Florian sah kurz auf. Seine blauen Augen trafen Saskia mitten ins Herz.

»Wir sind so gar net auf einen Logiergast eingestellt. Des ist hier alles ziemlich primitiv …«

Der Bauer sah sich um und war jetzt sehr verlegen.

»Das stört mich nicht. Es sieht schlimmer aus, als es ist«, beschönigte Saskia. »Mir geht es nur darum, dass ich möglichst nahe bei den Kühen bin. Ich würde den Weg vom Dorf herauf sparen und könnte hier schreiben. Elektrizität gibt es offensichtlich, wenn diese Glühbirne ...«

»Ja, ja, Strom haben wir hier!«, sagte der Bauer.

Er rieb sich die Wange.

»Florian, was meinst du dazu?«

»Du entscheidest! Wie du es machst, ist es mir recht! Ich muss auf die obere Weide. Kommst bald nach?«

»Ja, ja! Gut, Madl, dann kannst bleiben! Hier musst dich eben einrichten, so gut es geht!«

Saskia nickte. Sie überwand sich und ging um den Tisch herum, der in der Mitte der Almhütte stand.

»Was dich stört, kannst rauswerfen. Abfall wird hier verbrannt!«, sagte der Bauer.

Saskia nickte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Florian aufstand, seinen Hut nahm und wortlos davonging.

»Der Bub ist ein bisserl wortkarg, Saskia! Da darfst dir nix draus machen. Der Florian war schon immer so!«

Der Bauer trank seinen Kaffee aus.

»Ich muss jetzt gehen! Wir kommen erst am Abend wieder zurück! Kannst hier schalten und walten, wie du willst! Dahinten in den Kisten sind Konserven, wenn du Hunger bekommst.«

Saskia nickte dem Bauern zu.

»Ich werde erst etwas aufräumen. Dann muss ich noch einmal ins Dorf und meine Sachen holen. Ich bringe mein Motorrad mit.«

»Oh, du bist eine Motorradbraut! Da wirst du dem Florian gefallen. Der hat auch ein Motorrad. Es ist eine ganz neue Harley Davidson!«

»Oh, fantastisch! Wo hat er sie stehen?«

Der Bauer zuckte mit den Schultern.

»Des weiß ich net. Ich habe ihn erst einmal darauf gesehen! Des musst du ihn selbst fragen!«

Seltsam, dachte Saskia, die beiden scheinen wirklich nicht viel miteinander zu reden.

Der Bauer nahm seinen Hut.

»Du kannst dir eine Kammer aussuchen. Wir schlafen dann zusammen in der anderen Kammer!«

Er deutete auf die beiden Türen, dann ging er fort.

Saskia atmete tief durch. Sie machte sich Mut. Zuerst stellte sie den Rucksack auf die Bank vor die Almhütte. Dann trank sie Wasser aus dem Brunnen. Sie war durstig.

»Aufi!«, sagte sie zu sich selbst.

Saskia ging um die Almhütte herum. In einem Anbau fand sie verschiedene große Wannen. Diese schleppte sie nach vorne in die Nähe des Brunnens und machte sie voller Wasser. Dann trug sie alles schmutzige Geschirr heraus und weichte es darin ein.

Die großen Benzinfässer ins Freie zu bringen, war sehr schwer. Aber Saskia schob und drückte, bis sie außer Atem war. Draußen vor der Almhütte band sie ein Seil um jedes Fass und zog es so auf die Wiese weit entfernt von der Almhütte.

Als nächstes trug sie die Stühle und den Tisch hinaus, sowie einige Hocker und beschädigte Regale, die in sich zusammengebrochen waren. Einen Teil brachte sie gleich auf die Wiese zum Abfall. Diejenigen, die sie für besser erachtete, stellte sie zur Seite.

Dann suchte Saskia einen Besen und kehrte. Sie kehrte den Haufen mit der schmutzigen Wäsche mit hinaus.

»Die wird nie mehr sauber! Die kommt weg«, sagte sie.

Die Almhütte kam ihr jetzt schon viel größer vor. Saskia legte Holz im Ofen nach und machte Putzwasser warm. Sie wischte als nächstes die Bretter an der Wand und die Wand selbst über dem alten Spülstein ab, sowie das breite Arbeitsbrett, das neben dem steinernen Abguss auf zwei Böcken lag.

Dann sortierte sie die Kisten mit den Konserven und Vorräten aus und ordnete alles an der Wand auf die Bretter.

»Das sieht aus wie in einem Laden. Alles da! Eintöpfe, Gemüse, Obst in Dosen, Öl, Essig, Zucker, Salz, Gewürze, Mehl, Trockenhefe, Reis, Nudeln, Gulasch in Dosen, Soßenpulver, Puddingpulver und, und, und! Da kann man richtig kochen! Das scheinen die beiden aber nicht gemacht zu haben!«

Saskia fand auch mehrere Flaschen Spülmittel, Putzmittel und sogar Waschpulver. Sie trug die leeren Kartons auf die Wiese und goss eine ganze Flasche Spülmittel zum eingeweichten Geschirr. Anschließend füllte sie einen Eimer mit kochendem Wasser und Waschpulver. Sie gab noch etwas Natron dazu. Von ihrer Großmutter wusste Saskia, dass Natron gut gegen Schmutz wirkt. Dann stampfte sie die Vorhänge mit einem Stock in die heiße Brühe.

»So, die sind auch erst einmal eingeweicht!«

Saskia hatte Hunger. Sie öffnete ein Glas mit Schokoladencreme. Um sie zu essen, musste sie sich erst einen Löffel spülen. Danach fühlte sich Saskia besser.

Jetzt machte sie sich daran, die beiden Kammern zu inspizieren. Sie waren beide gleich groß. Jede enthielt zwei Betten, zwei Hocker, ein Regal und jede Menge Kleiderhaken an der Wand. In einer der Kammern hingen auf einem Bügel eine Jeans und ein helles Baumwollhemd. In der Ecke stand ein Rucksack einer bekannten Nobelmarke. Saskia vermutete, dass diese Dinge Florian gehörten. Sie wagte aber nicht, den Rucksack zu durchsuchen, obwohl sie sehr neugierig war. Sie ließ die Kleider hängen und den Rucksack stehen. Sie nahm die andere Kammer. Darin hatte wohl der Bauer geschlafen. Sie brachte seine Sachen in die zweite Kammer und legte sie auf das Bett. Dann schloss sie die Tür. Sie hatte genug damit zu tun, ihre Kammer wohnlich zu machen. Sie zog die beiden Betten ab, schleppte die Matratzen in die Sonne. Sie wischte sie oberflächlich feucht ab. Bis zum Nachmittag wären sie trocken, dessen war sie sich sicher. In der Kammer, die sie für sich ausgesucht hatte, fand sie in einem Koffer frische Bettwäsche. Die setzte Saskia auch erst einmal der Sonne aus. Sie war dem Himmel dankbar, dass es nicht regnete. Dann brachte Saskia eines der Bettgestelle in den Schuppen und schleppte von dort einen kleinen Tisch herein. Eines der Tischbeine wackelte, aber wenn sie ihn ganz in die Ecke schob, würde er schon Stabilität bekommen, dachte sie. Dann putzte Saskia die Kammer und den großen Raum der Almhütte. Es war eine mühsame Arbeit. Sie brauchte viele Eimer heißes Wasser dazu und schrubbte die alten Dielenbretter. Zwischendrin machte sie immer wieder eine Pause.

Als das Angelusläuten zu Mittag erschallte, war Saskia damit fertig. Sie machte eine kleine Pause und ruhte sich aus. Dann putzte sie die Fenster. Weil es keine sauberen Lappen gab, zerschnitt sie kurzerhand ein weiteres Bettlaken aus dem Koffer, eines hatte sie schon zu Putzlappen verarbeitet.

›Wo gehobelt wird, fallen Späne‹, dachte Saskia und ohne Lappen kann ich nicht sauber machen.

Saskia war stolz auf das, was sie geleistet hatte. Sie war so richtig in Fahrt. Als nächstes spülte sie das Geschirr. Sie war bald damit fertig. Sie trug den gesäuberten Tisch und die Stühle hinein.

Saskia war sehr mit sich zufrieden. Als nächstes legte sie die zwei Matratzen auf das Bettgestell und bezog ihr Bett.

»So, mehr kann ich im Augenblick nicht tun«, sagte sie laut. »Der Rest kommt später!«

Saskia nahm ihren Rucksack und lief querfeldein über die Wiesen nach Waldkogel.

Zum Glück waren Meta und Xaver Baumberger nicht daheim. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. Darauf stand:

Liebe Saskia!

Wir sind nach Kirchwalden gefahren. Kommen erst am späten Nachmittag zurück. Den Schlüssel zum Schuppen haben wir in dein Zimmer gelegt.

Liebe Grüße

Meta und Xaver

Saskia zögerte nicht lange. Sie schrieb darunter:

Danke für die Nachricht! War hier und habe mein Motorrad geholt. Bin unterwegs für eine Reportage. Bis die Tage!

Liebe Grüße Saskia

PS: Habe mir Küchenwäsche ausgeliehen, 3 Tischdecken, 6 Hand­tücher und 6 bunte Servietten. Danke!

Saskia holte ihr Gepäck aus dem Zimmer und lud es in den Beiwagen des Motorrads. Sie wollte gerade losfahren, als ihr Handy klingelte.

»Hallo, Saskia! Wie geht es dir? Gut angekommen?«

»Oh, Chef! Sie sind es! Ja, ich bin gut angekommen! Ich bin gerade auf dem Weg zu einer Reportage.«

»Das ist gut! Viel Erfolg! Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass du ein Spesenkonto hast!«

»Oh, ein Spesenkonto. Das ist gut!«

Als ihr Chef den Betrag nannte, konnte es Saskia kaum fassen.

»Kann ich davon alles kaufen, ich meine auch Geschenke?«

Der alte Chef lachte.

»Oh, ich ahne etwas! Du bist dahintergekommen, wie du noch besser an Informationen kommst. ›Mit Speck fängt man Mäuse‹ oder ›Kleine Bestechungen erhalten die Freundschaft‹ und haben noch nie geschadet. Ich bin bespannt, was du herausfindest. Willst du mir nicht verraten, über was du schreibst?«

»Das ist schwer! Es gibt hier in Waldkogel ein Rätsel. Vor vielen Jahren ist ein Mann von hier verschwunden. Er ist einfach fortgegangen. Und jetzt ist er wieder hier. Es scheint niemand zu wissen, wo er war, was er gemacht hat.«

»Klingt spannend! Bis bald, Saskia, und viel Erfolg!«

»Bis bald, Chef!«

Saskia legte auf. Ihr war heiß, eine Ausrede war ihr nicht eingefallen. Dabei war ihr klar, dass sie keinesfalls über Florian schreiben würde, höchstens als Rinderzüchter.

Saskia schwang sich auf das Motorrad und fuhr zum ›Trachten– und Andenkenladen Boller‹. Der Laden führte im Anbau alles, was ein Tante Emma Laden brauchte. Im Hinblick auf ihr Spesenkonto, kaufte Saskia tüchtig ein. Veronika Boller stellte zwar neugierige Fragen, aber Saskia überhörte sie einfach und war froh, als sie den Laden mit vielen Tüten wieder verlassen konnte. Dann ging es über den Feldweg zur Basler-Alm.

Saskia räumte den Beiwagen aus. Sie trug ihre Sachen in die Kammer und schichtete die allgemeinen Einkäufe in die Regale zu den anderen Vorräten. Saskia schaut auf die Uhr. Es war schon späterer Nachmittag. Sie wusch die Scheibengardinen mit der Hand aus. Sie waren nicht weiß geworden, aber sauber. Saskia hängte sie feucht an die Fenster. Dort konnten sie trocknen.

Als nächstes überlegte Saskia, was es zu Abendessen geben sollte. Aus verschiedenen Gemüsen mixte sie einen Salat. Dazu gab es einen kalten Nudelsalat und einen Eiersalat. Die Eier hatte Saskia im Dorf gekauft. Sie deckte den Tisch, legte die mitgebrachten Servietten neben die Plätze und stellte die Schüsseln in die Mitte, die sie mit Tellern abgedeckt hatte. Sie legte die Bierflaschen in den Brunnen, da es keinen Kühlschrank gab.

»So, das war ein Kraftakt! Jetzt mache ich mich daran, Tagebuch zu schreiben.«

In der Kammer gab es keine Steckdose und Saskia hatte kein Verlängerungskabel. So entschloss sie sich erst einmal nur Notizen in ihr kleines Buch zu machen. Dazu setzte sie sich vor die Almhütte.

Als sie während des Schreibens einmal aufschaute, fiel ihr Blick auf den Müll, den sie mitten auf der Wiese aufgehäuft hatte. Sie kam auf die Idee, den Müll bereits anzuzünden und damit nicht auf Florian und den Bauern zu warten. Auf der Wiese musste an der Stelle schon öfters Müll verbrannt worden sein, denn es lag viel Asche herum. Saskia zündete die Kartons an einigen Stellen und das schmutzige Bündel Wäsche an. Die Flammen züngelten sofort noch oben. Saskia trat erschrocken zurück. Schwarzer Rauch stieg auf und stieg in den blauen Himmel.

