Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 21
ОглавлениеToni stand im Juwelierladen und beobachtete ein junges Paar, das sich Eheringe aussuchte. Der alte Goldschmied bediente die beiden. Toni erinnerte sich, wie er seiner Anna den Ring an den Finger gesteckt hatte, und lächelte. Das junge Paar zahlte und verließ das Geschäft. Ferdinand Unterholzer brachte das Paar zur Tür. Er sah ihnen einen Augenblick nach, dann schloss er die Tür von innen ab und drehte ein Schild um, das innen an der Ladentür hing. Jetzt zeigte die Schrift nach außen. Der Text lautete:
Bin gleich zurück!
»So, jetzt haben wir Ruhe! Grüß Gott, noch einmal!«
»Ja, grüß Gott!«
Ferdinand Unterholzer lächelte Toni an. Er lud ihn ein, mit ihm nach hinten in die Goldschmiedewerkstatt zu gehen. Er bat Toni, sich zu setzen und schenkte ihm einen Kaffee ein. Toni verbarg seine Ungeduld. Was würde der alte Goldschmied ihm erzählen können? Seit Wochen erhielt die kleine Franziska in Abständen Briefe eines Unbekannten. Er unterschrieb die Briefe mit »Berni«, gab aber keinen Absender an. In jedem Brief lag ein kleiner Anhänger, den man an ein Armband hängen konnte. Toni und Anna hatten die größeren braunen Umschläge an Franzi geöffnet und darin einen goldenen Schornsteinfeger, ein Hufeisen, ein Herz und andere Anhänger gefunden. Durch die Verpackung hatten Toni und Anna geschlossen, dass die Schmuckstücke im Laden des Goldschmiedes in der kleinen Gasse in Kirchwalden gekauft sein mussten, denn nur er verpackte Schmuckstücke in solchen kleinen, ungewöhnlichen Schachteln. Toni und Anna hatten den Goldschmied schon vor einiger Zeit aufgesucht, um hinter den geheimnisvollen Schenkenden zu kommen. Unterholzer hatte versprochen, ihnen bei ihren Nachforschungen zu helfen.
Der alte Mann setzte sich zu Toni an den Tisch in einer Ecke der kleinen Werkstatt. Er gab Milch und Zucker in seinen Kaffee und rührte um. Dann trank er einen Schluck und sah Toni an. Er schmunzelte.
»Also, wie ich schon am Telefon sagte, der junge Mann ist wieder hier gewesen und hat einen weiteren Anhänger gekauft.«
»Einen kleinen goldenen Mond! Der Brief ist inzwischen bei uns auf der Berghütte angekommen«, warf Toni ein.
Der alte Mann nickte.
»Ich habe versucht, den jungen Mann in ein Gespräch zu verwickeln. Des war net so leicht. Er ist ein etwas verschlossener Typ. Aber des kann auch daher kommen, dass er sehr in ein Madl verliebt ist, das Franzi gerufen wird. Das habe ich ihm dann entlockt. Er scheint sehr betrübt zu sein, dass des Madl sich net bei ihm meldet. Er hat ihr nämlich seine Handynummer gegeben. Von ihr weiß er nur, dass sie aus Waldkogel ist, vielmehr dort wohnt. Er hat sie mir beschrieben. Sie soll ein wirklich fesches Madl sein mit blonden Haaren. Er hat sie hier in Kirchwalden im Biergarten kennengelernt. Seither geht er jeden Abend dorthin und hofft, sie wiederzusehen. Mehr war net aus ihm herauszubekommen.«
»Unsere kleine Franziska hat ebenfalls blonde Haare. Danke, jetzt habe ich einen Anhaltspunkt, und mir fällt ein Stein vom Herzen. Es ist also nicht unsere Franziska gemeint. Da liegt eine Verwechslung vor. Wie der junge Bursche an unsere Adresse, beziehungsweise an Franzis Adresse gekommen ist, des wird noch zu klären sein.«
»Ja, dafür gibt es sicherlich eine plausible Erklärung, Herr Baumberger!«
Toni trank einen Schluck Kaffee und rieb sich das Kinn.
»Und der junge Bursche heißt Berni?«, fragte Toni.
Der alte Goldschmied zuckte mit den Schultern.
»Des weiß ich net. Seinen Namen hab’ ich noch net herausgefunden.«
Toni dachte einen Moment nach.
»Mei, des wird eine schöne Sucherei geben. Des Madl kann nur im Neubaugebiet wohnen, denke ich mir«, sagte er halblaut vor sich hin.
Sie tranken beide einen Schluck Kaffee. Der alte Goldschmied hatte sich auch Gedanken gemacht.
»Wie steht es mit Saisonarbeiterinnen in Waldkogel?«, fragte er. »Im Sommer, während der Haupttouristenzeit, kommen doch viele Servicekräfte in die Berge. Wir haben hier in Kirchwalden im Sommer Servicekräfte von überall her. In dem Wirtshaus, in dem ich ab und zu ein Bier trinke, gibt es auch ein paar Madln, die net aus heimischen Gefilden kommen, aber gut Deutsch sprechen. Wie sie wirklich heißen, weiß man oft net. Gerufen werden sie, Kathi, Maria oder Lissi.«
»Du meinst, es könnte sein, dass des blonde Madl vielleicht aus dem Norden ist so wie meine Anna und man ihr einen Namen gab, der besser in die Berge passt?«
»Ja, des war so ein Gedanke von mir!«
»Himmel, der ist gar net so abwegig.«
Toni schmunzelte. Er erinnerte sich an das erste gemeinsame Abendessen in der Wirtsstube seiner Eltern mit Anna. Damals erklärte er ihr, dass ihr doppelter Vorname schlecht in die Berge passe und er sie deshalb Anna nennen würde, als Abkürzung von Dorothea Annabelle. Ein Madl, das Dorle gerufen wurde, gab es schon in Waldkogel, ebenso ein Madl, das Thea gerufen wurde. Um Verwechslungen zu vermeiden, wählte Toni damals den ersten Teil des zweiten Vornamens Annabelle.
Toni trank einen weiteren Schluck Kaffee.
»Franzi kann die Abkürzung von Franziska sein, aber es könnte auch ein anderer Vorname sein, der mit einem ›F‹ beginnt.«
Toni zählte einige Vornamen auf.
»Ich werde also in Waldkogel nach jemandem suchen müssen, der Franzi gerufen wird, genau wie unser Kindl. Die Idee, des Madl könnte eine Servicekraft sein, ist ein guter Gedanke, Herr Unterholzer. Da weiß ich doch, wo ich schon mal anfangen kann zu suchen. Im Hotel ›Zum Ochsen‹! Von denen weiß ich bestimmt, dass sie den Sommer über ihr Personal verstärken.«
Toni lächelte den alten Goldschmied an.
»Auf jeden Fall ein herzliches vergelt’s Gott, Herr Unterholzer!«
»Des hab’ ich gern gemacht. Ich hoffe, des Madl wird gefunden. Des hoffe ich auch für den Burschen. Der mag des Madl nämlich wirklich gern, davon bin ich überzeugt. Am Ende sind wir noch Kuppler, wie?«
Sie lachten beide.
»Mei, bin ich froh, dass ich jetzt einen Anhaltspunkt habe.«
»Ich will wissen, ob des Madl gefunden wird.«
»Sicher! Das ist doch Ehrensache!«
Toni trank seinen Kaffee aus. Er stand auf und schüttelte Ferdinand Unterholzer dankbar die Hand. Toni war die Erleichterung anzusehen. Es lag offenbar eine Verwechslung vor.
Ferdinand Unterholzer brachte Toni zur Tür. Die Männer schüttelten sich noch einmal die Hand. Toni sprach ein herzliches Vergelt’s Gott aus. Dann stieg er in sein Auto, das er in unmittelbarer Nähe zum Laden geparkt hatte. Während er davonfuhr, winkte er dem Goldschmied noch einmal zu.
Toni war wirklich erleichtert. Gleichzeitig reizte es ihn, diese Franzi in Waldkogel zu finden und am Ende die beiden möglicherweise zusammenzubringen. Sicherlich, das junge Madl hatte sich bei Berni nicht gemeldet. Auf dem Heimweg überlegte Toni, dass es dafür viele Gründe geben konnte, nicht nur, dass sie sich aus dem Burschen nichts machte und ihn nicht wiedersehen wollte. Möglich, dass sie die Handytelefonnummer verloren hatte? Möglich, dass der junge Bursche ihr in der Aufregung eine falsche Telefonnummer gegeben hatte, weil sein Herz und sein Kopf voller Liebe und Zuneigung waren. Er hatte sich einfach verschrieben, dachte Toni. Es war vieles möglich. Schade wäre es, wenn das junge Madl von diesem Berni nichts wissen wollte. Berni war wohl sehr in diese Franzi verliebt. Toni stellte sich vor, wie sich der junge Bursche jeden Abend im Biergarten umsah und verzweifelt und voller Liebessehnsucht nach dem Madl seines Herzens Ausschau hielt.
Während Toni langsam nach Waldkogel zurückfuhr, lauschte er in sich hinein. Je mehr er lauschte, desto sicherer wurde er, dass es nicht nur einen verzweifelten jungen Burschen gab, der sich nach dem Madl seines Herzens sehnte, sondern auch ein Madl, das vergeblich auf ein Lebenszeichen wartete, da es ihr unmöglich war, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
Toni hielt nicht bei seinen Eltern. Er suchte auch nicht im Hotel »Zum Ochsen«, dort arbeiteten im Sommer immer Saisonkräfte. Toni wollte die Angelegenheit zuerst mit Anna bereden. Außerdem war es nicht gut, einfach so vorzusprechen. Gleich wenn ich nach einer Franzi frage, wird der Angesprochene wissen wollen, warum ich dieses Madl suche. Also wollte Toni die Briefe bei seiner Suche dabei haben.
Er stellte seinen Geländewagen auf der Wiese hinter der Almhütte der Oberländer Alm ab und stieg aus. Als er mit großen Schritten dem Bergpfad zustrebte, der von der Oberländer Alm auf die Berghütte hinaufführte, rief ihm Wenzel zu: »Grüß dich, Toni! Was hast du es so eilig? Rennst, als sei der Leibhaftige hinter dir her! Wo brennt es denn?«
Toni hielt einen Augenblick inne. Er rief Wenzel Oberländer einen Gruß zu und gab zu verstehen, dass er es eilig hatte.
Hildegard Oberländer, die Hilda gerufen wurde, kam aus der Almhütte. »Was brüllst du so, Mann?«
»Mei, des ist doch sehr sonderbar. Der Toni ist eben hier vorbeigerannt, als sei der Teufel hinter ihm her. Er hat sogar vergessen, zu grüßen.«
»Mei, was du net sagst, Wenzel? Des wundert mich jetzt auch. Ich kann mich net erinnern, dass der Toni net für ein paar Worte, wenigstens einen Moment stehengeblieben ist. Außerdem hätte er frischen Käse mit auf die Berghütte nehmen können.«
»Siehst, genau des hat mich auch verwundert. Erst dachte ich, er ist in Gedanken. Die jungen Leute sind ja heute viel mehr in Gedanken, als wir des in unserer Jugend waren. Sie sind oft gedankenlos und vergessen das Grüßen. Aber des kann es net sein, net beim Toni. Den Toni muss etwas sehr beschäftigen, etwas, was wichtig ist und keinen Aufschub duldet, sonst hätte er mit uns ein Schwätzchen gehalten.«
Hilda ärgerte sich oft über ihren Mann, weil dieser jeden ansprach, der an der Almhütte vorbeikam auf dem Weg zur Berghütte. Besonders die jungen Madln sprach Wenzel gerne an. Er war eben neugierig. Doch heute war Hilda auf Wenzels Seite und wunderte sich mit ihm über Tonis Eile.
Als Toni auf der Berghütte ankam, lief ihm Bello, der junge Neufundländerrüde, bellend entgegen. Anna stand auf der Terrasse. Sie rief: »Bello, aus! Sei still!«
Das Hundegebell schallte durch die Berge und kam als Echo zurück.
»Gib dir keine Mühe, Anna! Du kennst unser Kraftpaket doch. Wenn er sich freut, dann ist er nicht zu bremsen!«, lachte Toni.
Er legte den Arm um Annas Schulter und gab ihr einen Kuss.
»Was hast du erfahren? Wer ist dieser Berni?«
»Erfahren hab’ ich schon etwas, Anna. Es könnte uns weiterhelfen. Aber am Ziel sind wir noch nicht. Die gute Nachricht ist, dass der Berni nicht unsere Franziska meint.«
»Das ist schon mal sehr, sehr gut!«, seufzte Anna glücklich.
»Wen meint er dann?«, fragte Alois, der auf der Terrasse am Tisch saß.
Toni holte für sich ein Bier, Anna nahm ein Wasser. Sie setzten sich zu dem alten Alois. Toni berichtete ausführlich, was ihm Ferdinand Unterholzer erzählt hatte.
»Des ist net viel, aber immerhin etwas«, bemerkte der alte Alois. »Was willst jetzt machen, Toni? Die Anhänger und die Briefe zu behalten, das wäre Unrecht.«
»Des stimmt, Alois. Mein erster Gedanke war, das Madl zu suchen. Vielleicht finde ich sie. Dann habe ich überlegt, dass wir die Briefe zum Goldschmied bringen könnten. Er könnte den jungen Mann fragen, ob sie von ihm sind und wenn sie es sind, diese ihm zurückgeben, wenn er wiederkommt und einen Anhänger kaufen will.«
»Naa, naa! Des ist keine gute Idee, Toni! So eine Aufgabe kannst net delegieren, Toni. Da musst dich schon selbst drum kümmern!«
Der alte Alois schüttelte den Kopf. Anna legte sacht die Hand auf Tonis Unterarm.
»Ich habe da eine Idee!«
»So, dann raus mit der Sprache!«, ermunterte sie Toni.
»Toni, ich bin Alois’ Meinung. Wir sollten die Briefe behalten und dem jungen Burschen selbst geben. Laden wir ihn doch auf die Berghütte ein. Wir schreiben ihm einen Brief und laden ihn für ein Wochenende zu uns ein. Dann können wir ausführlich mit ihm reden und erfahren vielleicht mehr über das Madl, das er so liebt. Das wird die Suche nach ihr erleichtern, denke ich mir.«
»Ja, das machen wir, Anna. Das ist eine gute Idee.«
Toni trank einen Schluck Bier. Er dachte nach.
»Anna! Alois! Die Briefe waren an die Franzi. Also wäre es am besten, wenn die Franzi diesem Berni schreibt. Des wirkt auch ganz anders, als wenn wir als Erwachsene schreiben. Die Franzi kann da reinschreiben, dass wir ihr bei der Suche geholfen haben. Damit meine ich, dass wir herausgefunden haben, wo Berni die Anhänger gekauft hat.«
»Das ist eine wunderbare Idee, Toni. Der Brief eines kleinen Mädchens ist auch sicherlich nicht so schmerzhaft für diesen Berni. Das heißt auf der anderen Seite, wir müssen mit Franzi reden.«
»Ja, das müssen wir, Anna. Jetzt ist das auch kein Problem mehr. Wir werden der Franziska alles genau erzählen und erklären. Dann kann sie dem Berni einen Brief schreiben mit ihren Worten. Des macht die Franzi bestimmt gut. Wir legen einen weiteren Brief dazu, in dem wir ihn einladen. Dann bringen wir die beiden Briefe zum Juwelier nach Kirchwalden und hoffen, dass dieser Berni wiederkommt, um weitere Anhänger zu kaufen. Was ist, wenn er es nicht tut? Was ist, wenn er aufgibt? Wenn er denkt, sein Werben fällt nicht auf fruchtbaren Boden?«
Toni schaute Anna und den alten Alois an.
»Daran denken wir nicht, Toni!«, sagte Anna deutlich. »Solche Gedanken lassen wir erst gar nicht aufkommen. Wir glauben daran, dass Berni weitere Anhänger beim Goldschmied kaufen wird. Du weißt doch, wie das ist mit den sich selbsterfüllenden Prophezeiungen, Toni.«
»Stimmt, Anna! Außerdem scheint der Bursche wirklich sehr verliebt zu sein. Berni und diese Franzi, die gehören zusammen, denke ich. Die Liebe hat ihre Herzen verbunden. Seine Liebe zu ihr kann nicht einfach so verpuffen. Ich glaube fest daran, dass wenn ein Mensch einen anderen liebt, dann spürt der andere Mensch das auch. Also, ich denke mir das so. Das Madl spürt in seinem Herzen, dass Berni sie liebt, und sie sehnt sich nach ihm und wartet auf ihn. Sie wartet auf ein Zeichen von ihm.«
Der alte Alois nickte zustimmend.
»Toni, Anna! Wenn ihr die Schreiben nach Kirchwalden bringt, dann müsst ihr mit dem Unterholzer reden. Wenn der Bursche in den nächsten Tagen nicht in den Laden kommt, dann kann er ja versuchen, ihn im Biergarten zu finden.«
»Das ist eine gute Idee, Alois! So machen wir es! Jetzt müssen wir nur noch einen ruhigen Augenblick finden, um mit Franzi zu reden.«
»Toni, wir könnten mit den Kindern mal wieder eine Wanderung zum ›Paradiesgarten‹ machen.«
»Das ist eine gute Idee, Anna! Hältst du hier derweil die Stellung auf der Berghütte, Alois?«
»Mei, Toni, wie kannst du mich das fragen? Des mache ich doch gerne.«
Toni und Anna waren sich einig. Außerdem hatten Franziska und Sebastian in der kommenden Woche einen Tag schulfrei, weil die Lehrer einen Betriebsausflug machten. An diesem Wochentag sollte die Wanderung stattfinden.
»Die Lehrer machen einen Betriebsausflug, und wir machen einen richtig schönen Familienausflug«, sagte Toni. »Und bis dorthin regle ich das mit dem Unterholzer. Ich rufe ihn an. Sollte der Bursche vorher noch einmal in den Laden kommen, dann kann er ihm sagen, er hätte eine Franzi als Kunden, die wäre im Laden gewesen und hätte sich von ihm die Anhänger an ein Armband machen lassen. Das ist zwar etwas geflunkert, aber der Zweck heiligt die Mittel, so sagt man doch. Dann will ich den Juwelier gleich anrufen.«
Toni holte das Handy aus der Hosentasche und rief den Goldschmied in Waldkogel an. Er trug ihm seinen Plan vor. Ferdinand Unterholzer sagte zu, dass er mitspielen würde.
»So, jetzt sind die Weichen gestellt, und wir können beruhigt an die Arbeit gehen. Himmel, was bin ich angespannt gewesen, Anna! Doch jetzt ist es mir leichter ums Herz.«
Anna gab Toni einen Kuss.
»Ich verstehe dich, Toni. Doch jetzt ist alles auf einem guten Weg. Wir wissen, dass kein erwachsener Bursche unserer kleinen Franzi nachstellt.«
»Ja, das ist die Hauptsache! Ich gehe jetzt hinter die Berghütte und hacke Holz.«
Toni trank sein Bier aus und ging zum Holzplatz. Anna räumte den Tisch ab und ging in die Küche der Berghütte. Am frühen Morgen hatte sie Brotteig angesetzt und dieser war schön aufgegangen. Jetzt mussten die Brote gebacken werden. Alois blieb auf der Terrasse der Berghütte sitzen und las die Zeitung.
*
Es war später Nachmittag. Tina Gerstmair kam mit ihrem Auto von Kirchwalden und hielt vor der Garage auf dem elterlichen Hof. Sie sah, wie ihre Eltern zwei Männer verabschiedeten. Diese stiegen in eine große schwarze Limousine und fuhren davon.
»Grüß Gott! Was waren denn des für feine Pinkel? Die passen net hierher. Die gehören ins Hotel ›Zum Ochsen‹, denke ich.«
Tina sah, dass sich ihre Eltern Blicke zuwarfen. Sie schaute sie an.
»Was ist los? Habe ich etwas verpasst?«
»Naa, hast nix verpasst, Madl! Ich und deine Mutter hatten etwas zu bereden mit denen aus der Stadt.«
»Habt ihr Sorgen? Waren die von der Bank oder von einer Behörde. Sie sahen mir eher wie Banker aus, mit ihren feinen Nadelstreifenanzügen und dem großen Auto. Redet schon! Ihr verheimlicht mir doch etwas, wie?«
Rosel und Franz Gerstmair seufzten. Dann lächelten sie Tina an.
»Es ist nix, Madl! Nun schau net so erschrocken. Musst dir wirklich keine Sorgen machen, ganz im Gegenteil. Es ist alles in bester Ordnung. Wir tun des alles für dich.«
Tina Gerstmair, die das Temperament ihres Vaters geerbt hatte, brauste auf. Sie schrie: »Vater, was gut für mich ist, das entscheide ich selbst! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, falls du es noch net bemerkt hast. Da wird nimmer über die Köpfe von Weibern entschieden. Außerdem habt ihr niemand außer mir. Wenn ihr also Sorgen habt oder wenn etwas nicht stimmt, dann habe ich ein Recht, es zu wissen. Ich hasse diese Geheimniskrämerei! Mei, ich habe doch gemerkt, dass euch beide in den letzten Wochen etwas beschäftigt hat. Ihr habt oft leise miteinander geredet. Und wenn ich dann dazu gekommen bin, dann habt ihr schnell das Thema gewechselt. Himmel! Was glaubt ihr denn von mir? Denkt ihr, ich wäre so dumm, dass ich nicht mitbekomme, dass etwas in der Luft liegt. Also, ich will die Wahrheit wissen und zwar die reine Wahrheit. Versucht nix zu beschönigen!«
»Brülle net so rum, Tina! Wir sind deine Eltern und net deine Freunde. Vielleicht kannst mit denen so umspringen, mit uns net!«
»Vater, brülle mich net an! Ich kenne dich genau! Wenn du so reagierst, dann weiß ich genau, dass du im Unrecht bist. Also, wir gehen jetzt rein, dann wird reiner Tisch gemacht.«
»Wie war es auf der Arbeit?«
»Gut war es, Mutter! Du versuchst abzulenken. Das wird dir nicht gelingen.«
Tina drehte sich auf dem Absatz herum und ging ins Haus. Sie stellte ihre Tasche auf die Eckbank in der großen Wohnküche und setzte sich auf ihren Platz. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Es war nicht beabsichtigt gewesen, dass ich die Herren sehe, dachte sie. Das war Vorsehung, dass ich heute mal pünktlich Feierabend gemacht habe. Wäre ich nur zehn Minuten später von meinem Arbeitsplatz aufgebrochen, dann hätte ich die beiden Herren mit dem schwarzen Auto nicht gesehen. Sie wollten es mir verheimlichen, dachte Tina. Da geschieht etwas hinter meinem Rücken, dachte sie.
Ihre Eltern standen auf dem Hof und redeten leise. Tina rief laut aus dem Fenster: »Was tuschelt ihr da? Wo bleibt ihr? Ich warte!«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Rosel und Franz Gerstmair hereinkamen. Sie setzten sich an den Tisch.
»Nun redet schon!«, forderte Tina sie auf.
Ihre Eltern sahen sich an. Tina trommelte mit den Fingern auf die dicke Tischplatte.
»Ich werde das Gefühl net los, als wolltet ihr hinter meinem Rücken vollendete Tatsachen schaffen. Aber net mit mir! Also, jetzt redet!«
Tinas Vater stand auf und holte für alle Bier. Er wollte anstoßen.
»Erst sagst mir, was los ist, Vater!«
»Dann lässt du es eben, Tina! Prosit, Rosel!«
Tinas Mutter hob stumm ihren Bierseidl, nickte und trank. Sie räusperte sich.
