Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 15

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Toni kam mit Bello von der Oberländer Alm herauf. Auf dem Geröllfeld nahm er dem Hund die Packtaschen ab und ließ ihn laufen. Mit großen Sprüngen spurtete der junge Neufundländerrüde zum nahen Gebirgsbach und stürzte sich ins Wasser. Toni und Anna standen auf der Terrasse der Berghütte und schmunzelten.

Anna griff nach den Packtaschen mit dem Vorräten.

»Lass das doch, Anna. Wir packen später aus. Im Augenblick sind keine Hüttengäste hier und wir können uns ungestört unterhalten.«

Toni ließ seinen Rucksack vom Rücken gleiten. Aus der Vordertasche nahm er einen großen hellbraunen Umschlag.

»Schon wieder ein Brief an Franzi?«, fragte Anna und runzelte die Stirn.

»Ja, Franzi hat wieder Post bekommen.«

Toni reichte Anna den Umschlag. Sie setzen sich zu Alois, der an einem der Tische saß und noch seinen Kaffee trank. Anna zeigte Alois den Umschlag.

»Der schaut genauso aus wie die anderen beiden. Und wieder ist kein Absender darauf.«

»Richtig, Alois! Der Umschlag schaut genauso aus, die gleiche Handschrift. Abgeschickt wurde er in Kirchwalden.«

Toni nahm Anna den Umschlag ab und öffnete ihn. Er holte einen Brief heraus und ein kleines Kästchen, das in buntem Papier mit einer Schleife eingepackt war. Anna packte das Geschenk aus. In dem Kästchen war ein kleiner goldener Anhänger.

»Jetzt haben wir schon drei Stück davon, einen kleinen Schornsteinfeger, ein Hufeisen und dieses Mal ist es ein kleines Herz. Des wird ja immer sonderbarer. Da müssen wir etwas tun! Vielleicht soll ich mal mit dem Wolfi reden?«

»Toni, warte, vielleicht steht etwas in dem Brief! Außerdem, was soll da die Polizei tun?«

Anna riss das Kuvert auf und faltete das Blatt auseinander.

»Da steht der gleiche Text wie in den beiden letzten Briefen.«

Anna las laut vor:

Liebe Franzi! Ich denke jeden Tag an dich und schicke dir als Zeichen meiner Liebe einen kleinen Anhänger. Ich hoffe, er gefällt dir. Ich warte auf dich! Dein Berni

»Himmel! Ganz allmählich wird mir des unheimlich, Anna. In den letzten Wochen ist jede Woche so ein Umschlag gekommen. Was für ein Glück, dass wir den ersten aufgemacht haben. Nur so konnten wir die Sache vor der Franziska verbergen. Doch jetzt habe ich die Faxen dick, Anna. Normal ist des net! Wer kann nur dieser Berni sein?«

»Toni, ich weiß es nicht! Ich habe schon vorsichtig mit Franziska gesprochen. Sie kennt keinen Berni. Und in der Schule gibt es auch keinen Berni. Wir haben mit deiner Mutter und deinem Vater geredet. Niemand kennt jemanden, der Berni heißt und die Franzi gerne sieht.«

»Anna, unsere Franzi ist noch ein Kindl! Ein kleines Madl ist sie!«

Anna schmunzelte.

»Sicher, Toni, aber auch unter Kindern gibt es die erste zarte Liebe. Hast du als junger Bub nicht für jemanden geschwärmt?«

Toni grinste. Er rieb sich verlegen das Kinn.

»Ja, schon!«, brummte er.

»So, so! Wer war sie denn?«

»Sie hieß Pia und war ein Feriengast bei meinen Eltern in der Pension. Sie war mit ihrer Tante in die Berge gereist. Sie war nur zwei Wochen geblieben. Eigentlich war sie mehr mit meiner Schwester Maria befreundet. Die Mädchen verstanden sich gut. Ich war mehr oder weniger das fünfte Rad am Wagen. Aber sie gefiel mir. Es war das erste Mal, dass ich mich für das andere Geschlecht interessierte und einem Madl schöne Augen machte oder es wenigstens versuchte.«

»Siehst du! Und wie hat sie reagiert?«

»Pia war etwas ruppig. Aber damals dachte ich, sie mag mich. Ich pflückte ihr Blumen und legte sie vor ihre Tür.«

»Toni, der Blumenkavalier!«, lachte Anna. »Wie hat sie es aufgenommen?«

»Mei, ich dachte mir, damit erobere ich ihr Herz. Die Blumen hat sie genommen, aber für einen Kuss hat es nicht gereicht. Sie war nie alleine. Dabei wollte ich sie nur auf die Wange küssen.«

Anna machte eine gespielt anteilsvolle Miene.

»Du armer Toni, bist du so enttäuscht worden? Was du nicht sagst! Du musst ja ganz schön unter Liebeskummer gelitten haben.«

»Naa, des habe ich net. Ich war von den Madln erst mal geheilt. Ich dachte mir, die sind alle zu zickig.«

»Es gibt bei Mädchen ein Alter, in dem sie sehr zickig sind.«

Anna lachte. Sie erinnerte sich genau, wie es damals bei ihr und ihren Freundinnen war. Sie fanden Jungs eklig und schworen heilige Eide, sich nie und nimmer mit einem Jungen einzulassen.

»Ich kann dich trösten, Toni, diese Zeit geht auch vorbei, sonst wäre die Menschheit schon ausgestorben. Madln sind in der Entwicklung etwas früher dran und bei ihnen läuft die Pubertät etwas komplizierter ab. Da bleiben sie gern unter sich. Als ich in diesem Alter war, da wusste ich nichts, über was ich mit einem Buben reden sollte. Mit meinen Freundinnen redete ich über Mode, Kosmetik oder über Tiere. Wir liebten alle Hunde und trafen uns regelmäßig im Reitstall. Die Jungs, die redeten über Fußball. Einmal bekam ich eine Einladungskarte zu einem Spiel geschickt. Ich schickte sie zurück. Der Junge war wohl sehr enttäuscht, aber ich hatte kein Interesse an Fußball.«

»Aber sonderbare Umschläge mit kleinen Anhängern hast nicht bekommen, wie?«

»Nein, Toni! Ich kann mich auch nicht erinnern, dass eine meiner Schulfreundinnen einen solchen Brief bekommen hätte.«

»Himmel! Wer kann nur dahinterstecken? Wir müssen das unbedingt herausfinden, Anna. Des kann gefährlich für die Franzi werden! Am Ende steckt da ein übler Kerl dahinter.«

»Das glaube ich nicht, Toni. Aber wenn es dich beruhigt, dann sollten wir überlegen, ob wir Sebastian ins Vertrauen ziehen. Er kann noch mehr als gewöhnlich ein Auge auf seine jüngere Schwester haben.«

Toni rieb sich da Kinn.

»Des wäre zu überlegen. Aber beunruhigen will ich den Bub auch nicht. Meinst net, es wäre besser die Angelegenheit mit dem Gewolf Irminger zu bereden? Als Leiter der Polizeistation ist er bestimmt auch in solchen Dingen geschult und kann uns raten.«

Anna streichelte Tonis Wange.

»Wenn es dich beruhigt, Toni, dann rede mit ihm.«

Toni dachte einen Augenblick nach.

»Das werde ich tun. Wo hast die anderen Umschläge?«

»Ich habe sie in unserem Kleiderschrank versteckt. Ich hole sie dir!«

Anna ging hinein. Der alte Alois schaute Toni nach.

»Mei, Toni, mache dir net so viele Gedanken. Die Franzi und der Basti sind jeden Tag nach der Schule bei deinen Eltern in der Pension zum Mittagessen. Vielleicht ist es mit Franzis heimlichem Verehrer genauso wie bei dir damals und der Pia.«

»Naa, Alois! Ich hab’ doch schon mit den Eltern geredet. Wir sind zusammen die Namensliste durchgegangen. Seit Monaten gab es keine Pensionsgäste, die einen Buben hatten, der Berni oder Bernhard geheißen hat. Auch bei den etwas älteren Jugendlichen ist niemand mit diesem Namen dabei gewesen. Mei, Alois, ich kann mir darauf einfach keinen Reim machen. Ich bin eben besorgt. Da läuft irgendwo jemand herum, der hat ein Auge auf die Franzi geworfen. Ich weiß nicht, wie er mit Familiennamen heißen tut, wer er ist, wo er wohnt und wie alt er ist. Was denkt er sich dabei? Alois, ich kann deswegen schon nimmer schlafen. Des musst mir glauben. Ich sorg’ mich um die Franzi.«

»Dass dich sorgen tust, des ist dein gutes Recht als Vater. Dass du der Franzi ihr Adoptivvater bist, macht dir die Sache nicht leichter, denke ich. Im Gegenteil, du bist vielleicht sogar noch mehr besorgt.«

»Bist du net besorgt?«, fragte Toni den alten Alois.

»Sicher beschäftigt mich des auch. Aber allzu überbewerten solltest des net. Wir hatten Kirchweih, die Kinder haben mit anderen Kindern gespielt. Die Franzi und der Basti gehen zum Grafen und lernen ein Instrument. Dort treffen sie auch auf Gleichaltrige in der Musikklasse. Vielleicht gehört dieser Berni zu den jungen Musikern, um die sich Tassilo kümmert. Hast schon mit dem Grafen geredet?«

»Naa, des hab’ ich net, Alois. Aber des ist eine gute Idee. An die Möglichkeit habe ich noch net gedacht. Die Franzi geht net nur in die Musikschule im Waldschlösschen, sie geht auch reiten. Sie kann auch auf dem Reiterhof von diesem Berni aus Kirchwalden gesehen worden sein. Enger bekannt scheinen die beiden net zu sein. Die Franzi würde uns des sagen, wenn sie einen Berni kennt.«

Der alte Alois grinste.