Saskia war überrascht, wie hoch das Feuer aufloderte. Das hatte sie nicht gewusst. Es wäre besser gewesen, wenn ich nicht den ganzen Müll auf einmal verbrannt hätte, dachte sie. Doch dafür war es jetzt zu spät.

Saskia setzte sich vor die Almhütte und beobachtete das Feuer.

Es dauerte nicht lange, dann hörte sie ein Martinshorn und ein Polizeiauto brauste mit hoher Geschwindigkeit auf dem Feldweg auf die Almhütte zu. Ein Polizist sprang heraus. Er besah sich das Feuer. Dann griff er zum Handy.

»Fellbacher, Irminger hier! Es brennt net! Es ist genauso, wie ich es mir gedacht habe. Der Basler hat wohl nur mal wieder seinen Abfall verbrannt. Kannst den Männern von der Freiwilligen Feuerwehr sagen, dass sie net ausrücken müssen. Ich bleibe hier, bis das Feuer weiter runtergebrannt ist. Pfüat di, Fellbacher!«

Er legte auf.

Erst jetzt sah er die junge Frau vor der Almhütte sitzen.

»Grüß Gott! Mein Name ist Gewolf Irminger und ich bin hier in Waldkogel für die Polzeiarbeit verantwortlich!«

»Grüß Gott!«

»Ich suche den Basler-Hubertus! Wo ist er?«

»Er ist nicht da! Er musste nach den Kühen schauen!«

»Des ist ja noch schöner! Da machte er ein Feuer, dass wir drunten im Dorf denken, die ganze Hütte steht in Flammen und dann passt er noch nicht einmal auf. Er verdrückt sich zu seinen Kühen. Ja, was denkt er sich denn?«

Saskia errötete.

»Ich bin doch da!«

»Er ist hier der Bauer! Er hat das nicht zu machen! Das hat er schon so oft gesagt bekommen. Das letzte Mal habe ich ihm damit gedroht, dass es eine Anzeige gibt.

Er hatte mir versprochen, den Müll im Mülleimer auf seinem Hof zu entsorgen. Jetzt hat er ihn wieder in Brand gesteckt, dieser Hornochse. Dieses Mal kommt er mir nicht so davon. In Waldkogel waren alle in heller Aufregung.«

»Herr Basler hat damit nichts zu tun. Er hatte den Müll in der Almhütte. Ich habe ihn herausgetragen und angesteckt.«

»So, das bist du gewesen!«

Saskia störte es nicht, dass der Polizist sie duzte. Außerdem kannte sie ihn. Sie lächelte ihn an.

»Du bist doch der Wolfi, richtig!«

»Ja, der bin ich! Wie kommst jetzt da drauf?«

»Weil wir im letzten Jahr auf dem Kirchweihfest zusammen getanzt haben. Damals hatte ich noch längere Haare.«

Er schaute sie an.

»Erkennst du mich nicht mehr?«

»Sag nur, du bist die Saskia? Mei, ich habe dich net erkannt. Aber jetzt erinnere ich mich wieder an dich! Des war damals schön auf der Kirchweih. Und was machst hier auf der Basler-Alm?«

»Ich schreibe eine Reportage über Kühe!«

»Mei, du schreibst über Rindviehcher, was du net sagst? Und da bist ausgerechnet zum Basler-Hubertus? Wie kam’s dazu? Kennst du den? Der Hubertus ist doch so ein Einzelgänger und Eigenbrötler. Es gibt bestimmt andere Bauern hier, die auch Kühe haben. Willst wirklich hierbleiben auf der Basler-Alm?«

»Ja, ich bleibe hier! Es war Zufall, dass ich hier gelandet bin. Ich wollte mir die Kühe ansehen und habe dann gefragt, ob ich hier bleiben kann. Es stimmt schon, dass der Basler etwas wortkarg ist. Aber das stört mich nicht, im Gegenteil. Ich brauche Ruhe. Hier ist es schön still. Es hängt viel davon ab, dass ich für die Reportage eine gute Beurteilung bekomme. Wenn ich Gesellschaft suchen würde, dann hätte ich mich in Waldkogel bei einem Bauern einquartiert.«

»Ich verstehe! Jedenfalls freue mich, dich zu sehen! Und andere werden sich auch freuen. Wir haben noch oft von dir gesprochen, Saskia. Übrigens, in zwei Wochen ist Tanz drüben in Marktwasen. Kommst mit …, oder bist dann schon wieder fort? Was ich sehr bedauern würde!«

»Ich weiß nicht, ob ich in zwei Wochen noch hier bin, Wolfi! Ich würde möglicherweise mit dir tanzen gehen. Aber wenn du dem Basler jetzt eine Anzeige schreibst, denn wird er mich wohl rauswerfen und ich muss morgen schon abreisen.«

Gewolf lächelte.

»Des muss ich dann wohl verhindern!«

Er rieb sich das Kinn.

»Ich werde es nochmal bei einer Ermahnung belassen. Außerdem hast du den Abfall angesteckt und nicht der Hubertus Basler!«

»Du bist ein guter Polizist, Wolfi, und ein guter Tänzer!«

Gewolf Irminger strahlte.

»Heißt das, dass du mit mir tanzen gehst?«

»Ich werde sehr darüber nachdenken. Da ich bisher noch keine andere Einladung bekommen habe, stehen deine Chancen nicht schlecht!«

»Du erwartest noch andere Einladungen?«

»Wir waren bei der Kirchweih eine ganze Gruppe junger Leute. Einige Burschen waren ledig. Wenn du jetzt in Waldkogel erzählst, dass ich hier bin, dann bekomme ich bestimmt Besuch. Das zieht zwei Dinge nach sich. Erstens werde ich von meiner Arbeit abgelenkt und zweitens bekomme ich mit Sicherheit noch mehr Einladungen.«

»Dann wird es wohl besser sein, niemand etwas zu erzählen!«

»Genau, außerdem kann es sich bei dem Brand ja auch um eine Selbstentzündung gehandelt haben …, die Sonne …, einige Glasscherben …, und schon haben wir das schönste Feuerchen …«

»Du bist net dumm, Saskia!«

»Du auch nicht, Wolfi! Auf jeden Fall werde ich zum Tanz nach Marktwasen gehen.«

»Des ist gut, des ist sehr gut! Ich kann dich auch abholen. Musst mir nur Bescheid geben. Kannst auf der Dienststelle anrufen. Die Polizei, dein Freund und Helfer! Du weißt schon! Ich bin immer erreichbar. Ich habe mich gefreut, dich zu sehen.«

»Mich hat es auch gefreut, Wolfi!« Sie lächelte ihn an. »Wolfi, ich will nicht unhöflich sein! Aber ich muss noch etwas arbeiten – schreiben!«

Gewolf Irminger zeigte mit dem Finger auf ihr Notizbuch.

»Du schreibst net mit einem Computer?«

»Doch! Aber in meiner Kammer ist keine Steckdose. Ich habe kein Verlängerungskabel!«

»Ha, wenn des alles ist?«

Gewolf ging zum Polizeiwagen. Im Kofferraum befand sich ein großer Scheinwerfer und eine Kabelrolle. Er nahm die Kabelrolle heraus.

»Hier, die leihe ich dir! Auf der Dienststelle habe ich noch eine!«

»Danke! Das kann ich kaum mehr gut machen.«

»Doch, das kannst du! Gehe mit mir tanzen!«

Sie lächelte ihn nur an.

»Dann mache ich mich gleich an die Arbeit! Pfüat di, Wolfi!«

»Pfüat di, Saskia!«

Gewolf lächelte ihr noch einmal zu, stieg dann in den Polizeiwagen und fuhr davon. Er winkte aus dem offenen Wagenfenster.

Saskia setzte sich erschöpft auf die Bank.

»Puh, das war knapp!«, sagte sie leise vor sich hin.

Sie blieb eine Weile sitzen. Dann ging sie in die Almhütte. Sie verlegte das Verlängerungskabel und setzte sich in ihrer Kammer an den Computer.

*

»Himmelherrschaftszeiten! Sakrament, was ist denn hier geschehen? Vater, komm her! Schnell! Des musst dir ansehen!«

Florians Stimme drang durch die offene Tür. Saskia sprang vom Hocker auf. Sie lief hinaus in den großen Raum der Almhütte. Sie stellte sich neben den Tisch und stützte die Arme in die Seite. Sie sah Florian an.

»Du siehst ja, was hier geschehen ist! Und so wird es auch bleiben, so lange ich hier bin. Das war hier ein richtiger Saustall! Wobei das eine Beleidigung für die Tiere ist.«

Florian und Hubertus wollten die Almhütte betreten.

»Stopp! Keinen Schritt weiter!«, rief Saskia und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Schuhe der beiden.

»Erst werden die Schuhe ausgezogen! Ich habe geputzt!«

Florian starrte sie an.

Er trat einen Schritt zurück vor die Almhütte. Gehorsam und offensichtlich noch völlig unter Schock stehend, öffnete er die Schnürsenkel seiner Haferlschuhe, genau wie sein Vater.

»Dann noch etwas! Hände waschen! Beim Brunnen liegt Seife und ein Handtuch.«

Die Männer schauten sich an. Von der Tür aus sah Saskia, wie sie sich wuschen.

»Ihr könnt die Bierflaschen mitbringen!«, rief ihnen Saskia zu.

Augenblicke später übergaben sie ihr die drei Flaschen Bier.

»Wo hast die her?«

»Ich war im Dorf einkaufen«, antwortete Saskia knapp.

Sie zogen die Schuhe aus, dann kamen sie herein.

»Himmel, da muss ja eine ganze Kompanie zugepackt haben!«, bemerkte Hubertus Basler. »Waren die Heinzelmännchen hier? Wo ist denn das ganze Zeugs?«

»Nein, ich hatte keine Helfer. Da könnt ihr sehen, wie wenig Zeit es braucht, um Ordnung und etwas Sauberkeit zu schaffen. Es ist nicht optimal, aber so kann ich mich hier aufhalten. Die Lebensmittel sind auf den Wandbrettern. Die Kartons und den Abfall habe ich verbrannt und einige Möbelstücke auch. Draußen beim Brunnen stehen die Sachen, die man noch verwenden kann. Es müssen nur einige Nägel eingeschlagen werden. Das könnt ihr nach dem Essen machen! Es wird heute Nacht nicht regnen. Die Sachen können draußen stehenbleiben. Ich habe braune Farbe gekauft. Weiße Farbe hätte mir zwar besser gefallen, aber Weiß ist zu schmutzempfindlich für euch Mannsbilder!«

Saskia schaute sie beide an. Sie nickten nur. Sie waren sprachlos.

Saskia räusperte sich.

»Dann wollen wir essen! Ich habe kaltes Essen gemacht, weil ich nicht wusste, bis wann ihr zurück seid. Wer spricht das Tischgebet?«

Sie starrten sie an.

»Wir sprechen kein Tischgebet!«, sagte Florian leise. »Damit war nach dem Tode meiner Mutter Schluss. Es gibt auch keinen Herrgottswinkel, aber des wirst schon bemerkt haben.«

Saskia war es nicht aufgefallen. Sie schaute sich um und erkannte die Ecke in der Almhütte, in der zweifellos einmal ein Herrgottswinkel eingerichtet war.

»Nachdem es jetzt hier so schön sauber ist, sollten wir vielleicht wieder mit dem Brauch fortfahren, wie denkst du Florian!«

»Du bist der Bauer, du entscheidest!«

Hubertus überlegte einen Augenblick. Dann stand er auf und ging zur Tür und zog seine Schuhe an.

»Wo geht er hin?«

Florian zuckte mit den Achseln. Er vermied es, Saskia anzusehen. Sie beobachtete ihn genau. Es war nicht schwer festzustellen, dass er sich unwohl fühlte.

Nach einer Weile kam der Bauer wieder. Er zog auf der Schwelle brav die Schuhe aus. In einem Tuch war ein Kruzifix eingeschlagen. Mit ungeschickten Handbewegungen packte er es aus. Er hing es in der Ecke an den Nagel über dem kleinen Brett. Dann holte er aus seiner Hosentasche ein kleines ewiges Licht.

»Ich weiß nicht, ob es brennt! Ein anderes hab‹ ich net!«

»Was zählt, ist die Absicht!«, sagte Saskia leise. »Wenn ich wieder einkaufen gehe, bringe ich einen ganzen Karton solcher Lichter mit.«

Der Bauer setzte sich wieder. Sie schauten sich an. Die beiden wirkten unsicher, scheu und verlegen.

»Es kann ja jeder für sich alleine beten«, sagte Saskia.

Sie faltete die Hände und senkte den Kopf.

Als sie wieder aufschaute, sah sie wie Hubertus und Florian das Kreuzzeichen machten.

Saskia nahm die Teller von den Schüsseln und verteilte die Salate. Hubertus öffnete die Bierflaschen und schenkte ein. Sie aßen.

»Das schmeckt gut!«, sagte Hubertus.

Florian sah Saskia nur kurz an und nickte.

»Mei, Florian, jetzt sei doch net so verstockt! Des Madl hat sich solche Mühe geben!«, tadelte ihn sein Vater.

»Es schmeckt sehr gut! Danke, dass du gekocht hast.«

»Ich koche gerne!«

»Hast des gehört, Florian?«

Er nickte ihm zu.