»Dein Vater geht bald in Rente. Den größten Teil seines Lebens war er im Hauptberuf Landwirt. Dann hat er sich vor mehr als zehn Jahren eine Hilfsarbeit gesucht und wir haben die Landwirtschaft verkleinert und auch Gäste aufgenommen. Weißt, Tina, wenn so ein neuer Lebensabschnitt auf einen zukommt, dann denkt man nach. Man plant und überlegt und weiß eben, dass das Alter mit großen Schritten auf einen zuschreitet und darüber hinaus auch noch manches andere kommen kann. Da wird es einem ein bissel mulmig. Dein Vater und ich hatten deswegen auch schon einige schlaflose Nächte. Wenn unser Herrgott uns abruft, dann wollen wir dir keine Last vererben. Schulden sind net auf dem Hof. Aber das Dach muss bald gemacht werden. Der Dachdecker sagte, dass des mit der ständigen Flickerei nimmer lang so weitergehen kann. Modernisieren müsste man auch, wenigstens die Fremdenzimmer. Man könnte auch noch weiter ausbauen. Aber dann wäre die nächsten zwanzig Jahre eine Hypothek auf dem Hof. Dein Vater und ich wollen des net. Wir hätten im Jenseits keine ruhige Minute, wenn wir wüssten, dich hier mit Schulden und Druck und Sorgen alleine gelassen zu haben.«
Tina trommelte weiter mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Mutter, komm zur Sache! Was soll die lange Vorrede? Ich habe schon begriffen, dass ihr euch Gedanken macht.«
Franz Gerstmair stand auf und stellte sich neben seine Frau. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie sah zu ihm auf.
»Lass mich des dem Madl erklären. Ich bin hier der Bauer, wenn auch nur im Nebenerwerb. Aber es ist das Erbe von meiner Familie.«
Er setzte sich wieder und trank einen Schluck Bier. Dann wischte er sich den Schaum vom Oberlippenbart. Er sah Tina an.
»Richtig ist, dass du mit deinen Gefühlen net daneben liegst. Ja, es ist so. Deine Mutter und ich, wir überlegen, wie wir des alles so machen können, dass du später gut leben kannst. Wir haben den Hof schätzen lassen. Das Ergebnis ist zwar net so großartig. Der Hof ist eben net renoviert, des schlägt sich in der Beurteilung nieder. Aber Grund und Boden sind was wert. Die Bausubstanz wäre auch noch gut, haben die beiden Herren gesagt.«
Tinas Herz setzte vor Schreck zwei Schläge aus. Sie wurde blass. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie abwechselnd ihren Vater und ihre Mutter an.
»Madl, des ist heute dumm gelaufen. Wir wollten des in aller Ruhe mit dir bereden, wenn wir des Gutachten schriftlich haben. Wir wollten dir dann auch unsere Pläne mitteilen. Denn wenn der Hof verkauft ist, dann müssen wir natürlich hier ausziehen.«
Tina schrie auf. Ihr Schrei klang wie der Schrei eines verwundeten Tieres.
»Du – ihr wollt den Hof verkaufen? Ja, seid ihr denn wahnsinnig? Habt ihr den Verstand verloren? Am Ende hat die Altersdemenz bei euch schon eingesetzt.«
»Jetzt werde net unverschämt, Tina!«, brüllte ihr Vater sie an.
»Ich – ich – ich un … un … unverschämt?«, stotterte Tina, und für einen Augenblick versagte ihr die Stimme.
Tina schluckte und trank einen Schluck Bier.
»Des ist doch unsere Heimat, Vater. Den Gerstmair Hof gibt es schon, seit es Waldkogel gibt. Das kannst du doch net machen! Der Großvater und die Großmutter drehen sich im Grab um. Des ist, des ist, als würdest du dich versündigen.«
Tina kämpfte mit den Tränen. Ihre Eltern waren überrascht und gerührt. Sie hatten nie gedacht, dass ihr Madl so an seiner Heimat hängt.
»Jetzt tust dich net aufregen, Tina, und hörst uns erst mal in Ruhe zu! Mei, wir können verstehen, dass des ein Schock für dich ist. Aber deine Mutter und ich haben uns das gut überlegt. Du hättest diesen Klotz am Bein, wenn wir mal nimmer sind. Wir sagten uns, wir geben lieber mit warmen Händen. Du bist doch unser Ein und alles, Madl.«
Tina schluckte. Sie sagte nichts, hörte ihrem Vater zu, der ihr darlegte, wie er und Tinas Mutter sich es gedacht hatten. Sie wollten den Hof und das Land, auch die Wiesen und die leerstehende Hütte auf der Hochalm verkaufen. Von dem Geld wollten sie sich im Neubaugebiet von Waldkogel ein schmuckes Haus mit Garten kaufen. Sie hatten sich auch schon Häuser angesehen.
»Tina, wir haben es uns genau überlegt. Landwirtschaft bringt heute nix mehr, wenn du net viel Geld in die Hand nimmst. Du bist noch ledig. Die Chancen, dass du einen Burschen ehelichst, der unbedingt Bauer sein will, hier einheiratet und auch noch die Millionen mitbringt, sind wohl eher gering. Mei, Tina, wir haben dich Buchhalterin, Steuerfachangestellte lernen lassen. Du kennst dich doch aus. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen. Das Haus, das wir kaufen, des bekommst du gleich auf deinen Namen eingetragen. Wir behalten ein lebenslanges Wohnrecht in einer Wohnung. Wir dachten an ein Haus mit genug Platz, weißt, mit drei oder mehr Wohnungen. Es gibt da von der Baugesellschaft schlüsselfertige Häuser, die sind sehr schön. Der Keller ist so groß, dass man noch eine kleine Wohnung einrichten kann. Es gibt zwei Etagenwohnungen. Das Dach kann man auch ausbauen lassen. Wir würden ein Haus wählen, das ein schönes großes Grundstück hat, mit einem Garten hinter dem Haus, einem Hof und Garagen.«
Tina lehnte sich auf den Stuhl zurück und schloss die Augen. Ihr Herz war wund. Es war ihr, als wäre alles Elend der Welt über sie hereingebrochen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen fortgezogen. Ihre Eltern betrachteten sie. Sie sahen, wie schwer sie es nahm. Tina seufzte. Sie schlug die Augen auf. Unsicher und schwankend stand sie auf und ging zum Küchenschrank. Sie schenkte sich einen Obstler ein und trank ihn aus. Der Schnaps brannte ihr in der Kehle, aber er regte ihre Lebensgeister an.
»Jetzt sage etwas dazu«, forderte sie ihr Vater auf.
Tina lehnte sich an den Küchenschrank und verschränkte die Arme vor dem Körper. Sie schaute auf ihre Schuhspitzen. Sie räusperte sich einige Male. Dann sagte sie leise, ohne ihre Eltern dabei anzusehen.
»Ich kann net verstehen, dass alles, was ihr mir gesagt habt, nimmer gelten sollt. Es hieß immer, ein Gerstmair verlässt seinen Hof nur im Sarg, mit den Füßen nach vorne. Und jetzt soll auf einmal alles anders sein? Wir sollen packen und fortziehen. Das verstehe ich nicht. Mei, wenn das Dach undicht ist, dann lassen wir es machen. Ich habe gespart, das wisst ihr. Und das mit der Modernisierung von den Fremdenzimmern, das bekommen wir auch hin. Wir müssen ja nicht alles auf einmal machen. Wir machen es nacheinander, wie wir eben Geld haben. Wir müssen keine Hypothek auf das Haus nehmen, wenn ihr nicht wollt.«
Ihr Vater schmunzelte. »Tina, das ist sicherlich gut von dir gemeint. Aber das kommt nicht in Frage.«
»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte Tina hart.
»Tina, stelle dich doch deinem Glück nicht in den Weg. Deine Mutter und ich wollen nicht, dass es dir so geht wie uns und du dich so plagen musst. Du sollst net als erstes in deinem Leben an den Hof denken müssen, wie wir es immer tun mussten. Immer kam erst der Hof und dann die Leut’. Verstehst denn gar net, Tina?«
»Was du sagst, klingt logisch, Vater. Das streite ich nicht ab. Aber im Leben kann es doch nicht nur nach Logik gehen und danach, was profitabel ist. Es gibt doch auch noch etwas anderes. Ich bin hier groß geworden. Ich dachte immer, dass ich hier bleibe, bis ich alt bin und der Herrgott mich zu sich ruft.«
Tina spürte wieder den Kloß im Hals. Sie ging zum Spülbecken und trank ein Glas Wasser.
»Es gibt ein Sprichwort. Ihr habt es mir immer gesagt. Es lautet: ›Einen alten Baum verpflanzt man nicht‹. Aber es gibt auch junge Bäume, die in fremder Erde keine Wurzeln bilden und sich niemals mehr festigen können. Ich will nicht von hier fort. Ich bin doch hier daheim! Ich käme mir wie ein Flüchtling vor, dem man die Heimat genommen hat. Es ist, als würde ich mein Herz verlieren.«
»Tina, jetzt tust übertreiben!«, sagte ihr Vater hart. »Du bist immer noch in Waldkogel und den schönen Bergen. Wir wohnen nur in einem anderen Haus.«
»Trotzdem! Könnt ihr mich denn gar nicht verstehen?«
Franz Gerstmair wäre am liebsten aufgesprungen und hätte seine Tochter in den Arm genommen und getröstet, wie er es immer gemacht hatte, als sie noch ein Kind war. Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen, dachte er.
»Tina, wir verstehen, dass dich des mitnehmen tut. Es kam ja alles so überraschend für dich. Wir wollten erst mal alle Fakten zusammentragen, bevor wir mit dir reden. Du bist doch immer die, die sagt, dass man sich eine Sache genau ansehen und die Zahlen prüfen muss. Deshalb haben wir den Besitz schätzen lassen und gründlich überlegt. Wir hatten die Hoffnung, dass du es einsiehst.«
Tina zuckte hilflos mit den Achseln.
»Ich weiß, was du sagen willst, Vater. Wärt ihr nicht mein Vater und meine Mutter, sondern Klienten in der Steuerkanzlei, dann wäre die Sache klar. Aber das seid ihr nicht, und ich bin euer Madl, und das ist meine Heimat. Hier geht es nicht nur um Zahlen und was sinnvoll und profitabel ist. Es geht um etwas, für das es in keiner Bilanz eine Rubrik gibt und das doch so groß und so wichtig im Leben ist – es geht um Heimat. Ich will nicht, dass der Hof verkauft wird. Selbst wenn wir so viel Geld dafür bekämen, dass wir Graf Tassilo sein Waldschlösschen abkaufen oder uns ein Hochhaus in der Landeshauptstadt kaufen könnten, auch wenn wir so viel Geld bekämen, dass ich nie mehr arbeiten müsste – wollte ich es nicht.«
Tränen hingen an ihren Wimpern, als sie leise sagte: »Heimat kann man mit keinem Geld der Welt kaufen! Wenn man eine Heimat hat, dann sollte man alles tun, damit sie erhalten bleibt. Nur wirkliche Heimat bietet Schutz und Geborgenheit. Und der Gerstmair Hof ist doch unser aller Heimat oder?«
Tinas Eltern schwiegen. Ihr Vater trank einen Schluck Bier. Auch sein Herz war schwer.
»Tina, ich verstehe dich, aber …«
»Aber – ich will kein ›Aber‹ hören! Das gebe ich euch auch schriftlich! Wenn ihr denkt, dass ihr jemals dafür meine Zustimmung bekommt, dann irrt ihr euch gewaltig. Ich werde für den Hof kämpfen, für meine Heimat. Ich will kein neues Mehrfamilienhaus. Ich will hierbleiben. Wenn euch der Hof zu sehr belastet, dann überschreibt ihn mir. Ich komme damit klar. Ich lasse das Dach neu decken, noch vor dem Winter. Wir haben in der Steuerkanzlei einen Klienten, der hat eine Dachdeckerei. Er macht mir bestimmt einen guten Preis. Außerdem gibt es viele Arbeiten, die man vorher schon machen kann. Ich trommele die Burschen meines Jahrgangs zusammen. Wenn das Gerüst steht, dann helfen alle, das Dach abzudecken. Anschließend machen wir ein großes Hoffest mit Bier vom Fass und Musik und Tanz. Ich bin mir sicher, dass die Burschen mir alle helfen.«
Ihre Eltern schwiegen. Tina betrachtete sie.
»Nun sagt doch etwas!«, flehte Tina.
Ihre Eltern schauten sich an.
»Ihr wollte, auf jeden Fall verkaufen, wie?«, fragte sie mit zögerlicher Stimme, in der so viel Angst, Trauer und der Schmerz des angekündigten Verlustes mitschwang.
»Madl, wir verkaufen nicht heute und nicht morgen. Erst müssen wir das Gutachten abwarten, das die Immobilienhändlerin angefordert hat. Das kann dauern. Bis dorthin hast du vielleicht einen anderen Standpunkt. Du hast Zeit, dich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Wir verstehen ja, dass des für dich ein Schock ist.«
»Vater, Mutter, es ist mehr als ein Schock! Es ist für mich wie ein Weltuntergang.«
»Der Himmel stehe uns bei! Du weißt net, was du da sagst, Tina. Es gibt eine Menge Leut’, die haben keinen Hof und kein Haus. Die ziehen in ihrem Leben öfters um. Sie sind auch glücklich und fühlen sich bestimmt nicht heimatlos.«
»Das sagst du so einfach, Vater!«
Durch die offenen Küchenfenster drang das abendliche Angelusläuten.
»Zeit fürs Abendessen«, sagte Tinas Mutter.
Sie stand auf und begann, den Tisch zu decken. Es gab Wurst und Käse, dazu Tomaten aus dem Garten und Brot. Tina setzte sich an den Tisch. Ihr Vater sprach das Tischgebet. Dann aßen sie. Tina zeigte mit ihrer ganzen Körperhaltung, dass sie nichts weiter hören wollte. So schwiegen sie zu dem Thema. Rosel Gerstmair versuchte, ihren Mann und Tina in ein Gespräch über ein anderes Thema zu verwickeln. Aber es schlug fehl. So schwiegen sie weiter. Tina rieb sich mehrmals die Stirn.
»Hast Kopfschmerzen?«, fragte ihre Mutter. »Willst eine Kopfwehpille?«
»Gegen meine Kopfschmerzen hilft keine Pille. Gegen Heimatlosigkeit ist kein Kraut gewachsen und kein Doktor hat eine Arznei, die helfen kann.«
Tinas Augen blitzten zornig auf.
»Besonders, wenn die eigenen Eltern einem die Heimat fortnehmen. Aber gib schon eine Pille her, besser zwei Stück! Schlechter, als ich mich fühle, kann es mir nicht werden.«
Ihre Mutter holte Tina zwei Kopfschmerztabletten und brachte ihr ein Glas Wasser.
»Jetzt nimmst die Pillen und legst dich gleich hin. Morgen früh ist zum Glück Samstag. Da musst du nicht ins Büro. Da tust schön ausschlafen und Kräfte sammeln. Wenn man ausgeruht ist, sieht man die Welt mit anderen Augen.«
Tina nahm die beiden Tabletten und steckte sie in die Jacke.
»Ich gehe gleich nach oben. Ich nehme erst eine Dusche, meistens hilft das, wenn ich Kopfschmerzen habe. Wenn nicht, dann schlucke ich die Pillen.«
Tina stand auf und verließ die Wohnküche des Gerstmair Hofes ohne ein Wort des Grußes. Ihre Eltern schauten ihr nach. Ihnen war das Herz schwer. Dass ihre Pläne Tina so treffen würden, hatten sie nicht erwartet, ganz im Gegenteil. Sie hatten sich ihre Zustimmung erhofft.
»Vielleicht sollten wir das Ganze sein lassen, Franz«, seufzte Rosel.
»Naa, des bringt doch nichts. Wir müssen des Madl zu ihrem Glück zwingen. Auch wenn sie uns des jetzt übel nimmt und es net einsehen kann, so wird sie uns später dankbar sein. Es ist dann und wann auch die Aufgabe von Eltern, ein bissel weitsichtiger zu sein und das Kind zum Glück zu zwingen. Jetzt mache dir keine Sorgen, Rosel. Des wird schon mit der Tina. Sie ist ein Zahlenmensch und sehr solide und gründlich. Sie wird sich die Sache durch den Kopf gehen lassen und sicherlich zu demselben Ergebnis kommen wie wir, Rosel. Wir müssen dem Madl ein bissel Zeit geben. Es ist eben dumm gelaufen, dass sie heute früher nach Hause kam. Das war nicht so gut. Des war eben Pech!«
Vielleicht hatte es einen höheren Sinn, dachte Tinas Mutter. Aber diesen Gedanken behielt sie für sich. Sie räumte den Tisch ab und spülte das wenige Geschirr. Franz trocknete ab. Sie sprachen wenig. Jeder hing seinen Gedanken nach. Nachdem sie fertig waren, setzten sie sich vor dem Haus auf die Bank in die Abendsonne, wie sie es an vielen Abenden in ihrem Leben gemacht hatten und vor ihnen alle Generationen auf dem Gerstmair Hof.
*
Es klopfte an der, Tür und sie ging auf.
»Ah, du bist es, Bruderherz!«, lachte Markus. »Willst du mich kontrollieren?«
»Nein, das will ich nicht. Ich will dich nur ein bissel ermuntern, endlich abzufahren. Eigentlich wolltest du doch schon gestern in Urlaub fahren.«
»Sicher, Gero, aber dann wollte ich die eine Sache noch fertig machen, diesen lästigen Papierkram.«
»Das verstehe ich. Aber jetzt hörst du auf! Dein Rucksack ist gepackt. Außerdem hat soeben Toni angerufen. Du wirst auf der Berghütte vermisst. Toni hat gefragt, wann du abgereist bist. Er hatte schon die Vermutung, dass du in den Bergen verloren gegangen bist.«
»Da übertreibt der gute Toni maßlos. Ich kenne mich in den Bergen rund um Waldkogel so gut aus wie in meiner Westentasche. Wie ich auch immer querfeldein über Wiesen und durch Wälder laufe, ich weiß immer, wo ich bin.«
»Trotzdem finde ich es nett von Toni, dass er angerufen hat. Unfälle kommen in den Bergen immer mal vor. Auch wahre Naturburschen, wie du es einer bist, kann es mal erwischen.«
»Ich bin eben ein bissel anders als du! Aber es ist schon richtig, ich hätte gestern Toni anrufen und sagen sollen, dass ich später komme. Das werde ich gleich tun.«
»Das habe ich schon erledigt. Ich habe Toni mein Ehrenwort gegeben, dass ich dich gleich aus dem Haus werfe und wenn ich dich hinaustragen muss. Mensch, Markus, du hast dir deinen Urlaub redlich verdient. Es geht auch ohne dich. Oder vertraust du mir nicht?«
»Schmarrn!«, bemerkte Markus.
»Na also! Dann wirfst du dich jetzt in deine Wandersachen, schnallst dir deinen Rucksack auf die Schultern und ich bringe dich zum Bahnhof. Ich dulde keinen Widerspruch!«
Gerold, Markus älterer Bruder, setzte sich in einen der Ledersessel und schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Die Brüder sahen sich an und schmunzelten.
»Dann muss ich mich wohl geschlagen geben.«
»Richtig!« Gerold grinste ihn an.
Markus verschwand im Schlafzimmer seiner Dachwohnung in der großen Vorstadtvilla, die von drei Generationen bewohnt war. Auf verschiedenen Etagen wohnten Markus’ Eltern, sein Bruder Gerold mit seiner Frau und seinen Kindern und oben unter dem Dach hatte Markus, der Junggeselle war, sein Reich. Die Brunners lebten nicht nur gut zusammen, sie arbeiteten auch zusammen. Mit viel Arbeit und Geschick hatte Hans Brunner, der Vater, aus einer Metzgerei eine ganze Metzgereikette mit Feinkostabteilungen aufgebaut. Beide Söhne hatten Metzger gelernt und danach Betriebswirtschaft studiert. Gerold lag die Verwaltungsarbeit im Büro mehr als seinem jüngeren Bruder Markus. Markus war auch größer und breitschultriger als sein Bruder und voller Kraft und Vitalität, so dass ihm das ruhige Stillsitzen am Schreibtisch sehr schwer fiel. Er musste sich regelmäßig körperlich austoben. Markus war ein Naturbursche. Seit seiner Jugendzeit galt seine Leidenschaft dem Bergsteigen und Bergwandern. Er fuhr immer nach Waldkogel, dem lieblichen kleinen Ort in den Bergen, der ihm im Laufe der Jahre zur zweiten Heimat geworden war.
Während Gerold auf seinen Bruder wartete, dachte er über ihn nach. Er wusste, dass Markus sich ganz und gar in den Familienbetrieb einbrachte und seine Arbeit ihm sehr wichtig war, besonders, da es außer der Arbeit und den zwei Jahresurlauben in Waldkogel nichts anderes gab. Markus war immer noch Junggeselle. Gerold hatte in Sachen Liebe mehr Glück gehabt. Schon in der Berufsschule hatte er ein nettes Mädchen kennengelernt. Sie hatten früh geheiratet, da waren sie beide gerade mal zwanzig. Jetzt waren sie Eltern von einem Jungen und einem Mädchen, die schon elf und zehn Jahre alt waren. Gelegentlich kam bei der Großfamilie Brunner das Thema auf, dass es an der Zeit wäre, dass Markus sich auch binden müsste. Doch immer wehrte dieser ab. Liebe könnte man nicht erzwingen und sich nicht kaufen. Markus war überzeugt, dass er nichts tun konnte, eine Frau zu finden. Entweder gab es ein schicksalhaftes Zusammentreffen oder nicht. Außerdem wuchs in Gerolds Kindern eine weitere Generation heran. Somit war die Zukunft der Familie und des Familienbetriebes gesichert. Also musste er sich nicht unter Druck setzen.
»Bist du bald soweit?«, rief Gerold.
»Ja, gleich! Kannst schon mal runtergehen!«
»Nein, ich warte hier!«
»Himmel, was bist du so stur!«, lachte Markus.
Er kam aus dem Schlafzimmer.
»Fertig!«
»Gut! Noch einige Worte, kleiner Bruder! Schalte im Urlaub ab. Ich und Vater wollen keine Anrufe haben, wegen irgendetwas Geschäftlichem. Du machst Urlaub!«
»Kannst ganz schön streng sein!«
»Ich kenne dich doch! Du bist mit dem Betrieb verheiratet.«
»Komm, bringe mich zum Bahnhof!«, schnitt Markus seinem Bruder das Wort ab. Sie gingen hinunter.
Gerold fuhr seinen Bruder zum Bahnhof. Sie standen noch eine Weile auf dem Bahnsteig und redeten.
»Ich wünsche dir einen schönen Urlaub, Markus. Erhole dich gut.«
»Das werde ich bestimmt. Du weißt, wie gern ich die Berge habe.«
»Ja, das weiß ich. In dem Punkt konnte ich dir nie folgen. Berge sind mir zu hoch und stehen im Weg herum. So empfinde ich es. Ich habe es lieber, wenn es flacher ist und ich weit sehen kann.«
»Du musst nur auf einen Gipfel klettern, dann kannst du sehr, wirklich sehr weit sehen, bei gutem Wetter. Schade, dass ich dich nie zu einer Gipfeltour überreden konnte. Dir entgeht etwas, Gerold.«
»Mag sein, aber damit kann ich leben. Gib es auf, du wirst mich nie für die Berge begeistern können. Trotzdem freue ich mich, dass du so viel Freude daran hast. Also, ich wünsche dir einen schönen Urlaub!«
Der Zug rollte ein, die Brüder umarmten sich. Markus stieg ein. Er winkte seinem Bruder zu, als der Zug sich in Bewegung setzte. Markus setzte sich und streckte die Beine aus. Sein Urlaub hatte begonnen. Er fuhr immer mit der Bahn in Urlaub. Dann konnte er kreuz und quer durch die Berge wandern und musste keine Rücksicht auf sein Auto nehmen, das er irgendwo parken musste. Meistens verbrachte er einige Tage auf der Berghütte bei Toni und Anna. Dann wanderte er los und machte große Touren von Schutzhütte zu Schutzhütte, bis er am Ende seines Urlaubs sich wieder einem Ort näherte, um dort in den Zug zu steigen und die Heimreise anzutreten. Ein Urlaub ohne Auto, das bedeutete eine größere Freiheit für Markus. Markus schaute aus dem Zugfenster und genoss den Anblick der Landschaft. Bis zum Abend würde er nach zweimaligem Umsteigen in Kirchwalden ankommen. Dann war es nicht mehr weit bis Waldkogel und zur Berghütte.