»Da kannst dir nicht ganz sicher sein, Toni. Irgendwann haben alle Kinder mal Geheimnisse vor ihren Eltern. Des gehört dazu, wenn sie langsam erwachsen werden. Madln und Buben bereden dann die Sache mit ihren Freundinnen und Freunden.«

»Forsthaus!«, sagte Toni laut.

Anna kam an den Tisch und legte Toni die beiden anderen Umschläge hin.

»Forsthaus? Was ist damit, Toni?«, fragte Anna.

»Anna, der Alois hat mich auf Ideen gebracht. Ich sollte mich vielleicht mal mit dem Hofer unterhalten. Die Franzi ist mit der Ulla befreundet und der Basti mit dem Paul. Die Kinder sind mindestens einmal in der Woche bei ihren Freunden im Forsthaus. Vielleicht kann ich dort etwas über diesen Berni herausfinden. Ich will auch noch auf den Reiterhof und in die Musikschule. Anna, ich will wissen, wer dahinter steckt!«

Anna lächelte Toni an.

»Dann nimmst jetzt die Umschläge und machst dich auf den Weg. Du gehst zuerst zum Forsthaus und redest mit dem Lorenz und der Lydia. Vielleicht wissen die beiden etwas. Dann fährst zum Waldschloss. Wenn der Graf nicht da ist, dann redest mit der alten Zenzi. Sie weiß immer alles.«

»Ja, und sage der alten Zenzi einen schönen Gruß von mir, Toni«, warf der alte Alois ein.

»Das werde ich tun, Alois.«

Toni trug die Packtaschen und den Rucksack in die Küche der Berghütte. Dann machte er sich auf den Weg. Anna stand auf der Terrasse der Berghütte und schaute ihm nach.

»Du schmunzelst, Anna. Was denkst du?«

»Ach, Alois! Der Toni redet seit drei Wochen von nix anderem mehr, als von den Briefen – morgens – mittags – abends – nachts.«

»Ich weiß, er ist eben sehr besorgt.«

»Ja, das ist er. Aber ist das nicht übertrieben?«

»Die Frage kann ich dir net beantworten, Anna. Es kann ein bisserl übertrieben sein. Aber die Welt ist leider nimmer so sicher, wie sie einmal war, Anna. Da muss man schon ein bisserl aufpassen.«

»Ich weiß, Alois! Doch vielleicht sollte man die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Ich hatte so gehofft, dass sich die Angelegenheit klärt und kein Brief mehr kommt. Vielleicht gibt der Absender auf, der in die Franzi verliebt ist? Des muss ihm doch zu denken geben, wenn er auf seine schönen Geschenke keine Antwort erhält.«

»Was für eine Antwort?«, fragte Alois. »Auf den Briefen steht kein Absender.«

»Sicher, Alois, aber die Franzi könnte die Anhänger an einem Armband tragen. Dafür sind so kleine Anhängsel. Vielleicht wartet der Bub darauf, bis er die Franzi mal mit den Anhängern sieht.«

»Des ist gut möglich, Anna. Aber dann müsste der Bub aus Waldkogel sein oder regelmäßig irgendwie mit Franzi zusammen treffen.«

»Doch in der Beziehung tappen wir total im Dunkeln. Es ist, als suchten wir die berühmte Stecknadel im Heuhaufen, Alois. Ich mache mich auch schon verrückt. Toni steckt mich mit seiner Besorgnis an.«

»Des bringt alles nix! Ihr müsst einen kühlen Kopf bewahren, dürft net so viel hineindenken und hineinlegen. Es wird alles ganz harmlos sein, denke ich. Aber jetzt ist der Toni unterwegs und redet mit den Hofers. Er geht zum Waldschloss und zum Reiterhof. Irgendetwas wird schon dabei herauskommen. Und denke immer daran, Anna! ›In der Ruhe liegt die Kraft!‹ Ich denke, da ist ein kleiner Bub, dem die Franzi gefällt. Er hat aber net den Mut, sie anzusprechen, wie Toni damals die kleine Pia. Und jetzt hören wir auf, darüber nachzudenken, Anna. Wir gehen jetzt in die Küche und tun was arbeiten. Bis zum Mittag muss was auf dem Herd stehen! Der Toni wird erst am frühen Nachmittag aus Waldkogel raufkommen, frühestens. Aber wir beide, wir schaffen des schon.«

Der alte Alois und Anna gingen in die Küche.

»Ich schäle jetzt die Kartoffeln für die Rösti, Anna!«, sagte der alte Alois und begann.

Anna fuhr fort, andere Vorbereitungen für das Mittagessen zu treffen.

*

Pfarrer Zandler stand im Türrahmen der Küchentür des Pfarrhauses und beobachtete seine Haushälterin. Helene Träutlein saß am Küchentisch und schrieb in ein dickes Heft.

»Bist wieder am Schreiben, Träutlein?«

»Ja, Herr Pfarrer! Ich will alles genau aufschreiben, damit meine Vertretung genau weiß, wie sie Sie versorgen muss.«

Pfarrer Zandler lachte.

»Ich werde schon nicht unter die Räder kommen. Die vier Wochen gehen schneller vorbei, als man denkt.«

»Des sagt sich so leicht, Herr Pfarrer! Wenn es nach mir ginge, dann würde ich nicht in Kur fahren. So schlecht fühle ich mich nicht. Der Doktor übertreibt.«

Pfarrer Zandler, der Geistliche von Waldkogel, schmunzelte.

»Mei, Herr Pfarrer! Ich hatte einen Husten, hab’ eine Sommergrippe gehabt. Des kann doch mal vorkommen. Ich kann net verstehen, dass so ein Aufheben daraus gemacht wird. Besteht der doch darauf, dass ich in Kur gehe! Ich sage Ihnen, des ist Unsinn. Ich soll fort, fort aus Waldkogel. Dabei kommen die Leute hierher in die schönen Berge und erholen sich. Nirgends ist es schöner und die Luft besser als bei uns in Waldkogel.«

»Bist ganz schön grantig, Träutlein! Du hast seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Stimmt es?«

»Ich brauche keinen Urlaub. Und eine ruhige Minute habe ich weder in einem Urlaub, noch in dieser Kur. Ich kann alles noch so gut aufschreiben, Herr Pfarrer, es wird doch net so sein, wenn ich hier wäre.«

»Da magst schon Recht haben, Träutlein. Aber ich werde schon net untergehen. Wenn mir des Essen net schmeckt, dann gehe ich zu den Baumbergers und esse mich im Wirtshaus satt. Nun sei ganz beruhigt! Keine wird mich so gut umsorgen, wie du es machst, Träutlein. Aber wenn der Martin als Doktor sagt, dass du in Kur musst, dann musst Folge leisten. Da musst du dich fügen und ich auch. Der Martin ist ein guter und gewissenhafter Arzt, und gewissenhaft ist er.«

»Ja, ja! Ich weiß schon. Es ist doch nur so …«

»Himmel, jetzt ist aber Schluss! Du bringst es noch fertig, dass ich ärgerlich werde. Du reist morgen ab und hörst jetzt auf, dir Gedanken zu machen.«

Helene Träutlein machte ein schuldbewusstes Gesicht. Pfarrer Zandler sehnte die Stunde herbei, in der seine langjährige Haushälterin endlich abfuhr. Seit vier Wochen stand der Reisetermin zur Kur an der Ostsee fest. Seither hatte der Geistliche im Pfarrhaus keine ruhige Minute mehr. Helene Träutlein, die er meis­tens mit Träutlein ansprach, stellte das ganze Pfarrhaus auf den Kopf. Sie putzte, polierte, wusch alle Vorhänge und bohnerte die Dielen. Es war um ein vielfaches schlimmer, als würde man den Weihnachtsputz und die Frühjahrsputzerei zusammenlegen. Die letzten zwei Wochen hatte sich der Geistliche selten im Pfarrhaus aufgehalten. Er machte so viele Hausbesuche wie nie zuvor. Das Gejammer seiner Haushälterin nervte ihn sehr. Als kluger Kopf wusste er natürlich, was dahinter stand. Helene Träutlein wollte sich nichts nachsagen lassen und ihrer Vertretung keinen Anlass zur Kritik geben. Am meisten beunruhigte Helene Träutlein, dass sie ihre Vertretung nicht vor ihrer Abreise kennenlernen konnte. Sie hatte sich vorgestellt, dass die Vertretung vielleicht eine Woche vorher anreiste, damit sie ihr alles zeigen könnte.

Doch das hatte Pfarrer Zandler verhindert. Er hatte ausführlich mit der zuständigen Dame im Ordinariat gesprochen und sie gebeten, so zu tun, als könnte sie vorher niemand zur Verfügung stellen. Ebenso wenig wusste Helene Träutlein, dass sie auf das heimliche Betreiben des Pfarrers hin, von Doktor Martin Engler in Kur geschickt wurde.

Es war ein Komplott, das Pfarrer Heiner Zandler zusammen mit dem jungen Doktor Martin Engler ausgeheckt hatte. Diese Vorgehensweise war nach Pfarrer Zandlers Ansicht dringend notwendig, da Helene Träutlein sich seit Jahren geweigert hatte, ihren Urlaub zu nehmen. Sie nahm höchsten einmal einige Tage frei, um ihre Verwandten zu besuchen. Pfarrer Zandler stieß bei ihr immer auf taube Ohren, wenn er sie darauf ansprach, dass sie in Urlaub gehen sollte. Als sie dann zwei Tage mit hohem Fieber im Bett lag, witterte der Geistliche seine Chance. Er hatte den Doktor abends außerhalb der Sprechzeiten aufgesucht und mit ihm geredet. Martin hatte den Pfarrer sofort verstanden.