»Also, wenn du Lust hast, dann kannst öfters kochen. Musst dir aber net so viel Arbeit machen. Wir sind net verwöhnt, haben uns meistens nur eine Dose aufgemacht. Also, ich würde mich schon freuen. Musst es auch net umsonst tun.«

Saskia sah den Bauern an.

»Bezahlung will ich nicht. Ich bin froh, dass ich hier sein kann. Ich möchte auch nicht versprechen, dass immer ein Essen auf dem Tisch steht, wenn ihr von der Viehweide kommt. Wenn ich am Schreiben bin, dann kann es vorkommen, dass ich die Zeit vergesse. Dann habe ich keinen Hunger und keinen Durst. Ich bin in einer anderen Welt. Es ist schwer zu verstehen«, sagte sie leise.

Der Bauer lächelte sie an. Seine Augen strahlten.

»Madl, du kannst dir gar net vorstellen, wie gut mir des alles gefallen tut, was du heute hier gemacht hast. Du hast wahre Wunder vollbracht!«

»Es war ein hartes Stück Arbeit. Dazu muss ich gestehen, dass ich etwas eigenmächtig war. Ich habe zwei Bettlaken zerrissen, weil keine Lappen zu finden waren. Die alte und total verdreckte Wäsche habe ich verbrannt. Sie war wirklich nicht mehr zu gebrauchen.«

Saskia errötete.

»Das war gut so! Deswegen musst du dir keinen Kopf machen. Wir müssen uns schämen. Wir werden jetzt ein bisserl besser auf alles achten«, bemerkte Hubertus.

»Es wäre schon viel erreicht gewesen, wenn ihr nach dem Essen das Geschirr gespült hättet. Schmutziges Geschirr zieht Fliegen an und nicht nur Fliegen ..., so will ich es einmal beschreiben. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, vielleicht wäre es gut, wenn es hier eine Katze geben würde.«

Florian und Hubertus schauten sich an. Sie verstanden, was Saskia mit dieser diskreten Andeutung sagen wollte.

»Ich werde Beate Bescheid geben. Sie hat meistens Katzen in der Tierarztpraxis, die sie vermitteln will oder sie weiß, wo es junge Katzen gibt«, sagte Florian leise.

Er griff in die Hosentasche seiner alten Lederhose und holte das Handy heraus. Es war ein sehr teures Handygerät mit der neusten Technik, das erkannte Saskia sofort. Sie war davon sehr überrascht, ließ sich aber nichts anmerken. Florian tippte eine SMS ein.

»So, ich habe der Beate Bescheid gegeben. Wenn sie kommt, um nach den Kälbern zu schauen, dann bringt sie vielleicht schon eine Katze mit.«

»Vielen Dank, das ist sehr freundlich! Ich freue mich schon auf die Katze oder den Kater. Ich liebe Tiere. Hunde und Katzen mag ich besonders.«

»Was hast du denn für einen Hund gehabt?«, fragte Hubertus.

»Ich hatte keinen Hund. Meine Eltern wollten es nicht. Alle haben gearbeitet, meine Eltern und auch meine Großeltern, die bei uns wohnten. Ich war den ganzen Tag in der Schule. Mutter meinte, es sei für ein Tier nicht gut, so lange alleine zu sein.«

»Da hatte deine Mutter net Unrecht.«

»Ich weiß. Irgendwann im Leben werde ich mir einen Hund holen.«

»Was für einen willst du?«

»In der Stadt sind kleine Hunde besser! Wenn es soweit ist, dann werde ich schon den passenden Hund finden. Doch das wird sicher noch Jahre dauern. ›Aufgeschoben ist nicht aufgehoben‹, heißt es. Es muss der richtige Zeitpunkt sein. So ein Tier hat man viele Jahre. Es ist nicht nur Freude, sondern auch Verantwortung.«

»Ja, das ist es!«

Der Bauer trank sein Bier aus. Er lächelte Saskia an.

»Wir werden spülen!«, verkündete er. »Ich spüle und du kannst abtrocknen, Florian.«

Auf diese Art angesprochen, sah Florian seinen Vater an.

»Das Geschirr kann auch so trocknen. Ich habe keine Zeit. Ich mache noch einen Rundgang und schaue nach den Rindern.«

»Himmel, Florian! Herrschaftszeiten! Des hat doch Zeit bis morgen. Ich dachte, wir setzen uns alle draußen vor die Hütte und genießen den Sonnenuntergang.«

»Des kannst du gerne machen! Ich mache des net! Ich schaue nach den Rindern! Basta!«

Florian stand auf und schob seinen Stuhl an den Tisch. Er warf einen kurzen Blick zu Saskia. Dann ging er zur Tür, zog seine Schuhe an und ging davon.

»Mei, der Bub wird immer schwieriger! Der ist ja direkt von der Arbeit besessen. Als würde es sonst im Leben nichts anderes geben.«

»Ihm wird die Arbeit richtig Freude machen. Ich kann das verstehen. Dann werde ich Geschirr abtrocknen.«

»Naa, Madl! Du hast genug gemacht!«

Der Bauer nahm Saskias Angebot dann doch an.

Während sie sich den Abwasch vornahmen, nutzte Saskia die Gelegenheit, mit dem Bauern ins Gespräch zu kommen. Sie fragte ihn über die Rinderzucht aus. Sie erfuhr, dass die Rinderherde insgesamt aus einigen Hundert Tieren bestand und es täglich mehr wurden. Sie standen auf verschiedenen Weiden, teilweise weit voneinander entfernt. Wenn das Gras abgefressen war, wurden sie für einige Wochen woanders hingetrieben.

Nach dem Essen setzte sich der Bauer vor die Almhütte. Saskia war müde. Es war ein sehr anstrengender Tag gewesen. Sie holte Wasser und wusch sich in der Kammer. Dann legte sie sich schlafen. Trotz der bleiernen Müdigkeit, die sie fühlte, konnte sie lange nicht einschlafen. Sie muss­te immer wieder an Florian denken.

Saskia hatte ihn genau beobachtet. Ich gefalle ihm, das kann er nicht verbergen, dachte sie. Ihr Herz wurde schwer, als sie daran dachte, dass er vielleicht vor ihr davonlief.

Fehlt es ihm an Mut?

Ist er nur ein chronischer Einzelgänger, der nicht weiß, wie er auf ein Madl zugehen soll?

Oder hat er andere Gründe, dass er mich so meidet?

Saskia malte sich aus, wie es sein könnte, wenn sie mit ihm zum Tanz nach Marktwasen gehen würde. Ich werde mir ein Dirndl von Anna leihen. Wir würden schön aussehen, ich im Dirndl und Florian im schönen Lodenanzug. Vielleicht trägt er auch Lederhosen, überlegte Saskia. Dabei erinnerte sie sich an den ersten Anblick, bei dem er nur eine Lederhose und Haferlschuhe getragen hat.

Saskias Herz schlug schneller, als sie an ihn dachte. Doch endlich, draußen dämmerte schon der nächs­te Tag, schlief Saskia ein. Sie nahm die Sehnsucht nach Florian mit in das Reich ihrer Träume. Dort waren sie ein Paar. Florian lächelte sie liebevoll an, flüsterte ihr Zärtlichkeiten ins Ohr und hielt sie in seinen Armen.

*

Ein Geräusch weckte Saskia. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie zu sich kam. Dann saß sie senkrecht im Bett. Sie spähte durch das kleine Fenster. Draußen hinter dem Motorrad stand ein großer Geländewagen. Er war beschriftet, Doktor Beate Brand stand darauf und gleich mehrere Telefonnummern. Saskia schlüpfte schnell in Jeans und Bluse. Barfuß ging sie hinaus in die Küche.

»Grüß Gott! Sie müssen die Saskia sein!«

»Grüß Gott, ja, ich bin Saskia! Woher wissen Sie meinen Namen?«

»Ich habe mit Florian telefoniert. Hubertus und er sind auf einer der äußeren Weiden. Sie sagten, ich könnte den Kater hier abgeben. Übrigens, ich bin die Tierärztin, einfach Beate!«

Sie reichte ihr die Hand.

»Saskia!«

Saskia lächelte.

»Entschuldige, dass ich so aussehe. Ich bin erst aufgestanden. Ich war gestern so aufgedreht, da konnte ich nicht einschlafen. Jetzt mache ich mir erst einmal einen Kaffee. Wie spät ist es? Ich habe noch keine Uhr an.«

Beate Brand wollte antworten, da schallte das mittägliche Angelusläuten über das Tal.

»Oh, schon so spät! Trinkst du einen Kaffee mit? Hast du auch Hunger?«

»Gern! Danke für die Einladung! Ich habe heute Nacht auch nicht viel geschlafen. Ich war drüben auf dem Reiterhof.

Dort haben zwei Stuten gefohlt. Jetzt haben sie ein schwarzes Stutenfohlen und ein tiefdunkelbraunes Hengstfohlen. Die beiden sind sehr kräftig und bereits nach einigen Stunden sehr lebhaft. Es war ein wunderbares Erlebnis.«

»Das glaube ich dir gern! Ich liebe Tiere. Wo hast du den Kater?«

»Er ist noch im Auto in der Transportbox. Ich werde ihn holen.«

Saskia legte Holz in die Glut des Ofens und setzte Wasser auf. Sie schob die Pfanne daneben und legte Speckscheiben hinein.

Da kam auch Beate schon mit der Transportbox herein.

»Ich mache für einen Augenblick die Tür zu«, sagte sie.

Dann stellte sie die Box in eine Ecke und öffnete die Tür.

»Der Kater heißt ›Teddy‹. Er ist ein Fundtier. Er wurde mir vor einigen Wochen von Touristen in die Praxis gebracht, schmutzig und halb verhungert. Sie hatten ihn beim Bergsee gefunden. Er war sehr schwach. Aber jetzt geht es ihm wieder gut. Er ist nur etwas scheu und sucht nicht den Kontakt zu anderen Katzen. Er ist eine typische Einzelkatze. Es wird etwas dauern, bis er aus der Box kommt. Er fühlt sich darin sehr wohl. Ich lasse dir die Box hier. Vielleicht gewöhnt er sich an ein anderes Plätzchen. Katzenfutter habe ich auch mitgebracht. Gib ihm aber nicht zu viel. Er soll ja Mäuse fangen.«

Beate setzte sich an den Tisch. Saskia stand am Herd und gab die geschlagenen Eier in die Pfanne.

Langsam und ganz vorsichtig kam der Kater heraus.

»Der ist ja prächtig, Beate! Der Name passt. Er sieht mit seinem dicken hellbraunen Fell wirklich wie ein Teddybär aus.«

»Er ist ein Mischling! Ich vermute, dass das Elternpaar Langhaarkatzen waren.«

»Er schaut wirklich nicht aus wie ein Kater von einem Bauernhof, Beate.«

»Stimmt, ich vermute auch, dass er vielleicht eine Wohnungskatze war, die weggelaufen ist oder ausgesetzt wurde. Die Tierärzte im Umkreis haben eine Internetseite für Fundtiere. Dort ist er seit Wochen gemeldet. Es hat sich aber niemand gemeldet.«

Saskia öffnete eine Dose Katzenfutter und stellte den Teller in eine Ecke, zusammen mit einer Schale mit Milch. Teddy nahm erst keine Notiz davon. Er miaute kläglich und zog in der Almhütte seine Kreise. Er entdeckte die offene Tür zu Saskias Kammer. Er ging hinein. Mit einem Satz lag er auf dem Bett. Dort rollte er sich zusammen und fing laut an zu schnurren.

»Mir scheint, er hat seinen Platz gefunden!«, lachte Beate.

»Einen Kater im Bett zu haben, ist zwar nicht der Traum einer Frau, aber besser als ganz alleine zu schlafen. Lieber einen Vierbeiner im Bett, wenn ich schon keinen Zweibeiner habe!«

»Nicht? Bist du nicht Florians Madl?«, staunte Beate.

Saskia errötete tief. Sie verteilte die Eier mit Speck auf zwei Teller und stellte sie auf den Tisch. Sie holte Besteck und Becher, nahm Kaffeepulver, Zucker und Brot vom Regal. Sie stellte die Wasserhexe mit dem heißen Wasser auf den Tisch und setzte sich.

Beate räusperte sich.

»Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Saskia! Ich dachte mir nur, weil Florian über dich geredet hat. Er sprach sehr positiv von dir. Ich dachte wirklich, ihr seid ein Paar.«

Saskia errötet wieder.

»So, er hat über mich geredet. Das ist verwunderlich, da er mit mir nicht redet, jedenfalls nicht viel, nur das Allernötigste. Er geht mir aus dem Weg.«

»Da darfst du dir nichts daraus machen. Es ist bekannt, dass Florian etwas seltsam ist. Er ist jetzt schon wieder Monate hier in Waldkogel, aber ich bin wohl die einzige, die ihn zu Gesicht bekam. Er fährt öfters nach Kirchwalden. Dort kauft er auch ein, dabei könnte er auch in den Laden am Markt gehen. Er ist so scheu wie Teddy.«

»Der hat immerhin sofort den Weg in meine Kammer gefunden«, bemerkte Saskia.

Beate hörte die Bitternis und Enttäuschung in Saskias Stimme.

»Willst du reden? Ich bin diskret.«

Sie gaben Kaffeepulver in die Becher, fügten Milch und Zucker hinzu. Sie fingen an zu essen.