*
Tina kuschelte sich in ihr Federbett. Obwohl hochsommerliche Temperaturen herrschten, fror sie. Es war der Schock, unter dem sie stand. Wie lange werde ich noch hier in meinem Zimmer sein können? Sie legte sich auf den Rücken und schaute an die Decke. Durch die Balkontür fiel das Mondlicht in den Raum. Die fast schwarzen Deckenbalken hoben sich gegen die weißen Deckenflächen ab, die dazwischen lagen. Mit den Augen streichelte Tina das dunkle Holz. Sie wusste, dass vor vielen Jahrhunderten einer ihrer Urgroßväter das große Haus mit eigenen Händen gebaut hatte. Wie fest waren die Balken, wie gut das abgelagerte Holz, das er verwendet hatte! Er hatte das Haus gebaut, als sei es für die Ewigkeit, dachte Tina. Für viele, viele Generationen sollte es Schutz geben und Heimat sein in den Stürmen des Lebens. Und jetzt sollte es vorbei sein. Bald sollte sie unter einer glatten Decke aus Stahlbeton schlafen. Nie mehr würde sie das Knacken des Holzes hören. Als Kind hatte sie sich vor den Geräuschen gefürchtet. Besonders wenn die Winterstürme Waldkogel heimsuchten, dann knackten überall im Haus die alten Balken. Tinas Großmutter hatte damals das kleine Mädchen schützend in den Arm genommen und ihm gesagt, dass es keine Angst haben muss, das alte Haus würde auf diese Weise mit den Bewohnern reden. Es würde flüstern, habt keine Angst. Ich gebe euch Schutz. Ich bin stark und stehe fest. Kein Sturm kann mir etwas anhaben, unter meinem Dach seid ihr sicher. Tinas Großmutter hatte lange mit ihrer Enkeltochter geredet. Sie sprach über das Leben und über die Stürme, die in den Alltag hereinbrechen konnten. Tina hörte in ihrem Innern die tröstlichen Worte ihrer Großmutter.
»Madl, solange du eine Heimat hast, einen Platz, an dem du willkommen bist, kann dir nichts und niemand etwas anhaben. Heimat ist wie ein schützender Mantel der Liebe, voller Kraft und Geborgenheit. Der Platz, hier unter diesem Dach, wird dir immer Zuflucht sein und Heimat, Tina. Gleich, was das Leben für dich bereit hält und wie groß die Steine sind, die dir in den Weg gelegt werden, hier bist du immer willkommen und beschützt. Du trittst durch die Tür, machst sie hinter dir zu und bist nur noch von Liebe umgeben.«
Tina hatte der Großmutter die Geschichte geglaubt und gemeint, das alte Haus sei ein liebes Haus. Da hatte Tinas Großmutter weise gelächelt und gesagt: »Ja, das ist es, ein liebes, altes Haus. Du musst auch immer lieb zu ihm sein, dann wird es dir keinen Kummer machen und dir immer Schutz und Heimat sein. Weißt du, Tina, Häuser werden auch alt, sie bekommen Schäden, das ist wie bei Menschen. Wenn die Leut’ alt werden, bekommen sie Falten. Bei bösen Menschen sehen die Falten schlimm aus, und sie machen Angst. Bei fröhlichen und lieben Menschen ist das anders, da spielen die Falten im Gesicht keine Rolle. Ganz im Gegenteil, sie vermitteln Güte und Fröhlichkeit und man weiß, wenn man einem solchen Menschen ins Gesicht schaut, dass man ihm vertrauen kann. Er ist ein lieber Mensch und wenn er alt ist, wird er versorgt und man kümmert sich um ihn. Um ein altes Haus muss man sich auch kümmern. Musst später darauf achten, dass kleine Schäden gleich behoben werden. Dann wird es nicht so schlimm, weder für die Menschen noch für das alte Haus.«
In der Kindheit wuchs Tinas Liebe zu dem alten Haus. Nach dem Gespräch mit ihrer Großmutter war Tina auf den Dachboden gegangen und hatte die alten Balken gestreichelt und leise geflüstert: »Bist ein gutes Haus. Ich mag dich, und ich wohne gern hier. Ich werde gut auf dich aufpassen.«
Während Tina sich in die Federn kuschelte und Trost suchte, erinnerte sie sich an viele Dinge aus ihrer Kindheit. Da wurde der Kachelofen innen neu ausgemauert, der Brunnen tiefer gebohrt, die Trittbretter der Stiege neu gefertigt, weil sie im Lauf der Jahrhunderte zu sehr ausgetreten waren. Im Abstand von einigen Jahren strich ihr Vater die Fensterläden und die Fenster neu, ebenso die hölzernen Geländer an den Balkonen, die über die ganze Breite der Giebelseite liefen.
Tina stand auf. Sie schlüpfte in die Hausschuhe und warf sich ein Umschlagtuch um. Dann trat sie hinaus auf den Balkon. Sie schaute hinauf in den Himmel. Es war eine klare Nacht. Tausende Sterne leuchteten am Himmel. Es sah aus, als hütete der Vollmond in der Mitte eine Herde mit unzähligen Schäfchen und lächelte dabei. Tina schaute hinauf in Richtung des »Höllentors«.
War dort in der Dunkelheit eine Wolke zu erkennen?
Tina glaubte wie alle Waldkogler fest daran, dass schlimme Ereignisse sich durch eine dunkle Wolke über dem »Höllentor« ankündigten. Der Berg, der wegen seiner Gefährlichkeit für Wanderer und Bergsteiger gesperrt war, hatte seinen Namen »Höllentor« nicht von ungefähr. Der alten Mär nach befand sich auf dem Gipfel ein Tor zur Hölle. Immer wenn etwas Böses geschah, so sagte man in Waldkogel, kam der Teufel aus dem Tor und schaute voller Arglist auf das Dorf hinunter. Dann trat Rauch und Schwefel aus dem offenen Tor und bildete über dem Gipfel eine Wolke.
In der Nacht konnte Tina nichts erkennen. Sie erinnerte sich auch nicht, dass sie auf dem Heimweg von Kirchwalden eine schwarze Wolke über dem Gipfel gesehen hätte.
Tina zog ihr wollenes Tuch enger um die Schulter und schaute in die andere Richtung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales ragte der andere Hausberg in den Himmel, der »Engelssteig«. Er hatte seinen Namen den Engeln zu verdanken, die nach dem festen Glauben der Waldkogeler jede Nacht vom Gipfel über eine unsichtbare Leiter hinauf in den Himmel stiegen. Sie brachten die Wünsche, Sehnsüchte und Gebete der Menschen ins Himmelreich hinauf. Tina hörte die Stimme ihrer Großmutter, so als würde sie neben ihr stehen: »Die Engel beschützen uns, Madl. Wenn du mal einen Kummer hast, gleich, ob es ein großer Kummer ist oder ein kleines Wehwehchen. Du kannst dich immer an die Engel wenden und ihnen alles erzählen. Sie werden dir zuhören und dein Anliegen im Himmel vortragen. Weißt, die Engel von unserem ›Engelssteig‹, die haben immer Vortritt beim Herrgott, wenn sie über uns hier in Waldkogel mit dem Herrn reden wollen.«
Tina faltete die Hände vor der Brust.
Hört, ihr Engel, ich bin’s, die Tina vom Gerstmair Hof. Mir ist es so weh ums Herz. Ich fühle mich so unverstanden und allein. Es geht um den Hof, des Haus mit allem, was dazu gehört. Ich will hier net fort, ich will bleiben und hier alt werden. Ich habe das Gefühl, als würde es mich zerreißen, als müsste ich sterben, wenn ich von hier fort muss. Ich weiß, dass das Unsinn ist, so etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Und eine Sünde ist es auch. Aber es tut so weh. Wie können mir die Eltern des antun? Außerdem besteht doch keine Notwendigkeit. Ihre Sorge um die Zukunft ist unnötig. Sicher haben sie es oft schwer gehabt und wünschen mir eine sorglosere Zukunft. Aber ich will keine Zukunft im Neubaugebiet. Ich will hierbleiben, hier in dem Haus, in dem ich geboren bin und meine Wiege stand. Helft mir, ihr Engel! Bitte, helft mir, bitte, bitte! Ihr versteht mich doch, denke ich. Ich bin bereit, alles zu tun, wenn ich nur hierbleiben kann. Bitte, bitte! Sagt dem Herrgott, dass er des Herz vom Vater und der Mutter anrühren soll, dass sie den Hof net verkaufen tun.
So schickte Tina lautlos ihre Gedanken hinauf zum Gipfel des »Engelssteigs«.
Sie lauschte in die Nacht hinaus, als müsste sie jeden Augenblick die Antwort hören. Stattdessen knurrte nur ihr Magen. Tina musste schmunzeln. Ich hätte beim Abendessen mehr essen sollen, dachte sie. Aber ich brachte kaum einen Bissen hinunter.
Tina entschloss sich, ihren Jogginganzug anzuziehen und sich unten in der Küche etwas zu essen zu machen. Sie machte in ihrem Zimmer Licht und öffnete den Schrank mit ihren Sportsachen. Da fiel ihr Blick auf den Rucksack, der auf der Hutablage im Schrank lag.
»Ich sollte einige Tage in die Berge gehen. Dort habe ich meine Ruhe und kann über eine Lösung nachdenken. Ich könnte zur Berghütte gehen. Toni und Anna hatten mich schon so oft zu einem Hüttenabend eingeladen, aber immer traf der auf einen Tag, an dem in der Steuerkanzlei viel zu tun war, so dass ich spät heimkam«, flüsterte Tina vor sich hin.
Sie riss den Rucksack herunter und packte ihn. Dann zog sie ihre Wandersachen an, eine lederne Kniebundhose, eine Hemdbluse, eine ärmellose wattierte Weste mit vielen Taschen. Zum Schluss zog sie die dicken, handgestrickten Socken an. Jetzt war ihr nicht mehr kühl. Sie band ihre dickere Lodenjacke auf den Rucksack und hob ihn auf die Schultern. Zum Schluss setzte sie ihren Hut auf, einen Lodenhut mit einem Gamsbart, wie ihn sonst nur Burschen tragen. Der Hut war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Tina hatte ihn immer mit Stolz getragen.
Leise, die Wanderschuhe in den Händen, schlich sie die Stiege hinunter. Das Holz knarrte. Tina zuckte bei jedem Laut zusammen. Sie wollte auf keinen Fall mit den Eltern zusammentreffen und hoffte, sie würden von den Geräuschen nicht aufwachen.
In der Küche packte sich Tina etwas Proviant ein und eine Flasche Wasser. Dann zog sie ihre Wanderschuhe an. Sie schrieb einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch. Darauf stand:
An meine Eltern!
Bin in die Berge! Will alleine sein! Vielleicht nehme ich mir Urlaub und bleibe länger!
Tina
Sie hatte bewusst nicht »Liebe Eltern« oder »Liebe Mutter, lieber Vater« geschrieben. Sie hatte auch keine lieben Grüße darunter geschrieben. Das hatte Tina mit Absicht gemacht. Sie sollen nur wissen, dass ich ärgerlich bin, dachte sie. Vielleicht bringt sie das zum Nachdenken, hoffte sie. Dann schlich Tina aus dem Haus und verschwand in der Dunkelheit.
*
Tina lief die Hauptstraße von Waldkogel entlang. Trotz der Dunkelheit der Nacht hatte sie ihren Hut tief ins Gesicht gezogen und trug die Sonnenbrille in der Hand. Diese wollte sie sofort aufziehen, falls ihr jemand begegnen würde. Tina wollte mit niemandem reden. Auf dem Weg kam sie an der Kirche vorbei. Sie blickte um sich und sah, dass jemand das Tor zum Friedhof nicht geschlossen hatte. Tina kam es vor wie eine Einladung, die Gräber ihrer Großeltern zu suchen.
Der feine Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie im Mondlicht durch die Gräberreihen schritt, bis sie zum großen Familiengrab der Gerstmairs kam. Tina streifte ihren Rucksack von den Schultern. Sie zündete das große, ewige Licht in dem roten Lampenschirm an. Sie sprach ein stilles Gebet und hielt lange, stumme Zwiesprache mit ihren verstorbenen Großeltern. Sie erzählte ihnen alles. Dabei wurde ihr Herz etwas leichter. Ihr war, als würden sie ihr auch raten, einige Tage in die Berge zu gehen.
»Ich verspreche euch, dass ich um den Hof kämpfe!«, flüsterte sie leise. »Ich weiß noch nicht, wie ich das machen werde. Aber vielleicht fällt mir oben in den Bergen etwas ein. Mit den Engeln habe ich schon geredet, Großmutter. Legt ihr bitte dort oben auch ein gutes Wort für mich ein. Ich bin so alleine und hab’ hier niemand, der mich versteht«, flüsterte sie leise. »Ach, ich wünsche mir, ihr wärt noch am Leben und würdet mich in den Arm nehmen.«
Dann zog sie wieder ihren Rucksack auf und ging leise davon.
Tina wanderte den Milchpfad zur Oberländer Alm hinauf. Als sie die Alm erreicht hatte, ging im Osten langsam die Sonne auf und tauchte den Himmel in schönstes Morgenlicht. Die Oberländers schliefen noch, das erkannte Tina, weil noch kein Rauch aus dem Schornstein in die Morgenluft aufstieg. Sie trank einen Schluck Wasser aus der Trinkflasche und aß ein Brot mit Wurst aus der Hand, während sie weiter den Bergpfad in Richtung der Berghütte aufstieg. Sie ließ sich beim Aufstieg Zeit und genoss den frühen Morgen. Auf den Gräsern lag Tau. Die Steine auf dem Bergpfad glitzerten wie glänzende Edelsteine. Die Luft war klar und feucht.
Als Tina die Berghütte erreichte, war die Tür nicht offen. Es stieg noch kein Rauch aus dem Kamin. Das war ein Zeichen, dass noch alle schliefen. Tina wollte niemanden wecken. Sie setzte sich in einen der Liegestühle und machte mit dem restlichen mitgebrachten Proviant ein zweites Frühstück, auch wenn es sie nach einer kräftigen Tasse Kaffee gelüstete.
Sie war gerade damit zu Ende, als Toni herauskam.
»Ein herzliches grüß Gott, Tina! Mei, des ist ja eine Überraschung! Schön, dass du doch mal den Weg zu uns herauf gefunden hast.«
»Grüß Gott, Toni!«
»Bist früh dran! Du musst mitten in der Nacht losgegangen sein!«
»Ganz so war es nicht, aber früh war es schon. Ich konnte ohnehin net schlafen.«
Toni schaute Tina prüfend an. Sie spürte seinen Blick, wich ihm aus und errötete.
»Dir liegt etwas auf der Seele, Tina, ist es so?«
»Kannst wohl hellsehen, Toni, wie?«
»Hellsehen kann ich net, aber ein guter Menschenkenner bin ich schon, das sagt jedenfalls Anna. Mei, die wird sich freuen, dich zu sehen. Komm mit rein! Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt.«
»Kaffee, des ist genau des, was ich jetzt brauche. Die Müdigkeit macht sich jetzt doch etwas bemerkbar.«
Sie gingen hinein. Toni schenkte Tina einen großen Kaffee ein. Er lud sie zu Eiern mit Speck ein. Sie lehnte ab und erzählte, sie habe gerade ihren Proviant verzehrt.
»Aber wenn du einen Platz zum Schlafen für mich hättest, würde ich mich freuen.«
Toni rieb sich das Kinn. Er überdachte kurz die Belegungsliste der Berghütte.
»Im Augenblick ist alles voll. Wir haben sogar einem Gast unser Sofa im Wohnzimmer für eine Nacht gegeben. Aber in zwei bis drei Stunden, wenn die ersten Hüttengäste aufgebrochen sind, dann kannst du hier unten eine Kammer haben.«
Tina gähnte und trank einen Schluck Kaffee.
»Toni, ich habe heute Nacht überhaupt nicht geschlafen.«
»Dann war’s von gestern bis heute ein langer Tag für dich.«
»Es war ein besonders langer Tag und ein übler Tag dazu. Ich werde den Tag nie vergessen. Es war der schlimmste Tag in meinem Leben, kann ich ohne Übertreibung sagen.«
»Hast Ärger bei der Arbeit?«
»Naa, des ist es net. Es hat erst abends angefangen, als ich heimgekommen bin.«
Toni schaute Tina ernst an. Sie gefiel ihm nicht. Das junge Madl sah sehr schlecht aus. Es war nicht nur die Müdigkeit, die sie quälte.
»Was ist los, Tina? Rede drüber. Reden hilft!«
Tina schwieg und trank einen Schluck Kaffee. Sie zögerte.
»Tina, weißt, da gibt es das Sprichwort: ›Geteilte Freude ist doppelte Freude, und geteiltes Leid ist halbes Leid‹. Wir sind hier oben fünf, die Anna, die Kinder, der alten Alois und ich. Somit können wir des Leid auf viele Schultern verteilen, und dir wird es leichter ums Herz. Und vielleicht können wir helfen. Hast Liebeskummer?«
Tonis Spekulation malte sogar ein zartes kurzes Lächeln auf Tinas Gesicht.
»Wie kommst du darauf, dass ich Liebeskummer haben könnte?«
»Weil viele sich zu uns hierher flüchten, wenn sie Stress in der Beziehung haben.«
»Ich kann keinen Stress in der Beziehung haben, weil ich keine Beziehung habe. Wenn ich eine hätte, dann wäre ich jetzt nicht so alleine. Dann hätte ich eine Schulter, an der ich mich ausweinen könnte. Aber so muss ich alleine damit fertig werden – und ich werde schon damit fertig werden. ›Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg‹, so sagt man doch.«
Toni sah, wie blass Tina aussah, und er sah die dunklen Schatten um ihre Augen. Tina sah wirklich sehr schlecht aus, ja, direkt krank.
»Tina, du tust mir leid. Musst ja wirklich einen großen Kummer haben.«
»Den hab’ ich, Toni. Aber die Wunde ist noch zu frisch. Ich kann noch net darüber reden. Ich fühle mich, als wollte mir jemand das Herz aus dem Leib reißen. Es tut so weh! Und wenn ich dir des alles erzählte, dann würde ich die Bilder wieder vor mir sehen. Im Augenblick will ich nur vergessen. Ich komme mir vor wie im falschen Film. Des kann doch net wahr sein, denke ich immer und immer wieder. Weißt, Toni, wenn mich jetzt jemand schütteln und sagen würde, he, wache auf! Es war nur ein Traum oder du bist in ein Zeitloch gefallen und bist in einer Parallelwelt gewesen, ich würde ihm glauben. Weißt du, wie in den Science-Fiction-Filmen? Toni, obwohl ich weiß, dass es geschehen ist, ich es wirklich erlebt habe, fragte ich mich immer wieder, ob es wirklich so war? Ich kann es nicht fassen. Es dreht sich alles in meinem Kopf. Du musst denken, ich bin deppert, Toni. Es ist schwer zu beschreiben, wenn ich selbst nicht begreifen kann. Ich will es auch nicht begreifen und werde es nie und nimmer gut heißen.«
»Kommt mir so vor, als hättest du einen Schock erlitten.«
»Genau, es war ein Schock, ein Superschock, meine Welt ist zusammen gebrochen, wie …«
Tina versagte die Stimme. Sie kämpfte mit den Tränen.
»Alles hat seine Zeit. Also wenn du reden magst, dann sollst wissen, dass wir immer für dich da sind. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du erst mal eine Runde Schlaf nimmst. Ich gebe dir einen schönen warmen Biwakschlafsack und eine Matte. Dann gehst hinter der Berghütte ein Stück den Hang hinauf, schlägst den Weg in Richtung ›Paradiesgarten‹ ein. Nach dreihundert Metern ist ein Felsüberhang. Dort spielen Franzi und Sebastian oft. Es ist eine schöne geschützte Stelle. Dort bist du vor Wind und praller Sonne geschützt. Da legst dich nieder und tust dich ausschlafen. Wenn du später wiederkommst, dann haben wir deine Kammer fertig.«
»Gute Idee! Bald werden die Hüttengäste wach werden und aufstehen. Ich will von niemandem angesprochen werden.«
»Hoffentlich bin ich dir net zu nah’ getreten, Tina!«
»Schmarrn, du doch net, Toni! Ich bin wirklich völlig fertig. Will nur noch schlafen und schön träumen und alles vergessen.«
Toni war sehr besorgt, aber er sagte nichts mehr. Er ließ Tina ihren Kaffee austrinken. Währenddessen holte er ihr eine Isomatte und einen Biwakschlafsack.
»Danke, Toni!«
Tina schaute ihn ernst an.
»Toni, falls meine Eltern hier anrufen und nach mir fragen, ich war nicht hier, ich bin nicht hier, ich werde nicht hier sein, du weißt nichts! Des ist zwar gelogen, aber ich bin in einer Notsituation, da muss der Himmel sich damit abfinden, dass Lügen verbreitet werden. Und du stellst ihnen keine Fragen, klar?«
»Verstehe! Dann hast Ärger mit den Eltern?«
Tina beantwortete Tonis Frage nicht, warf Toni stattdessen nur einen vielsagenden Blick zu. Sie nahm die Isomatte und den Biwakschlafsack und ging davon. Toni sah ihr nach und war sehr besorgt.
*
Markus hatte herrlich geschlafen. Er ging gleich hinaus auf die Terrasse der Berghütte. Toni und Anna saßen mit Alois an einem Tisch zusammen und tranken einen Kaffee.
»Guten Morgen! Ich habe herrlich geschlafen!«
»Setz dich, ich hole dir dein Frühstück!«, sagte Anna.
Markus nahm Platz. Er grinste.
»Es war ja auch ziemlich spät gestern Abend. Hast net lange schlafen können, Toni.«
»Naa, des war eine kurze Nacht. Aber des bin ich gewöhnt. Im Winter schlafe ich umso länger. Dann sind wir drunten im Dorf bei den Eltern und machen Winterpause, wenn hier oben alles eingeschneit ist. Aber es freut mich, wenn du gut geschlafen hast. Des ist die gute Bergluft. Einige können sie gar nicht so recht vertragen, die brauchen einige Tage, bis sie sich an den vielen gesunden Sauerstoff gewöhnt haben. Ich freue mich auf jeden Fall, dass du mal wieder Gast bei uns bist. Ich habe die Plauderei am Kamin mit dir genossen.«
»Ja, es war schön. So ein echtes Männergespräch, das hat etwas! Dass ich so lange schlafen werde, hätte ich nicht gedacht. Ich bin ein alter Hase, was die Berge betrifft und die Bergluft gewöhnt. Waldkogel ist meine zweite Heimat.«
Anna brachte schon mal den Kaffee. Markus trank.
»Weißt, Toni, ich habe Pläne. Es könnte ja sein, dass ich net heirate, dann dachte ich mir, verbringe ich meinen Lebensabend in Waldkogel. Ich kaufe mir eine kleine Almhütte oder ein kleines Gehöft und lebe in den Bergen.«
Toni lachte laut.
»Was lachst du? Lachst du mich aus?«
»Naa, Markus, naa! Ich lache dich net aus. Ich freue mich, dass dir Waldkogel und die Berge so gut gefallen. Aber bis dorthin wird es noch viele Sommer und viele Winter geben. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du wirklich kein Madl findest. Musst mehr suchen!«
»Schmarrn, Toni! Du weißt doch selbst, dass des mit dem Suchen net so einfach ist. Entweder trifft der Amors-Pfeil oder er trifft nicht. Bis jetzt hat der Gute immer mit größter Genauigkeit gezielt, aber doch daneben geschossen. Es könnte ja sein, dass des Schicksal kein Madl für mich vorgesehen hat.«
»Des wäre aber eine schöne Vergeudung, wo du so ein Prachtbursche bist, Markus!«, warf Alois ein.
Alle lachten laut und herzlich.