»Wenn sie auf Ihre Autorität nicht hört, dann werde ich mein Glück versuchen, Herr Pfarrer. Vielleicht können wir die gute Helene Träutlein auf diese Weise eine Weile zur Ruhe zwingen. Einen Versuch ist es allemal wert.«

Doktor Martin Engler hatte seine ganze ärztliche Autorität in die Waagschale geworfen. Er hatte Helene Träutlein zur gründlichen Untersuchung in die Praxis bestellt und sie mit vielen lateinischen Fachausdrücken überschüttet. Er hatte ein ernstes und besorgtes Gesicht gemacht.

»Sie wollen doch nicht, dass sie eines Tages für länger krank werden? Was soll unser guter Pfarrer dann machen?«

Helene Träutlein hatte sich unter stetigem Druck überreden lassen und zugestimmt, in Kur zu gehen an die Ostsee. Pfarrer Zandler hatte mit dem Ordinariat gesprochen, das für diese Zeit eine Vertretung senden würde. Und jetzt war es bald soweit. Helene Träutlein würde von Fritz Fellbacher mit dem Auto nach Kirchwalden zum Bahnhof gebracht werden.

»Ich mache noch einen Hausbesuch, Träutlein. Zum Abendessen bin ich wieder da! Und wenn ich komme, dann wünsche ich, dass du das Heft auf den Schreibtisch in meinem Studierzimmer gelegt hast.«

Helene Träutlein schaute ihren Chef mit großen Augen an.

»Ich weiß nicht, ob ich bis zum Abend damit fertig bin. Ich wollte die Listen und Anweisungen noch einmal genau durchgehen.«

»Man kann es auch übertreiben. Und du übertreibst es, Träutlein. Außerdem bist net aus der Welt. Wenn wirklich etwas schiefgehen sollte, dann kann ich dich in der Kur anrufen.«

»Ja, des dürfen Sie aber net nur so daherreden, Herr Pfarrer. Des müssen Sie mir versprechen.«

»Ich verspreche es! Und jetzt hörst auf, dir so viele Gedanken zu machen.«

Er drehte sich um und verließ das Pfarrhaus.

*

Pfarrer Zandler seufzte tief, aber es war ein Seufzer der Erleichterung, als er dem Auto des Bürgermeisters nachschaute. In einer Stunde wird sie im Zug sitzen und ihrer Kur entgegenfahren, dachte er. Er ging ins Pfarrhaus und trank erst einmal einen Obstler. So sehr er auch seine langjährige Haushälterin schätzte, so genervt war er gelegentlich von ihr. Sie war sehr tüchtig. Er konnte sich immer auf sie verlassen. Doch es kam immer öfters vor, dass sie zu Übereifer neigte und seine Ruhe störte.

Nach etwas über einer Stunde kam Fritz Fellbacher aus Kirchwalden zurück.

»So, Heiner! Sie sitzt im Zug!«

»Dem Himmel sei Dank! Es ist für mich auch bisserl wie in Urlaub, wenn sie nicht hier ist. Damit will ich nix gegen sie sagen, aber sie kann auch ganz schön nerven. Ich weiß, dass sie es net böse meint. Aber wenn sie ihre Putzwut bekommt, dann ist es nicht zum Aushalten mit ihr.«

Fritz Fellbacher und Rainer Zandler waren seit Kindertagen Freunde. Wenn sie alleine waren, duzten sie sich. Waldkogel war bei den beiden in guten Händen. Der Bürgermeister Fellbacher steuerte vom Rathaus aus die weltlichen und der Pfarrer von Kirche und Pfarrhaus aus die seelischen Belange der Waldkogeler. In vielen Dingen arbeiteten sie zusammen, denn Pfarrer Zandler gehörte auch zum Gemeinderat des Bergdorfes.

»Wann kommt die Vertretung?«, fragte der Bürgermeister.

»Heute Nachmittag! Sie ist ein junges Madl, so Mitte Zwanzig. Sie hat eine hauswirtschaftliche Ausbildung hinter sich und soll sehr tüchtig sein. Sie hat sogar schon als Vertretung im Hause des Bischofs mitgeholfen. Rosemarie Rankl heißt sie und wird Rosel gerufen.«

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Naa, wir haben nur einmal telefoniert! Ich freue mich darauf, einmal ein neues Gesicht um mich zu haben.«

»Das bringt dir auch etwas Abwechslung!«

»Ja, das stimmt, Fritz! Und ich bin mir sicher, dass sie ihre Sache gut macht.«

»Du darfst sie aber nicht so sehr loben, wenn Helene wieder zurück ist.«

»Bewahre, Fritz! Ich will mir doch keine neuen Probleme schaffen. Aber zu Klagen darf ich mich nicht hinreißen lassen. Sonst nimmt sich Helene Träutlein nie wieder auch nur einen einzigen freien Tag!«

»Des stimmt! Es ist wie in der Politik, ein gutes Mittelmaß ist gefragt. Ich werde dich die Tage mal besuchen. Dann werde ich die Neue kennenlernen.«

»Tue das, Fritz!«

Pfarrer Zandler brachte den Freund zur Haustür. Dann setzte sich der Geistliche in den Garten hinter dem Pfarrhaus und las die Zeitung. Er hatte beschlossen, sich eine ruhige Zeit zu machen, solange Helene Träutlein in Kur war. Deren Arbeitsanweisungen lagen in seinem Schreibtisch.

Pfarrer Zandler hatte nicht die Absicht, diese Rosemarie Rankl zu geben. Träutlein war in Kur, und ihr langer Arm sollte nicht über dem Pfarrhaus schweben. Das hatte sich Helene Träutlein zwar so vorgestellt, aber damit war er nicht einverstanden.

Am späten Nachmittag kam die Aushilfe. Pfarrer Zandler öffnete die Haustür.

»Grüß Gott! Ich bin Rosemarie Rankl, die Vertretung Ihrer Haushälterin.«

»Grüß Gott! Komm rein! Ich bin Rainer Zandler, der Pfarrer. Wir haben ja schon telefoniert.«

Der Geistliche nahm ihr den Koffer ab und trug ihn in das Gästezimmer.

»Danke, Herr Pfarrer! Auspacken kann ich heute Abend noch. Kann ich gleich die Räume sehen? Hat Frau Träutlein mir Anweisungen geschrieben?«

»Ja, ich denke, sie hat etwas notiert. Sie hat es mir auch gegeben. Aber das ist nicht so wichtig. Das hat Zeit. Jetzt packen sie erst einmal aus und machen sich frisch. Dann trinken wir zusammen Kaffee. In der Küche steht ein Kuchen. Die Küche ist im Erdgeschoss. Ich gehe in den Garten. Sie können sich alleine alles ansehen. Die Türen stehen überall offen.«

Die junge Frau lächelte ihn zaghaft an.

»Das werde ich tun«, sagte sie leise.

Pfarrer Zandler ging hinaus und schloss die Tür.

Was für ein stilles, scheues Reh, dachte er, als er im Garten saß. Rosemarie Rankl war nicht groß, hatte lange brünette Haare, die sie zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt hatte. Sie war blass und das tiefblaue hochgeschlossene Dirndl ließ sie noch blasser erscheinen. Pfarrer Zandler war ein guter Menschenkenner. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, dass die junge Rosel irgendwie ein armes Menschenkind war. In ihren großen Augen standen Angst und Scheu. In Gedanken verglich der Geistliche sie mit den Madln aus Waldkogel, die in ihrem Alter waren. Sie waren anders. Sie versprühten Lebensfreude und Frohsinn. Mit dem Madl stimmt etwas nicht, dachte er. Aber das bekomme ich noch heraus.

Es dauerte nicht lange, dann kam Rosemarie in den Garten. Sie trug jetzt ein schwarzes Dirndl mit einer schwarzen Schürze.

»Ich habe mir alles angesehen, Herr Pfarrer!«

»Hast Fragen?«

»Nein, im Augenblick nicht! Nur …, wo möchten Sie den Kaffee und den Kuchen? Soll ich drinnen decken in Ihrem Arbeitszimmer?«

»Du bringst des Zeugs hier heraus. Es ist viel zu schönes Wetter, um sich in die Stube zu verkriechen.«

»Gut, dann serviere ich Ihnen hier!«

»Naa, Madl! Net mir! Uns! Du setzt dich zu mir!«

Rosemarie errötete. Sie schaute unter sich.

»Wenn Sie das so wollen, dann …«, sie brach den Satz ab und nickte.

Pfarrer Zandler schaute ihr nach, wie sie ins Haus ging. Einen besonders glücklichen Eindruck macht sie nicht, dachte er.

Eine kurze Weile später saßen sie im Garten und tranken Kaffee.

»So, dann tust mal erzählen! Ich weiß wenig über dich.«

Sie errötete wieder.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen, Herr Pfarrer. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und habe eine Ausbildung als Hauswirtschaftlerin. Ich habe sogar die Meisterprüfung gemacht.«

»Tüchtig! Dann scheinst ja Freude an deinem Beruf zu haben.«

»Ja, das habe ich.«

»Und sonst? Wo bist her? Hast Familie, Geschwister?«

Pfarrer Zandler bemerkte, dass Rosemarie schnell in ein Stück Kuchen biss. Er erkannte, dass sie sich mit der Antwort Zeit lassen wollte.