Nach einer Weile sagt Saskia: »Da gibt es nicht viel zu reden. Ich bin durch Zufall auf die Basler-Alm gestolpert und hier Florian begegnet. Himmel, seither bin ich herzkrank, nicht medizinisch, sondern mehr liebesmäßig, du verstehst sicher. Ich arbeite für eine Zeitung. Dort habe ich mich um die Stelle der Redaktionsleitung für die kleine Wochenendbeilage beworben. Sie wird im nächsten Jahr frei. Bis dorthin habe ich mein Examen. Jetzt soll ich mich bewähren und Reportagen schreiben. Nachdem ich Florian getroffen habe, habe ich mich hier eingenistet. Dabei musste ich hier erst mal ausmisten.«

»Das sehe ich! Ich weiß, wie es hier ausgesehen hat. Das war viel Arbeit!«

»Das kannst du laut sagen, ich habe richtigen Muskelkater! Hubertus gefällt es. Aber Florian geht mir aus dem Weg. Ich denke, er betrachtet mich als Eindringling. Ich kann mir keinen Reim auf ihn machen. Alles ist so widersprüchlich. Er hat ein Nobelhandy, in der Kammer gibt es Markenklamotten und einen Edelrucksack. Hubertus erzählte mir, Florian fährt eine Harley Davidson. Und Florian arbeitet sehr viel. Weißt du etwas über ihn?«

»Alles, was ich weiß ist, dass er lange fort war. Wenn du mehr über ihn wissen willst, dann musst du jemanden fragen, der ihn von früher her kennt. Kennst du jemanden hier in Waldkogel, dem du vertrauen kannst, Saskia?«

»Ich bin mit Anna und Toni von der Berghütte befreundet. Anna hat mir schon einiges angedeutet. Sie hat mir auch Mut gemacht, mich hier aufzudrängen, einzuschleichen.«

»Aufdrängen würde ich das nicht nennen. Du hast nur einen optimalen Ausgangspunkt für deine Reportagen gesucht.«

»Ganz so ist es nicht und war es auch nicht. Ich komme mir doof vor, richtig blöd. Ich laufe Florian nach – und er läuft vor mir davon. Dann höre ich von dir, dass er von mir erzählt. Beate, ich bekomme das nicht zusammen. Da kann ich mir keinen Reim darauf machen.«

»Du musst Geduld haben!«

»Geduld? Ich mache mich eher zum Narren. Ach, lassen wir das. Es bringt nichts. Es kommt, wie es kommen muss. Ich will mich auf meine Arbeit konzentrieren.«

»Ich bin mit Florian und Hubertus auf einer der mittleren Weiden verabredet. Dort will ich den Kälbern die Ohrmarken anbringen. Willst du mitkommen?«

Saskia seufzte tief. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich würde herzlich gern mitkommen. Aber ich weiß nicht, wie es Florian aufnehmen wird. Ich bin mir sehr unsicher. Am ersten Tag hatte er mich eingeladen, dabei zu sein, als eine Kuh kalbte, aber jetzt geht er mir aus dem Weg. Ich warte, bis er mich fragt. Sicher gibt es hier in Waldkogel noch andere Bauern mit Kälbern. Wenn du denen eine Ohrmarke anbringst, kann ich vielleicht dabei sein. Meinst du das ist möglich?«

»Sicher! Wenn du willst, kannst du auch einige Tage zu mir in die Tierarztpraxis kommen. Ich bin sicher, dass du dort viele Anregungen für deine Reportagen bekommst.«

»Danke, das ist großartig!«

»Gern geschehen! Und was Florian betrifft, kann ich dir leider keinen Rat geben.«

Beate trank ihren Kaffee aus. Sie stand auf.

»Ich fahre jetzt zur mittleren Weide. Vielleicht sehen wir uns auf dem Rückweg noch einmal. Wenn du Lust hast, kannst du auch gern mal abends vorbeikommen, dann machen wir uns einen schönen Abend. Wie wäre es zum Beispiel mit heute? Dann würde ich dich mit zum Reiterhof nehmen. Ich will noch einmal nach den Fohlen sehen. Und anschließend koche ich etwas Gutes! Wir setzen uns bei mir in den Garten und genießen den Abend.«

»Ich werde dich anrufen, Beate. Danke für die Einladung!«

Teddy kam aus der Kammer. Er schlich Saskia um die Beine. Sie streichelte ihn. Dann nahm sie ihn auf den Arm. Teddy gefiel es.

»Mir scheint, du hast einen Freund fürs Leben gefunden, Saskia!«

»Ja, das habe ich!«

Sie verabschiedeten sich. Beate fuhr davon. Saskia räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr. Die Tür der Almhütte war offen. Teddy setzte sich in den Türrahmen und blieb dort erst einmal sitzen. Saskia beobachtete ihn. Er wird sich eingewöhnen, dachte sie.

Dann ging Saskia in ihre Kammer und setzte sich an den Computer. Ihre Finger glitten mühelos über die Tasten. Sie schrieb an einem Portrait über Waldkogel. Währenddessen lag Teddy auf dem Tisch neben der Tastatur.

Am späten Nachmittag war Saskia mit einem Teil fertig. Sie streckte sich.

»Genug für heute, Teddy! Du bleibst jetzt schön hier! Ich muss ins Dorf!«

Sie setzte den Kater auf ihr Bett. Dort rollte er sich zusammen und schnurrte. Saskia lächelte.

»Du gefällst mir! Wenn du dich hier auf der Almhütte nicht eingewöhnst und keine Mäuse fängst, dann nehme ich dich mit nach Hause.«

Saskia legte einen Zettel auf den Küchentisch. Dann schwang sie sich auf das Motorrad und fuhr davon.

*

Saskia stellte ihr Motorrad auf dem Marktplatz ab. Dann machte sie Bilder von der schönen Barockkirche, dem Rathaus, dem Marktplatz und dem Brunnen vor der Kirche. Sie lief durch die Straßen von Waldkogel und fotografierte Häuser für ihre Reportage.

Anschließend rief sie Beate an. Diese war unterwegs, bat aber Saskia vor der Praxis zu warten, sie sei schon auf dem Rückweg.

Es dauerte auch nicht lange, bis sie kam.

»Schön, dass du da bist, Saskia! Dann gehen wir rein! Auf dem Reiterhof bin ich schon gewesen. Wenn kein Notfall kommt, haben wir einen ruhigen Abend.«

Saskia und Beate wollten gerade hineingehen, als eine alte Frau auf die Praxis zukam. Beate lächelte sie an.

»Grüß Gott, Ella! Schön dich zu sehen!«

»Grüß dich, Beate! Ich war im Dorf. Es lagen einige Bestellungen für meine Kräutertinktur und meinen Kräuterbalsam vor. Ich habe etwas übrig. Möchtest du sie haben?«

»Sicher! Wie kannst du fragen? Was würde ich ohne deine geheimnisvolle Rezeptur machen? Wenn nichts mehr hilft, dann macht deine Kräutermixtur die Viehcher wieder gesund.«

Beate stellte die beiden einander vor.

»Die Ella Waldner ist die gute Seele hier in Waldkogel, unsere geliebte Kräuterhexe. Wobei die Titulierung ›Kräuterhexe‹ nicht böse gemeint ist. Sie hat Kräuter gegen und für alles!«

Die beiden reichten sich die Hand.

»Bist du eine Freundin der Beate?«, fragte Ella.

»Wir haben uns heute erst kennengelernt, aber uns auf Anhieb verstanden. Saskia ist Journalistin und schreibt über Waldkogel, das Leben hier und die Leute. He, Saskia, willst du nicht auch über Ella schreiben?«

»Des kommt net in Frage, Beate«, wehrte Ella sofort ab. »Naa, naa, davon will ich nix wissen. Am End’ kommen dann viele Auswärtige und mit meiner Ruh‹ ist es vorbei. Aber privat kannst mich mal besuchen. Über Kräuter erzähle ich dir gern etwas. Musst nur meinen Namen herauslassen.«

»Das verspreche ich!«, sagte Saskia.

Ella Waldner gab der Tierärztin zwei Flaschen und zwei kleine Schraubgläser.

»Aus welchen Kräutern ist das Zeug gemacht?«

Ella Waldner lächelte und fing an aufzuzählen. Saskia machte sich Notizen in ihr kleines Buch. Beates Handy klingelte. Sie sprach nur kurz und sicherte zu, sie würde sich sofort auf den Weg machen.

»Tut mir leid, Saskia! Ich muss fort! Ein Notfall auf einem Hof. Aber du und Ella, ihr könnt euch in den Garten setzen und noch ein wenig reden.

In der Küche im Kühlschrank stehen Essen und Getränke. Die hintere Tür ist offen. Ihr könnt euch etwas holen. Jetzt muss ich aber los.«

Beate sprang in ihr Auto und brauste davon.

»Wollen wir?«, fragte Saskia.

»Gegen eine Pause hätte ich nichts einzuwenden. Ich war den ganzen Nachmittag unterwegs.«

Ella und Saskia gingen in den Garten. Ella setzte sich an den Tisch unter einen der Obstbäume. Saskia holte etwas zu essen und zu trinken aus der Küche.

»Waldkogel ist schön! Ich kenne keinen Ort, der so schön ist und wo die Menschen so freundlich sind. Es ist einfach eine Idylle.«

Ella Waldner schmunzelte.

»Schön, dass du das so siehst, Madl. Waldkogel ist wirklich schön. Des sage ich nicht nur, weil des meine Heimat ist. Ich war immer hier. Weiter als Kirchwalden, bin ich nicht fortgekommen. Als ich jung war – so in deinem Alter – da gab es nicht einmal einen Bus. Wenn man nach Kirchwalden wollte, dann musste man laufen, wenn man kein eigenes Fuhrwerk hatte oder man mitgenommen wurde. Heute ist des besser! Wobei der Fortschritt net immer so gut ist, wie er auf den ersten Blick ausschaut. Aber wir hier in Waldkogel meistern des ganz gut. Wir haben einen Weg gefunden zwischen Fortschritt und Tradition.«

»Ja, Waldkogel ist wunderschön, und die Menschen sind so freundlich und herzlich.«

Ein Schatten huschte über Saskias Gesicht. Sie räusperte sich und fügte leise hinzu: »Die allermeisten Menschen sind jedenfalls so!«

»Ein paar Querköpfe gibt es überall! Bist mit jemanden zusammengerempelt?«

Saskia errötete.

»Wer ist es? Ich kenne hier alle und jeden!«

Saskia überlegte.

»Kennst du den Basler-Hof?«

»Ja, ja! Prächtig ist er geworden! Frisch removiert ist er. Warum tust danach fragen? Bist mit dem Basler-Hubertus aneinandergeraten? Der hat sich sehr verändert, seit seine Frau gestorben ist und dann auch noch der Florian ganz plötzlich auf und davon ging.«

Saskia errötete.

»Nein, mit dem Hubertus komme ich gut aus. Ich habe ein Quartier auf der Basler-Alm. Er ist ganz umgänglich. Nur der Florian ist seltsam.«

»So! Was du net sagst? Der Florian ist wieder hier. Dann stimmt es doch, was man sich erzählt. Aber gesehen hat ihn noch niemand.«

Saskia aß nachdenklich ein Stück trockenes Brot.

»Was denkst, Madl?«

»Ich wüsste gerne mehr über den BaslerHof.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen. Der Hof hat dem Florian seine Mutter eingebracht. Sie war das einzige Kind. Also musste sie einen nehmen, der einheiratet, das war der Hubertus Basler. Sie bekam nur den Florian. Anfänglich war er ein sehr kleines schmächtiges Bübchen. Seine Mutter hat ihn Tag und Nacht hochgepäppelt. Sie hing abgöttisch an dem Buben, und er wohl auch an ihr. Dann wurde sie krank und starb nach kurzer Zeit. Der Florian verließ dann den Hof und der Hubertus, der verfiel in einen Zustand, den man modern wohl am besten mit dem Wort ›Depression‹ beschreibt. Es ging mit dem Hof immer mehr bergab. Selbst unser guter Pfarrer Zandler fand keinen Zugang zum Hubertus. Dann, es war in diesem Frühjahr, rückte eine Baufirma aus Kirchwalden an. Sie stellte ein Gerüst auf und renovierte den Hof. Plötzlich war dort auch eine Haushälterin, die alles beaufsichtigte und sich im Haus um alles kümmerte. Sie ist älter und sehr verschwiegen. Man weiß weiter nur, dass der Hubertus auf die Almhütte gezogen ist und Florian auch dort sein soll. Als der Sommer begann, brachten mehrere Viehtransporter Hunderte von Pinzgauer Kühen. Seither ist der Basler der größte Rindviehbesitzer in der ganzen Gegend. Er hat sich auf Fleischkühe spezialisiert. Natürlich wird spekuliert, wo er das Geld für die Renovierung und die vielen Kühe her hat. Die eine sagen, er hat im Lotto gewonnen, die anderen vermuten, dass es ihm der Florian gegeben hat. Ich beteilige mich nicht an den Spekulationen. Ich freue mich, dass Vater und Sohn wieder zusammen sind. Wenn du auf der Basler-Alm wohnst, dann hast du einen besseren Einblick als alle anderen in Waldkogel. Wie ist denn der Florian so? Ist er ein schönes Mannsbild geworden?«

Saskia wurde verlegen.