»Sei, wie es sei, Alois! Bis jetzt ging es immer daneben. War vielleicht auch besser so, denke ich oft. Lieber ledig, als die Falsche geheiratet. Einige meines Jahrgangs sind schon geschieden. Das ist scheinbar heute eine Krankheit. Bei den ersten Schwierigkeiten laufen die Frauen davon. Oft denke ich, dass das vom Fernsehen kommt. Das Leben ist keine Soap Opera, in der es nur Höhepunkte gibt und keine Tiefen. Alles soll immer rosarot und himmelblau sein. Das ist doch schlimm, Toni, findest nicht auch?«
»Du sagst es! Deshalb bin ich so dankbar, dass ich meine Anna habe. Sie liebt mich wirklich und hat das Leben in feinen schwarzen Klamotten mit einem Leben im Dirndl auf der Berghütte getauscht. Des ist Liebe, wahre Liebe!«
»Ja, das ist Liebe, Toni. Bist schon ein bissel zu beneiden.«
»Gib die Hoffnung nicht auf! Die einen finden die Liebe früh, die anderen später. Darfst dein Herz nur nicht verschlossen halten. Vielleicht findest du sogar hier in Waldkogel ein Madl?«
»Des wäre natürlich ein Glücksfall! Aber so viel Glück habe ich bestimmt nicht, Toni. Ich bin jetzt schon so oft hier gewesen. Ich habe so viele Hüttenabende mit euch gefeiert, bin auf Kirchweihfesten und auf Wallfahrten mit den Waldkoglern gewesen. Und nie ist mir die Liebe begegnet. Sicher habt ihr hier fesche Madln. Aber die waren alle schon in festen Händen oder wollten wohl von mir nix wissen. Ja, so war es. Jedenfalls habe ich beschlossen, mich nimmer bewusst umzusehen. Wenn der Himmel es vorgesehen hat, dass ich heiraten soll, dann muss er sich schon die Mühe machen, mir ein Madl zu bringen.«
»Mei, bist ganz schön anspruchsvoll, Markus«, lachte Toni. »Aber irgendwie hast schon recht. Was hast du heute vor?«
»Ich will rauf zum ›Paradiesgarten‹.«
»Mmm!«, brummte Toni.
»Was hast du?«, fragte Markus. »Mir scheint, es ist dir nicht recht.«
»Doch, gehe ruhig. Musst nur unterwegs aufpassen und leise sein!«
»Wieso leise? Wie soll ich das verstehen? Wandern macht doch keinen Lärm.«
»Mei, des war ungeschickt gesagt. Es ist nur so, weil unter dem Felsvorsprung, oberhalb der Berghütte, ein Madl biwakiert.«
Markus grinste.
»Ist das eine geheime Stelle, an der ihr Waldkogler Madln versteckt? Wer ist sie? Wie heißt sie?«
»Bist ganz schön neugierig! Des mit der Tina, ja, Tina Gerstmair heißt des Madl, ist net so einfach. Sie war müde, hatte heute Nacht nicht geschlafen und ist früh auf die Berghütte gekommen. Sie ist eine Freundin. Der Hüttenboden und alle Kammern waren voll. Hier auf der Terrasse hätte sie keine Ruhe gehabt. Deshalb habe ich ihr geraten, etwas weiter oben zu biwakieren. Ich werde ihr später eine Kammer geben. Die Tina wurde heute Nacht um ihren wohlverdienten Schlaf gebracht. Also, wenn du dort vorbeigehst, sei leise. Störe sie nicht!«
»Einverstanden! Muss ein besonderes Madl sein, dass du so ein Aufhebens um sie machst.«
»Ja, das ist sie, und ihr geht es nicht gut. Ich will es mal so sagen, sie will in den Bergen neue Kraft schöpfen und Klarheit gewinnen. Sie hat wohl …« Toni brach den Satz ab. »Jedenfalls lass sie in Ruhe, verstehst?«
»Nein! Aber ich lasse sie in Ruhe, versprochen!«
Anna brachte das Frühstück. Es waren Eier mit Speck, Brot, Butter und Käse vom Oberländer Hof und Wurst. Markus ließ es sich schmecken. Während er frühstückte, versuchte er Toni, Anna oder auch dem alten Alois etwas über Tina Gerstmair zu entlocken. Aber sie waren alle drei sehr verschwiegen. Nun, ich werde mir diese Tina genauer ansehen, dachte Markus. Die drei hatten ihn neugierig gemacht. Markus konnte es sich nicht erklären. Toni hatte nur die Bitte vorgetragen, diese Tina nicht zu stören. Aber da war plötzlich so ein seltsames Gefühl in seinem Herzen, ein Interesse, das ihn zur Eile antrieb und ihn in Richtung der schlafenden, ihm unbekannten Tina zog.
*
Rosel Gerstmair brühte den Kaffee auf. Franz, ihr Mann, betrat die Küche.
»Tina ist fort! Sie hat einen Zettel hingelegt! Hast du heute Nacht etwas gehört?«
Er warf einen Blick auf den Zettel neben seinem Frühstücksbrettchen.
»Naa, ich hab’ nix gehört. Du kennst mich doch, wenn ich mal eingeschlafen bin, dann schlafe ich wie ein Bär. Hast du sie fortgehen gehört?«
»Naa, ich hatte eine Schlaftablette genommen. Des weißt du doch! Ich konnte net einschlafen, nach der Auseinandersetzung mit der Tina. Es geht mir doch sehr nah.«
»Des tut es mir auch, Rosel. Ich hätte nie gedacht, dass sie es so schwer nimmt.«
Er schwenkte den Zettel hin und her.
»Des liest sich fast wie ein Abschied für immer.«
»Franz, mal den Teufel net an die Wand. So etwas darfst net einmal denken. Die Tina ist unser einziges Kind. Was soll denn werden, wenn wir sie verlieren?«
Franz Gerstmair seufzte.
»Ach, Rosel, fast habe ich Angst, dass wir sie schon verloren haben. Ich kann nur hoffen, dass sie in der klaren Bergluft zur Vernunft kommt.«
»Sie hofft, dass wir zur Vernunft kommen.«
»Des, was die Tina für vernünftig hält, Rosel, des ist aber net vernünftig. Des Madl wird uns später dankbar sein. Jetzt ist sie noch zu jung und unerfahren, um des wirklich beurteilen zu können.«
Rosel schaute ihren Mann an. Sie schenkte ihm Kaffee ein. Sie frühstückten. Rosel schwieg. Franz beobachtete sie. Wenn seine liebe Frau sich so in Schweigen hüllte, dann wusste er, dass seine Entscheidungen von ihr nicht gutgeheißen wurden. So war es viele Ehejahre gewesen.
»Rosel, ich dachte, wir wären uns einig? Wir haben uns so viele Gedanken gemacht und uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es hört sich so einfach an, ich verkaufe den Hof. Aber es ist auch meine Heimat, von der wir uns trennen. Mir tut es auch schon ein bissel weh. Aber es gibt Situationen, da muss man sich dem Schmerz stellen. Da muss man durch und hinterher ist man froh, dass man tapfer gewesen ist.«
»Ich verstehe dich schon, Franz. Wir waren uns auch einig. Allein mir blutet mein Mutterherz, die Tina so unglücklich zu sehen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob unsere Entscheidung richtig ist.«
»Hoppla, langsam! Willst jetzt doch kein Rückzieher machen, wie?«
»Nein, Franz! Aber mir sind wieder Zweifel gekommen.«
»Denkst, ich habe keine Zweifel? Keiner kann in die Zukunft sehen. Man kann nur alle Vorteile und Nachteile auf die beiden Schalen einer Waage legen und dann zusehen, welche Schale sich senkt, was schwerer wiegt. Also kann man nur Entscheidungen treffen, wie sie im Augenblick, wie sie zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt sinnvoll sind und die man so als richtig erachtet.«
Die Bäuerin seufzte tief.
»Ich weiß, Franz. Wir haben abgewogen, aber ohne Tinas schwere Bedenken und Ablehnung zu bedenken und mit in die Waagschale zu werfen. Jetzt hat alles ein neues Gewicht.«
»Rosel, es bleibt dabei! Tina ist kein dummes Madl. Ich bin mir sicher, dass sie einsieht, dass wir es nur gut meinen.«
»Ich hoffe, sie versteht eines Tages unsere Gründe.«
»Rosel, erinnerst du dich, wie des damals war, als sie aus der Schule kam. Da hat sie sich auch mit Händen und Füßen gewehrt, den Beruf der Steuerfachgehilfin zu erlernen. Doch kaum hatte sie mit ihrer Lehre begonnen, war sie sehr froh und fand den Beruf sehr interessant. Erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich, Franz. Sie drohte damit, gleich nach der Volljährigkeit ins Kloster einzutreten.«
Rosel Gerstmair wurde blass. Sie starrte ihren Mann an.
»Was ist, wenn sie jetzt ins Kloster geht?«
Franz überlegte einen Augenblick. Er zuckte mit den Schultern.
»Dann ist es egal, was aus dem Hof wird. Dann lebt sie im Kloster und nicht hier, dann hat sie eine neue Heimat. Dann kann es ihr gleich sein. Wenn sie mich damit unter Druck setzen will, zieht sie den Kürzeren.«
Die Bäuerin seufzte erneut. Ihr war es schwer ums Herz.
»Franz, wir müssen doch nichts überstürzen oder?«
»Naa, des müssen wir nicht. Am Ende finden wir vielleicht erst in Jahren einen Käufer für den Hof. Viele Höfe werden zum Kauf angeboten. So leicht ist es nicht, einen Hof zu verkaufen, auch wenn er wie der unsere preiswert sein wird. Es kann dauern. Deshalb verstehe ich des ganze Theater von der Tina nicht.«
»Aber verkaufen willst du?«
»Ja, wir verkaufen! Wenn ein Käufer kommt und ihn haben will, dann kann er ihn haben. Basta! Darüber waren wir uns doch einig, Rosel, oder?«
»Ja, Franz, wir waren uns einig. Es ist nur so, dass mir nach dem Gespräch mit Tina Zweifel gekommen sind. Verstehst mich?«
»Sicher, Rosel! Aber es ist gut so, wie wir es machen wollen. Daran halten wir fest.«
Franz Gerstmair aß sein Brot zu Ende und trank einen Schluck Kaffee. Er räusperte sich.
»Weißt, ich habe auch nachgedacht. Es ist schlimm, quasi hier auf gepackten Koffer zu sitzen. Außerdem verkauft sich ein Hof, der leersteht besser, als ein Hof, der noch bewohnt ist und erst geräumt werden muss.«
Seine Frau schaute ihn überrascht an.
»Was willst jetzt damit sagen?«, fragte sie.
»Das kannst dir doch denken. Wir haben schon mal drüber gesprochen. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es so am Besten ist. Wir warten das Gutachten ab und geben der Maklerin den Auftrag zum Verkauf. Mit dem Wertgutachten bekommen wir sicher von der Bank einen Kredit, um uns jetzt schon im Neubaugebiet das große Haus mit dem Eckgrundstück zu kaufen. Wer weiß, ob es noch zum Verkauf steht, wenn wir warten, bis wir den Hof verkauft haben. Wir ziehen ein und vermieten die restlichen Räume. Hier auf dem Hof vermieten wir weiter an Feriengäste, bis zum Verkauf. Ich habe mir alles genau ausgerechnet. Es wird sich machen lassen. Dann haben wir das, was wir wollen, und Tina kann sich in Ruhe vom Hof lösen. Sie wird sehen, wie schön es ist, in einem Neubau zu wohnen. Am Ende wird sie dem alten Kasten nicht mehr nachtrauern.«
»Wenn die Tina zu uns in den Neubau zieht, Franz …«
»Himmel, wenn sie hier bleiben will, bis sie ausziehen muss, dann soll sie in dreimal Gottesnamen hier bleiben. Sie wird uns besuchen und sehen, wie wir uns schön im Neubau eingerichtet haben und leben.«
»Wenn Tina uns besucht … Ich habe große Zweifel, dass sie einen Fuß in den Neubau setzen wird.«
»Rosel, was redest da für einen Schmarrn? Ich denke, dass meine Idee sehr gut ist. Sie ist gut für uns und gibt Tina genug Zeit, sich vom Hof zu lösen, wenn man es so nennen will.«
Rosel nickte nur stumm. Noch war es nicht soweit. Es würde eine Weile dauern, bis das Gutachten fertig war. Jetzt kam es Rosel Gerstmair nur darauf an, dass Tina wieder kam und sie in Ruhe und alleine mit ihrem Madl reden konnte. Sie hoffte sehr, dass Tina in den Bergen Ruhe fand und alles überdachte. Rosel Gerstmair trennte sich auch nicht leicht vom Hof. Seit ihrer Vermählung vor dreißig Jahren war er auch ihre Heimat geworden. Aber querstellen wollten sie sich nicht. Der Hof war im Grundbuch auf den Namen ihres Mannes eingetragen. Es war sein Erbe. Eine Frau geht dorthin, wo der Mann ist. Damit war sie groß geworden, so war es, und für sie würde es immer so sein, dachte sie. Dabei zerriss es ihr fast das Herz. Es tat ihr weh, Tina Schmerz zuzufügen, aber sie auf der Welt mit so viel Last zurückzulassen, war auch eine große Verantwortung. So ein Erbe kann schnell zum Albtraum werden. Da hat Franz schon recht, dachte sie.
Sie waren mit dem Frühstück fertig. Franz ging hinaus. Rosel nahm eine Kopfschmerztablette, bevor sie an die Hausarbeit ging.
*
Tina lag im Biwakschlafsack auf der Isomatte unter dem Felsüberhang und schlief. Markus sah sie schon von weitem dort liegen. Er ging langsamer und vorsichtiger. Er achtete darauf, dass er weniger Geräusche machte. Trotzdem waren sie nicht ganz zu vermeiden. Sein Herz klopfte, als er sich der schlafenden Tina näherte.
Als er bei ihr war, sah er, dass sie tief schlief. Ihr Atem ging langsam. Ihre Brust hob und senkte sich mit jedem tiefen Atemzug, das konnte er trotz des Schlafsackes erkennen, den sie bis zum Hals heraufgezogen hatte. Ihre blonden Haare lagen aufgelöst um ihren Kopf.
Markus’ Herz schlug schneller. Unbewusst fasste er sich an die Brust, als er die schlafende Tina betrachtete. Er erinnerte sich an das Märchen vom Schneewittchen. Darin entdeckt der Prinz die Königstochter im gläsernen Sarg und verliebt sich auf der Stelle in sie. Als Knabe hatte er über die Zeilen der Gebrüder Grimm hinweggelesen. Jetzt verstand er die Gefühle, die sie dem Prinzen ins Herz gelegt hatten.
Wie ging das Märchen damals weiter?
Markus lächelte still vor sich hin, als er sich an die weitere Handlung des Märchens erinnerte. Der verliebte Prinz öffnete den Glassarg und küsste das totgeglaubte Schneewittchen. Dabei geschah das Wunder. Es war ein Wunder, wie es nur die Liebe vollbringen konnte. Schneewittchen, das nach dem Verzehr des vergifteten Apfels in einem tiefen, todesähnlichen Schlaf gelegen hatte, erwachte. Die Liebenden wurden ein Paar und lebten glücklich, bis ans Ende ihrer Tage.
Schade, dass wir nicht in einer Märchenwelt leben, Tina, dachte Markus. Ich würde dich so gerne küssen. Du bist wunderschön, und von dir geht ein Zauber aus, der größere Magie hat, als jemals in einem Märchen beschrieben wurde.
Markus konnte die Augen nicht von Tina lassen. So kniete er noch eine ganze Weile neben ihr und schaute sie an. Es kostete ihn viel Kraft, sich von ihr loszureißen. Sein Herz stand fast still, als Tina im Schlaf zu murmeln anfing. Er lauschte und versuchte, sich auf die Wörter und Bruchstücke der Sätze einen Reim zu machen. Es war nicht viel, was Tina laut sagte, aber Markus hatte genug gehört, um sich einiges zusammenzureimen. Das arme Madl, dachte er. Wenn nur ein Funken Wahrheit dahinter steckt, dann verstehe ich, dass es ihr das Herz zerreißt. Markus sah die Tränen, die unter Tinas geschlossenen Lidern hervorquollen. Sie blieben zuerst an ihren langen Wimpern hängen und rollten anschließend die Wangen hinab. Tina räkelte sich und drehte sich im Schlafsack auf die Seite.
Ihre Traumphase ist hoffentlich zu Ende, dachte Markus. Besser traumlos schlafen, als von solchen Albträumen geplagt zu werden.
Leise erhob sich Markus und entfernte sich. Schritt für Schritt ging er rückwärts, bis er sich ein ganzes Stück von ihr entfernt hatte. Dann drehte er sich um und wanderte mit großen Schritten schnell der Berghütte zu. Er musste mit Toni reden. Vielleicht konnte ihm dieser mehr sagen. Außerdem war Markus davon überzeugt, dass es das Schicksal war, das ihn zum Zeugen von Tinas Traum hatte werden lassen.
*
Die Terrasse der Berghütte war voller Gäste. Toni und Anna bedienten sie und eilten zwischen Küche und Terrasse hin und her. Der alte Alois stand hinter dem Tresen und zapfte Bier. Bello, der junge Neufundländerrüde, streifte auf der Terrasse von Tisch zu Tisch und hoffte auf Leckereien.
»Du bist schon zurück! Im ›Paradiesgarten‹ kannst noch net gewesen sein. So schnell schafft niemand den Aufstieg und den Rückweg«, bemerkte Toni.
Markus ging auf ihn zu. Er fasste Toni beim Arm und flüsterte ihm ins Ohr.
»Toni, ich muss dringend mit dir reden! Ganz dringend! Jetzt gleich!«
Toni schaute Markus ernst an.
»Ja, doch lass mich erst das Bier hier fortbringen! Gehe schon mal rein. Setz dich! Ich komme gleich!«
Markus ging in die Berghütte und setzte sich an einen Tisch.
»Alois, hast du noch von deinem Selbstgebrannten? Ich brauche eine Stärkung!«, rief er in Richtung Tresen.
Der alte Alois nickte und verschwand in der Küche. Es dauerte nicht lange, dann kam er mit einer Flasche und einem Glas.
»Hier, bediene dich!«
Markus bedankte sich. Er schenkte sich gleich zwei Schnapsgläser hintereinander voll und trank aus.
Toni kam.
»So, hier bin ich! Ich habe aber nicht lange Zeit. Aber im Augenblick haben alle etwas zu essen und zu trinken, da kann ich mich dir einen Augenblick widmen. Also, was hast du auf dem Herzen?«
Markus schaute Toni in die Augen.
»Toni, ich habe Tina gesehen!« Markus zögerte einen Augenblick. Dann sagte er leise und voller Zärtlichkeit. »Toni, ich glaube, ich habe mich in die schlafende Schönheit verliebt.«
Toni schmunzelte.
»Was du net sagst?«
»Doch, Toni! Ich kam an der Stelle vorbei und habe sie betrachtet. Dann schlug mein Herz schneller. Jetzt kannst du über mich lachen. Es ist mir gleich! In diesem Fall gehe ich das Risiko ein, mich zum Gespött zu machen. Ich kam mir vor wie der Prinz aus dem Märchen der Gebrüder Grimm, im Märchen vom Schneewittchen und den sieben Zwergen.«
»Dann musst du sie nur noch küssen!«, grinste Toni.
»Toni! Höre auf zu spotten. Ich werde sie schon noch küssen. Aber jetzt geht es um etwas anderes. Tina hat im Schlaf geredet. Sie muss einen Albtraum gehabt haben. Es war schrecklich. Sie hat im Schlaf geweint.«
»Was du nicht sagst? Des ist wirklich schlimm.«
Toni rieb sich das Kinn. Er stand auf und holte sich auch ein Glas. Er schenkte noch einmal ein. Sie tranken.
»Erzähle, was hat Tina gesagt?«
»Irgendetwas von einem Hof, einem Haus, von dem sie vertrieben wird. Sie sagte mehrmals: ›Ich will nicht gehen!‹, ›Ich will hierbleiben!‹, ›Es ist doch meine Heimat!‹. Und dann weinte sie wie ein Kind und stieß dabei hervor, ›Das könnt ihr doch nicht tun!‹, ›Tut mir das nicht an!‹. So ging das eine ganze Weile. Kannst du dir darauf einen Reim machen?«
Toni schenkte noch einmal von Alois’ Selbstgebranntem ein.
»Ja, das kann ich! Ich weiß, dass Tina Ärger mit den Eltern hat, Näheres hat sie nicht erzählt. Es muss daheim etwas vorgefallen sein, was sie schwer getroffen hat. Das ist meine Vermutung. Nach dem, was du mir erzählst, könnte es mit dem Gerstmair Hof zusammenhängen. Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Kannst du das nicht herausfinden, Toni?«, fragte Markus.
»Des ist net so einfach!«
Toni dachte einen Augenblick nach. Dann erzählte er Markus von Tinas Bitte, niemandem zu sagen, dass sie auf der Berghütte Quartier genommen hat. Vor allem sollte er nicht ihre Eltern informieren, wenn diese anrufen sollten.
»Ich habe Tina mein Wort gegeben, Markus!«
»Das verstehe ich. Aber du kennst die Nachbarn vom Gerstmair Hof. Vielleicht wissen sie etwas, haben einen Streit gehört. Toni, es ist wichtig für mich. Im Märchen gibt es die böse Stiefmutter mit dem vergifteten Apfel. In der Wirklichkeit vergiftet im übertragenen Sinn jemand Tinas Leben. Solche Albträume kommen nicht von ungefähr. Vor allem hat Tina ja dir gegenüber Andeutungen gemacht. Toni, wenn wir Eins und Eins zusammenzählen, dann kommt Zwei dabei heraus. Also, bitte! Überlege, was zu tun ist. Es wird doch immer viel geredet in einem Dorf. Kennst du niemanden, den du fragen kannst? Wissen deine Eltern etwas? Am Stammtisch wird doch auch immer viel geredet.«
Toni rief Anna und Alois heran. Er berichtete kurz, was Markus ihm erzählt hatte.
»Tina muss irgendetwas tief getroffen haben, Toni. Ich werde deine Mutter anrufen! Ich habe Tina nichts versprochen«, sagte Anna.
Toni reichte Anna das Handy. Anna ging in die Küche der Berghütte und redete dort mit ihrer Schwiegermutter, Meta Baumberger. Anna wusste, dass Tonis und Tinas Mütter befreundet waren. Es war ein kurzes Gespräch.
»Und was ist, Anna? Was hat meine Mutter gesagt? Weiß sie etwas?«, fragte Toni, als Anna wiederkam.
»Nix Genaues! Nur Gerüchte sind es. Jedenfalls hat die Helene Träutlein heute Morgen schon ganz früh bei deiner Mutter angerufen, Toni. Sie wollte auch schon Meta ausfragen. Sicherlich hat die Träutlein das im Auftrag vom Pfarrer Zandler gemacht.«
Markus runzelte die Stirn. Anna sah es und sagte: »Weißt, Markus, unser guter Pfarrer benutzt oft seine Haushälterin, um Vorkommnisse zu erfahren, die ihm keiner direkt erzählt. Toni, die Träutlein erzählte deiner Mutter im Vertrauen, dass unser guter Pfarrer zufällig in der Nacht aufgewacht ist. Von seinem Schlafzimmerfenster aus hat er gesehen, wie eine Gestalt auf den Friedhof gegangen ist. Es war die Tina. Sie zündete am Familiengrab der Gerstmair das ewige Licht an und blieb sehr lange. Einen Rucksack habe das Madl auch dabei gehabt. Pfarrer Zandler kam des seltsam vor. Deshalb hat er Erkundigungen einziehen lassen.«
»Mei, wenn die Tina mitten in der Nacht das Grab ihrer Großeltern besucht hat, dann hat des Madl wirklich Kummer. Am Ende geht es doch um den Hof. Des passt irgendwie alles zusammen, wenn man die Informationen wie ein Puzzle zusammensetzt, auch wenn noch viele Teile fehlen«, murmelte Toni betroffen.