»Jeder hat doch Familie! Ich stamme aus einer großen Familie, bin die Jüngste. Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«

Den letzten Satz fügte sie leise hinzu. Pfarrer Zandler drang nicht weiter in sie. Er hatte erkannt, dass Rosemarie Rankl nicht gerne über ihr Privatleben sprach. Da liegt vielleicht der Hase begraben, dachte er. Das Madl hat einen stillen Kummer, deshalb schaut es so traurig aus. Ich muss ihr etwas Zeit geben. Sie muss sich hier erst einmal einleben und Vertrauen zu mir fassen. Vielleicht schüttet sie dann ihr Herz aus.

Pfarrer Zandler wechselte das Thema. Er sprach vom Alltag im Pfarrhaus.

»Ich bin sehr viel unterwegs. An den Berghängen gibt es viele Aussiedlerhöfe und Almen. Die muss ich besuchen. Und jetzt ist mal wieder Zeit dazu. Ich werde also nicht oft zum Mittagessen hier sein. Abends essen wir kalt. Wir essen in der Küche pünktlich zum abendlichen Angelusläuten, wenn ich da bin. Wenn ich später komme, dann brauchst nicht auf mich zu warten, Rosel.«

Sie nickte.

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Naa! Ein Telefon steht im Flur. Auf dem Block daneben kannst du mir die Anrufe notieren. Die Helene hat das Kaffeekränzchen für die Frauen aus Waldkogel abgesagt, solange sie in Kur ist. Außerdem ist es Hochsommer, dann kommen sowieso nicht viele Frauen. Da ist auf den Höfen und Almen viel Arbeit und die meisten Höfe vermieten auch noch Fremdenzimmer. Im Winter kommen mehr Frauen zu den wöchentlichen Treffen.«

Rosemarie nickte.

»Du wirst viel freie Zeit haben«, bemerkte der Geistliche. »Musst net ständig im Pfarrhaus bleiben. Schau dir ein bisserl die Gegend an. Es ist schön hier in Waldkogel.«

»Ja, Waldkogel sieht sehr freundlich aus.«

Das Gespräch kam nicht richtig in Gang. Das lag sicherlich nicht an Pfarrer Zandler, der sich redlich bemühte, freundlich zu sein. Die junge Frau verschanzte sich hinter einer Mauer. Ihm schien es so, als wäre sie erleichtert, als das gemeinsame Kaffeetrinken zu Ende war und sie den Tisch abräumen konnte. Pfarrer Zandler machte danach einen langen Spaziergang. Er musste nachdenken. Das gelang ihm am besten, wenn er spazieren ging.

Vielleicht ist sie nur schüchtern, überlegte er. Sie hat vielleicht etwas Lampenfieber. Ich gebe ihr einige Tage Zeit, entschloss er sich.

Die Tage vergingen. Rosemarie Rankl versorgte ihn und das Pfarrhaus ohne Pannen. Sie kochte gut, war höflich und freundlich am Telefon und zu den Waldkogelern, die ins Pfarrhaus kamen. Pfarrer Zandler beobachtete sie genau. Rosemarie war sehr still. Nie begann sie von sich aus ein Gespräch. Sie huschte leise auf Hausschuhen durch das Pfarrhaus, fast geräuschlos. Es kam dem Geistlichen vor, als wäre die junge Frau am liebsten unsichtbar.

Pfarrer Zandler beobachtete das einige Tage. Dann passte er am Morgen Toni vor der Schule ab, als er Sebastian und Franziska dort absetzte.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer!«

»Grüß Gott, Toni! Hast einen Moment Zeit?«

»Für Sie doch immer, Herr Pfarrer!«

»Des freut mich! Ich muss mit dir ungestört über eine Idee reden. Lass uns ein Stück in die Felder gehen.«

Toni hielt dem Geistlichen die Tür des Geländewagens auf.

Toni fuhr aus Waldkogel hinaus und bog in den ersten Feldweg ein. Dort stellte er das Auto an die Seite. Sie stiegen aus.

»So, hier sind wir ungestört!«, bemerkte Toni.

Er wunderte sich, dass der Geistliche nicht mit ihm ins Pfarrhaus gehen wollte.

»Toni, ich würde euch gern jemand für ein bis zwei Wochen auf die Berghütte schicken. Aber es muss so aussehen, als bräuchtet ihr Hilfe.«

Toni sah den Geistlichen fragend an, unterbrach ihn aber nicht.

»Es geht um Rosemarie Rankl, die Vertretung der Träutlein.«

»Ich habe schon von der Rosel gehört. Ganz Waldkogel spricht über sie. Sie soll eine stille, sehr zurückhaltende junge Frau sein. Meine Mutter hat sie am Sonntag im Got­tesdienst gesehen. Sie meint, dass sie ein bisserl blass ist und so große traurige Augen hat.«

»Des hat deine Mutter gut erkannt. Die Meta ist als Wirtin auch eine gute Menschenkennerin. Ich mache mir ein bisserl Sorgen um die Rosel, so wird die Rosemarie gerufen. Des Madl ist so ernst. Sie ist so still und verschlossen. Und blass ist sie! Da dachte ich mir, ich leihe sie euch auf die Berghütte aus. Dann ist sie unter Leuten und die Anna hat eine Hilfe in der Küche. Was hältst du davon?«

»Wenn wir Ihnen damit einen Gefallen tun können, Herr Pfarrer, dann gern.«

»Ja, ihr würdet mir einen großen Gefallen tun. Ich hoffe, die Rosel bekommt ein bisserl Farbe ins Gesicht und sieht danach nimmer so ernst aus. Es wird ihr auch gut tun, unter Leuten zu sein. Sie meidet zwar Menschen, zieht sich immer gleich zurück, aber auf der Berghütte kann sie nicht ausweichen. Ich habe mir viel Gedanken um des junge Madl gemacht. Sie ist nicht so, wie ein Madl in dem Alter sein soll. Sie hält ihre Jugend unter Verschluss. Sie kommt mir von der Art her älter als meine Helene Träutlein vor, sogar viel älter. Du, Toni, mit dem Madl stimmt etwas nicht. Verstehst du?«

»Ja, ich verstehe! Sie haben des Madl ins Herz geschlossen. Sie vermuten, dass es einen Kummer hat. Jetzt wollen Sie sie zu uns auf die Berghütte schicken, damit sie ihr Herz öffnet.«

»Oder die Ruhe und Kraft der Berge in ihr Herz eindringen. Hier verlässt sie nie das Pfarrhaus. Sie macht ihre Arbeit, da gibt es nix daran auszusetzen. Aber sie geht net raus! Ich hab’ ihr gesagt, dass sie sich mal die nähere Umgebung ansehen soll, zum Beispiel den Bergsee. Der Graf Tassilo hat sie auf das Schloss eingeladen, sie lehnte die Einladung höflich ab.«

Toni überlegte.

»Ich fahre jetzt noch nach Kirchwalden. Aber in ungefähr zwei Stunden bin ich zurück. Ich könnte sie gleich mit hinaufnehmen. Sie könnten sagen, ich hätte so viel zu tun und die Anna wäre erschöpft und bräuchte Hilfe.« Toni grinste. »Wenn meine Anna mich so hören würde, wäre sie ganz schön ärgerlich.«

»Die Anna hätte die nächsten Wochen mehr Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, so kann man es auch auslegen«, schlug Pfarrer Zandler vor.

»Des ist eine gute Idee! Dann bin ich in zwei Stunden bei Ihnen im Pfarrhaus und nehme die Rosel mit.«

»Des ist ein Wort, Toni! Dann fährst mich schnell zum Pfarrhaus zurück. Ich rede mit dem Madl.«

Toni fuhr Pfarrer Zandler zurück zum Marktplatz. Er ging aber nicht gleich ins Pfarrhaus, sondern erst in den Trachten- und Andenkenladen Boller. Dort kaufte er einen einfachen, aber geräumigen Rucksack.

»Soll ich ihn als Geschenk einpacken, Herr Pfarrer?«

»Naa, des geht so!«, schnitt der Geistliche Veronika Boller das Wort ab.

Er wusste, wie neugierig Veronika war und ließ sich auf kein Gespräch ein.

Im Pfarrhaus hantierte Rosemarie in der Küche.

»Oh, was machst du?«

»Ich fange an, das Mittagessen vorzubereiten, Herr Pfarrer. Werden Sie zum Essen hier sein?«

»Naa, ich habe einen Termin! Komm mal mit in mein Studierzimmer!«

Rosemarie wischte sich die Hände ab und folgte ihm.

»Setz dich!«, sagte er und bot ihr einen Stuhl an.

Er setzte sich gegenüber und schaute sie an.