»Ah, er gefällt dir?«

»Ja, er gefällt mir! Am ersten Tag war er ganz nett und zugänglich, dann hat sich das geändert. Er ist sehr wortkarg. Ich habe fast den Eindruck, dass er mir aus dem Weg geht. Ich will es einmal so sagen, wie er sich verhält und wie er mich ansieht, wenn er mir mal kurz einen Blick zuwirft, das ist verwirrend. Es passt nicht zusammen.«

»Das muss nichts mit dir zu tun haben, Madl! Warum sich Menschen oft sonderbar verhalten, liegt meistens tief in ihnen selbst. Sie werden mit irgendetwas im Leben nicht fertig. Sie bewegt etwas, was sie erlebt haben, eine Enttäuschung zum Beispiel. Sie werden mit dem, was ihnen widerfahren ist, nicht fertig. Sie ziehen sich dann zurück. Sie gehen vielem aus dem Weg, weil es zu viel für sie ist. Sie wollen keine neuen Leute kennenlernen. Sie meiden Neues auf jede erdenkliche Art und Weise, weil sie noch so mit ihren eigenen Gedanken belastet sind, dass in ihrem Kopf…, und wohl auch in ihrem Herzen …, kein weiterer Raum für etwas anderes ist. Es kann auch vorkommen, dass sie davonlaufen wie der Florian damals. Vielleicht war der Schmerz über den Verlust seiner geliebten Mutter so groß, dass er es in Waldkogel nicht mehr ausgehalten hat, weil ihn alles an sie erinnerte. Jeder Mensch hat seine eigene Art, Trauer zu verarbeiten, das gilt auch für Wut, für Enttäuschung, das gilt für jedes Erlebnis, das ein Mensch haben kann und es schließt Freude und auch die Liebe ein.«

»Warum ist das nur alles so kompliziert?«

Ella Waldner schmunzelte.

»Weil das Leben an sich nicht einfach ist. Und es ist doch auch gar nicht so schlecht. Woran soll der Mensch sonst reifen? Nur wer Freude, Liebe, Glück, Hoffnung auf der einen Seite und Trauer, Enttäuschung, Leid auf der anderen Seite kennenlernt, der kann reifen und wachsen. Nur so kann der Mensch Erfahrung sammeln, und das Leben meistern. Das Leben ist immer ein Auf und ein Ab. Es gibt im Leben Berge und Täler, wie bei unseren schönen Bergen hier. Wir haben den schönen ›Engelssteig‹ und auf der anderen Seite gegenüber das ›Höllentor‹. Beide sind Berge, hoch und mächtig. Der eine steht für das Gute, den Glauben und die Hoffnung und der andere Berg macht Angst. Er steht für das Böse, den Satan, das Leid und den Kummer.«

»Ich kenne die Legenden der beiden Berge. Meine Eltern fuhren schon immer hierher in Urlaub. Wir wohnten jedes Jahr bei den Baumberges. Die Meta hat mir viele Geschichten erzählt vom ›Engelssteig‹ und dem ›Höllentor‹. Es ist wirklich eine schöne Geschichte von den Engeln auf dem ›Engelssteig‹, wie sie über eine Leiter jede Nacht hinauf in den Himmel steigen und die Wünsche, Sehnsüchte und Gebete der Menschen hinaufbringen.«

»Ja, das sind schöne Geschichten, und wir hier in Waldkogel glauben daran. Vieles was geschehen ist, kann man sich nur so erklären.«

Ella Waldner sah Saskia an.

»Saskia, ich erzähle dir jetzt etwas. An dem Tage, als Florians Mutter starb, stand über dem Gipfel des ›Höllentors‹ eine große tiefschwarze Wolke. In der Nacht, als sie starb, ging ein schreckliches Unwetter über Waldkogel nieder. Es blitzte und donnerte, als fegte der Leibhaftige durch die Straßen. In allen Häusern brannten auf den Fensterbänken die schwarzen Gewitterkerzen. Es war schlimm.«

Saskia sah Ella Waldner an.

»Schauerlich! Puh! Grauslig!«

Saskia fuhr sich mit den Händen über die Arme. Sie hatte Gänsehaut.

»Fast könnte man denken, der Satan sei persönlich aus der Tür auf dem Gipfel vom ›Höllentor‹ gekommen, um sich die Seele von Florians Mutter zu holen«, sagte Saskia leise.

Ihr schauderte.

»Das haben damals viele hinter vorgehaltener Hand gesagt, und noch mehr haben es gedacht. Aber ich denke, dass es nicht so ist. Dem Florian seine Mutter war eine brave Frau, ehrlich, hilfsbereit, freundlich und fromm.«

»Es muss für Florian doppelt schlimm gewesen sein, dass seine Mutter in so einer Nacht gestorben ist. Der arme Florian! Es muss schrecklich für ihn gewesen sein.«

Vielleicht ist er deshalb davongelaufen, weil er Angst hatte, vor irgendetwas Angst hatte, überlegte Saskia.

»Wie lange wirst du hier in Waldkogel bleiben?«

Saskia zuckte mit den Schultern.

»Ich kann bis zum Herbst bleiben, bis das Wintersemester anfängt. Ich kann so viele Reportagen schreiben, wie ich will. Ob ich allerdings so lange auf der Basler-Alm bleibe, weiß ich nicht. Ich will noch einige Tage dort bleiben. Doch wenn Florian weiterhin so ablehnend ist, dann wird es besser sein, zu gehen. Ich bin wegen Florian dort. Ich wollte ihm nahe sein. Vielleicht war es falsch? Vielleicht gehört er zu der Sorte Mann, die selbst ein Madl erobern will und es nicht verträgt, wenn das Madl zu deutlich sein Interesse zeigt.«

»Die Frage kann ich dir nicht beantworten, dazu habe ich den Florian zu lange nicht mehr gesehen. Aber es gibt Männer, die so sind. Da stimme ich dir zu. Es gibt auch Männer, die nicht sehr spontan sind. Sie machen sich viele Gedanken, bis sie auf ein Madl zugehen, besonders wenn sie erkannt haben, dass es die große Liebe ist.«

»Ella, das ist alles sehr kompliziert mit der Liebe. Wenn ich mir überlege, was ich in der Schule alles gelernt habe, höhere Mathematik, mehrere Sprachen und … und … und … Aber was man für das Leben wirklich gebrauchen kann, das lernt man nicht. Es gibt kein Unterrichtsfach Liebe.«

Ella Waldner lachte.

»Des kann es auch nicht geben, weil die Liebe verschieden ist. Sie ist bei jedem Menschen, bei jedem Paar anders. Es gibt keine Regeln, keine Formel für die Liebe. Sie ist eine Himmelsmacht, die über die Menschen ausgeschüttet wird.«

»Dann muss man sehen, wie man damit fertig wird! Da wird einem etwas über den Kopf geleert wie ein Eimer Wasser. So, dann sieh mal zu, wie du damit zurecht kommst! Das ist nicht fair, Ella. Da blickst du eines Tages in zwei Augen und spürst, dass es die Augen sind, die du gesucht hast – wobei du das nur unterbewusst wusstest. Dein Herz schlägt, der Puls rast, du bekommst kaum noch Luft, du vergisst fast zu atmen.«

»Ja, das ist die Liebe!«

»Das dachte ich auch! Doch wie soll es weitergehen?«

»Rede mit ihm! Es ist eine moderne Zeit. Es ist nicht so, wie es früher war. Da war es für ein Madl schon ein bisserl kompliziert, bis es herausgefunden hatte, was der Bursche für es empfindet. Meistens hat das Madl es über einen Dritten in Erfahrung gebracht. Heute ist das einfacher. Rede mit Florian! Schaffe klare Verhältnisse. Dann weißt du, woran du bist. Entweder gesteht er dir seine Liebe, oder ihr schafft es, eine Freundschaft aufzubauen. Das ist auch eine Möglichkeit.«

»Ich habe auch schon daran gedacht, dass er vielleicht eine Freundin hat, irgendwo. Er könnte sogar verheiratet sein. Wer weiß?«

»Kläre es, Saskia. Das kannst du nicht mit mir, auch wenn du noch so lange mit mir redest. Wirkliche Rede und Antwort kann dir nur Florian selbst geben.«

Ella Waldner stand auf.

»Es ist spät, Saskia. Ich habe noch einen weiten Weg bis zu meiner Kate im Wald. Ich bin auf meinen Füßen nimmer die Schnellste. Also mache ich mich jetzt auf den Weg. Besuche mich, wann du willst. Dann reden wir über Kräuter. Dazu sind wir jetzt nicht gekommen.«

»Es war ein schönes Gespräch, Ella! Danke!«

Ella Waldner streichelte Saskia die Wange.

»Du schaffst das schon! Das Leben stellt jeden immer und immer wieder vor neue Aufgaben. Es bringt nichts, vor etwas davonzulaufen oder nicht die Fragen zu stellen, die zu beantworten sind.«

Ella Waldner ging fort. Saskia räumte den Tisch ab. Sie setzte sich noch eine Weile unter den Baum und dachte nach über das Gespräch mit Ella über Florian und über sich selbst.

Die Sonne ging langsam unter. Das Vogelgezwitscher verstummte. Die Nacht hatte sich über Waldkogel gelegt.

Saskia ging zu ihrem Motorrad und fuhr zurück zur Basler-Alm.

*

Als Saskia auf der Basler-Alm ankam, saßen Florian und Hubertus vor der Almhütte.

»Guten Abend«, grüßte Saskia. »Sind heute wieder neue Kälber geboren worden?«

»Naa, heute noch net! Aber bei einigen Kühen muss es bald soweit sein«, sagte Hubertus. »Wir haben eine große Dose Eintopf heiß gemacht. Es ist noch etwas übrig.«

»Danke, Bauer! Ich bin nicht hungrig. Ich habe schon gegessen. Wo ist Teddy?«

Hubertus und Florian grinsten.

»Der überhäuft dich mit Geschenken!«

»Hat er Mäuse gefangen?«

»Du bist ein cleveres Madl«, lobte sie der Bauer. »Ja, der Kater hat drei Mäuse gefangen. Er hat sie vor dein Bett gelegt. Er sitzt dabei und bewacht sie.«

Saskia fing an zu lachen.

»Als Edelkatzenmischling frisst er wohl keine Mäuse. Aber er will eine Belohnung, dafür dass er sie erlegt hat. Dann will ich mal zur Tat schreiten.«

Sie ging in die Almhütte. Es dauerte nicht lange, dann kam sie heraus. Sie hielt die drei Mäuse an den Schwänzen.

»Spaten? Schaufel?«

»Ich hole dir einen Spaten«, sagte der Bauer. »Gib die Biester her, ich kann sie auch gleich vergraben.«

Er nahm Saskia die toten Mäuse ab und verschwand im Wald hinter der Almhütte.

Saskia gab Teddy seine Belohnung und wusch sich die Hände. Hubertus kam zurück.

Florian stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte sein Vater.

»Ich will noch mal nach den Kühen sehen.«

»Naa, heute net! Heute gehe ich, und du bleibst hier! Und ich dulde keinen Widerspruch.«

Florian schob die Hände in die Hosentasche seiner Lederhosen und setzte sich. Saskia nahm am anderen Ende der Bank Platz. Sie sah dem Bauern nach, wie er davonging und sich mehrmals umdrehte.

Als er außerhalb der Sichtweite war, wandte sich Saskia an Florian. Es kostete sie viel Mut.

»Florian, kann ich dich etwas fragen?«

Er nickte.

Saskias Herz raste. Sie spürte jeden Herzschlag, fühlte, wie das Blut in ihren Adern pulsierte. Sie räusperte sich.

»Du hast etwas dagegen, dass ich hier auf der Basler-Alm bin! Nicht wahr?«

Saskia wagte Florian nicht anzusehen. Es dauerte etwas, bis Florian antwortete. Die Sekunden empfand Saskia wie Stunden.

»Nein, ich habe eigentlich nichts dagegen. Du hast Wort gehalten und Ordnung geschaffen. Außerdem sind wir ohnehin den ganzen Tag nicht hier. Ist deine Frage damit hinreichend beantwortet?«

»Nicht ganz! Ich habe nämlich den Eindruck, dass du mir aus dem Weg gehst. Du weichst mir sogar mit deinen Blicken aus. Das war am ersten Tag nicht so. Ich frage mich, ob du im Prinzip etwas gegen mich hast oder …«

»Schmarrn! Der Vater hat gesagt, dass du willkommen bist. Er ist überaus glücklich, dass du hier bist. Und ewig wirst du auch nicht bleiben.«

»Ewig sicher nicht, kein Mensch bleibt ewig auf Erden. Ich habe am ersten Tag an deinem Blick etwas gesehen und dachte, dass du nichts dagegen hast, dass ich auch in Betracht ziehen könnte, einen längeren …, ein dauerhafteren Aufenthalt …, auf der Basler Alm …, und vielleicht nicht nur auf der Basler-Alm in Betracht zu ziehen.«

»So? Wie meinst du das?«

»Ich dachte, du siehst mich gerne!«

»Du bist nicht hässlich. Warum sollte ich dich also nicht anschauen? Jeder Mensch sieht doch gerne Sachen an, die schön sind und auch Menschen, die nicht hässlich sind.«

»Du weißt genau, dass ich von etwas völlig anderem rede, Florian Basler!«

»Ich habe keine Ahnung, von was du redest!«

»Dann will ich es dir sagen! Ich habe mich in dich verliebt!«

Saskias Herz stand fast still, als ihr die Worte von den Lippen gingen.