Ein Gast auf der Terrasse der Berghütte rief nach Toni.
»Bleib sitzen, ich gehe«, mischte sich Alois ein.
Toni überlegte einen Augenblick. Dann griff er zum Handy und rief den Bürgermeister Fritz Fellbacher an.
»Hallo, Fellbacher, hier ist Toni! Grüß dich!«
»Grüß Gott, Toni! Was gibt’s? Du klingst so aufgeregt.«
»Fellbacher, ich brauch eine diskrete Information, wirklich diskret.«
»Jetzt machst mich neugierig! Aber wenn es um das Wohl meiner Waldkogler geht, dann bin ich immer diskret. Um was geht es?«
»Weißt du, wie es um den Gerstmair Hof steht?«
»Wie meinst des jetzt? Wie soll es um ihn stehen?«
»Stell dich net dümmer, als du bist, Bürgermeister. Hat der Gerstmair Schulden? Hast etwas gehört, dass er den Hof verkaufen will, vielleicht sogar verkaufen muss?«
»Wie kommst du darauf, Toni?«
»Weil es die Spatzen von den Dächern pfeifen, beziehungsweise die Kunde schon bis zu den Berggipfeln vorgedrungen ist.«
»Ja, ganz im Vertrauen, Toni! Da scheint etwas im Gang zu sein. Was genau, das wusste ich bis jetzt nicht. Aber jetzt kann ich mir aber einen Reim darauf machen. Der Franz hat sich schon vor Wochen einen Auszug aus dem Grundbuch geholt und beglaubigen lassen. Damals sagte er, er wollte ein neues Testament machen, wo alles genau drin steht, damit für die Tina später alles geregelt ist. Ein bissel merkwürdig ist mir des schon vorgekommen. Aber ich habe mir dann nix weiter dabei gedacht. Dein Anruf überrascht mich jetzt doch. Weißt du mehr, Toni?«
»Naa, ich weiß auch nicht mehr. Ich habe hier nur jemanden, einen Hüttengast, der sich interessiert. Und als guter Hüttenwirt, der ich sein will, kümmere ich mich natürlich um meine Gäste.«
»Ah, so ist des! Soll ich mal mit dem Gerstmair reden?«
»Naa, naa, auf keinen Fall! Des wäre net so gut, denke ich. Mir genügt es, wenn du Augen und Ohren offenhältst, Fellbacher. Und bitte, sei verschwiegen! Von mir weißt du nix, sonst komme ich in Teufelsküche. Ich habe jemandem mein heiliges Ehrenwort gegeben, dass ich mich da raushalte.«
»Verstehe! Kannst dich auf mich verlassen, Toni! Falls ich etwas in Erfahrung bringe, dann rufe ich dich an!«
»Danke, Fellbacher! Bis bald mal beim Stammtisch! Hast ein Bier bei mir gut!«
»Pfüat di, Toni!«
»Pfüat di, Fellbacher!«
Toni legte auf und steckte sein Handy ein.
»Der Franz Gerstmair hat sich vor Wochen beim Bürgermeister beglaubigte Kopien des Grundbuchs geholt«, berichtete Toni. »Es liegt also auf der Hand, dass da etwas vor sich geht.«
»Es wäre alles einfacher, wenn Tina reden würde«, sagte Anna.
»Vielleicht ist es einfacher für die Tina, mit dir zu reden als mit mir, Anna.«
»Toni, das glaube ich nicht! Dich kennt Tina länger und besser als mich. Wenn sie mit dir nicht geredet hat, sondern sich nur in Andeutungen ausgelassen hat, dann spricht sie auch nicht mit mir.«
»Ja, da ist guter Rat teuer«, seufzte Toni.
Tina tat ihm leid. Wenn der Gerstmair Hof verkauft werden sollte, dann war Tina bis ins Mark getroffen. Dessen war sich Toni sicher.
Franziska und Sebastian kamen herein. Sebastian trug eine Isomatte und Franziska einen Biwakschlafsack unter dem Arm. Toni, Anna, Alois und Markus starrten die Kinder an. Sie erkannten sofort, dass es die Teile waren, die Toni Tina mitgegeben hatte.
»Wo habt ihr die Matte und den Schlafsack her?«, brach es aus Toni hervor.
Die Kinder schauten sich an.
»Nun redet schon!«, ermunterte sie Anna.
»Die Gerstmair Tina war draußen oben beim Gebirgsbach. Sie hat uns zu sich gewunken, als wir über das Geröllfeld gekommen sind. Sie gab uns die Sachen. Die sollen wir dir geben, Toni. Wir sollen dir sagen, sie hätte gut geschlafen. Die Berghütte wäre ihr zu voll. Sie würde rüber zum ›Erkerchen‹ wandern oder zu einer der ersten Schutzhütten beim Pilgerpfad. Sie wollte dort bis zum Abend bleiben. Sie lässt fragen, ob wir ihr Proviant bringen könnten?«, sagte Sebastian.
Toni nahm den Kindern die Sachen ab.
»Tina bekommt ihren Proviant. Einen Boten habe ich aber schon. Ihr müsst nicht gehen. Jetzt bringt eure Sachen in die Zimmer!«
»Ist etwas los? Ihr schaut alle ein bissel seltsam«, fragte die kleine Franziska.
Anna legte den Arm um das kleine Mädchen.
»Es ist nichts Schlimmes, Franzi. Weißt, da hat nur mal wieder jemand einen Kummer, und wir versuchen zu helfen.«
»Hat jemand Liebeskummer?«
»Wie kommst darauf, Franzi?«, lachte Anna.
»Es kommt so oft vor, dass jemand auf die Berghütte kommt und Liebeskummer hat.«
Toni, Anna, der alte Alois und Markus mussten schmunzeln.
»Franzi, komm, wir gehen besser in unsere Zimmer. Die Erwachsenen machen es immer sehr kompliziert mit der Liebe«, warf Sebastian ein.
Er zog seine jüngere Schwester am Ärmel. Die beiden verschwanden im Wohnzimmer der Berghütte.
Toni grinste.
»Sebastian kommt wohl in die Pubertät. Mal interessiert ihn alles, was mit Liebe und Liebesbeziehungen zu tun hat. Ein anderes Mal findet er es nur »deppert«, wie er einmal gesagt hat. Heute ist wohl so ein Tag, an dem er sich nicht sonderlich dafür begeistert.«
Markus lachte.
»Das ist doch zu verstehen. Aber sag mal, Toni, du meintest mit dem Boten doch bestimmt mich, oder?«
»Bist ein kluges Kerlchen, Markus! Anna packt dir jetzt Proviant für zwei zusammen. Dann gehst los. Der Rest liegt bei dir. Ich hoffe, du machst etwas daraus.«
»Ich werde mein Glück versuchen. Drückt mir die Daumen!«
»Das werden wir!«
Anna ging in die Küche und füllte einen Rucksack mit Proviant. Toni kümmerte sich wieder um seine Gäste. Bald machte sich Markus auf den Weg.
Toni und Anna und der alte Alois standen auf der Terrasse der Berghütte und sahen ihm nach. In Gedanken begleiteten ihn die guten Wünsche in ihren Herzen.
*
Tina setzte sich am »Erkerchen« auf die Bank und ließ den Blick schweifen. Unten im Tag lag Waldkogel. Deutlich waren der alte Ortskern und die Häuser im Neubaugebiet zu sehen. Tina atmete tief durch. Im Gewirr der Hausdächer suchte sie das Dach des Gerstmair Hofes. Sie erinnerte sich, als sie mit ihrem Vater als Kind beim »Erkerchen« war und er ihr das Dach gezeigt hatte. Ihr Herz zog sich zusammen bei der Vorstellung, dass sie vielleicht nur noch eine Galgenfrist von dem Verlust trennte. Tränen stiegen ihr erneut in die Augen. Hier beim »Erkerchen« war sie allein und ließ ihnen freien Lauf. Sie konnte sie auch nicht mehr zurückhalten. Tina ging zum Geländer, stützte sich auf und barg ihr Gesicht in den Händen. Sie wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt. Ihr war so elend. Sie fühlte sich so alleine und so hilflos.
Plötzlich bemerkte sie, wie jemand neben sie trat. Sie wischte sich die Tränen mit den Fingern aus dem Gesicht und setzte schnell die Sonnenbrille auf.
»Grüß Gott! Kann ich helfen?«, drang eine weiche, männliche Stimme an ihr Ohr.
Tina reagierte nicht.
»Tut ihnen etwas weh? Wo haben Sie Schmerzen?«
»Danke«, Tina schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Schmerzen, jedenfalls habe ich keine Verletzung.«
Tina wollte es nur denken, aber ihre Lippen sprachen es aus.
»Stimmt nicht ganz! Verletzt bin ich schon, aber mehr innerlich!«
»Das sind die größten Schmerzen!«
Seine Stimme klang mitfühlend und ehrlich. Tina wandte sich um und schaute ihn an. Er war groß und breitschuldig, hatte wunderschöne, große braune Augen, umrahmt von langen Wimpern, die bei einem Mann sehr ungewöhnlich waren. Sein dunkelblondes, leicht lockiges Haar fiel ihm in die Stirn. Ihr Herz fing an zu klopfen. Sein Anblick verwirrte sie. Irgendetwas geschah mit ihr in diesem magischen Augenblick.
Er streckte ihr die Hand hin.
»Markus Brunner! Sag einfach Markus zu mir und du, wie es hier unter Bergkameraden üblich ist.«
Mit einem Mann ein Gespräch zu führen, war das Letzte, was Tina in dieser Situation wollte. Trotzdem reichte sie ihm die Hand.
»Tina, Tina Gerstmair!«
»Oh, dann habe ich dich gefunden. Dann bist du das Madl, zu dem ich den Proviant bringen soll. Sebastian und Franziska sind beschäftigt. Toni bat mich deshalb darum.«
»Ah!«, raunte Tina. »Danke! Hoffentlich war es nicht zu umständlich.«
»Nichts zu danken, es lag auf dem Weg! Allerdings … entschuldige meine Verwirrung. Ich bin etwas betroffen. Ich habe nicht erwartet, dich weinend anzutreffen … Es muss dir aber nicht peinlich sein. Sagen wir doch einfach, dir ist ein Sandkorn ins Auge geweht. Willst du dich nicht setzen und essen?«
Tina steckte die Hände in die Tasche ihrer Kniebundhose und ging zur Bank zurück. Sie setzte sich. Mit Staunen sah sie zu, wie Markus den Rucksack auspackte. Zuerst breitete er vor der Bank auf dem Boden eine Decke aus, dann stellte er Teller, zwei Bierseidl und Besteck darauf. Zum Schluss verteilte er die Vorratsdosen mit Wurst, Käse, Eiersalat, Gewürzgurken, Butter und Brot. Dann schenkte er aus zwei Flaschen Bier ein.
»Was soll das?«, fragte Tina verwundert.
»Das nennt man wohl ein Picknick für zwei! Anna hat mir die Sachen eingepackt. Sie meinte, du hättest sicherlich nichts dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste. Also machen wir ein schönes Picknick.«
Markus lachte.
»Der Boden ist zwar etwas hart, eine Wiese wäre besser. Ich hoffe, dich stört es nicht allzu sehr.«
»Originelle Idee!«, flüsterte Tina. »Vielleicht gerade das richtige für ein Abschiedsessen!«
»Abschiedsessen? Davon haben Toni und Anna nichts gesagt.«
»Sie können es auch nicht wissen. Ich wusste es bis vor einigen Minuten nicht einmal selbst. Ja, ich nehme Abschied. Ich bin aus Waldkogel und verabschiede mich hier von dem Ort, dem Tal, den Bergen, von meiner Heimat. Ich werde fortgehen und nie mehr zurückkehren!«
»Ah, deshalb die Tränen! Das waren Abschiedstränen. Das verstehe ich.«
»So?«, staunte Tina. »Wieso, du bist doch nicht aus Waldkogel oder?«
»Nein, ich wohne nicht hier und ich bin auch hier nicht geboren. Ich will es mal so sagen, Waldkogel, diese Berge, das ist eine Art Traumheimat für mich, so wie andere Leute von Paris, Venedig oder Rom als Traumstadt schwärmen. Sie fahren immer wieder in Urlaub hin. Sie bekommen leuchtende Augen, wenn sie nur den Namen nennen. So ist es bei mir mit Waldkogel.«
Tina sah ihn überrascht an.
»Das erstaunt dich, aber es ist so! Weißt du, es gibt Menschen auf der Welt, die glauben an Seelenwanderung. Ich weiß nicht recht, was davon zu halten ist. Ich weiß nur, wenn es so etwas gibt, dann habe ich mich in einem früheren Leben in Waldkogel aufgehalten. Ich muss hier gelebt haben, weil Waldkogel, die Wiesen an den Hängen, die Wälder, der See, die Berge ringsumher, besonders natürlich ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹, wunderbare Gefühle in meinem Herzen hervorbringen, die ich sonst nirgends fühle. Ich bin immer betrübt, wenn mein Urlaub zu Ende ist. Dann heißt es Abschied nehmen, bis zum nächsten Mal.«
Markus griff nach dem Bierseidl.
»Lass uns auf die Schönheit von Waldkogel trinken!«
Tina zögerte einen Augenblick. Dann hob sie ihr Glas, prostete mit einer kleinen Handbewegung Markus zu und trank. Danach stellte sie den Bierseidl ab, sprang auf und lief, so schnell sie ihre Füße trugen, den Pfad weiter, in Richtung des Pilgerpfades.
Markus stellte seinen Seidl ab, sprang auf und rannte ihr nach. Bald hatte er sie eingeholt. Er packte sie am Arm und hielt sie fest.
»Tina, was ist los? So kopflos lasse ich dich nicht durch die Berge rennen. Toni und Anna würden mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde, das ich hätte verhindern können. Du läufst doch nicht vor mir davon, oder?«
Tina schüttelte heftig den Kopf. Sie wischte sich mit den Fingern die Augen hinter ihrer Sonnenbrille.
»Es tat mir weh, wie du von Waldkogel mit so viel Liebe sprachst. Ich bin schon jetzt ganz krank vor lauter Heimweh. Aber bleiben kann ich nicht! Das würde noch mehr schmerzen. Alles tut weh, Bleiben schmerzt, Weggehen schmerzt.«
Sie seufzte und putzte sich die Nase.
»Ich muss dir wie eine blöde Ziege vorkommen. Entschuldige! Männer können heulende Frauenzimmer doch nicht leiden. Das weiß ich. Aber normalerweise bin ich nicht so. Du kannst Toni oder Anna befragen. Ich bin im Augenblick nur so durcheinander und …«
Tina versagte die Stimme. Markus’ Herz war voller Mitleid. Er zog sie an sich und legte seine starken Arme um sie. Er hielt sie ganz fest. Tina ließ es geschehen. Er spürte, wie sie leicht zitterte und streichelte ihr sanft über den Rücken. Tina fühlte sich geborgen und drückte sich an ihn. Es war ihr gleich, dass sie ihn nicht kannte, dass sie nur wusste, er hieß Markus und war ein Freund von Toni. Sie genoss diese Geborgenheit. Er fühlte sich stark an, wie ein Berg in einem tobenden Meer voller Untiefen, Strudel und haushohen Wellen, die immer und immer wieder über sie hereinbrachen.
»Wenn Tränen berechtigt sind, so wie in deinem Fall, dann kann sie niemand verurteilen.«
Markus spürte, dass Tina mit ihren Kräften am Ende war. Er hob sie auf und trug sie auf seinen Armen zurück zur Bank beim »Erkerchen«. Dort setzte er sie ab.
»So, jetzt bleibst du hier ganz ruhig sitzen. Ich mache dir ein Brot. Du solltest etwas essen. ›Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen‹, sagt man. Also, was willst du essen, Käse oder Wurst?«
Tina zuckte mit den Schultern.
Markus nahm sein Halstuch ab. Er feuchtete es mit Wasser aus der Flasche an und hielt es ihr hin.
»Hier, setze deine Sonnenbrille ab und erfrische dich!«
»Du willst sagen, dass ich mein verquollenes Gesicht kühlen soll! Ich erspare dir lieber den Anblick. Ich muss schrecklich aussehen.«
Markus legte die Hand unter ihr Kinn und hob es an, dass sie ihn ansehen musste.
»Du gefällst mir in jedem Zustand. Ohne Tränen, mit einem Lächeln im Gesicht, bist du zwar sehr viel schöner, denke ich. Aber, als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, dass ich dich am liebsten küssen würde. Ich habe dich fast eine ganze Stunde nur betrachtet.«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein, du musst mich mit einem anderen Madl verwechseln! Ich bin dir nie begegnet.«
»Falsch und doch auch richtig, es kommt auf die Auslegung an.«
»Das wird ja immer komplizierter«, stöhnte Tina.
Sie holte tief Luft.
»Markus, bitte, höre damit auf. Ich schlage mich im Augenblick mit so Allerlei herum. Das reicht mir. Ich habe keine Kraft und keine Lust, deine rätselhaften Sprüche zu ergründen.«
Markus setzte sich neben sie. Er legte den Arm auf die Rückenlehne der Bank.
»Ich war heute Morgen auf dem Weg hinauf zum ›Paradiesgarten‹ …«
»Ach so!«, seufzte Tina.
»Genau so! Du hast so tief geschlafen, dass du mich nicht bemerktest.«
»Du bist aber kein Spanner oder so?«
Markus lachte laut. »Nein, das bin ich nicht. Ich bin nur ein verliebter Bursche. Ich habe mich heute Morgen in dich schlafende Schönheit verliebt. Wären wir im Märchenland gewesen, hätte ich dich, mein liebes Schneewittchen, geküsst.«
»Schneewittchen hatte schwarze Haare, schwarz wie Ebenholz. Ich bin blond.«
»Stimmt! Aber das ist mir gleich! Ich sah dich und habe mich in dich verliebt. Ich lief zurück zur Berghütte, um mit Toni über dich zu reden. Mein Herz raste. Ich dachte, dass es besser ist, umzukehren. Die Luft oben beim ›Paradiesgarten‹ ist noch dünner und wäre mir bestimmt nicht bekommen, nachdem ich dich gesehen hatte. Dein Anblick war einfach atemberaubend.«
Markus griff vorsichtig nach Tinas Sonnenbrille und zog sie ihr von der Nase. Er nahm das nasse Tuch und tupfte ihr Gesicht ab. Tina hielt ganz still und ließ es geschehen. Sie schloss die Augen. Markus tupfte weiter. Er tat es ganz sachte. Dann spürte sie seine Lippen flüchtig auf ihren Lippen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Markus las darin wie in einem Buch. Seine Lippen kamen den ihren nochmals näher. Dieses Mal war der Kuss fester.
»Habe ich damit mein Schneewittchen wieder ins Leben geholt? Fühlst du dich besser? Ist der Fluch der bösen Stiefmutter gebrochen?«
»Ich habe keine böse Stiefmutter. Aber ich habe Eltern, die etwas tun wollen – werden, was mir nicht gefällt. Deshalb will auch von Waldkogel fortgehen. Ich könnte es nicht ertragen.«
Sie schauten sich an.
»Denke nicht daran! Was immer es auch ist, was dein Herz betrübt, ich bin hier, du bist hier. Du bist nicht mehr alleine. Tina, ich liebe dich! Kannst du mich auch lieben?«
Sie schaute ihn nur an.
»Bin ich dir wenigstens sympathisch? So muss es sein oder? Hättest du dich sonst von mir küssen lassen?«
Tina wehrte sich gegen die Gefühle in ihrem Herzen und schwieg. Es war nicht lange, nicht einmal zehn Sekunden. Doch Markus kam es wie eine Ewigkeit vor. Tina streckte die Hand aus und streichelte seine Wange.
»Du bist bestimmt wunderbar, Markus. Deine Küsse sind herrlich. Nur leider ist es der völlig falsche Zeitpunkt. Sicher ist da in meinem Herzen ein Gefühl für dich. Es fühlt sich gut an, warm und schön. Aber darauf will ich mich nicht einlassen, ich kann mich nicht darauf einlassen. Die anderen Gefühle in meinem Herzen sind weniger schön.«
»Sie machen dir sehr zu schaffen. Du bist verzweifelt, so sehr, dass du von Waldkogel fortgehen willst?«
»Ja, Markus! Diese Gefühle sind so mächtig. Es ist eine ungeheure Enttäuschung und Schmerz und Zorn und eine sehr große Bitternis. Mit so viel Bitternis kann man nicht lieben. Ich will nur Abschied nehmen und dann fortgehen. Irgendwann in ferner, in sehr ferner Zukunft, wenn der Schmerz erträglicher ist, dann kann ich vielleicht auch lieben, mich den schönen Gefühlen im hintersten Winkel meines Herzens hingeben. Jetzt kann ich nicht, Markus. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich muss erst mit dem Groll in meinem Herzen fertig werden.«
Markus legte den Arm um Tina.
»Ich will dir etwas sagen, denn ich glaube daran, dass ein höherer Sinn dahintersteckt. Wenn du – aus welchen Gründe auch immer – wenn du nicht in die Berge gegangen wärst, um Abschied zu nehmen, wären wir uns nicht begegnet. Verüble es mir bitte nicht, dass ich über das Leid, dass man dir angetan hat, nicht so empört bin, wie du es vielleicht von mir erwartest, obgleich mich alles wütend macht, was man dir angetan hat. Es hat uns zusammengeführt. Wir hätten uns sonst nie getroffen – höchstwahrscheinlich – nehme ich an.«
Tina lächelt ihn zaghaft an. Sie streichelte ihm die Wange.
»Ich bin dir nicht böse. Außerdem ist es die Wahrheit.«
Sie schaute ihn ernst an.
»Markus, ich frage mich, ob du die Antwort bist, um die ich die Engel vom ›Engelssteig‹ heute Nacht gebeten habe?«
»Ja, das kann gut sein, Tina. Wie sagt man? ›Wenn dir jemand die Tür verschließt, dann öffnet der liebe Gott ein Fenster‹. Was meinst du?«
Tina legte den Kopf an seine Schulter und schwieg. Er hielt sie fest.
»Falls du das Fenster hinausklettern willst und Hilfe benötigst, ich reiche dir gern die Hand, Tina. Ich bin für dich da. Was kann ich für dich tun?«
»Nichts kannst du tun, Markus. Außerdem hast du schon so viel getan. Du bist hier. Das ist sehr schön.«
»Wollen wir jetzt essen?«
Tina nickte. Sie setzten sich auf die Decke, aßen und tranken Bier. Nach einer Weile fing Tina an, zu erzählen. Zu Beginn erzählte sie stockend, dann flüssiger und schließlich sprudelte alles aus ihr heraus, was sie erlebt hatte.
»Kannst du das verstehen, Markus? Kannst du nur ein ganz klein wenig nachempfinden, wie ich mich fühle? Es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen fortgerissen. Ich kann nicht von unserem Hof fortziehen in das Neubaugebiet. Ich kann nicht an unserem Hof vorbeigehen oder fahren und fremde Menschen dort ein und ausgehen sehen. Es ist meine Heimat.«
Markus schaute sie ernst an.
»Das verstehe ich. Ich könnte das auch nicht. Außerdem ist es doch unnötig. Man gibt seine Heimat doch nicht einfach so auf, vor allem, wenn es dem einzigen Kind das Herz bricht! Die Argumente, die dein Vater aufführt, lasse ich nicht gelten. Ich verstehe, dass sie für dich nicht zählen. Es gibt Werte, die mehr bedeuten. Du bist dort verwurzelt. Er muss doch wissen, wie schmerzhaft es für dich ist.«
»Er sieht es anders, will mich im Leben vor Belastung bewahren, will es mir schön und einfach machen.«
»Das ist doch Unsinn! Einfach wird durch den Verkauf des Hofes für dich gar nichts, ganz im Gegenteil. Willst du nicht noch einmal ruhig mit ihm reden?«
Tina schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist sinnlos, denke ich. Er hat schon dieses Gutachten in Auftrag gegeben, diese amtliche Schätzung. Die Maklerin in Kirchwalden will es haben.«
Tina nannte Markus den Namen der Maklerin.