»Ich habe da etwas, worüber ich mir Gedanken mache. Es gibt oben die Berghütte. Dort leben Anna und Toni Baumberger mit ihren beiden Adoptivkindern Sebastian und Franziska. Außerdem gibt es noch den früheren Hüttenwirt, den alten Alois. Der verbringt seinen Lebensabend auf der Berghütte, seiner Heimat. Wenn du so willst, Rosel, es ist eine Familie mit drei Generationen, die auf der Berghütte lebt und arbeitet. Die Anna ist älter als du, Mitte Dreißig wird sie jetzt sein. Sie ist auf der einen Seite vielleicht auch ein bisserl einsam, weil sie wenig Kontakt mit den Frauen aus dem Ort hat. Dazu leidet sie ein bisserl darunter, dass sie für die beiden Kinder wenig Zeit hat. Sie würde gern mehr Zeit mit ihnen verbringen, wie das eben eine Mutter mit den Kindern tut. Sie würde gern mit ihnen Spiele machen oder mit der Franziska basteln oder nähen. Dafür hat sie wenig Zeit. Das bedrückt sie. Die Arbeit wächst ihr über den Kopf. Da hatte ich den Einfall, du könntest sie für eine Weile entlasten. Die Helene Träutlein war zu alt für eine solche Aufgabe. Die konnte ich nicht schicken. Die Anna etwas entlasten, das könntest du besser. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. Ich kann bei Tonis Eltern essen. Sie haben ein kleines Gasthaus am Ende der Hauptstraße. Du würdest mir wirklich helfen, wenn du der Anna etwas unter die Arme greifen würdest.«

»Wir lange soll ich auf der Berghütte bleiben?«

»Ich dachte eine Woche, vielleicht auch zwei Wochen. Das kannst du entscheiden, wenn du oben bist. Es soll dir auch gefallen.«

»Mir gefällt es überall. Ich bin nicht anspruchsvoll, Herr Pfarrer.«

»Dass du nicht anspruchsvoll bist, das habe ich schon bemerkt, Rosel. Gut, dann packe deine Sachen. Ich habe dir einen Rucksack besorgt. Den kannst nehmen. So ein Rucksack ist bequemer als ein Koffer. Es führt keine Straße auf die Berghütte hinauf. Das letzte Stück ist nur zu Fuß über einen Bergpfad zu erreichen.«

»Wann soll ich dorthin?«

Pfarrer Zandler schaute auf die Uhr.

»Der Toni wird in knapp zwei Stunden vorbeikommen und dich mit seinem Geländewagen mit hinauf auf die Oberländer-Alm nehmen. Das ist unterhalb der Berghütte. Dort parken alle Autos. Von der Oberländer Alm bekommt die Berghütte Milch, Sahne, Butter und Käse. Die Alm wird von zwei Alten betrieben, dem Wenzel und der Hildegard Oberländer. Wenn du mit ihnen sprichst, dann kannst du ihnen sagen, dass ich sie bald mal besuche.«

Rosel stand auf. Sie spielte nervös mit ihren Schürzenbänder.

»Dann werde ich am besten gleich packen, Herr Pfarrer Zandler!«

»Ja, gehe packen! Packe warme und bequeme Sachen ein. Auf der Berghütte kann es schon mal kühl werden.«

Rosemarie nickte. Sie ging hinaus.

Pfarrer Zandler schloss die Tür und rief Anna auf der Berghütte an. Toni hatte ihr den Besuch schon angekündigt. Er sprach ausführlich mit Anna und sagte ihr, auf was es ihm ankam.

»Anna, ich bin mir sicher, dass auf dem Herzen der Rosel ein schwerer Stein lastet. So schüchtern und gehemmt zu sein, des ist einfach nicht normal. Vielleicht taut sie bei euch oben auf der Berghütte etwas auf.«

»Ich will mein Bestes versuchen, Pfarrer Zandler«, versprach Anna. »Außerdem wird die Franzi schon auch ein Stück dazu beitragen, dessen bin ich mir sicher. Sie wissen ja, wie unschuldig Franzi die heikelsten Fragen stellen kann.«

»Oh ja! Aber das hat der Himmel wohl so vorgesehen, dass die Kinder unschuldig sind und unschuldige Fragen stellen können. Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann kannst du mich jederzeit anrufen Anna. Du wirst sehen, die Rosemarie Rankl ist ein liebes Madl. Sie macht auf mich nur einen unglücklichen Eindruck. Vielleicht hat das Madl einen Liebeskummer, wer weiß?«

Anna versprach, sich ihrer anzunehmen und ihr eine schöne Zeit auf der Berghütte zu machen. Pfarrer Zandler war zuversichtlich.

Toni kam und holte Rosel ab.

*

Bevor Toni in den Milchpfad einbog, hielt er vor seinem Elternhaus. Sein Vater Xaver stand mit Gaudenz Moosbauer vor dem Schuppen. Toni stieg aus.

»Grüß dich, Gaudenz! Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Grüß Gott, Toni! Ja, des stimmt. Da wohnt man im selben Ort und sieht sich so selten.«

»Bist auch lange nimmer auf der Berghütte gewesen. Im letzten Jahr hast uns öfters besucht.«

»Des stimmt. Aber im letzten Jahr, da hatte ich auch noch mehr Zeit. Die Eltern haben mir den Hof übergeben und sich auf das Altenteil zurückgezogen. Ich habe meine Stelle als Technischer Zeichner in Kirchwalden gekündigt. Ich arbeite jetzt als freier Zeichner für verschiedene Architekturbüros und habe mir den alten Schweinestall als Büro ausgebaut. Der Moosbauer-Hof war in den letzten Jahren nur ein Nebenerwerbshof. Der Vater ging in die Großmarkthalle nach Kirchwalden zum Arbeiten, und die Mutter kümmerte sich um die Pensionsgäste. Sie helfen zwar immer noch ein bisserl, aber ich mache den größten Teil der Arbeit, so wie sich das auch gehört. Ich habe die Scheune ausgebaut und mehrere Ferienwohnungen eingebaut. Ich habe alles alleine gemacht. Komme doch mal vorbei und schaue es dir an!«

»Vielleicht bei Gelegenheit, Gaudenz. Danke für die Einladung. Ich hoffe trotzdem, du gehst mal wieder wandern und besuchst uns auf der Berghütte.«

Toni sah, dass Gaudenz Moosbauer die ganze Zeit immer wieder einen Blick ins Auto warf.

»Toni!«, raunte er und machte eine Kopfbewegung, die besagte, Toni sollte ihm folgen.

Gaudenz überquerte die Straße, Toni folgte ihm.

Mit gesenkter Stimme fragte Gaudenz: »Wer ist das Madl da in deinem Auto auf dem Beifahrersitz?«

Toni grinste.

»Hast sie die ganze Zeit schon beobachtet, wie?«

»Sie hat feine Gesichtszüge! Sie ist so anders als alle Madln hier. Sie ist auf eine ganz eigene Art sehr, sehr fesch. Mei, sie ist irgendwie besonders. Sie ist nicht von hier, wie?«

Toni senkte jetzt auch die Stimme.

»Das ist Rosemarie Rankl, die Vertretung im Pfarrhaus, solange die Helene in Kur ist. Pfarrer Zandler schickt sie einige Tage zu uns auf die Berghütte.«

Gaudenz sah wieder zu Tonis Geländewagen.

»Ah, sie ist es! So sieht sie aus! Meine Mutter hat sie schon gesehen am Sonntag in der Messe. Ich bin kein so eifriger Kirchgänger.«

Gaudenz verschränkte die Arme über der Brust und schaute Toni an.

»Du sagst, sie ist einige Tage bei euch auf der Berghütte?«

Toni nickte und lächelte.

»Es schaut aus, als würdest du uns bald mal besuchen. Das denke ich, wenn ich deinen Blick richtig deute.«

Gaudenz grinste.

»Des kann schon ganz gut möglich sein, Toni! Ja, ja, des ist sogar sehr gut möglich. Du hast völlig Recht, ich sollte mal wieder wandern gehen.«

»Dann tue dir keinen Zwang an. Bist uns jederzeit willkommen. Vielleicht kommst am Freitagabend hinauf. Da machen wir einen Hüttenabend mit Tanz.«

»Mei, des hört sich doch gut an! Des hört sich sehr gut an.«

Gaudenz reichte Toni zum Abschied die Hand.

»Pfüat di, Toni!«

»Pfüat di, Denzl!«, rief Toni.

Gaudenz winkte Tonis Vater noch zu und ging dann die Straße entlang Richtung Marktplatz. Toni lud einen Rucksack voll Gemüse ins Auto, den ihm seine Mutter gerichtet hatte. Sie versorgte die Berghütte oft mit frischem Gemüse aus dem eigenen Garten.

Toni stieg ein und fuhr los.

»Entschuldige, dass du hast länger warten müssen, Rosel. Mit dem Denzl Moosbauer bin ich früher oft wandern gewesen. Wir hatten lange Touren gemacht und in Schutzhütten übernachtet. Aber das ist schon mehr als zehn Jahre her. Das Leben geht weiter und alles verändert sich. Inzwischen habe ich mit meiner Frau die Berghütte übernommen. Wir haben zwei Kinder, Franziska und Sebastian. Die beiden sind ganz herzig. Du wirst sie mögen, Rosel.«

Rosel hörte zu. Sie schaute Toni nur an und nickte.

Sie ist wirklich sehr ruhig, dachte Toni. Bin gespannt, wie sie sich bei uns auf der Berghütte macht. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Aufenthalt bei uns einen Menschen verändert. Auf der Berghütte ist man der Natur noch näher als im Ort. Nichts lenkt einen ab. Es gibt nur die Gipfel der Berge ringsum, der blaue Himmel am Tage und der Sternenhimmel in der Nacht.

Sie kamen auf der Oberländer-Alm an. Toni schulterte den Rucksack mit dem Gemüse. Rosemarie nahm ihren Rucksack.

»Grüß Gott, Toni! Hast alles in Kirchwalden erledigen können? Bist ja schnell wieder zurück!«, rief ihm Wenzel Oberländer zu.

»Danke der Nachfrage, Wenzel. Ja, es hat nicht lang gedauert.«

»Und wen hast du da bei dir?«, fragte Wenzel.

Er betrachtete Rosemarie, die sich im Hintergrund hielt.