Florian stand auf. Er trat vor sie. Ihre Blicke trafen sich. Dann wandte er sich ab und ging davon. Saskia fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie kämpfte mit den Tränen. Sie schluckte. Teddy kam an, sprang auf die Bank, rieb sich an ihrer Hand und miaute. Saskia nahm den Kater in den Arm, der sofort anfing zu schnurren.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefasst hatte.

»Das war es, Teddy! Keine Antwort ist auch eine Antwort! Es ist wohl besser, wenn ich gehe. Aber dich nehme ich mit. Ich rede mit der Beate. Sie kann dich hier wieder abholen, bevor ich heimfahre. Bis dorthin fängst du fleißig Mäuse.«

Saskia setzte den Kater auf die Erde. Sie ging in die Kammer und packte ihre Sachen zusammen. Sie packte alles in den Beiwagen des Motorrades. Bevor sie abfuhr, legte sie Hubertus noch einige Abschiedszeilen auf den Tisch.

*

Saskia fuhr direkt zu Tonis Eltern. Vor dem Haus stand Tonis Geländewagen.

Saskia wollte nicht durch den Wirtsraum gehen. Sie nahm den Hintereingang.

»Saskia!«, staunte Toni, als sie die Küche betrat.

»Hallo zusammen! Ihr seid nicht auf der Berghütte?«

»Nein, wir haben heute freigemacht. Eigentlich wollten wir mehrere Tage nach Frankfurt zu Sue fahren. Aber sie ist nicht daheim.

Die Kinder wünschten sich einen Einkaufsbummel in Kirchwalden. Der ganze Kofferraum des Geländewagens ist voll.«

»Dann sind Franziska und Sebastian auch hier?«

»Ja, aber sie schlafen schon, Saskia! Sie waren so müde!«, lächelte Anna.

Saskia fuhr sich mit den Händen durch das Haar.

»Meta, ist ein anderes Zimmer frei? Ich wollte heute Nacht hier schlafen.«

Alle schauten Saskia an.

»Du bist auf der Basler-Alm ausgezogen?«

»Ja, ich habe die Basler-Alm fluchtartig verlassen! Dieser Florian geht mir auf den Geist. Ich mache mich doch nicht zur völligen Vollidiotin!«, brach es aus Saskia hervor.

Sie atmete tief ein. Sie war voller Gefühle. Es kochte und brodelte in ihr.

»Gut, dass ihr alle hier seid! Dann muss ich es nur einmal erzählen. Ja, ich hatte mich in Florian verliebt! Ja, er hat mir gefallen! Vielleicht gefällt er mir immer noch. Aber das spielt keine Rolle. Ich komme schon darüber hinweg. ›Lieber ein Ende mit Schrecken, als eine Schrecken ohne Ende‹, heißt es. Und ich habe wissen wollen, woran ich bin. Er ist ein ungehobelter Klotz. Er hat keinerlei Manieren. Es gibt nur eines, was er perfekt beherrscht – weglaufen. Will er mit niemanden in einem Raum sein, geht er zu seinen Kühen! Spricht man mit ihm, sagt ihm etwas, was er nicht hören will – geht er! Er hat nicht die Spur von Umgangsformen. Er ist unmöglich! Aber zwischendrin mich heimlich anstarren, das kann er. Er ist nicht normal! So jetzt habt ihr es gehört!«

Es war ganz still in der Küche hinter der Wirtstube.

Toni und Anna schauten sich an.

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Anna. »Hattest du Streit? Von welchem Schrecken redest du?«

Saskia errötete.

»Okay! Ich erzähle es euch, auch wenn ich mich damit wahrscheinlich zum Narren mache. Ich habe heute Abend versucht, mit ihm zureden. Es ging gründlich daneben! Jedenfalls bekam ich heraus, dass er mich nur duldet. Er meinte, ich wollte ja nicht für die Ewigkeit bleiben, versteht ihr? Ich war wütend. Da sagte ich ihm, dass ich mir wohl vorstellen könnte, dass ich …, dass ich …, dass ich mich in ihn verliebt habe …, und ich schon gedacht habe, dass es einen längeren Aufenthalt sein könnte … Himmel, jetzt frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe? Ich muss verrückt gewesen sein! Auf der anderen Seite ist es gut. Er ist davongelaufen. Also darf ich mir keine Hoffnung machen. Sicherlich war es besser, eine Entscheidung herbeizuführen, als mich unerfüllbaren Träumen hinzugeben. Aber hätte er nicht wie ein zivilisierter Mensch antworten können. So in etwa …, unsympathisch bist du mir nicht, aber ich bin nicht in dich verliebt. Himmel, ich weiß, dass man Liebe nicht erzwingen kann. Aber seine Augen …, ich hatte solche Hoffnung, dass er mich mag, dass er mich liebt. Ich dachte, vielleicht ist er nur schüchtern, ein scheuer Mensch eben.«

»Da hast du dir gedacht, ich gebe eine Steilvorlage, und dann klappt es schon«, bemerkte Toni.

»Genau so! Schief gegangen! Ich bin nur so wütend, dass er einfach davongelaufen ist, als wäre ich überhaupt nicht da, als wäre ich Luft, als hätte ich nichts gesagt. Er stand vor mir, schaute mir in die Augen und dann lief er davon. Jetzt wird er wieder bei seinen Kühen sein, dieser Kuhbauer! So, das war es! Sagt jetzt bitte nichts! Ich will nicht weiter darüber reden. Aus – fertig – vorbei! Ich konzentriere mich auf meine Arbeit!«

Saskia seufzte.

»Dann wollen wir mal sehen, wo wir dich unterbringen, Saskia. Kannst unser Wohnzimmer haben«, sagte Meta Baumberger.

»Danke, Meta!

Toni schüttelte den Kopf.

»Des machen wir anders! Anna und Saskia, ihr könnt zusammen in unserem Schlafzimmer nächtigen. Morgen kommt ihr mit den Kindern auf die Berghütte. Ich fahre heute Abend schon rauf auf die Oberländer-Alm und nehme einen Teil der Einkäufe mit hinauf. Ich bin auch beruhigter, wenn ich auf der Berghütte bin. Der Alois hat gesagt, es sei doch viel zu tun.«

Anna wusste, dass auf der Berghütte nicht so viel zu tun war. Sie hatte selbst mit dem Alois am Telefon gesprochen.

Toni hat etwas vor, dachte Anna und schwieg. Toni verabschiedete sich dann auch ganz schnell. Anna ging mit Toni zum Auto.

»Was hast du vor?«

»Anna, die Saskia ist so ein liebes Madl! Ich finde es schlimm, dass der Florian sie einfach so abserviert hat. Das gehört sich nicht. Er muss sich zumindest bei der Saskia für sein Verhalten entschuldigen.«

»Du willst ihn auf die Berghütte einladen?«

»Genau!«

»Viel Glück!«

Toni und Anna küssten sich.

Dann fuhr Toni davon.

*

Kaum zehn Minuten später, hielt Toni vor der Basler-Alm. Die Tür war offen. Auf der Türschwelle stand ein gepackter Rucksack. Florian saß am Tisch und schrieb. Er schaute auf, als er Toni hörte.

»Grüß Gott, Florian!«

»Grüß Gott, Toni!«

»Lang net gesehen, Florian!«

»Ja, es sind schon ein paar Jährchen!«

Toni deutete auf den Rucksack.

»Willst wieder fort?«

»Ja!«

»Gibt es dafür einen Grund? Hast du Verpflichtungen? Hast du eine eigene Familie?«

»Nein, ich bin ein lediger Bursche!«

»Dann ist es ja gut! Die Saskia hat nämlich den Verdacht, dass du gebunden bist.«

Florian schoss eine leichte Röte in die Wangen.

»Vielleicht hättest du des der Saskia sagen sollen. Des Madl einfach so alleine zu lassen, des war sehr unhöflich, milde gesagt. Hast du denn net mitbekommen, dass dich die Saskia liebt?«

»Bist hergekommen, um über die Saskia zu reden?«

»Jein! Sie schickt mich nicht, wenn du das meinst. Ich bin gekommen, um mir den Dreckskerl anzuschauen, der so unhöflich zu einem Madl ist.«

Florian errötete tief.

»Du und Anna, ihr seid wohl recht eng mit der Saskia befreundet?«

»Ja, das sind wir.«

Florian räusperte sich.

»Toni, ich habe nichts gegen die Saskia! Sie ist ein liebes Madl. Sie ist so ein Madl, wie ich es mir wünschen würde. Aber ich kann mich nicht binden. Es ist besser so, glaube mir. Ich liebe sie auch und leide wie ein Hund.«

»Des verstehe wer will! Du bist doch ledig und frei!«

»Sicher, aber es gibt auch eine andere Art der Freiheit, Toni. Ich bin damals nicht ohne Grund fortgegangen. Ich habe es hier in Waldkogel nicht mehr ausgehalten. Ich halte es hier nicht lange aus. Das hängt nicht nur an Waldkogel. Es ist die ganze Gegend hier, die ich meide, meiden muss.«

Toni nahm sich einen Stuhl und setzte sich.

»Des verstehe ich nicht, Florian! Aber gut, ich muss es auch nicht verstehen. Du wirst deine Gründe haben. Du musst mir die auch nicht darlegen. Ich bin nur gekommen, um dich auf die Berghütte einzuladen. Die Saskia wohnt ab morgen bei uns. Es wäre gut, wenn du mit dem Madl auf eine anständige Weise reden würdest und die Sache klarstellst.«

Toni schaute Florian an.

»Schaust übel aus! Wenn ich dich so ansehe, kann ich eigentlich nicht verstehen, dass die Saskia so vernarrt in dich war, oder vielleicht noch ist. Wenn sie von dir spricht, stellt man sich einen feschen Burschen vor. Aber du siehst mehr aus wie ein Lump. Einen ungepflegten Bart hast du, deine Haare sehen schlimm aus. Schmutzig bist auch!«

Florian grinste.

»Ich habe mich extra als Gammler und schmutziger Kuhbauer getarnt. Ich dachte, die Saskia verliert dann das Interesse an mir. Der Plan ging offensichtlich nicht auf.«

»Himmel, Florian, rede mit dem Madl!«

»Gut, vielleicht ist es besser! Du sagst, die Saskia ist morgen auf der Berghütte?«

»Ja! Wenn du mir eine Uhrzeit gibst, dann schicke ich sie zu dieser Zeit zum ›Erkerchen‹. Dort seid ihr ungestört!«

»Ich denke, das ›Erkerchen‹ ist nicht der richtige Platz für uns. Aber ungestört sind wir dort schon.«

Florian trug seinen Rucksack wieder in die Kammer. Er lud Toni auf ein Bier ein. Die beiden erzählten sich, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen war.

Dabei hielt sich Florian bedeckt. Er ließ Toni reden. Dieser schwärmte von seiner Anna, mit der er sehr glücklich ist und erzählte von Sebastian und Franziska.

Es war schon nach Mitternacht, als Florian Toni verabschiedete.

*

Es hatte Toni und Anna viel Überredungskunst gekostet, Saskia davon zu überzeugen, sich mit Florian beim ›Erkerchen‹ zu treffen. Toni hatte offen mit Saskia gesprochen, dass er bei Florian gewesen war. Dieser wollte sich für sein ungebührliches Verhalten entschuldigen, deshalb sollte Saskia auch nachgeben. Denn Saskia hatte sich zunächst geweigert, Florian sehen zu wollen.

Jetzt saß Saskia beim ›Erkerchen‹ und wartete. Sie war nervös. Ihr Herz klopfte. Wie soll ich einem Mann gegenübertreten, den ich liebe, immer noch liebe und der nichts von mir wissen will? Es schmerzte sehr. Saskia spürte plötzlich einen großen Drang davonzulaufen. Wenn er davongelaufen ist, kann ich das auch, sagte sie sich. Sie stand auf, drehte sich um und ging langsam, ganz langsam in Richtung Berghütte.

»Saskia! Ich bin hier!«, hörte sie seine Stimme hinter sich.

Saskia blieb stehen. Ihr Herz raste. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.

»Saskia, ich bin dir eine Erklärung schuldig! Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe! Bitte, entschuldige es!«, sagte Florian.

Er stand jetzt unmittelbar hinter ihr.

Saskia drehte sich um. Sie schaute ihn aber nicht an.

»Entschuldigung angenommen!«

»Danke! Wollen wir uns setzen?«

Saskia ging zur Bank und setzte sich. Florian setzte sich mit etwas Abstand neben sie. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er war rasiert. Seine Haare gekämmt, die Nägel waren gepflegt. Er trug die Jeans und eine teure Markenwindjacke.

»Saskia, dass ich so abweisend war, lag nicht an dir. Das musst du mir glauben. Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist so, dass ich hier in Waldkogel keine Wurzeln schlagen will. Ich war hier nur auf der Durchreise.«

Saskia griff in die Tasche ihrer Jacke. Sie nahm ein Bonbon heraus und wickelte es langsam aus. Sie spielte mit dem Einwickelpapier, während sie Florian zuhörte.