»Sie ist sehr erfolgreich. Jeder kennt sie. Sie stammt aus Waldkogel.«
Tina seufzte.
»Ich werde meine Arbeit in Kirchwalden kündigen und in eine andere Stadt ziehen, weit fort von hier, viele, viele Kilometer von hier. Anna kann mir dabei vielleicht helfen. Sie kommt aus Hamburg, wie du sicherlich weißt. Ihre Verwandten wohnen dort. Ich will bald mit Anna reden.«
»Sie wird dir sicherlich behilflich sein. Du kannst für die erste Zeit bestimmt bei Annas Verwandten unterkommen. Hamburg wäre gut, ich wohne ganz in der Nähe. Dann könnten wir uns oft sehen.«
Markus lächelte Tina an.
»Ich lasse dich nämlich nicht mehr aus den Augen. Aber ich kann warten. Doch lass mich bitte nicht zu lange warten, Tina.«
Sie lächelte ihn zaghaft an. Markus freute sich über dieses Lächeln sehr. Sie weigert sich zwar, mir zu sagen, dass sie verliebt in mich ist, aber ein Lächeln sagt auch sehr viel.
Sie aßen zu Ende und tranken das Bier aus.
»Was machen wir jetzt? Willst du zurück zur Berghütte?«
»Nein, Markus! Dort sind so viele Leute. Lass uns hierbleiben.«
Sie packten die Reste ein, legten die Decke auf die Bank und setzten sich. So sahen sie zu, wie die Sonne hinter den Bergen versank. Der Mond stand am Himmel, und die Sterne leuchteten. In der Dunkelheit der Nacht kamen sie sich näher und tauschten viele Küsse voller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Markus spürte Tinas Gefühle für ihn. Doch sie sagte ihm nicht, dass sie ihn liebte. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu dieser Aussage zu drängen. Er liebte sie so. Aber er hatte auch Verständnis für sie. Tina hatte einen Schock erlitten. Ihr wurde großes Leid zugefügt, von Menschen, denen sie absolut vertraut hatte. Sie hat ein Trauma erlebt. Ich werde Geduld aufbringen müssen, dachte er.
Es war schon Mitternacht, als Markus Tina sicher den schmalen Bergpfad zurück zur Berghütte geleitete. Toni war noch auf.
»Da seid ihr ja! Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wo ihr bleibt.«
»Wir sind ins Plaudern gekommen, Toni. Dabei haben wir die Zeit vergessen. Aber jetzt bin ich müde. Welche ist meine Kammer?«, sagte Tina.
»Es ist die erste Kammer hinten, Tina. Die Tür steht offen. Ich habe deinen Rucksack schon hineingestellt.«
»Danke, Toni! Gute Nacht! Dir wünsche ich auch eine gute Nacht, Markus. Vielen Dank für den schönen Nachmittag und Abend. Schlafe gut!«
Sie schenkte ihm ein Lächeln.
»Gute Nacht, Tina! Schlafe gut! Und träume von Hamburg!«
»Ich werde es versuchen!«
Tina ging zu ihrer Kammertür. Sie warf Markus noch einen Blick zu und schloss dann die Tür. Markus hätte sich gern mit einem innigen Gutenachtkuss von Tina verabschiedet, aber das wollte Tina offensichtlich nicht. Die Enttäuschung stand Markus im Gesicht.
*
Nachdem Tina in ihrer Kammer verschwunden war, setzte sich Markus in einen der Schaukelstühle neben dem Kamin. Toni legte zwei große Holzstücke in die Glut, dann zapfte er zwei Bier.
Die Freunde prosteten sich stumm zu und tranken.
»Was gibt es? Hast mit ihr reden können?«
»Ja, das konnte ich. Aber erst nachdem ich ihre Tränen getrocknet habe. Und geküsst haben wir uns auch, das willst du doch wissen, oder?«
Toni grinste. Er trank einen Schluck.
»Des klingt im ersten Augenblick hoffnungsvoll. Aber einen Gutenachtkuss hat sie dir nicht gegeben. Schaust deswegen ein bissel enttäuscht aus.«
»Bist ein guter Beobachter, Toni!«
Markus trank einen Schluck und schaute, wie im Kamin die Flammen sich in das Holz bissen. Es knackte und knisterte. Toni ließ ihm Zeit und wartete geduldig, bis Markus zu erzählen anfing.
»Die Tina tut mir leid. Sie ist eine wunderbare Frau, voller tiefer Gefühle. Alles ist so rein und echt an ihr. Nichts ist oberflächlich oder aufgesetzt. Sie hat es nicht verdient, dass das Leben ihr solche Steine in den Weg legt. Auf der anderen Seite wären wir uns nicht begegnet, wenn das nicht geschehen wäre. So hat alles zwei Seiten, eine weniger gute und eine gute. Das habe ich Tina auch gesagt und hoffte, sie damit zu trösten. Ich weiß aber nicht, ob es mir gelungen ist. Ihr Herz ist voller Bitternis, Groll und Verzweiflung. Es tut mir weh, wenn ich daran denke, Toni. Ich möchte sie beschützen, ihr alle Steine aus dem Weg räumen. Aber es ist auch schwierig mit ihr. Sie küsst mich, lächelt mich an. Ihr Blick spricht von Liebe. Ihre Lippen flüstern liebe Küsse, aber sie bleibt auf Distanz. Es ist schwer für mich, das so hinzunehmen. Toni, sie ist die Frau, die ich gesucht habe, auch wenn ich nicht bewusst gesucht habe. Ich erkannte erst, dass ich nach einem solchen Madl gesucht hatte, nachdem ich Tina fand, verstehst du?«
Toni nickte. Markus trank wieder einen Schluck.
»Du hattest recht, Toni. Es geht um Tinas Elternhaus, den Gerstmair Hof, ihre Heimat. Ihre Eltern wollen den Hof verkaufen. Schulden sind nicht auf dem Hof, sagt Tina. Es gibt also keinen dringenden Grund. Sicherlich muss das Dach erneuert werden, und es sind bestimmt einige Modernisierungsarbeiten zu machen. Es ist, wie es eben ist, irgendwann fallen bei jedem Gebäude solche Ausbesserungen an. Ihre Eltern wollen Tina das Erbe nicht auflasten. Sie wollen ein Mehrfamilienhaus im Neubaugebiet von Waldkogel erstehen. Das Haus muss aber erst noch gebaut werden. Tina haben diese Pläne bis ins Mark getroffen. Sie will nicht vom Hof ausziehen. Sie kann nicht verstehen, dass ihre Eltern solche Pläne haben. Gutachter sind schon dabei, ein Wertgutachten zu erstellen. Mit der Maklerin in Kirchwalden ist die Angelegenheit auch schon vereinbart.«
»Himmel, ist der Gerstmair deppert! So ein Schmarrn! Dem muss der Teufel vom ›Höllentor‹ ins Gehirn geschissen haben. Markus, ich finde keine Worte, um des zu beschreiben. Des ist ja des Hirnloseste, was ich seit langer Zeit gehört habe. Jeder, der gezwungen ist, seinen Hof zu verkaufen, würde Franz Gerstmair für verrückt erklären, weil er ihn freiwillig, weil er ihn ohne Not veräußert. Ich kann die Tina verstehen. Des wäre genauso, als würden meine Eltern die Gastwirtschaft mit der kleinen Pension verkaufen wollen. Da wäre ich auch sauer und meine Schwester Maria auch. Ich glaube, ich würde mit dem Martin reden, unserem Doktor. Er müsste die Eltern untersuchen, weil ich annehmen würde, sie sind geisteskrank. Himmelherrgottsakrament! Des kann doch alles net wahr sein. Des ist unfassbar. So ein Schmarrn! Der Gerstmair muss einen Dachschaden haben, anders kann ich mir des net erklären. Die arme Tina! Darauf brauche ich erst mal einen Obstler. Trinkst mit?«
Markus nickte. Toni holte eine volle Flasche von Alois’ Selbstgebranntem und zwei Wassergläser.
»Auf diesen Schock braucht man größere Gläser!«, sagte Toni und schenkte ein. Sie tranken.
»Und du bist fest entschlossen, dir mit der Tina eine Zukunft …«
»Ja, Toni! Ich liebe Tina. Ich will sie heiraten. Ich werde Ringe kaufen. Ich fahre die Tage nach Kirchwalden, kaufe Eheringe und mache ihr einen Antrag. Sie soll wissen, dass ich es ernst meine. Ich liebe Tina!«
»Des ist Recht so!«
Sie prosteten sich zu und tranken Obstler. Toni schmunzelte und rieb sich das Ohrläppchen. Er sah plötzlich vergnügt aus.
»Ich habe eine Idee, Markus! Sie könnte klappen, wenn du ein bissel trickreich vorgehst. Ich werde dich dabei unterstützen und andere in Waldkogel auch, der Bürgermeister zum Beispiel, der Pfarrer Zandler und andere.«
»Rede nicht so viel um den heißen Brei herum, Toni.«
Toni grinste.
»Deine Familie hat doch eine Metzgereikette mit Feinkostverkauf, richtig?«
»Ja!«
»Und, Markus? Dämmert dir da nicht etwas?«
»Nein, ich bin so voller Sorge um Tina, dass ich nicht klar denken kann.«
»Gut, dann helfe ich dir auf die Sprünge. Wir haben in Waldkogel keine Metzgerei! Früher hatten wir mal einen Schlachter, der von Hof zu Hof ging. Er hatte auf seinem eigenen Hof einen kleinen Laden. Doch er ging in Rente, als ich noch ein junger Bub war. Seine Söhne wollten net Schlachter sein. Seither müssen die meisten Leut’ ihr Fleisch und ihre Wurst in Kirchwalden kaufen. Wenn auf den Höfen geschlachtet wird, kommt aus dem Nachbarort ein Metzger. Die meisten behalten die Wurst und des Fleisch für sich. Aber es gibt viele, die kein Schlachtvieh mehr halten. Denke mal nur an die Leut’ im Neubauviertel. Verstehst, was ich meine?«
Markus’ Augen fingen an zu leuchten. »Toni, des ist es! Bingo! Volltreffer! Ins Schwarze gezielt und getroffen! Du bist schon ein genialer Bursche.«
Markus rieb sich vergnügt die Hände. Er strahlte über das ganze Gesicht.
»Schenk nochmal ein, Toni! Darauf wollen wir trinken! ›Manchmal sieht man vor lauter Wald die Bäume nicht‹! Ich hielt das Sprichwort bisher für eine Übertreibung. Doch es trifft zu. Also, ich mache sofort Nägel mit Köpfen!«
Toni schenkte ein.
»Auf die zukünftige neue Metzgerei Brunner mit angeschlossener Delikatessenabteilung in Waldkogel«, sagte Markus.
Sie tranken.
Markus holte das Handy aus der Hosentasche und tippte eine SMS. Dann schaltete er das Handy wieder aus.
»Was hast du geschrieben und wem?«
»Ich habe meinem Bruder eine SMS geschickt. Sie lautet: Komme morgen Abend zurück. Berufe eine Familien- und Eigentümerversammlung ein. Es gibt dringende Neuerungen und Veränderungen zu bereden, geschäftlich, wie privat. Liebe Grüße Markus.«
Markus grinste.
»Das wird meinen Bruder neugierig machen, besonders, weil ich das Wort ›privat‹ hervorgehoben habe.«
Markus strahlte.
»Da wird sich Tina freuen. Am liebsten würde ich sie wecken und es ihr erzählen.«
»Naa! Tue das net!«
»Warum?«, staunte Markus.
»Mei, Markus, die Tina fühlt sich von ihren Eltern übergangen, bevormundet, was die Zukunft des Gerstmair Hofes betrifft. Sie könnte es dir auch so auslegen. Mach du die Sache erst mal perfekt. Dann kannst du es ihr immer noch beichten.«
»Vielleicht hast du Recht, Toni. Wobei mir ein wenig bange ist, sie so zu hintergehen. Meinst, sie wird mir verzeihen? Ich bin in Sorge, ich will sie nicht hintergehen.«
»Schmarrn, du bereitest doch nur eine Überraschung vor. Und über Überraschungen redet man nicht. Außerdem spreche ich aus Erfahrung. Anna hat mich und meinen Stolz damals auch überlistet. Sie hat hinter meinem Rücken die Weichen zur Übernahme der Berghütte gestellt. Ich habe kein Wort davon erfahren, erst nach der Trauung. Wenn es Ärger gibt, kannst dich auf mich berufen. Sagst, ich hätte dich überredet. Ich nehme das auf meine Kappe, außerdem war es meine Idee, genau genommen.«
»Ja, dafür bekommst du lebenslang Sonderpreise für Wurst und Fleischwaren bei uns.«
»Des ist doch ein gutes Geschäft! Aber darauf habe ich nicht spekuliert.«
Sie lachten herzlich.
»Das weiß ich doch, Toni. Ich habe eine Bitte an dich! Ich schreibe der Tina einige Zeilen. Die gibst du ihr. Du hältst sie hier fest, bis ich wieder zurück bin. Ich kann die Angelegenheit nicht von hier aus abwickeln. Ich will das alles von Angesicht zu Angesicht mit meiner Familie bereden. Die werden Augen machen, wenn ich ihnen sage, dass ich mich verliebt habe und Tina heiraten will. Ich will ihre Gesichter sehen, wenn ich es ihnen sage. Du passt inzwischen auf Tina auf, ja?«
»Sicher! Wir werden sie anbinden, wenn es sein muss. Ich rede mit Anna drüber. Sie wird sie bitten, ihr in der Küche zu helfen. Dann ist sie beschäftigt und kommt net auf dumme Gedanken. Mach dir keine Sorgen, Markus. Anna und ich, wir haben da so einige Tricks drauf, Leute hier festzuhalten. Es ist nicht das erste Mal, dass wir jemanden hier festhielten, der Liebe wegen.«
»Dann ist alles geregelt. Jetzt schlafe ich noch ein paar Stunden. Ich stelle mir den Wecker und breche auf, sobald es hell wird.«
Toni warf einen Blick auf die Wanduhr im Wirtsraum der Berghütte.
»Da bleibt dir nicht viel Schlaf.«
»Da ist nicht schlimm. Meinst, ich bekomme so früh ein Taxi nach Kirchwalden? Die Busse fahren erst später.«
Toni griff in seine Hosentasche.
»Hier! Nimm meinen Geländewagen. Stelle ihn in Kirchwalden auf dem Hof hinter der Verwaltungsstelle der Bergwacht ab. Der Leiter der Bergwacht Leonhard Gasser ist einer meiner besten Freunde. Ich rufe ihn an. Er findet schon einen Weg, mein Auto nach Waldkogel zurückzubringen. Den Schlüssel kannst steckenlassen.«
»Bist ein echter Freund!«
»Du, so uneigennützig bin ich nicht. Sicherlich verkauft ihr in der Delikatessenabteilung auch Fischdelikatessen. Meine liebe Anna ist aus Hamburg. Sie liebt alles, was mit Fisch zusammenhängt. Ich freue mich, dass ich ihr dann öfters etwas mitbringen kann.«
»Für deine Anna werden wir immer besondere Delikatessen bereithalten. Das verspreche ich dir!«
Sie tranken aus. Markus schrieb Tina noch ein paar Zeilen. Dann ging er schlafen.
*
Markus hatte sich in Kirchwalden einen Leihwagen genommen. Er war ohne Pause die weite Strecke nach Norden durchgefahren. Unterwegs gab es einige Staus und wegen diverser Baustellen zähfließenden Verkehr. So war es schon fast dunkel, als er die Auffahrt seines Elternhauses hinauffuhr.
Die Haustür ging auf, seine Eltern und sein Bruder mit seiner Frau stürmten auf ihn zu. Markus hastete die Steintreppe hinauf und nahm mehrere Stufen auf einmal.
»Kommt rein! Wir fangen gleich an!«
»Willst du nicht erst duschen und dich umziehen? Hast du keinen Hunger?«, fragte seine Mutter.
Markus umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Später, später, Mutter! Erst muss ich sagen, was ich zu sagen habe. Außerdem, wie gefalle ich dir in ledernen Kniebundhosen? An den Anblick wirst du dich gewöhnen müssen. Die werde ich zukünftig wohl fast jeden Tag tragen.«
»Dir ist die Bergluft zu Kopf gestiegen, wie?«, witzelte sein Bruder Gerold.
Markus lachte laut und stürmte voran ins große Esszimmer. Darin fanden die Familientreffen statt, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Auf dem Tisch standen Getränke und Häppchen.
Markus warf einen Blick darauf.
»Es fehlt der Champagner! Gerold, hole bitte einige Flaschen aus dem Keller. Nehme den Zweitbesten, den wir haben. Der andere ist nur für Familienfeste, aber es dauert sicherlich nicht mehr lange, dann trinken wir den.«
Markus’ Eltern warfen sich Blicke zu. Alle setzten sich. Sie warteten, bis Gerold mit dem Champagner kam. Die Haushälterin hatte inzwischen die Gläser gebracht. Markus ließ den Korken knallen und schenkte ein. Er nahm sein Glas und stand auf.
»Liebe Eltern! Lieber Bruder, liebe Schwägerin! Ich will mit euch auf die Liebe anstoßen. Trinken wir auf die Liebe, wie sie ein Mann nur einmal im Leben findet und du sie, lieber Bruder, schon gefunden hast. Meine Liebe heißt Tina! Prost!«
Markus nippte an seinem Glas. Mit viel Freude sah er die Verwunderung in den Augen seiner Familie.
»Nun trinkt! Trinkt mit mir auf mein Glück!«
Sie tranken. Markus’ Vater Hans Brunner räusperte sich.
»Wir machen ja alles mit, Markus. Aber wo ist deine Tina? Warum hast du sie nicht mitgebracht?«
»Ruhig, langsam! Ich kann das alles erklären! Ihr werdet sie mögen, lieben werdet ihr sie. Tina ist wunderbar, einfach wunderbar. Sie ist unbeschreiblich wunderbar.«
»Himmel, Markus, dich hat es erwischt!«, sagte sein Bruder.
»Ja, Gerold, so ist es! Die Liebe hat mich Tina finden lassen. Sie lag in einem Biwakschlafsack und schlief … an einem Weg … ich ging vorbei, und es machte peng in meinem Herzen. Ich werde es euch noch ausführlich erzählen. Aber jetzt kommen wir zu etwas anderem. Das hat auch mit Tina zu tun. Bruder, dabei zähle ich besonders auf deine Mithilfe. Du sagtest vor meiner Abreise, ich sei mit der Firma verheiratet und sollte mir endlich eine Braut suchen. Nun, die Braut habe ich gefunden. Geküsst habe ich sie auch schon. Ich bin nur hier, um eine Überraschung für sie vorzubereiten. Ich will alles mit euch bereden. Ich halte mich nämlich im Hintergrund und kümmere mich nur um Tina. Wir sind eine Familie. Jetzt brauche ich jeden von euch, damit ich glücklich werde. Mutter, Vater, ihr wollt doch sicherlich noch weitere Enkel?«
»Wie kannst du fragen, mein Junge? Also, nun rede schon. Wir haben begriffen, dass deine Tina die Traumfrau schlechthin ist.«
Markus trank einen Schluck Champagner.
»Ja, das ist sie, Vater. Aber sie ist zurzeit sehr traurig. Sie hat ein Problem. Das will sie zuerst lösen, danach komme ich.«
Markus’ Vater lachte.
»So, wie ich dich kenne, Markus, gefällt dir der zweite Platz nicht. Du bist einer, der immer auf der Poolposition sein will.«
»Genau, Vater! Da komme ich ganz nach dir. Ich teile die Startposition nur mit euch. Also hört mir zu.«
Markus holte Luft.
»Es gibt in Waldkogel ein Gehöft, den Gerstmair Hof. Den kaufe ich. Das heißt, zuerst kauft die Firma ihn, dann übernimmt Tina später den Besitz. Dass dabei Steuern verschenkt werden, weiß ich. Aber unter diesen Umständen ist es mir egal. Der Hof ist ihr Elternhaus, deshalb will ich ihn ihr zur Hochzeit schenken. So, das war der mehr private Teil, der jetzt in den geschäftlichen Part übergeht. Wir sind mit unserer Ladenkette hauptsächlich hier im Norden vertreten. Wir sind zwei Brüder. Also, kann einer hier im Norden sich um die Sache kümmern und einer im Süden.«
»Im Süden sind die Berge, das wird dann wohl deine Aufgabe, Markus!«, lachte Gerold.
Markus legte seiner Familie ausführlich dar, wie er sich alles gedacht hatte. In Waldkogel würde die erste Filiale im Süden entstehen. Von Waldkogel aus wollte er dann expandieren.
Markus erzählte ausführlich von Tina und den Plänen ihrer Eltern, die sie so unglücklich machten.
»Du bist ganz schön clever, Markus!«, lobte ihn sein Vater.
Markus schüttelte den Kopf.
»Ehre, wem Ehre gebührt. Ich war so um Tina in Sorge, dass ich nicht so weit dachte. Toni brachte mich auf die Idee.«
»Höre sich das einer an!«, lachte Gerold. »Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Du hast wirklich nicht ans Geschäft gedacht. Dann musst du wirklich sehr verliebt in diese Tina sein. Du hättest uns allen kein überzeugenderes Argument für deine Liebe geben können. Das ist der Beweis, dass diese Tina die Liebe deines Lebens ist. Du denkst nur an sie, und alles andere tritt in den Hintergrund.«
Gerold hob sein Glas.
»Auf die Liebe meines Bruders, die aus dem Arbeitstier Markus wieder einen Menschen gemacht hat!«
Sie lachten und tranken.
Dann besprachen sie die Einzelheiten. Gerold wollte sich um den Erwerb der Immobilie kümmern und sofort mit dem Einrichten eines Verkaufsraumes beginnen.
»Ich habe den Hof noch nicht gesehen, Gerold. Mache es irgendwie, ich vertraue dir. Es muss nur schnell gehen. Tinas Eltern können wohnen bleiben. Der Neubau ist noch nicht fertig. Außerdem wäre es völlig unnötig, dass sie umziehen. Tina will sie bestimmt im Haus haben. Es ist wichtig, dass die Großeltern in der Nähe sind«, sagte Markus.
»Markus, Markus, das klingt wie der perfekte Plan. Ich hoffe, deine Tina sagt auch Ja«, bemerkte Hans Brunner.
»Das wird sie, Vater! Sie wird sich über meine Überraschung freuen. Ein größeres Geschenk könnte ich ihr nicht machen. Tina ist niemand, den man mit Diamanten, einem Sportwagen oder einem Dutzend Pelzmänteln beeindrucken kann. Sie ist bodenständig und sehr natürlich. Sie wird es als Liebesbeweis ansehen, dass sie auf dem Hof leben kann und unsere Kinder dort aufwachsen.«
»Gut, dann hast du unseren Segen, Markus. Gerold, du nimmst das in die Hand«, stimmt Hans Brunner zu.
»Ja, Vater. Ich fahre morgen sofort nach Waldkogel.«
Während Gerold das sagte, schaute er seine Frau an.
»Ich habe eine Idee! Eva«, wandte er sich an seine Frau, »du kannst mit mir kommen. Du quartierst dich auf diesem Gerstmair Hof unter deinem Mädchennamen ein. Du bist ein kontaktfreudiger Mensch und wirst dich sicherlich bald mit Tinas Mutter anfreunden. Auf diese Weise erfahren wir mehr, was vielleicht auch Markus’ Tina freut. Ich wohne in einem Hotel im Ort.«
»Du kannst im Hotel ›Zum Ochsen‹ Quartier beziehen.«
»Was ein verrückter Plan, Gerold«, lachte seine Frau. »Aber wenn dieses Abenteuer dazu beiträgt, damit Markus und Tina glücklich werden, dann spiele ich mit.«
Hans und Sophie Brunner würden sich inzwischen um die Enkelkinder kümmern, was keine große Veränderung war, denn sie lebten alle zusammen unter einem Dach.
Markus seufzte.