»Des ist die Rosemarie Rankl. Sie macht Vertretung im Pfarrhaus für die Träutlein.«

Hildegard Oberländer kam dazu, die Hilda gerufen wurde. Sie ging auf Rosel zu und reichte ihr die Hand.

»So, so, dann tust du unsere gute Helene vertreten, das ist recht so.«

Rosemarie gab ihr die Hand.

»Grüß Gott! Pfarrer Zandler hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass er sie bald einmal besuchen wird.«

»Da freuen wir uns!«, sagte Hilda. »Im Sommer kommen wir sonntags selten ins Dorf zur Messe.«

»Wie alt bist, Madl?«, fragte Wenzel.

Noch bevor Rosel antworten konnte, schritt Hilda ein.

»Wenzel, höre auf! Des Madl ist kein gewöhnliches Madl, des ist die Haushälterin von unserem Herrn Pfarrer. Des gehört sich net, sie so auszufragen. Bitte entschuldigen Sie, Frau Rankl. Aber so alt, wie der Wenzel auch ist, er kann es net lassen, mit jedem Madl, das hier vorbeikommt, zu reden.«

Rosemarie nickte nur. Toni sagte: »Der Wenzel meint es net böse. Er ist nur ein bisserl neugierig. Er unterhält sich gern. Ein anderes Mal kannst bestimmt ausführlich mit der Rosel schwatzen, Wenzel. Aber jetzt haben wir keine Zeit. Die Anna wartet auf uns.«

Sie verabschiedeten sich. Toni ging auf dem Bergpfad voraus, Rosemarie folgte ihm. Toni ging etwas langsamer, damit er Rosel nicht überforderte. Sie ging still und gleichmäßig hinter ihm her. Toni blieb dann und wann stehen und erklärte ihr die Gegend.

Er nannte ihr die Namen der Berggipfel und erzählte ihr einige Anekdoten aus Waldkogel. Rosemarie hörte nur zu.

»Es ist sehr still hier!«

Das war das Einzige, was sie sagte.

Sie erreichten die Berghütte.

»Anna, wir sind da!«, rief Toni.

Anna kam aus der Küche. Sie lächelte Rosemarie an.

»Grüß Gott, Rosemarie, oder Rosel! Danke, dass du einige Tage bei uns bleiben willst.«

»Das tue ich gerne! Wie kann ich dir helfen?«

»Ich zeige dir erst einmal deine Kammer, Rosel!«

Während Toni das Gemüse in der Vorratskammer aufschichtete, führte Anna Rosemarie in die Kammer.

»So, das ist dein zuhause für die Tage auf der Berghütte. Hier bist du ungestört. Die Tür gegenüber, das ist die Tür zu Alois Kammer. Dem alten Alois hat früher die Berghütte gehört.«

»Pfarrer Zandler hat mir von ihm erzählt. Er verbringt hier seinen Lebensabend. Schön, dass er hier sein kann«, sagte Rosel.

»Toni und ich freuen uns auch darüber. Es ist schön, ihn hier zu haben. Er ist wie ein Großvater für die Kinder, vielleicht eher wie ein Urgroßvater von seinem Alter her. Er hat sich etwas hingelegt. Du wirst ihn später kennenlernen. Der alte Alois ist ein wunderbarer Mensch. Er kann herrliche Geschichten erzählen über Waldkogel und die Berge. Vielleicht kennst du schon einige davon. Es sind immer die gleichen Geschichten, die er erzählt, aber er ist ein guter Geschichtenerzähler. Jeder hört ihm gerne zu. Wenn er Geschichten vom ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹ erzählt, dann ist es in der Berghütte so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte.«

»Klingt interessant! ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹, so heißen hier in der Nähe doch zwei Berge.«

»Ja, hier oberhalb der Berghütte, das ist der ›Engelssteig‹ und drüben auf der anderen Seite des Tales, das ist das ›Höllentor‹. Du bist nicht aus der Gegend hier?«

»Nein! Ich bin erst vor einigen Monaten in die Kreisstadt gezogen, nachdem ich beim Bistum eine Anstellung bekam.«

Anna bemerkte, dass Rosemarie verschwieg, wo sie herkam.

»Rosel, wir werden uns gut verstehen, da bin ich mir sicher. Und Zeit fürs Plaudern werden wir auch finden. Ich freue mich jedenfalls, dass du hier bist.«

»Ich freue mich auch, dass ich dir helfen kann. Sage mir gleich, was ich tun kann. Auspacken kann ich später.«

»Gut, dann komme mit in die Küche.«

Rosemarie folgte Anna.

»Es gibt Eintopf zum Mittag, und dazu Schmalzgebackenes mit Kompott.«

Anna reichte Rosemarie eine Schürze.

»Vielleicht ziehst du die über? Auf deiner schwarzen Schürze wird das Mehl Flecken hinterlassen.«

Rosel band sich die Schürze über die eigene. Sie rollte die langen Ärmel ihres Dirndls auf und begann, Anna zu helfen. Nach kurzer Zeit arbeiteten die beiden Frauen im Team, als hätten sie nie etwa anderes getan.

»Geht es euch gut?«, fragte Toni.

Er kam für einen Augenblick in die Küche und naschte den noch warmen Schmalzkücherl.

»Ja, es geht wunderbar. Unterbrich uns nicht, Toni! Es läuft hier wie am Schnürchen«, sagte Anna.

Später bedienten Anna und Toni die Hüttengäste auf der Terrasse. Rosel übernahm die Regie in der Küche der Berghütte. Anschließend spülte sie Geschirr und Anna trocknete ab.

Sebastian und Franziska kamen aus der Schule. Basti grüßte nur kurz und verschwand dann in seinem Zimmer. Paul, der Sohn des Försters, hatte ihm ein Buch ausgeliehen und Sebastian wollte lesen. Franziska setzte sich an den Küchentisch und betrachtete Rosemarie. Anna fiel auf, dass Franziska sehr still war.

»Gibt es etwas, was du erzählen willst, Franzi? Wie war es in der Schule?«

»Es war wie immer in der Schule. Ich wäre noch gerne mit Ulla ins Forsthaus gegangen. Aber der Xaver Großvater hat es nicht erlaubt. Schade! Im Forsthaus gibt es ein Rehkitz. Es ist noch ganz jung. Ullas Mutter zieht es mit der Flasche groß.«

»Warum ist es nicht bei seiner Mutter?«

Franzi zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht? Ullas Vater hat es erst heute Morgen gefunden, als er ganz früh im Forst war. Die Ulla wäre am liebsten nicht in die Schule gegangen. Sie ist auch zu spät gekommen. Aber sie weiß nicht, warum das Kitz nicht bei seiner Mutter ist.«

»Vielleicht hat seine Mutter es verlassen«, sagte Rosel leise.

»Naa, so ist es bestimmt net! Eine Ricke verlässt ihr Kitz doch nicht«, sagte Franzi laut und deutlich.

In Franzis Stimme klang deutlich Tadel mit und Verwunderung über Rosels Bemerkung.

Anna sah, wie Rosemarie das Blut in die Wangen schoss.

»Die Rosel ist nicht aus den Bergen, Franzi. Sie kommt aus der Stadt. Sie kann das nicht wissen. In der Stadt gibt es nur Hunde und Katzen.«

»Wo ist Bello, Anna? Er hat mich nicht begrüßt.«

»Bello liegt bei Alois im Zimmer. Alois hatte Kreuzschmerzen und hat sich eine Weile hingelegt.«

»Oh! Bello merkt immer, wenn Alois Schmerzen hat. Der Bello ist ein sehr kluger Hund. Er spürt, wenn es Menschen nicht gut geht, dann bleibt er in der Nähe«, erklärte Franzi Rosemarie. »Bello ist ein Neufundländerrüde. Wie gefällt er dir, Rosel?«

»Ich habe ihn noch nicht gesehen«, sagte Rosel.

»Wir haben hier nicht nur einen Hund, wir haben auch eine Katze. Es ist ein Kater, mein Kater, und er heißt Max. Den ganzen Tag streunt er herum. Er kommt erst gegen Abend zurück.«

»Du magst Tiere, Franziska?«

»Oh ja, vielleicht werde ich später einmal Tierärztin, wie die Beate.«

»Das ist unsere Tierärztin hier in Waldkogel, Doktor Beate Brand«, warf Anna ein.

»Magst du Tiere, Rosel?«

»Ja, Franzi, ich mag Tiere sehr. Sie sind treu, anhänglich und ehrlich in ihren Gefühlen. Tiere sind ohne Falsch und Egoismus.«

Anna hörte aufmerksam zu und machte sich auf Rosels Aussage ihren Reim. Da stand mehr dahinter, als nur die bekannte Meinung über Tiere.

»Pferde mag ich am liebsten! Ich gehe oft in den Reitstall. Es ist schade, aber auf der Berghütte können wir keine Pferde haben, nicht einmal einen Esel. Es geht nicht, wegen dem Futter und dem Mist. Alles müsste heraufgetragen werden und wieder hinunter. Aber wenn ich später einmal wieder auf dem Bichler-Hof lebe, dann habe ich mein eigenes Pferd im Stall«, plauderte Franzi munter drauf los.

Anna zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass Franziska von späteren Plänen auf dem Hof ihrer verunglückten Eltern sprach. Der Hof war vermietet und die dazu gehörenden Felder und Almwiesen verpachtet.