»Ich bin mit mir selbst nicht im Reinen, Saskia. Deshalb bin ich auch damals fortgegangen. Ich dachte, mit der Zeit komme ich darüber hinweg. Aber dem war nicht so. Es gibt da etwas, was mich bedrückt und mein Leben überschattet. Ich werde damit nicht fertig.«

Florian schwieg. Sie schauten sich jetzt an.

»Ich will eine gute Journalistin werden, Florian. Da lernt man sehr früh, dass man nur die richtigen Antworten bekommt, wenn man die entsprechenden Fragen stellt. Wer, wo, wann, wie, weshalb, warum, wozu, weswegen …, und so weiter und so weiter. Wenn du alleine nicht weiterkommst, dann gibt es vielleicht jemanden, den du fragen kannst?«

»Hast du als Reporterin keine Angst, du könntest mit deinen Fragen etwas auslösen?«

»Das kommt darauf an. Das ist ganz unterschiedlich. Gibt es jemand, mit dem du reden könntest? Kann dir jemand deine Fragen beantworten?«

»Ja, es gibt jemanden! Es ist ein Mann! Ich weiß allerdings nicht, ob er etwas weiß. Vielleicht ahnt er nicht einmal etwas! Würde ich mit meinen Fragen Wunden aufreißen?«

Saskia schaute Florian in die Augen.

»Es handelt sich dabei um deinen Vater, stimmt es?«

»Ja, wie bist du darauf gekommen?«

»In Waldkogel erzählt man, dass du nach dem Tode deiner Mutter fortgegangen bist. Der Einzige, den du noch in Waldkogel hattest, war dein Vater. Also muss es etwas mit ihm zu tun haben.«

Saskia sah, dass Jochen schluckte. Sie sah, dass er sehr bewegt war. Sie holt aus ihrem Rucksack eine Flasche Wasser und reichte sie ihm. Er trank.

»Saskia, du bist nicht aus Waldkogel. Wenn ich dir alles sage, kann ich mich dann darauf verlassen, dass du es hier niemanden erzählst? Bitte kein Wort zu Toni und Anna oder sonst jemanden!«

»Du hast mein Wort! Bei allem, was mir heilig ist, Florian!«

Sie sah ihm in die Augen und las dort die Seelennot, die ihn bedrückte.

»Ich habe noch niemals mit jemandem darüber gesprochen. Saskia, ich nehme an, dass Hubertus Basler nicht mein Vater ist.«

Saskia sah ihn überrascht an. In Gedanken verglich sie Florians Aussehen mit dem seines Vaters. Florian trank wieder einen Schluck.

»Es war in der Nacht, als meine Mutter starb. Sie war schwer krank. Es war eine schlimme Nacht. Es blitzte und donnerte. Niemals wieder habe ich ein solches Unwetter erlebt. Mein Vater war auf der Basler-Alm. Er war am Abend hinaufgegangen und wollte das Vieh zusammentreiben, und in das dichte Wäldchen bringen bei der ›Wolfsgrub‹. Der Fels hängt oben weit über. Dort im Wäldchen ist das Vieh geschützt. Damals hatten wir auch nur zwanzig Milchkühe. Vater kam aber nicht zurück. Er rechnete nicht damit, dass sie in dieser Nacht sterben würde. Das Unwetter war schlimm. Ich war mit der Mutter alleine. Den Pfarrer konnte ich auch nicht holen. Aber das war nicht so schlimm, er hatte ihr schon vor Tagen die letzte Ölung gegeben. Ich saß an ihrem Bett. Sie wurde schwächer und schwächer. Mit letzter Kraft versuchte sie mir etwas zu sagen. Sie sprach nur sehr undeutlich. Vieles musste ich ergänzen. Es hat etwas mit Jochen zu tun. Jochen war ein Bruder meines Vaters. Er kam am Berg ums Leben, da war ich zwei Jahre alt. Ich heiße auch mit zweitem Namen Jochen.«

»Du vermutest, dass dieser Jochen dein Vater ist?«

»Ja!«

»Warum hast du mit deinem Vater nicht darüber gesprochen?«

»Was ist, wenn er es nicht weiß? Dann tue ich ihm nur weh.«

»Vielleicht irrst du dich, Florian! Deine Mutter stand bestimmt unter starken Schmerzmitteln. Sie hat vielleicht fantasiert?«

»Sie bekam starke Schmerzmittel, aber verwirrt erschien sie mir nicht. Außerdem war es schlimm, dass Mutter in dieser Nacht starb. Den ganzen Tag hingen schwarze Wolken über dem ›Höllentor‹ und nachts kam das Unwetter. Weißt du, was man sich hier in Waldkogel erzählt, wenn über dem Gipfel des ›Höllentors‹ schwarze Wolken stehen?«

»Ja, das weiß ich! Das hat dich auch verunsichert, Florian?«

Er blieb ihr die Antwort schuldig.

Saskia rutschte auf der Bank neben ihn. Sie legte ihre Hand auf die seine, mit der er sich an der Sitzfläche festhielt, als suche er einen Halt.

»Florian! Es spielt keine Rolle, wer dein Vater ist, jedenfalls im Sinn von Erzeuger. Hubertus Basler ist ein Mensch, den man gleich ins Herz schließt. Ich habe in der kurzen Zeit bei euch auf der Basler-Alm erkannt, dass er dich liebt. Wenn er es weiß, dann macht es für ihn keinen Unterschied. Viel schlimmer ist, dass du so verschlossen bist und wegläufst. Darunter leidet er sehr.«

»Du bist nicht entsetzt, dass ich aus so unklaren Verhältnissen stamme?«

»Mich kümmern deine Verhältnisse nicht, Florian. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, da wusste ich nichts über dich, die Verhältnisse, deinen Vater, deine Mutter. Ich sah nur dich an. Ich sah deine schönen blauen Augen und war wie verzaubert. Ein Blick genügte mir, und meine Welt geriet aus den Fugen.«

Florian schaut Saskia zärtlich an.

»So ging es mir doch auch! Doch dann dachte ich, wenn es rauskommt, dann leidest du und die nächste Generation. Nach der Beerdigung damals dachte ich plötzlich, alle wissen es. Alle sehen mich so sonderbar an. Vater sprach nicht mit mir. Er kapselte sich ab.«

»Florian, er trauerte!«

»Ja, so wird es gewesen sein! Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich ging fort! Ich war so alleine in meiner Trauer, meinem Schmerz, der Wut und Verzweiflung und dieser schrecklichen Ungewissheit.«

»Schade, dass wir uns damals nicht kennengelernt haben. Ich hätte dir beigestanden.«

Florian nahm Saskias Hände. Sie schauten sich an.

»Saskia, seit ich dich beim Brunnen gesehen habe, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass du bei mir bist. Ich war so dumm! Weißt du, damals sagte ich mir, dass es das Beste wäre, wenn ich niemals wieder etwas mit Waldkogel zu tun hätte. Ich schwor mir, nur jemanden zu heiraten, der nichts mit Waldkogel zu tun hat. Nur so, dachte ich, kann ich dem Schatten entgehen, der auf meiner Herkunft liegt.«

»Du bist aber wieder nach Waldkogel gekommen.«

»Ja, das Heimweh trieb mich her. Dann sah ich, wie sich Hubertus quälte. Er hatte sich, den Hof, das Leben aufgegeben. Da packte ich zu. Ich gab ihm Geld. Der Hof wurde renoviert. Er kaufte eine Herde Pinzgauer und stieg in die Rindermast ein. Ich versprach den Sommer über zu bleiben. Ich mied es aber, ins Dorf zu gehen. Ich wollte niemanden sehen, mit niemanden reden.«

»Ich verstehe dich! Wo bist du damals hin? Was hast du all die Jahre gemacht?«

»Ich bin Rinderzüchter in Argentinien. Dort half ich einem Mann eine Rinderzucht aufbauen. Er hatte nur einen tüchtigen Vorarbeiter gesucht. Er war schon älter. Seine Frau war tot, genau wie meine Mutter. Er hatte keine Kinder. Irgendwann vor fünf Jahren überschrieb er mir die Ranch gegen eine Leibrente und ein lebenslanges Wohnrecht. Er ist im Winter gestorben. Ich musste ihm versprechen, etwas gegen mein Heimweh zu tun. Deshalb bin ich hier. Hubertus weiß nicht, dass ich es zu einem großen Rinderbaron gebracht habe. Wir redeten nicht darüber.«

»Sonderbar? Hat er dich nicht gefragt, woher du das viele Geld hast?«

»Ich sagte, er solle nicht fragen! Im Herbst, wenn wir die ersten Erfolge haben mit den Kühen, dann wollte ich es ihm sagen.«

»Ihr seid mir zwei sonderbare Burschen! Ihr stellt keine Fragen, lebt einfach so nebeneinander her.«

Florian schmunzelte.

»Leben konnte man das ja wohl nicht nennen, so wie die Almhütte aussah.«

»Männerwirtschaft schrecklichster Ausprägung!«

Florian hielt noch immer Saskias Hände fest. Er schaute ihr in die Augen.

»Saskia, ich liebe dich!«, flüsterte er leise.

»Florian, ich liebe dich«, hauchte Saskia.

Und endlich, endlich fanden sich ihre Lippen zu leidenschaftlichen Küssen, nach denen sie sich beide so lange gesehnt hatten.

Sie kuschelte sich eng aneinander und hielten sich fest.

Es war Saskia, die das Heft in die Hand nahm.

»Wirst du mit deinem Vater reden?«

»Ja, ich will es wissen! So oder so, ich will es wissen, nicht nur für mich, sondern auch für …‹«, er schaute Saskia in die Augen, »… für unsere Kinder. Du nimmst mich doch? Du willst mich komplizierten Burschen doch, oder ?«

Saskia lachte.

»Wenn dies ein Heiratsantrag war – ja, ich will dich – ja, ich nehme dich!«

Sie küssten sich.

Saskia stand auf. Sie nahm Florian an der Hand.

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Also, komm! Wir klettern die ›Wolfsgrub‹ hinunter. Dann sind wir bald auf der Basler-Alm.«

Florian griff nach Saskias Rucksack. Sie gingen los.

*

Als sie unten an der Felswand vorbeigingen, blieb Florian stehen.

»Wir werden uns hier auch verewigen! Ich würde es ja gleich tun. Aber ich habe nichts dabei!«

»Aber ich! Ich bin von der schreibenden Zunft«, lachte Saskia.

Sie kramte in der Vordertasche ihres Rucksackes und förderte einen dicken Faserschreiber hervor.

Florian suchte eine schöne glatte Stelle am Felsen. Dort malte er ein großes Herz. Er schrieb die Jahreszahl hinein und malte ein ›S‹ für Saskia. Er übergab Saskia den Marker. Sie setzte ein Undzeichen dahinter und malte ein ›F‹ auf den Felsen.

Sie sahen sich an und küssten sich.

»Warum heißt die Schlucht eigentlich ›Wolfsgrub‹?«

»Das weiß keiner mehr so genau. Der Sage nach soll es ganz, ganz früher einmal Wölfe gegeben haben. Ob die etwas mit der Schlucht zu tun haben, kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass die Klamm ein gutes Versteck für Schwarzbrenner und Schmuggler war. Hier wagten sich nur Eingeweihte her. Vor der ›Wolfsgrub‹ wird man als Kind gewarnt. Sie sei unheimlich und gefährlich. Der Name trägt natürlich auch dazu bei und dass sie auf keiner Karte verzeichnet ist. Heute gibt es keine Schwarzbrenner und Schmuggler mehr. Seit vielen Jahren kommen hier nur Liebespaare her.«

»Liebespaare, so wie wir eines sind!«

»Ja!« Florian lachte. »Ich habe hier die Jahreszahl in das Herz gemalt, das heißt, wir heiraten noch in diesem Jahr.«

»Du hast eine wirklich sonderbare Art, etwas zu sagen, Florian. Ich glaube wirklich, du bist die letzten Jahre zu viel mit Kühen zusammengewesen.«

Er küsste sie.

»Deshalb will ich das sehr schnell ändern!«

*

Florian und Saskia gingen Hand in Hand weiter zur Basler-Alm. Hubertus war nicht da.

»Dann warten wir!«, sagte Saskia. »Wir können Essen kochen! Allerdings haben wir nur Dosen, keinen frischen Salat.«

»Wir suchen uns Grünzeug!«

Florian nahm Saskia an der Hand und führte sie auf die Wiese.

»Was siehst du hier?«

»Gras – und ich will betonen, ich bin keine Pinzgauer Kuh!«

Florian lachte und küsste sie.

»Hier wachsen viele verschiedene Kräuter. Meine Mutter hat sie gesammelt und sie zum Salat gegeben, oder wenn es viele waren, kleingeschnitten mit gekochten Eiern gemischt. Dazu gab es Pellkartoffeln oder Rös­tis. Ich kenne mich aus. Ich habe meiner Mutter oft geholfen.«

Florian eilte in die Almhütte und kam mit einer großen Schüssel und einem Messer. Er fing an, Kräuter zu stechen. Dabei erklärte er Saskia die einzelnen Pflanzen. Bald füllte sich die Schüssel. Florian wusch die Kräuter am Brunnen und schnitt sie klein. Dann würfelten sie gemeinsam Speck und Zwiebeln für die Röstis und schälten Kartoffeln.

Florian machte Feuer im Herd. Saskia setzte die Eier auf. Sie arbeiteten Hand in Hand. Es machte ihnen Freude.