»So, das ist erst einmal geregelt. Ich nehme jetzt eine Dusche, esse einen Happen und lege mich schlafen. Morgen früh nehme ich ein Auto aus dem Fuhrpark der Firma und fahre zurück nach Waldkogel. Ich dachte, ich nehme den alten Jeep, der jetzt noch vom Hausmeister gefahren wird. Du kannst den Leihwagen abgeben oder abholen lassen, Vater.«
»Willst du nicht ein besseres Auto nehmen? Der Jeep fällt bald auseinander. Ich wollte ihn schon verschrotten, aber verderben mit unserem guten Geist von Hausmeister wollte ich es mir auch nicht. Er will ihn behalten, dieser Oldtimerfreak«, bemerkte sein Vater.
»Siehst du, alles hat seinen Sinn. Ich will nicht mit einer Limousine auf die Oberländer Alm fahren. Außerdem würde sie doch nur herumstehen. Ich werde mit Tina wunderbare Wanderungen machen. Wir werden in den Bergen unter den Sternen biwakieren. Wozu sollte ich einen Luxusschlitten brauchen?«
Markus trank sein Glas aus und stand auf. Er ging hinauf in seine Wohnung.
Markus’ Eltern, sein Bruder und dessen Frau saßen noch zusammen und redeten.
»Ich wünsche ihm alles Glück der Erde und des Himmels«, sagte Markus’ Mutter.
»Das wünsche ich Markus auch. Ich sehe zwar nicht ein, warum er diesen komplizierten Weg einschlagen will, aber das muss er entscheiden. Wenn es sein Wunsch ist, dann stelle ich mich nicht dagegen. Ich würde es anders machen. Ich würde mit Tina reden und sie einfach heiraten. Ich würde mit offenen Karten spielen. Hoffentlich weiß Markus, was er da tut?«
»Hans, Markus weiß das sicher! Der Junge war nie leichtsinnig. Er hat seine Gründe, und ich vertraue ihm. Ich kann es kaum abwarten, Tina kennenzulernen.«
»Dann fahre mit Eva nach Waldkogel, Sophie. Die Kinder sind bis zum Mittag in der Schule. Ich komme früher aus dem Büro heim. Außerdem sind sie doch schon groß. So viel ich weiß, sind sie meistens bis zum Abend bei Freunden auf dem Reiterhof oder auf dem Fußballplatz.«
Gerold und Eva wischten Sophies Bedenken vom Tisch. Außerdem war es dann einfacher. Eva würde bei ihrem Mann im Hotel »Zum Ochsen« wohnen und Sophie Brunner sich auf dem Gerstmair Hof einquartieren. Das beruhigte Sophie sehr. Schließlich wollte sie genau wissen, wie die Familie war, deren Tochter Markus ehelichte. Nach dem, was Markus bisher von Franz Gerstmair erzählt hatte, stellte sie sich ihn als sturen Bauer vor, und er war ihr nicht besonders sympathisch.
Markus wurde in die neuesten Pläne eingeweiht. Er lachte.
»Gut, macht, was ihr wollt. Aber gebt euch nicht zu erkennen, sonst ist meine Überraschung misslungen. Und du, liebe Mutter, falls du dich nicht zurückhalten kannst, mich auf der Berghütte zu besuchen und Tina zu besichtigen, dann kennen wir uns nicht. Halte dich zurück, bis ich dir Grünes Licht gebe, versprochen?«
Sophie Brunner hob die Hand, wie es Markus und sein Bruder Gerold als Kinder getan hatten und sagte: »Ja, versprochen! Großes Indianerehrenwort! Der große Manitu ist mein Zeuge!«
Sie lachten alle. Dann gingen sie schlafen.
*
Gerold Brunner kontaktierte am Vormittag vor der Abreise die Immobilienmaklerin in Kirchwalden.
»Brunner, Fleisch- und Feinkost«, meldete er sich am Telefon. »Mein Name ist Gerold Brunner, Mitinhaber des Unternehmens und einer der Juniorchefs. Wir haben beschlossen, im Süden zu expandieren. Jetzt suchen wir zuerst einmal für einen Mitarbeiter eine Immobilie. Unser Mitarbeiter will auf dem Land wohnen. Er ist ein begeisterter Bergsteiger und Bergwanderer, sehr naturverbunden. Er liebt die Umgebung von Waldkogel und Waldkogel besonders. Der Mann ist ein As auf seinem Gebiet. Uns ist also daran gelegen, ihm ein Ambiente zu bieten als Dienstsitz, das seinen Vorstellungen entspricht. Wir suchen folglich einen großen Bauernhof, mit guter Bausubstanz. Sie sind uns empfohlen worden. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass das ein Anfang für eine längere Geschäftsbeziehung werden könnte. Uns kommt es auf Schnelligkeit an. Also, was können Sie uns anbieten? Wir wollen kaufen, Sie vermitteln!«, brachte es Gerold auf den Punkt.
Er hatte erfahren, dass die Maklerin einige Bauernhöfe im Angebot hatte, so stellte er es dar. Sie sei ihm empfohlen worden.
Sofort mailte sie ihm einige Exposés. Der Gerstmair Hof war nicht dabei. Gerold führte noch ein weiteres Gespräch vom Auto aus übers Handy. Dabei erfuhr er, dass die Maklerin einen Hof in Waldkogel vermitteln könnte, aber das Gutachten sei noch nicht erstellt. Gerold betonte, dass ihn das nicht störe. Er wäre ohnehin auf dem Weg in den Süden. Er hätte im Hotel »Zum Ochsen« in Waldkogel gebucht. Dort verabredete er sich mit der Maklerin am späten Nachmittag.
Als Gerold und Eva im Hotel eintrafen, wartete die Maklerin schon. Eva ging in die Suite. Gerold machte sich mit der Maklerin auf den Weg zum Gerstmair Hof.
Die Maklerin hatte ihr Kommen angekündigt, und so warteten Franz und Rosel Gerstmair mit klopfendem Herzen auf den ersten Interessenten. Sie musterten den jungen Mann im feinen schwarzen Anzug, als er mit der Maklerin aus deren Auto stieg.
»Grüß Gott! Franz Gerstmair!«, grüßte er. »Das ist meine Frau Rosel.«
Die Maklerin stellte Brunner vor. Der sah sich um. Er ging auf dem Hof auf und ab, sah an den Mauern hinauf. Währenddessen redete die Maklerin ununterbrochen. Gerold fiel auf, dass das Ehepaar beim Hauseingang stehengeblieben war und sich wie ängstliche Kinder an den Händen hielt.
»Wir sollten hineingehen! Das Haus hat einen guten Schnitt, viele Zimmer. Die noch vorhandenen Ställe lassen sich zu weiteren Wohnungen ausbauen.«
Gerold nickte und folgte der Maklerin. Sie zeigte ihm zuerst die oberen Räume, dann das Erdgeschoss. Zum Schluss kamen sie in die Wohnküche.
»Ihr Hof gefällt mir sehr gut«, sagte Gerold und blätterte im ausgedruckten Exposé. »Kurzum, wir kaufen ihn!«
Rosel Gerstmair entfuhr ein Schrei. Franz wurde blass.
»Es scheint, Sie freuen sich nicht!«, sagte Gerold und spielte den Verwunderten.
»Ah … ähem … doch, doch! Wir sind nur so überrascht. Wir dachten, nicht, dass es so schnell geht. Wir haben damit erst für das nächste Jahr gerechnet.«
Franz rieb sich das Kinn.
»Es ist so, dass wir im Neubaugebiet ein Haus kaufen wollen. Bis des fertig ist, dauert es noch ein bissel. Sie wollen wohl sehr schnell über den Hof verfügen, denke ich mir so, oder?«
Gerold lächelte.
»Sicher, wenn man kauft, will man darüber verfügen. Aber so eilig ist es nicht. Sie werden nicht auf die Straße geworfen. Es sind ohnehin noch Bauarbeiten zu machen. Drüben, der große Altenteil mit den leerstehenden Stallungen…« Gerold schlug in den Unterlagen die Seite mit den Grundrissen auf. »Dort wird es einen Laden geben, Fleisch- und Wurstverkauf und Delikatessen. Unser Geschäftsführer wird später hier einziehen. Er wird demnächst heiraten, sagte er mir kürzlich. Dann fährt er erst einmal in die Flitterwochen. Er ist ein umgänglicher Mensch. Ich bin mir sicher, Sie werden ihn und seine junge Frau mögen. Ich habe schon mit ihm gesprochen, und er lässt Ihnen sagen, dass er sich mit den Fremdenzimmern begnügt, bis Sie in Ihren Neubau können. Das geben wir Ihnen auch gern schriftlich. Wissen Sie, es hat auch Vorteile, wenn jemand die Bauarbeiten beaufsichtigt, Herr Gerstmair. Die Maklerin sagte mir weiter, dass Sie demnächst in Rente gehen. Nun, dann wäre das doch eine neue Aufgabe für Sie.«
Franz wechselte mit seiner Frau Rosel Blicke. Diese stand auf und verließ das Zimmer. Gerold schaute ihr nach.
»Was ist mit ihr?«
»Nix ist, es geht ihr nur ein bissel nah, dass wir verkaufen. Es ist eben ein neuer Lebensabschnitt, der beginnt. Leicht wird es nicht werden. Doch des ist net Ihre Angelegenheit! Wenn Sie den Hof kaufen wollen, dann müssen wir uns nur noch über den Preis einigen.«
Gerold schaute lange auf die Unterlagen und blätterte hin und her.
»Was ist?«, fragte Gerstmair. »Sie sind der Erste, der sich den Hof ansieht. Ich will verkaufen, ich muss net. Den Preis hat sie angesetzt«, sagte er mit Blick auf die Maklerin. »Des Gutachten ist noch net fertig. Es kann ein bissel mehr oder weniger sein. Ich kann auch noch auf andere Angebote warten.«
Gerold wusste, dass es ein Spiel war. Zu dem Spiel gehörte, dass er auch spielte.
»Ich muss mal telefonieren«, sagte Gerold.
Er ging hinaus auf den Hof und tat, als rede er am Handy mit jemandem. Dann kam er herein.
»Gut!«, sagte Gerold. »Wir akzeptieren den Preis. Sie können einen Notartermin machen. Hier ist meine Visitenkarte. Ihr Notar soll sich bei mir melden, damit wir die Einzelheiten bereden können.«
Gerold lächelte. Er reichte Franz Gerstmair die Hand.
»Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben. Leider habe ich heute wenig Zeit. Aber ich bin ganz sicher, wir werden uns noch oft sehen. Ich freue mich schon darauf. Grüßen Sie mir Ihre Frau. Auf Wiedersehen.«
Franz schüttelte ihm die Hand.
»Wir sagen Pfüat di hier in den Bergen.«
»Gut, dann eben Pfüat di, Herr Gerstmair. Und alles Gute für Ihren neuen Lebensabschnitt. Ich hoffe, er wird glücklich, und ich konnte etwas dazu beitragen.«
Franz Gerstmair wunderte sich über die herzlichen Wünsche. Die Männer schüttelten sich die Hände. Sie schauten sich an. Gerold blickte in Gerstmairs Augen, die von einer tiefen Traurigkeit und Verzweiflung geprägt waren. Franz Gerstmair las eine seltsame Verschmitztheit in Gerolds Augen, die er nicht zu deuten wusste. Irgendwie war ihm der junge Mann unheimlich. Gerstmair fühlte ein unbestimmtes Bauchgrummen, wie er es nur kannte, wenn etwas sehr schlecht gelaufen war oder er einen Fehler gemacht hatte. Es war kein Fehler, sagte er im Stillen zu sich. Es ist gut so, wie es ist! Ich habe den Hof zu einem sehr guten Preis verkauft. Wir können bleiben, bis wir den Neubau beziehen können und ich habe neben meiner Rente noch die Bauaufsicht.
Gerold ging mit der Maklerin zum Auto. Sie fuhren davon. Franz suchte Rosel. Er fand sie im Garten. Sie sahen sich an. Er sah die Traurigkeit in ihren Augen. Sie fassten sich bei den Händen und lagen sich dann in den Armen, um sich gegenseitig zu trösten.
»Es ist hart, Franz!«
»Ja, Rosel! Es tut sehr weh. Aber es ist gut, dass wir es so gemacht haben. Die Tina wird es auch irgendwann gutheißen, denke ich.«
»Was meinst, wann sie wieder heimkommt?«
»Das weiß ich nicht, Rosel. Wir müssen warten. Was sollen wir sonst tun?«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Bei ihrem Chef anrufen und fragen, wie viel Urlaub sie genommen hat, das können wir nicht machen. Das würde sonderbar aussehen, dass wir es nicht wissen, wo sie doch daheim wohnt.«
»Dann lass Pfarrer Zandler anrufen. Er kann so tun, als wenn er die Tina sprechen wollte. Als Geistlicher findet er es bestimmt heraus.«
»Des ist eine gute Idee, Franz. Ich ziehe mich gleich an und gehe zum Zandler ins Pfarrhaus.«
Sie verließen zusammen den Garten. Tinas Freundin Ines fuhr auf dem Fahrrad auf den Hof. Sie sprang ab, ließ das Fahrrad fallen und rannte auf Tinas Eltern zu.
»Wo ist Tina? Was ist passiert? Wir wollten uns treffen in der Mittagspause. Sie kam aber nicht. Auf meine Nachrichten und Anrufe auf ihrem Handy reagiert sie nicht. Da habe ich im Büro bei ihr angerufen. Dort hieß es nur, Tina würde nicht mehr in der Steuerkanzlei arbeiten. Sie habe den Resturlaub genommen. Sie habe heute angerufen und gekündigt.«
Tinas Eltern wurden blass.
»Nun redet schon!«, schrie Ines heraus. »Tina hat mir kein Wort gesagt. Was ist los? Ich verstehe das nicht. So einen schönen Arbeitsplatz, den gibt man doch nicht leichtfertig auf!«
Die Bäuerin seufzte tief. Sie warf zuerst ihrem Mann einen Blick zu. Dann sagte sie:
»Ines, die Tina ist fortgelaufen. Wir hatten einen Streit. Sie ist mitten in der Nacht verschwunden, hat kaum Sachen mitgenommen, nur einen Rucksack. Wir wussten nicht, dass sie gekündigt hat.«
Ines starrte Tinas Eltern an.
»Die Tina muss völlig durchgedreht sein. Ja, um Himmels willen, um was oder wen habt ihr gestritten? Hat die Tina sich am Ende in jemanden verliebt, der euch nicht gefallen hat? Das ist für mich der einzige Grund, warum ich von daheim fortlaufen würde.«
»Nein, das ist nicht der Grund. Wir haben den Hof verkauft. Tina wollte das nicht. Sie warf uns vor, ihr die Heimat zu nehmen.«
Ines war sprachlos. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ines schüttelte den Kopf. Sie verstand es nicht. Tina hatte ihr nichts davon erzählt. Sie räusperte sich.
»Falls ihr etwas von ihr hört, sagt ihr bitte, sie soll sich bei mir melden. Ich bin ziemlich enttäuscht, dass sie sich mir nicht anvertraut hat. Ich dachte, wir wären Freundinnen. Aber auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass sie völlig durcheinander war. Wenn meine Eltern den Hof verkaufen würden, würde ich auch fortlaufen, denke ich mir.«
»Machen wir, Ines! Falls sich Tina bei dir meldet, sage es uns, bitte!«, flehte Franz Gerstmair mit gebrochener Stimme.
»Das tue ich!«
Tina verabschiedete sich, nahm ihr Fahrrad und radelte vom Hof.
»Der Anruf von Pfarrer Zandler hat sich erübrigt, Rosel. Jetzt wissen wir Bescheid.«
»Was machen wir jetzt?«
Franz Gerstmair wusste keine Antwort. Sie sahen sich an. Er hatte Tränen in den Augen. Rosel versuchte, ihn zu trösten.
»Die Tina hat dein Naturell. Ihr Temperament geht oft mit ihr durch, dann tut sie Sachen, die net so durchdacht sind. Du kennst sie doch. Vielleicht überlegt sie es sich anders und kommt zur Vernunft. Wir warten.«
Im Haus klingelte das Telefon. Rosel eilte hinein.
»Ach, du bist es, Meta! Was gibt es?«
»Rosel, habt ihr noch ein freies Fremdenzimmer?«
»Ja, wir haben Platz. Warum?«
»Des ist gut! Hör mal, die Anna hat mich angerufen. Sie hat Besuch aus ihrer Heimat, eine weitläufige Bekannte oder Verwandte. Es ist eine Frau in unserem Alter. Anna meint, dass es besser wäre, sie würde sich erst mal in Waldkogel an die Bergluft gewöhnen, bevor sie zur Berghütte aufsteigt. Aber bei uns ist alles voll. Wir können sie net aufnehmen. Sophie heißt sie. Eine sehr liebe Frau, so auf den ersten Blick. Kann ich sie dir vorbeischicken?«
»Sicher, des bringt etwas Abwechslung. Das können Franz und ich gebrauchen. Soll Franz sie bei euch abholen?«
»Nein, sie ist mit dem Auto da! Ich schicke sie zu euch, Rosel. Danke, dass du mir helfen tust. Vergelt’s Gott! Und die Rechnung bringst mir, die zahlt die Anna.«
»Das tue ich gerne! Pfüat di, Meta, und grüß mir den Xaver.«
Rosel legte auf.
»Wir bekommen einen Gast. Sophie heißt sie und ist eine Verwandte von der Anna, weißt, der Frau vom Toni, oder eine Bekannte, die Meta hat das nicht so genau gewusst.«
Franz nickte nur. Er setzte sich auf die Bank vor das Haus und wartete. Rosel warf noch einen Blick in das Fremdenzimmer, ob alles in Ordnung war. Es dauerte nicht lange, dann fuhr ein eleganter Wagen auf den Hof. Eine Dame im sportlichen, edlen Hosenanzug stieg aus.
»Guten Tag. Ich bin Sophie. Meta hat mich angekündigt.«
Sie ließ die Augen schweifen.
»Schön ist es hier! Was für ein schöner Hof!«, sagte sie leise.
Sie gaben sich die Hand und stellten sich als Rosel und Franz, als Freunde der alten Baumbergers vor. Franz trug Sophie die Koffer hinauf ins Zimmer.
»Danke, dann werde ich mal auspacken und einen Spaziergang machen.«
Rosel lächelte sie an und ging hinaus.
Sophie Brunner setzte sich auf das Bett und schaute sich in dem einfachen, aber sehr gemütlichen Fremdenzimmer um. Sie schmunzelte vor sich hin. Der Trick hatte gut geklappt. Markus hatte mit Toni telefoniert. Dieser hatte dann seine Mutter eingeweiht. Meta brachte sie ohne Schwierigkeiten hier unter. Sophie Brunner hatte einen ersten guten Eindruck von den zukünftigen Schwiegereltern ihres Sohnes. Jetzt musste sich Tina nur noch zu ihrer Liebe bekennen und Markus’ Antrag annehmen. Dass Gerold den Kauf des Hofes perfekt gemacht hatte, wusste sie. Gerold hatte sie angerufen.
Sophie zog sich einen bequemen Jogginganzug an und verließ das Haus. Markus hatte ihr empfohlen, zum Bergsee zu gehen.
*
Markus war nicht nach Waldkogel durchgefahren. Er hatte in Kirchwalden noch etwas eingekauft. Anschließend hatte er mit seiner Schwägerin Eva im Hotel »Zum Ochsen« auf seinen Bruder gewartet, bis dieser vom Hofkauf zurückkam.
»Dann ist alles eingefädelt, Markus. Wir haben alles getan, um dir zu deinem Glücks zu helfen. Jetzt musst du nur noch der Tina ihr Jawort abringen.«
»Stimmt! Das wird nicht einfach werden, aber ich werde sie mit meiner Liebe überzeugen. Sie liebt mich auch, dessen bin ich mir sicher. Drückt mir die Daumen.«
»Das tun wir, Markus!«
Gerold umarmte seinen Bruder und wünschte ihm Glück. Eva bat ihn, sofort anzurufen, wenn er mit Tina gesprochen hatte. Markus lachte.
»Wenn sie Ja sagt, dann habe ich anderes zu tun, als euch anzurufen. Ihr müsst euch gedulden«, lachte Markus.
Dann ging er fort. Bis es dunkel wurde, wollte er auf der Berghütte sein.
*
Tina half Toni und Anna beim Bedienen der Hüttengäste. Sie brachte gerade eine Runde Bier an einen Tisch, als Markus eintraf.
»Hallo, Tina, ich bin wieder da!«
»Das sehe ich! Konntest du alles erledigen? Toni sagte, es sei etwas mit deiner Familie. Hoffentlich ist es nicht schlimm.«
Markus streichelte ihr die Wange.
»Es war nichts Schlimmes. Es war mir nur so wichtig, dass ich es ihnen persönlich sagen musste. Es war kein Thema, das ich am Telefon bereden konnte. Aber alles ist gut, sehr gut sogar.«
»Das freut mich.«
»Lass uns einen Spaziergang machen. Wir gehen rüber zum ›Erkerchen‹, dort erzähle ich dir alles.«
Tina schaute ihn unschlüssig an. Toni hatte das Gespräch zwischen den beiden gehört. Er trat dazu.
»Nun gehe schon mit ihm, Tina! Wir brauchen dich hier nicht mehr. Danke für deine Hilfe.«
Tina holte sich ihre Wanderjacke und ging mit Markus hinaus. Anna und Toni sahen ihnen nach.
»Hoffentlich finden sie sich, Toni. Sie geben ein schönes Paar ab.«
»Ja, Anna, fast so ein schönes Paar wie wir, aber nur fast.«
Toni gab Anna einen Kuss.
Markus legte beim »Erkerchen« den Arm um Tina.
»Ich bin froh, wieder bei dir zu sein!«
»Ich bin auch froh, dass du wieder hier bist.«
»War dir der Tag lang, Tina?«
»Nein! Ich habe lange geschlafen. Dann rief ich in Kirchwalden im Steuerbüro an und sprach mit meinem Chef. Ich habe gekündigt.«
»Dann bist du fest entschlossen, von hier fortzugehen?«
»Ja, Markus, das bin ich! Ich habe auch schon mit Anna geredet. Nach meinem Urlaub – meinem Abschiedsurlaub von Waldkogel – kann ich bei ihrem Onkel in Hamburg unterkommen, sagt Anna.«
»Dann hoffst du nicht mehr auf eine Zukunft auf dem Gerstmair Hof?«
Markus sah ihr in die Augen.
»Nein, ich habe noch einmal nachgedacht. Es ist sinnlos, eine solche Hoffnung zu hegen. Da müsste ein Wunder geschehen. Meine Eltern haben sich nicht von einem Tag auf den anderen zum Verkauf entschlossen. Sie haben es gründlich geplant. Bedenke, sie haben mit der Maklerin gesprochen und Gutachter kommen lassen. Sie haben sich Neubauten angesehen. Das tut man doch alles nur, wenn man wirklich entschlossen ist. Nur ein Wunder könnte sie davon abbringen. Aber solche Wunder gibt es nicht, Markus.«
Markus lachte.
»Wunder gibt es immer wieder, Tina. Man muss nur daran glauben. Es gibt zum Beispiel das Wunder der Liebe. Tina, ich habe mich in dich verliebt und möchte mit dir durch das Leben gehen.«
Tina lächelte. Sie streichelte ihm die Wange.
»Du bist sehr schnell entschlossen. Wir kennen uns doch erst kurz, erst seit vorgestern.«
»Was bedeutet Zeit? Ist es nicht so, dass man sich jeden Tag neu verlieben kann in den Menschen, der einem so wichtig ist. Jeder Tag ist ein neuer Tag, und jeder Tag, den man zusammen lebt, ist wieder ein Ja. Ja, ich will mit dir zusammen sein. Ja, ich liebe dich.«
»Das hast du schön gesagt, Markus. Es ist richtig. Jeder Tag ist ein neues Versprechen der Zusammengehörigkeit.«
Markus griff in die Hosentasche und umschloss mit seiner Hand eine kleine Schachtel. Er holte sie hervor und öffnete sie. Tina sah die beiden schmalen Goldringe im Samtkissen stecken.