Rosel bemerkte Annas Reaktion. Sie wandte sich an Franzi: »Franzi, ich bleibe eine Weile bei euch auf der Berghütte. Es ist draußen so schönes Wetter, willst du nicht etwas spielen gehen? Wir finden bestimmt noch Zeit zum Plaudern.«

»Ja, lauf, Franzi! Und hole Sebastian aus seinem Zimmer. Er soll sich wenigstens in die Sonne setzen und sich nicht im Zimmer verstecken, wenn er lesen tut!«

Franzi rannte davon. Die beiden Frauen schauten sich an.

»Hoffentlich hat Franzi nicht bemerkt, wie ich zusammengezuckt bin«, sagte Anna leise. »Es war das erste Mal, dass Franziska davon gesprochen hat, irgendwann wieder auf dem Bichler-Hof zu leben.«

Anna erzählte Rosel kurz, dass Franzi und Basti auf dem Bichler-Hof aufgewachsen waren und sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern nicht dort hingehen wollten.

»Es war eben zu schmerzlich für die Kinder, Anna. Sie haben viel verloren und mieden eben alles, was sie schmerzte und Erinnerungen heraufbeschwören könnte.«

»Klingt, als würdest du aus Erfahrung sprechen, Rosel?«

Rosemarie blieb Anna die Antwort schuldig. Sie schaute ihr nur in die Augen. Anna sah darin Trauer und Schmerz. Das Gespräch brach ab. Sie waren auch fertig mit dem Geschirr.

»Trinken wir eine Tasse Kaffee zusammen?«, fragte Anna.

»Gern, danke!«

Sie setzten sich an den Küchentisch. Anna schenkte zwei Becher voll. Sie tranken. Franziska kam wieder herein. Sie sah Rosemarie ganz lange an.

»Was ist Franzi?«, fragte Rosemarie.

»Hast du auch Trauer, weil du so ein dunkles Dirndl anhast mit einer schwarzen Schürze. Die alten Frauen in Waldkogel, die Trauer haben, haben nur solche schwarzen Dirndl an. Sind deine Eltern auch gestorben?«

Rosel errötete.

»Nein, ich habe keine Trauer, Franzi. Meine Eltern leben noch! Ich trage ein dunkles Dirndl, weil ich immer in Pfarrhäusern arbeite. Dort muss man gediegen angezogen sein.«

Franzi schüttelte heftig den Kopf.

»Naa, des ist net so. Die Helene Träutlein hat nur am Sonntag ein dunkles Dirndl an, aber auch nicht immer. Sie hat auch bunte Dirndl, blaue, rote und grüne.«

Rosel war verlegen.

»Ich reise viel herum von Pfarrhaus zu Pfarrhaus und kann nicht viel Gepäck mitnehmen. Ich weiß auch nicht, ob man dort bunte Dirndl tragen darf.«

Franziska betrachtete Rosemarie ganz genau.

»Ein buntes Dirndl würde dir gut stehen. Dann würdest du nicht mehr so traurig aussehen.«

»Aber, Franzi«, sagte Anna laut. »Die Rosel schaut doch nicht traurig aus.«

»Doch das tut sie, Anna!«, widersprach Franziska und lief davon.

Rosemarie rührte ihren Kaffee um. Ohne Aufzuschauen sagte sie.

»Kinder sind von einer entwaffnenden Ehrlichkeit!«

»Ja, das sind sie. Ich hoffe, Franzi hat dich nicht zu sehr in Verlegenheit gebracht. Sie meint es nicht böse. Franziska trägt ihr Herz auf der Zunge. Es kann vorkommen, dass sie dann etwas vorlaut ist. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern waren wir froh, wenn sie aus sich herausging. Sie war anfangs sehr verschlossen und wir wussten nicht, was in ihr vorging.«

»Das ist verständlich! Es muss schrecklich für die beiden gewesen sein. Aber jetzt machen sie einen glücklichen Eindruck.«

»Toni und ich hoffen, dass sie glücklich sind und sich wohlfühlen auf der Berghütte, auch wenn man hier keine Pferde halten kann.«

»Du darfst Franzis Bemerkung nicht all zu ernst nehmen, Anna.«

»Ja, ich weiß.«

»Was kann ich dir noch helfen, Anna? Hast du etwas zu bügeln?«

»Kann sein, dass die Wäsche auf der Leine beim Holzplatz trocken ist. Der Holzplatz ist hinter der Berghütte.«

Rosel trank ihren Kaffee aus.

»Ich werde nachsehen!«

Rosemarie ging hinaus.

*

Gaudenz Moosbauer konnte sich an diesem Nachmittag nicht recht konzentrieren. Er saß in seinem Büro am Computer. Er erwischte sich dabei, wie er tatenlos auf den Bildschirm starrte und dabei an Rosemarie Rankl dachte. Immer wieder sah er vor seinem geistigen Auge ihre zarten Gesichtszüge. Ihre großen blaugrünen Augen hatten es ihm angetan.

Gaudenz stand auf. Er war nicht nur ein guter Technischer Zeichner, er konnte auch sehr gut malen. Er holte seinen Skizzenblock aus der untersten Schreibtischschulblade und versuchte, in wenigen Strichen Rosemarie zu zeichnen. Es gelang ihm aber nicht. Frustriert stand er auf und ging zu seiner Mutter in die Küche. Die Bäuerin putzte Salat aus dem Gemüsegarten. Sie kochte noch jeden Tag und machte viel in dem großen Haus, auch wenn sie schon im Altenteil wohnte.

»Du bist schon da? Bist mit deiner Arbeit schon fertig?«

Gaudenz schüttelte den Kopf.

»Ich habe aufgehört! Es bringt nichts, wenn ich weitermache. Vom Termin her werde ich bis Donnerstag fertig werden. Die Zimmer unserer Feriengäste habe ich auch fertig gemacht. Die Betten sind frisch bezogen, die Handtücher verteilt, und ich habe geputzt. Die neuen Gäste werden erst nächste Woche kommen, aber ich wollte alles fertig haben.«

Gaudenz holte sich ein Bier und setzte ich an den Küchentisch.

»Bub, was gibt es? Ich kann es dir ansehen, dass dich etwas beschäftigt?«

»Ich habe den Toni Baumberger getroffen. Er hat mich auf die Berghütte eingeladen. Am Freitagabend gibt er einen Hüttenabend. Es kann sogar getanzt werden.«

»Jetzt willst du hingehen, wie? Des ist eine gute Idee. Früher bist doch oft mit dem Toni zusammen gewesen. Der alte Alois wird sich sicher auch freuen, dich mal wiederzusehen.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Ich bin aber noch am Überlegen.«

»Mei Bub! Gaudenz!« Die Stimme seiner Mutter klang fast streng. »Gönne dir mal etwas. Du bist viel zu brav, bist immer daheim, tust nix wie arbeiten. Wenn es Tanz auf der Berghütte gibt, dann kommst auch mal unter Madln. Es wird Zeit, dass du dich nach einer Frau umsiehst, Gaudenz. Der Hof ist übergeben, du hast ihn aus- und umgebaut. Du hast eine gute Arbeit, die dir ermöglicht, hier zu sein, zu arbeiten und dich um alles zu kümmern. Was dir jetzt noch zu deinem Glück fehlt, ist ein Madl, mit dem du eine Familie gründen kannst, Denzl. Willst denn ewig Junggeselle bleiben? Bub, ich will dich net drängen. Dein Vater und ich haben bisher nix dazu gesagt. Aber unter uns haben wir darüber geredet. Willst dich net umsehen? Es gibt einige ledige Madln in Waldkogel, die net so übel sind.«

Trudel Moosbauer, die Trudi gerufen wurde, zählte die ledigen jungen Frauen auf.

»Da ist keine dabei, die mir gefällt, Mutter. Net, das sie übel sind. Sie sind alle fesche Madln. Aber mein Herz gerät nicht in Wallung, wenn ich an sie denke.«

»Dann musst nach dem Madl suchen, des dein Herz zum Klopfen bringt.«

»So einfach ist des net, Mutter. Es ist net so, dass ich mich net umschaue, aber es muss einfach funken, auf beiden Seiten, verstehst?«

Die Bäuerin lachte.

»Bub, so rückständig bin ich net. Außerdem war ich auch mal jung und dein Vater auch. Auf der einen Seite kommt es mir vor, als sei des erst gestern gewesen. Dabei ist des über vierzig Jahre her.«

»So viel Glück scheine ich nicht zu haben, Mutter. Ihr habt euch gesehen und wusstet sofort, dass ihr zusammengehört.«

»Ja, so war es damals! Es hat einfach gefunkt zwischen uns. Noch am gleichen Tag nahm mich dein Vater mit hierher auf den Hof und stellte mich seinen Eltern vor. Sie nahmen mich mit offenen Armen auf. Und wenige Wochen später heirateten wir.«

»Dann hat dir Vater gleich am ersten Abend einen Antrag gemacht?«

»Naa, Bub, ein richtiger Antrag war es nicht. Er nahm meine Hand und hielt sie ganz fest. Er schaute mir in die Augen. Trudi, sagte er ganz ruhig. Trudi, du gefällst mir. Trudi, ich kann mit gut vorstellen, dass wir zusammenbleiben, was meinst dazu? Ich sah ihn an, nickte und streichelte ihm die Wange. Dann sagte ich leise, Louis, ich kann mir das auch vorstellen.«

Trudel Moosbauer lächelte glücklich, bevor sie weitererzählte.