Florian legte den Arm um Saskia.

»Du hast die Almhütte richtig wohnlich gemacht.«

»Danke!«

»Ich kann Handwerker bestellen, die könnten noch Verbesserungen machen. Wie wäre es mit einem Kühlschrank, einem Elektroherd, fließend heißes Wasser? Sage mir, wie du es haben willst und es wird gemacht.«

Saskia schlang die Arme um Florians Hals.

»Ich bin eigentlich ganz zufrieden. Die Almhütte ist wunderschön. Sie ist so urig! Daran sollte man nichts verändern. Außer vielleicht …, eine Möglichkeit zum Duschen. Doch die Dusche könnte man im Schuppen unterbringen.«

»Gute Idee!«

Sie küssten sich. Dann beredeten sie, wie alles werden sollte. Wie sie Florians Leben und Saskias Zukunftspläne verweben konnten. Dabei dachten sie auch an Hubertus.

Jemand räusperte sich. Florian und Saskia erschraken. Hubertus stand in der Tür. Er schmunzelte. Er zog seine Schuhe aus.

»Florian, wir haben vier weitere Kälber! Alle gesund und munter!«

»Das ist schön! Aber wir sollten jetzt nicht über Kühe reden, Vater. Die Saskia ist wieder hier!«

»Des sehe ich, Bub!«

»Vater, ich liebe die Saskia!«

»Das habe ich schon am ersten Abend gesehen.«

Hubertus blinzelte Saskia zu.

»Vater, wir werden heiraten!«

»Hast ein bisserl gebraucht, bis du zu deinen Gefühlen gestanden hast, wie?«

»Ja, aber dafür gab es Gründe.«

»Schmarrn, Florian! Entweder man liebt oder man liebt nicht! Des war bei deiner Mutter und mir auch so. Und wir hatten es wahrlich nicht leicht. Weil wir des erlebt hatten, hatte ich mir geschworen, mich nicht in deine Liebesangelegenheiten einzumischen. Deshalb war es schwer für mich, zuzusehen, wie verliebt du warst, Florian, und du dir selbst im Weg standest.«

»Vielleicht! Noch immer beschäftigt mich etwas! Kann ich dich etwas sehr Persönliches fragen? Ich will dazu sagen, dass ich dir nicht weh tun will.«

»Frage, was immer es auch sein mag.«

»Hatte meine Mutter – deine Frau – ein Verhältnis mit Onkel Jochen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie beim Essen erzählen. Die Röstis duften so gut! Und mei, was für ein Salat. Genau wie ihn deine Mutter immer gemacht hat.«

Sie setzten sich zu Tisch. Dieses Mal sprach Hubertus laut das Tischgebet. Sie fingen an zu essen.

»Florian, das war so. Deine Mutter und ich liebten uns seit wir Kinder waren. Die Baslers waren arme Leute. Unsere Eltern arbeiteten bei den Bauern. Einen eigenen Hof hatten wir nicht. Was es gab, war eine große Familie. Wir waren fünf Buben und vier Madls. Wenn wir es zu etwas bringen wollten, dann mussten wir Buben auch einheiraten, genau wie unsere Schwestern. Also suchten wir uns eine Braut, auf deren elterlichen Hof es keinen männlichen Erben gab. Aber nicht, dass du denkst, ich hätte deiner Mutter deswegen nachgestellt. Wir mochten uns schon immer. Das passte den Eltern deiner Mutter nicht. Ihnen gefiel mein Bruder Jochen besser. Jochen war verliebt in deine Mutter. Er schrieb ihr auch glühende Liebesbriefe und schickte ihr Blumensträuße und Pralinen. Aber das Herz deiner Mutter gehörte mir. Weder Jochens Werben, noch der Druck ihrer Eltern konnte sie umstimmen. Sie weigerte sich standhaft, Jochen zu heiraten. Deine Großeltern hatten deine Mutter als einziges Kind spät bekommen und waren deshalb schon älter. Zuerst starb deine Großmutter. Dann wurde dein Großvater krank. Noch auf dem Sterbebett flehte er deine Mutter an, Jochen zu heiraten. Sie blieb standhaft. Dein Großvater war ein harter stolzer Mann, der gewohnt war, dass sich alle seinem Willen fügten. Deine Mutter war nicht bereit, aus Gehorsam auf ihre Liebe zu mir zu verzichten. So wünschte ihr der eigene Vater auf dem Sterbebett ein schlimmes, ein erbärmliches Leben«

»Wie schrecklich!«, warf Saskia ein. »Was muss er für ein schlimmer Mann gewesen sein.«

»Ja, er war schlimm! Aber Florians Mutter war eine starke Frau. Als er tot war, nahm sie den Hausschlüssel von seinem Nachttisch und steckte ihn in ihre Schürzentasche. Sie drückte deinem Großvater die Augen zu. Dann verschloss sie das Haus und kam zu mir. Ich erinnere mich genau. Sie war blass und zitterte leicht. Sie erzählte aber nichts. Sie überredete mich, sie sofort zu heiraten. Sie brachte den Bürgermeister dazu, uns noch am gleichen Abend zu trauen und den Pfarrer uns seinen Segen zu geben.«

Hubertus schmunzelte.

»Der Bürgermeister bekam von deiner Mutter eine Kuh und der Pfarrer eine nicht unbeträchtliche Spende für die Kirche.«

»Dann waren wir Mann und Frau. Unsere Hochzeitsnacht verbrachten wir auf ihren Wunsch hier in der Almhütte. Erst am nächsten Tag erzählte sie mir, dass der alte Mann gestorben war. Sie war eine wirklich starke Frau. Sie wollte mich zum Vater ihrer Kinder und wollte nicht das Trauerjahr abwarten, wie es damals üblich war. Deine Mutter hat selten gelogen. Nur was die Umstände unserer Hochzeit betraf, da hielt sie es nicht mit der Wahrheit. Sie erzählte allen, dass es dem alten Bauer sehr schlecht gegangen sei und er hatte haben wollen, dass seine Tochter verheiratet sei, wenn der Herrgott ihn holen würde. Als sie dann mit mir auf den Hof gekommen war, war der alte Bauer selig entschlafen. So stellte sie es dar. Also wurde aus dem Hof, der BaslerHof. Dein Onkel Jochen wünschte uns Glück. Er wurde dein Patenonkel. Bald verliebte er sich in ein Madl aus Marktwasen. Er wollte ihr ein Edelweiß als Liebesgabe aus den Bergen holen und stürzte dabei ab. Deine Mutter aber hat ein Leben lang unter den Verwünschungen ihres Vaters gelitten. Immer wenn wir mal Sorgen hatten, eine Kuh krank war, die Ernte schlechter ausfiel, dachte sie daran. Als sie krank wurde, dachte sie auch daran. Es war ein innerer Konflikt. Obwohl sie stark gewesen war und für ihre Liebe gekämpft hatte und letztlich dazu gestanden hatte, war ihr Leben von Angst überschattet.«

»Die arme Frau!«, schluchzte Saskia.

Hubertus reichte ihr sein Taschentuch.

»Florian, ist deine Frage damit beantwortet? Und warum hast du mich gefragt?«

»Mutter faselte auf dem Sterbebett etwas von Jochen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und wenn, dann war er wohl falsch. Sie hätte ja dich kaum geheiratet, wenn sie etwas mit Jochen gehabt hätte.«

»Ah, hattest du den Verdacht, dass du net mein Bub bist?«

Florian errötete.

»Ich hatte bei Mutters Sachen Onkel Jochens Briefe gefunden, damals, als ich nach ihrem Tod ihr altes Adress­buch suchte, weil wir doch die Todesanzeigen verschicken wollten.«

Hubertus sah seinen Sohn lange an. Dann sagte er laut und deutlich: »Deine Mutter ist als Jungfrau in die Ehe gegangen! Sie war eine wunderbare Frau. Sie war freundlich, gütig und hilfsbereit. Sie war eine kluge Frau, die immer wusste, was zu tun war.

Ich war sehr glücklich mit ihr. Ich hoffe, du wirst mit Saskia ebenso glücklich.«

Sie aßen weiter.

Nach einer Weile schaute Hubertus seinen Sohn an.

»Bub, ich habe dir jetzt viel erzählt. Ich bin froh, dass wir uns ausgesprochen haben. Jetzt will ich einige Fragen stellen.«

Florian nickte.

»Bist du damals auf den Verdacht hin, dass du nicht mein Bub bist, wegen der Briefe und so weiter, weggegangen?«

»Ja!«

»Warum bist net zu mir gekommen? Ich hätte dir alles erzählt. Warum hast du mir nicht gesagt, dass deine Mutter auf ihrem Sterbebett von Jochen gesprochen hatte?«

»Vater, es tut mir leid! Ich konnte nicht! Ich war so durcheinander, ich wollte nur fort – fort – fort!«

»Schwamm darüber! Du bist ja wiedergekommen.«

»Ja, ich hatte Heimweh! Ich wollte mich heimlich umsehen. Dann sah ich, wie schlimm es um dich und den Hof stand.«

»Ich hatte jeden Lebensmut verloren, Florian. Deine Mutter war gestorben und du bist fort gegangen.«

»Das verstehe ich!«

Dann erzählte Florian, wie er sein Glück in Übersee gemacht hatte. Sein Vater staunte.

»Daher hast du das ganze Geld! Das ist kaum zu glauben! Aber ich habe in den letzten Wochen selbst gesehen, was du für ein glückliches Händchen hast mit den Kühen.«

»Du kannst mir glauben. Außerdem kannst du mit Luise reden.«

»Wer ist Luise?«, fragte Saskia.

»Luise ist eine der älteren Angestellten, die das große Haus in Argentinien versorgen. Sie ist Witwe, kinderlos und hatte immer Heimweh. Sie ist froh, dass sie jetzt die Aufgabe hat, nach dem Basler-Hof zu sehen.«

Hubertus schaute seinen Sohn an.

»Du willst im Herbst wieder nach Argentinien zurück?«

Florian schaute Saskia an.

»Wir beide haben das schon alles besprochen. Saskia will ihr Examen machen. Das soll sie. Es ist wichtig, dass Madls einen ordentlichen Beruf haben. Bis zu ihrem Examen werde ich öfters hin und her fliegen.«

»Wo wollt ihr heiraten?«, fragte Hubertus.

»Saskia will hier in Waldkogel heiraten.«

»Mei, Madl, da freue ich mich! Dann gibt es auf unserem Hof ein großes Fest! Hat dir der Florian den Hof schon gezeigt?«

»Nein, dazu hatten wir noch keine Zeit!«

»Dann wird es aber Zeit! Aufi, wir gehen ins Dorf! Oder spricht etwas dagegen, Florian?«

»Wir können erst gehen, wenn wir das Geschirr abgewaschen haben«, sagte er lachend.

»Ja, das Geschirr muss gleich gespült werden, sonst kommen wieder so viele Fliegen«, sagte Saskia.

Zusammen machten sie sauber. Dann packte Saskia den Kater in die Transportbox. Sie fuhren alle auf dem Motorrad nach Waldkogel. Zuerst feierten sie auf dem Basler-Hof und stießen mit Obstler auf die zukünftige Bäuerin an. Dann machten Florian und Saskia einen Spaziergang durch Waldkogel, begleitet von Hubertus. Sie kehrten bei Tonis Eltern ein und feierten dort weiter. Saskia rief auf der Berghütte an. Anna und Toni freuten sich über das Glück der beiden. Toni versprach, Saskias Sachen auf den Basler-Hof zu bringen.

Saskia blieb den ganzen Sommer in Waldkogel. Sie schrieb eine wunderbare Reportage über einen Mann aus Waldkogel, der in Südamerika sein Glück machte. Darunter stand:

Name von der Redaktion geändert

Als Saskia ihrem alten Chef und Förderer den Text vorlegte, war er begeistert.

»Ich wusste, dass du es schaffst! Du hast das Zeug, was eine tüchtige Journalistin ausmacht. Einen Tag nach deinem Examen kannst du hier anfangen!«

»Danke für das Angebot. Aber ich habe andere Aussichten!«

Der alte Chef runzelte die Stirn. Saskia lachte.

»Ich bin verlobt und werde diesen Burschen heiraten! Aber wenn sie wollen, dann können sie mich als ihre Auslandsreporterin für Südamerika haben.«

»So wichtig ist unsere kleine Zeitung nicht, aber wenn du hin und wieder, ich meine, ziemlich regelmäßig uns etwas schickst, dann sind wir sehr froh und werden es veröffentlichen.«

Im Herbst wurden alle Pinzgauer verkauft. Es war eine große Herde und brachte viel Gewinn ein. Saskia und Florian heirateten in Waldkogel. Die Flitterwochen verbrachten sie auf Florians Rinderranch. Saskia und Florian flogen bis zu Saskias Examen oft hin und her. Dann ließen sie sich für die nächsten Jahre in Südamerika nieder. Hubertus siedelte bald zu dem jungen Paar um. Der Basler-Hof wurde von Luisa verwaltet.

Saskia und Florian bekamen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Dieses Mädchen kehrte im jugendlichen Alter nach Waldkogel zurück, verliebte sich dort und führt den Basler-Hof weiter. Hubertus lebte noch viele Jahre und wurde glücklicher Urgroßvater.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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