»Tina, das soll dir sagen, dass es mir ernst ist. Ich liebe dich! Willst du meine Frau werden?«
Tina schaute ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen an. Markus’ Herz klopfte, als würde es ihm jeden Augenblick die Brust sprengen.
»Tina, liebst du mich nicht? Deine Küsse …«
»Pst!« Tina legte ihre Finger über seine Lippen.
»Doch, Markus, ich liebe dich! Seit dem ersten Blick in deine Augen, dort drüben am Geländer, ist es um mich geschehen. Ja, ich liebe dich!«
Markus strahlte. »Ich liebe dich, Tina. Willst du meine Frau werden?«
Tina griff nach dem Kästchen und machte es zu.
»Es ist zu früh dazu, Markus! Mein Herz ist nicht ganz frei. Da ist noch so viel Groll darin. Ich bin nicht wirklich ich. Alles wird überschattet von dem Verlust meiner Heimat. Ich muss erst wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. Das bedeutet nicht Nein. Es heißt aber auch nicht Ja. Es ist kompliziert für mich, Markus. Kannst du mir vielleicht irgendwann später noch einmal die Frage stellen? Bis dorthin bitte ich dich, Geduld zu haben. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange.«
Tinas Augen wurden feucht. Sie kuschelte sich an ihn.
»Markus, jede junge Frau träumt von ihrer Hochzeit. Sie malt sich aus, wie der schönste Tag in ihrem Leben sein sollte. Ich stellte mir immer vor, hier in Waldkogel zu heiraten. Zuerst würde ich mit meinem Bräutigam im Rathaus am Marktplatz von Bürgermeister Fellbacher standesamtlich getraut. Dann würde ich am Arm meines Liebsten über die Straße zur Kirche schreiten. Die Kirche wäre gefüllt bis auf den letzten Platz, und in den Seitengängen drängten sie sich eng zusammen. Pfarrer Zandler würde uns Brautleuten den kirchlichen Segen geben. Meine Mutter und mein Vater, alle meine Verwandten und Freunde würden auf der einen Seite des Mittelgangs sitzen und die Familie meines Mannes, seine Verwandten und Freunde auf der anderen Seite, so wie es Brauch ist.«
Tina wischte sich die Tränen ab.
»Markus, diesen Traum wird es nie geben. Auch davon muss ich Abstand nehmen. Verstehst du? Ich habe viel mehr verloren, als ich es mit Worten sagen kann. Irgendwie habe ich dabei mich verloren.«
Markus bedeckte Tinas Gesicht mit Küssen.
»Es tut mir so unendlich leid, dass ich dir keine andere Antwort geben kann, Markus«, schluchzte sie.
»Ich liebe dich, Tina. Lieben bedeutet Verständnis für den Menschen aufzubringen, den man liebt. Ich werde für dich da sein, mit all meiner Geduld und meiner Liebe. Ich will dir helfen, eine Heimat zu finden. Du sollst davon träumen, mit mir vor den Altar zu treten, wo immer es auch sein wird. Ich liebe dich so, Tina. Ich verstehe, dass du dich selbst wieder finden musst. Lass mich dir dabei helfen. Nimm meine Liebe an, Tina. Ich werde immer für dich da sein und werde dich glücklich machen. Du wirst wieder eine Heimat haben.«
Er schob seine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf zu ihm hoch.
»Schau mir in die Augen, Tina.«
»Ja, Markus!«
»Tina, du sagst mir, wann ich dich wieder fragen darf?«
»Ja, Markus, ich sage es dir! Hebe die Ringe gut auf. Sie sind wunderschön.«
Er steckte die kleine rote Schachtel wieder in seine Hosentasche. Dann nahmen sie sich fest in die Arme und küssten sich lange und innig.
»Du bist ein wunderbarer Mann, Markus. Ich bin glücklich, dir begegnet zu sein. Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich, Tina. Ist alles wieder gut?«
»Ja, Markus! So wie es ist, ist es gut, und irgendwann eines Tages wird es noch besser sein. Gib mir nur noch etwas Zeit. Schau, ich habe keine Wohnung, ich habe nichts! Meine Aussteuer ist auch fort. Ich habe nur etwas Gespartes auf der Bank.«
Markus lächelte.
»Auf Geld kommt es mir nicht an. Für mich zählt nur die Liebe.«
»Das hast du schön gesagt. Aber weißt du, ich bin ein Madl aus den Bergen und so erzogen worden, dass man, wenn man heiratet, eine Aussteuer mit in die Ehe bringt. Das ist wichtig.«
»Pst, Tina! Das wird sich alles finden. Alles wird gut werden. Ich werde dir ein schönes Heim bereiten, dir wird es an nichts fehlen.«
Tina löste sich von Markus.
»Ich weiß wenig von dir, deiner Familie, deinem Beruf.«
Markus lachte.
»Ich bin Metzgermeister und habe ein Studium als Betriebswirt daran gehängt. Ich habe einen schönen Posten, krisensicher und kann eine Familie ernähren. Ich habe einen Bruder. Er ist verheiratet und hat schon zwei Kinder, die in die Schule gehen. Meine Eltern sind wunderbare Menschen. Wir leben alle zusammen in einem großen Haus und verstehen uns gut.«
»Das hört sich an wie mein Traum. Ich träumte davon, mit meinem Mann und meinen Eltern auf dem Gerstmair Hof zu leben. Unsere Kinder sollten dort aufwachsen, so wie ich dort groß geworden bin. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit in Waldkogel. Wir waren immer draußen, die Buben und Madln. Wir gingen in die Berge oder schwammen im Bergsee.«
Markus wechselte das Thema.
»Ich habe dir noch nicht erzählt, warum ich meinen Urlaub unterbrochen habe? Willst du es wissen?«
Tina nickte.
»Ich bin heimgefahren, um meinen Eltern von dir zu erzählen. Das war der Grund. Sie freuten sich sehr, dass ich dich gefunden habe und wollen dich bald kennenlernen.«
Markus sah Tina in die Augen.
»Ich habe ihnen auch von deinem Leid erzählt. Sie sind ganz auf deiner Seite. Sie haben dich jetzt schon ins Herz geschlossen. Ich soll dich vielmals grüßen. Sie wissen, dass ich dir einen Antrag machen wollte.«
Markus lächelte.
»Besonders meine Mutter freut sich auf dich. Sie hatte sich immer noch eine Tochter gewünscht. Sie ist mit Eva, der Frau meines Bruders, ein Herz und eine Seele. Sie wird dir eine wirklich liebe Freundin sein, keine böse Schwiegermutter. Da kannst du dir völlig sicher sein.«
»Klingt wie ein Traum! Vielleicht stimmt das Sprichwort doch.«
»Welches meinst du?«
»Das mit der Tür und dem Fenster!«
»Es stimmt bestimmt, und es sind keine kleinen Fenster, sondern riesige Panoramafenster, die ich für dich bestelle und einsetzen lasse.«
»Ich will keine Panoramafenster. Dann müsste ich immer denken, wie schön es wäre, hinauszusehen und die Berge, meine Berge zu sehen.«
»Gut, dann kleine Fenster. Ganz wie du willst! Dein Wunsch ist das Einzige, was für mich zählt, Tina.«
»Du bist ein Schatz!«
Sie küssten sich.
»Wie lange hast du Urlaub?«
»Ich wollte zwei Wochen bleiben!«
»Wir machen uns eine schöne Zeit. Ich zeige dir all die Plätze, die ich liebe. Waldkogel und die Berge sind wunderschön. Wenn ich später einmal davon erzähle, dann musst du wissen, wovon ich rede, Markus.«
»Vergiss nicht, ich liebe Waldkogel auch sehr. Ich hatte sogar daran gedacht, später einmal meinen Lebensabend hier zu verbringen, mir eine Almhütte zu kaufen. Ich habe Toni schon davon erzählt.«
»Bis dorthin ist noch lange! So weit kann ich nicht denken, Markus. Ich bin froh, wenn ich die Kraft finde, die nächsten Wochen durchzustehen.«
»Das wirst du! Ich gebe dir mit meiner Liebe Kraft. Vertraust du mir?«
»Ja, Markus! Ich vertraue dir!«
Sie küssten sich.
Inzwischen war es dunkel geworden. Die Sterne standen am Nachthimmel, und der Mond leuchtete.
»Was für eine romantische Nacht! Spürst du den Frieden in deinem Herzen, Tina?«
»Wenn ich bei dir bin, spüre ich ihn. Ich bin glücklich in deiner Nähe.«
»Das freut mich. Ich will auch nichts anderes, als dich glücklich machen, Tina, Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich, Markus!«
Sie küssten sich wieder.
»Markus, lass uns zurückgehen. Toni und Anna wollen mit den Kindern morgen einen Ausflug machen. Ich habe angeboten, Alois bei der Bewirtung der Hüttengäste zu helfen. Toni und Anna wollen in Ruhe mit Franziska über diese falsch adressierten Briefe reden.«
»Ja, das ist eine seltsame Verwechselung. Toni hat mir davon erzählt. Gut, dann gehen wir! Ich kann auch auf der Berghütte helfen.«
Sie gingen zurück zur Berghütte.
An diesem Abend verabschiedete sich Tina mit einem innigen, leidenschaftlichen Gutenachtkuss, bevor sie in ihre Kammer ging.
»Bist ja schon ein Stückerl weitergekommen, Markus.«
»Ja, das bin ich, Toni. Ja hat Tina noch nicht gesagt. Aber sie liebt mich. Ich liebe sie. Ich werde ihr Zeit geben. Jetzt sind wir erst einmal zusammen auf der Berghütte. Ihr macht morgen den Ausflug. Die Tage danach unternehmen Tina und ich lange Wanderungen. Ich denke daran, auch mal in einer Schutzhütte zu übernachten oder im Freien zu biwakieren.«
Toni schmunzelte.
»Ich verstehe! Ich werde euch eine Ausrüstung zusammenstellen. Dann schlafe gut und träume von deiner Tina.«
»Das werde ich, Toni! Vielen Dank für deine Hilfe.«
»Das habe ich gern getan! Außerdem hast du mich bestochen mit der Fisch-Delikatessenabteilung.«
Sie lachten. Markus ging in seine Kammer. Toni löschte das Licht im Wirtsraum der Berghütte und ging auch schlafen.
*
Tina und Markus verbrachten herrliche Tage und Nächte in den Bergen und kamen sich dabei so nah, wie es Ehepaare sind. Eines Tages, gegen Ende des gemeinsamen Urlaubs, wartete Markus’ ganze Familie auf der Berghütte. Seine Eltern, sein Bruder mit seiner Familie, kamen gerade von einer Wanderung.
Markus lachte.
»Konntet ihr nicht warten? Seid neugierig gewesen auf meine Tina, wie? Also, das ist die Frau, die ich liebe oder wie man hier in den Bergen sagt, das Madl meines Herzens.«
Markus’ Familie nahm Tina voller Herzlichkeit in ihrer Mitte auf.
»Markus, du hast eine gute Wahl getroffen«, sagte sein Vater.
»Freut mich! Aber auch wenn dir Tina nicht gefallen würde, würde ich an ihr festhalten. Ich liebe sie sehr und ich hoffe …« Markus legte Tina den Arm um die Schultern, »ich hoffe, dass sie bald zustimmt, meine Frau zu werden.«
»Ihr seid noch nicht verlobt?«, fragte Markus’ Neffe vorwitzig. »Tina, warum magst du meinen Onkel Markus nicht?«
Alle mussten laut lachen.
Tina errötete tief. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte Markus ins Ohr: »Jetzt kannst du mich noch einmal fragen.«
Markus hob Tina hoch und wirbelte sie herum.
»War das ein Ja, Tina?«
»Ja, es ist ein Ja!«
»Habt ihr das gehört! Tina will mich heiraten!«
Markus stellte Tina wieder auf die Füße. Er legte die Hände wie ein Trichter um den Mund und rief laut: »Tina wird meine Frau!«
Das Echo kam zurück.
Markus holte die Ringe. Er ergriff den kleineren und nahm Tinas Hand. Er streifte ihn ihr über.
»Tina, ich liebe dich! Du machst mich zum glücklichsten Burschen der Welt!«
Tina nahm den anderen Ring und steckte ihn Markus an den Finger.
»Ich liebe dich, Markus! Ich bin sicher, dass ich mit dir sehr glücklich sein werde. Ich habe neue Träume.«
Sie küssten sich. Dann nahmen sie die Glückwünsche der Familie entgegen. Toni, Anna, der alte Alois, Franziska und Sebastian beglückwünschten sie ebenfalls. Alois spendierte eine Flasche seines besten selbstgebrannten Obstlers, und sie stießen auf das junge Paar an.
Anschließend feierten sie auf der Berghütte die Verlobung der beiden.
»Was für neue Träume hast du, Tina?«, fragte Sophie Brunner.
»Neue Träume, wie ich mir meine Hochzeit vorstelle. Ich malte mir früher immer aus, wie es sein würde, in Waldkogel zu heiraten. Doch davon habe ich mich verabschiedet. Es gibt auch andere schöne Kirchen.«
Toni, der am Tisch dabei saß, schüttelte den Kopf.
»Tina, ich denke anders darüber. Du solltest Waldkogel nicht so den Rücken kehren. Heirate hier! Zeige allen, dass du dein Glück gefunden hast. Außerdem weiß jeder in Waldkogel vom Streit mit deinen Eltern. Deine Freundin Ines hat es überall herumerzählt. Alle sind empört und stehen auf deiner Seite. Sie werden die Kirche füllen und dir ihren Segen zu deinem neuen Lebensglück geben. Heirate hier, Tina. So kannst du Waldkogel mit einer schönen Erinnerung verlassen.«
»Toni, wie soll das gehen? Es wäre doch nur zur Hälfte so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich dachte immer, ich feiere meine Hochzeit mit Musik und Tanz auf dem Gerstmair Hof.«
Tina schwieg einen Augenblick. Sie wusste schon seit einer Woche, dass er verkauft war. Toni hatte es ihr gesagt. Es hatte sich schnell in Waldkogel herumgesprochen.
Tina straffte die Schultern, atmete tief durch und kämpfte gegen ihre Verlustgefühle an.
Toni legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Tina, dann feiert ihr eben im Sportheim, oder bei meinen Eltern im Wirtshaus, oder bei deiner Freundin Ines auf dem Hof. Sie wird doch sicherlich deine Trauzeugin, oder? Wir halten alle zusammen und organisieren dir die schönste Hochzeit, die du dir vorstellen kannst.«
»Das ist eine wunderbare Idee, Toni«, stimmte Anna zu.
Sie wandte sich an Tina.
»Du musst dich um nichts kümmern, das verspreche ich dir. Nimm es einfach an, als Hochzeitsgeschenk aller deiner Freunde in Waldkogel.«
Markus schaute Tina an.
»Tina, es wäre auch gut für dich! Dann kannst du dir immer sagen, ich bin nicht fortgelaufen. Ich habe geheiratet und bin meinem Mann gefolgt. Dann kannst du wirklich mit der Sache abschließen.«
Tina zögerte einen Augenblick. Es war ganz still am Tisch.
»Gut!«, sagte Tina leise. »Dann wollen wir es so machen. Wir heiraten in Waldkogel. Wann?«
»Am nächsten Wochenende!«, verkündete Markus.
»So schnell? Bekommen wir das alles organisiert?«, fragte Tina.
»Tina, kein Wort mehr!«, tadelte sie Anna im Scherz. »Ich sagte doch, deine Freunde organisieren euch die Hochzeit. Keine Fragen! Keine Sorgen! Es wird sehr schön werden.«
»Wie ist das auf dem Land? Fährt das Brautpaar in einer Kutsche voraus und dahinter wird ein Wagen gezogen mit der Aussteuer der Braut? Ich habe so etwas einmal in einem Film gesehen«, sagte Eva.
Ein Schatten huschte über Tinas Gesicht.
»Früher war es so Tradition. Die wollte ich bei meiner Hochzeit wieder aufleben lassen. Aber meine Aussteuer ist verloren, wie ihr wisst.«
»Wir holen sie dir!«, sagte Toni. »Deine Eltern müssen sie uns geben, wenn wir sie einfordern.«
Tinas Augen leuchteten.
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein! Einen Teil der Aussteuer hat noch meine Großmutter mir gekauft. Ich hänge sehr daran.«
Toni klopfte auf den Tisch.
»Dann ist alles geregelt. Morgen früh gehe ich mit euch zum Fellbacher. Das Aufgebot wird bestellt, und ich fange gleich mit der Organisation an«, verkündete Toni.
»Und Eva und ich fahren danach mit Tina nach Kirchwalden und kaufen das Brautkleid«, sagte Markus’ Mutter. »Du, Hans, und du, Gerold, ihr kauft mit Markus den Anzug und kümmert euch um die Zimmer für die Hochzeitsgäste. Schickt telegrafische Einladungen an alle!«
Sie besprachen noch weitere Einzelheiten. Dann machte sich Tina mit Markus und seiner Familie auf den Heimweg. Toni begleitete sie in der Dunkelheit bis zur Oberländer Alm. Tina und Markus würden die Tage bis zur Trauung mit Markus’ Familie im Hotel »Zum Ochsen« wohnen.
Langsam stieg in Tina der Verdacht auf, dass Markus und seine Familie vermögend waren. Sie stellte aber keine Fragen. Es war ihr auch nicht wichtig. Für Tina zählte nur die Liebe und dass Markus Familie so freundlich und lieb zu ihr waren und sie mit offenen Armen aufgenommen hatten.
*
Bürgermeister Fritz Fellbacher traute Tina und Markus. Anschließend schritten sie Arm in Arm über die Straße und betraten die schöne Barockkirche von Waldkogel. Die Orgel spielte. Alle waren gekommen. Das Brautpaar sah wunderbar aus. Tina trug ein knöchellanges weißes Brautkleid aus reiner, schwerer Seide im Landhausstil. Markus sah in seinem dunkelgrünen Lodenanzug aus feinstem Tuch wie ein Bursche aus den Bergen aus. Das war er auch, denn alle hatten ihn in ihre Herzen aufgenommen.
Vorne in der ersten Reihe saßen Tinas Eltern. Ihre Mutter wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ihr Vater schnäuzte in sein Taschentuch. Tinas Herz klopfte, als sie ihre Eltern sah. Markus hielt sie fest, als sie vor Überraschung und Freude schwankte.
Pfarrer Zandler hielt eine ergreifende Predigt. Er sprach davon, dass Menschen trotz der Liebe, die sie für einander empfinden, Fehler machen würden, oft auch aus falschverstandener Rücksichtnahme.
»Doch zur Liebe gehört das Verzeihen und immer wieder ein neuer Anfang, ohne Groll und Bitternis und dem Vorrechnen und Aufzählen der Fehler!«
Das gab er dem jungen Paar mit auf den Weg.
Die Botschaft war bei Tina angekommen.
Als sie sich mit Markus nach den Trausegen erhob, führte sie ihn zu ihren Eltern. Es war still in der Kirche.
»Mutter, Vater, das ist Markus, mein Mann. Ich liebe ihn über alles. Wenn ihr nicht die Idee gehabt hättet, den Hof zu verkaufen, dann wäre ich nicht in die Berge geflüchtet und wäre Markus nicht begegnet. So hatte vielleicht alles einen höheren Sinn.«
»Werde glücklich, Tina! Bist uns nimmer böse?«, fragte Tinas Vater mit bebender Stimme.
»Böse? Nein, was ist ein Hof gegenüber einem Menschen, der einen liebt? Ich werde sehr glücklich sein und hoffe, ihr werdet es auch sein – ohne den Gerstmair Hof.«
Sie umarmten sich und drückten Markus ebenso. Beifall erfüllte das Gotteshaus. Alle freuten sich mit dem jungen Paar. Viele trieb die Versöhnung die Tränen in die Augen.
»Kommt ihr mit? Ich weiß leider nicht, wo wir feiern. Es soll eine Überraschung für mich sein.«
Ihre Eltern lächelten.
»Danke für die Einladung. Wir kommen gern mit!«
Tinas Eltern reihten sich hinter dem Brautpaar ein, und sie verließen die Kirche.
Draußen wartete eine Kutsche mit vier Schimmeln. Sie war mit roten Rosen geschmückt.
»Ist das schön, Markus!«, flüsterte Tina glücklich.
Markus half ihr in die Kutsche.
»Wo fahren wir hin, Markus?«
»Lass dich überraschen.«
Tinas Herz klopfte. Die Gedanken hämmerten in ihrem Kopf. Plötzlich erkannte sie, dass sie auf dem Weg zu ihrem Elternhaus waren. Sie ergriff Markus’ Hand.
»Das ist der Weg zum Gerstmair Hof«, flüsterte sie leise.
Markus lächelte sie an. »Du irrst, Tina. Es ist nicht mehr der Gerstmair Hof. Es ist der Brunner Hof, meine liebe Ehefrau Tina Brunner.«
Tina schaute Markus mit großen Augen an. Dieser griff in die Innentasche seines Jacketts.
»Das ist mein Geschenk für dich! Der Brief erhält nur eine Kopie. Das Original liegt im Safe. Im Grundbuch ist es heute eingetragen worden. Der Hof gehört dir, Tina. Ich schenke ihn dir zur Hochzeit.«
»Mein Hof, meine Heimat! Aber wie hast du den Käufer überredet, ihn dir zu verkaufen? Er hatte ihn doch erst erstanden.«
Markus lachte.
»Es war mein Bruder! Es war ein Komplott, das ich mit meiner Familie ausgeheckt hatte, als ich daheim war. Deine Eltern sollten nicht wissen, dass der Hof ein Geschenk für dich ist und du auch nicht. Verstehst du?«
»Mir dreht sich alles im Kopf, Markus! Halte mich fest!«
Sie kamen zum Brunner Hof. Markus half Tina aus der Kutsche.
»Endlich wieder daheim!«, seufzte sie glücklich. »Markus, können wir die Hochzeitsreise absagen und hierbleiben?«
»Wir müssen die Hochzeitsreise nicht absagen, Tina. Wir werden unser ganzes Leben hier verbringen.«
»Markus, Markus, heißt das, wir wohnen hier?«
Markus gab Tina einen Kuss.
»Ja, wir werden hier leben und unsere Kinder werden hier aufwachsen. Du wirst deinen Traum leben, genauso wie du ihn dir vorgestellt hast.«
»Aber deine Arbeit?«
»Es gibt vieles, was du noch nicht weißt.«
Markus lüftete jetzt mit kurzen Worten alle Geheimnisse.
»Einzelheiten später, jetzt wird gefeiert«, sagte er.
»Ja, jetzt feiern wir ein Fest, wie ich es mir immer gewünscht habe.«
Tina betrachtete den Hof, der festlich geschmückt war. Tische und Bänke waren aufgestellt. Es gab einen Tanzboden und Musiker, die auf einem Podium saßen.
»Oh, Markus! Mein Leben hat doch ein Panoramafenster auf die Berge.«
»Ja! Ich liebe die Berge genau wie du. Wir werden hier sehr glücklich sein.«
Sie nahmen sich in die Arme und küssten sich. Dann warf Tina einen glücklichen Blick hinauf zum Gipfelkreuz des »Engelssteigs« und schickte still ein inniges Dankgebet hinauf.
Es wurde gefeiert bis tief in die Nacht. Es war ein wunderschönes Fest, und Tina war sehr glücklich. Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, sagte Markus: »Darf ich jetzt Frau Brunner über die Schwelle des Brunner Hofs tragen?«
»Ja«, flüsterte Tina glücklich.
Am nächsten Tag fuhren sie in die Flitterwochen. Als sie nach sechs Wochen zurückkamen, waren der Ausbau, der Anbau und das neue Dach fertig. Sie weihten den Laden für Wurst- und Fleischwaren und Delikatessen ein. Er war die Keimzelle weiterer größerer Läden im Süden des Landes.
In den folgenden Jahren wurden Tina und Markus glückliche Eltern von zwei Mädchen und zwei Jungen, die prächtig gediehen und ihren Eltern viel Freude machten.