»Dann zog mich dein Vater zu sich und wir küssten uns zum ersten Mal. Wir waren ein bisserl ungeschickt, aber wir waren glücklich. Dann legte dein Vater den Arm um mich und wir gingen hierher zum MoosbauerHof. Erst unterwegs wurde mir langsam klar, wie ernst es ihm war. Dein Vater war kein Draufgänger, er war sehr ruhig. Du bist ihm sehr ähnlich, Denzl. Ich habe schon oft gedacht, dass du erst wirklich auf ein Madl zugehst, wenn du dich für sie entschieden hast, erst, wenn du dir ganz sicher bist. Aber wenn du daheim bleibst, sind deine Chancen gering ihr zu begegnen. Es kommt nicht einfach ein Madl vorbei. Denke mal darüber nach, Gaudenz.«

»Magst damit net so unrecht haben, Mutter! Ich werde in Zukunft ein bisserl mehr ausgehen, vielleicht fange ich mit dem Hüttenabend auf der Berghütte an. Ich könnte bis Sonntagabend auf der Berghütte bleiben, wenn …«

»Bub, du brauchst doch nicht zu fragen!«, fiel ihm seine Mutter ins Wort. »Gehe ruhig! Wir sind ja hier, dein Vater und ich. Was ziehst du an? Soll ich dir deinen Lodenanzug aufbügeln?«

»Naa, solch ein Aufwand muss nicht sein. Ich behalte meine Lederhosen an und nehme Wanderzeug mit.«

Ludwig Moosbauer kam in die Küche.

»Louis, ich habe unseren Bub bestärkt, die Einladung zum Hüttenabend auf der Berghütte beim Toni anzunehmen. Getanzt soll auch werden.«

»Ja, des wird bestimmt schön werden. Als junges Paar waren deine Mutter und ich oft auf Alois Hüttenabenden. Es wird dir mit Sicherheit gefallen. Der Alois wird auf seiner Ziehharmonika spielen.«

Der Bauer lacht laut.

»Na ja, wahrscheinlich werden mehr Burschen da sein als Madln. Aber du kannst dir ja ein Madl mit hinaufnehmen.«

Gaudenz schüttelte den Kopf.

»Naa, ich gehe alleine hinauf. Ich lade kein Madl ein, mich zu begleiten.«

Das Angelusläuten schallte durch die offenen Fenster herein. Sie setzten sich zu Tisch. Die Bäuerin sprach das Tischgebet, dann aßen sie. Den Eltern fiel auf, dass Gaudenz sehr still und seltsam abwesend war. Sie warfen sich Blicke zu.

*

Anna, Toni und Rosel bereiteten ab dem späten Nachmittag den Hüttenabend vor. Toni baute den großen Grill auf, auf dem später die Grillwürste aufgereiht würden. Anna und Rosel bereiteten in der Küche mehrere große Schüsseln mit Kartoffelsalat zu. Leonhard Gasser, der Leiter der Bergwacht, kam mit dem Hubschrauber und brachte Bier in Holzfässern. Leonhard, der Leo gerufen wurde, versorgte die Berghütte auf seinen Übungsflügen mit Bier. Dafür luden Toni und Anna die Kameraden der Bergwacht zu zünftigen Hüttenabenden ein.

»Kommst heute Abend, Leo?«, fragte Toni.

»Naa, heute Abend kann ich nicht dabei sein, leider. Ich habe Bereitschaftsdienst in der Zentrale. Der Chef hält die Stellung, aber die meis­ten der Kameraden haben schon angekündigt, dass sie zum Hüttenabend gehen wollen. Werden denn auch genügend Madln hier sein?«

Toni schmunzelte.

»Ja, leider herrscht an Hütten­abenden meistens ein Überschuss an Burschen. Es gibt eben immer noch mehr Wanderer und Bergsteiger als Wanderinnen und Bergsteigerinnen. Ich habe drunten in Waldkogel kräftig Reklame für unseren Hüttenabend gemacht und hoffe, dass ein paar ledige Madln den Weg auf die Berghütte finden. Das wäre sehr schön, gerade wenn es ums Tanzen geht.«

»Es wird schon werden! Es gibt ja auch immer mal ein paar Burschen, die nicht so gerne das Tanzbein schwingen, Toni.«

»Das stimmt. Außerdem springt Anna ein, wenn nicht genügend Madln da sind und tanzt dann mit den überzähligen Burschen mindes­tens einen Tanz.«

»Des ist schön! Also, Toni, ich muss los. Ich wünsche einen schönen Abend. Das nächste Mal bin ich wieder dabei!«

»Danke, dass du das Bier heraufgeflogen hast. Frisch angezapftes Bier aus einem Holzfass, des trägt immer viel zur Stimmung bei. Des ist eben urig.«

»Des musst net extra erklären, Toni!«

Leonhard Gasser stieg wieder in den Hubschrauber und flog ab.

Toni stand noch auf der Terrasse der Berghütte und schaute dem Hubschrauber nach, als Gaudenz auf ihn zu kam.

»Mei, der Denzl! Hast du dich endlich entschlossen? Mei, des freut mich!«

»Grüß Gott, Toni! Ja, ich habe mich entschlossen. Ich bleibe bis zum Sonntagabend. Hast noch einen Schlafplatz für mich?«

»Sicher werden wir etwas finden. Wir sind zwar ziemlich voll, aber für einen guten Freund haben wir immer Platz. Kannst bei uns im Wohnzimmer auf der Couch schlafen. Des ist bequemer und vor allem ruhiger als auf dem Hüttenboden.«

»Danke, des ist großzügig von dir! Wie ist es? Ich will eine schöne Bergtour machen, kommst mit?«

»Denzl, wir haben Wochenende! Da habe ich wirklich keine Zeit. Ich würde mit dir bestimmt gern wieder mal eine Bergtour machen, aber des ist nur während der Woche möglich. Da ist es etwas ruhiger.«

»Dann werden wir uns in den nächsten Wochen mal verabreden, Toni. Alleine macht es net so viel Freude. Es ist schöner, wenn man die Erlebnisse in den Bergen mit jemandem teilen kann.«

»Ja, das ist es!«

Gaudenz ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten. Er schaute sich um. Dann neigte er seinen Kopf in Tonis Richtung und sagte leise: »Ist diese Rosemarie noch hier?«

»Ja, die Rosel, so wird sie gerufen, ist drin in der Küche bei der Anna. Sie geht dir net aus dem Kopf, wie?«

»Des gebe ich gerne zu. Kannst du mir sagen, ob sie einen Burschen hat? Ich will nicht in dem Revier eines anderen Burschen wildern. Des bringt nix, höchstens Ärger.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Warte hier! Ich bringe deinen Rucksack hinein, dann gehen wir hinter die Berghütte und reden. Ich glaube, ich sollte dir einige Takte zu dem Madl sagen.«

Toni brachte den Rucksack ins Wohnzimmer der Berghütte. Er zapfte zwei Bier.

»Hier, Denzl, wirst durstig sein!«

Sie gingen hinter die Berghütte und setzten sich auf zwei Holzklötze. Sie prosteten sich zu und tranken. Toni wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe.

»Denzl, ich überschreite jetzt meine Grenze. Ich habe ein bisserl ein schlechtes Gewissen, dass ich dir jetzt anvertraue, was ich weiß. Aber ich will net, dass du dir eine blutige Nase holst, wie man sagt. Es geht um die Rosemarie. Des Madl ist net so, wie gewöhnliche Madl sind. Sie ist jetzt schon einige Tage hier oben bei uns. Das war Pfarrer Zandlers Idee. Er hat sie für ein bis zwei Wochen zu uns heraufgeschickt. Er hofft, dass das Madl danach glücklicher ist und auch froher aussieht. Die Rosel, wie sie gerufen wird, ist sehr still. Sie ist so verschlossen, wie ich es noch nie bei jemandem erlebt habe. Sie ist wirklich ein ganz stilles und bescheidenes, sehr zurückhaltendes Madl. Sie lächelt auch kaum. Sie redet nur, wenn man sie direkt anspricht. Auch dann sagt sie nicht viel. Selbst der Franzi ist es nicht gelungen, sie aus der Reserve zu locken. Es ist, als hätte die Rosel eine Wand um sich herum aufgebaut. Es ist schwer, sich mit ihr zu unterhalten. Anna redet mit ihr über Kochen und Backen, über Küche und Hausarbeit. Das klappt besser. Aber auch bei diesen Themen ist sie sehr zurückhaltend. Pfarrer Zandler ist der festen Meinung, dass des Madl einen stillen Kummer hat, etwas, was wie ein Stein auf ihrem Herzen lastet und alle Fröhlichkeit und Unbeschwertheit unterdrückt. Vielleicht wurde sie von einem Burschen enttäuscht. Liebeskummer ist der schlimmste Kummer, sagt man. Ich kann dir deshalb nicht sagen, ob sie einen Burschen hat oder hatte. Sie macht nicht die geringste Andeutung über ihr Leben.«

»Des hört sich an, als hätte ich eine schwere Nuss zu knacken«, seufzte Gaudenz.

»Klingt, als hättest du dich in das Madl verliebt.«

»Ja, Toni! Jedenfalls hab’ ich sie in deinem Auto sitzen gesehen, und die Türen meines Herzens flogen auf, dass die Angeln nur so krachten. Des war am Dienstag. Jetzt haben wir Freitag, und jede Minute seit dem Augenblick vor eurem Haus musste ich an des Madl denken. Sie geht mir einfach nicht aus dem Sinn.«

Gaudenz trank einen Schluck Bier.

»Was du erzählst, klingt nicht gerade ermutigend, Toni. Danke, dass du mit mir geredet hast. Da ist guter Rat gefragt. Ich muss mir überlegen, wie ich es angehe.«

»Im Augenblick kann ich dir keinen Rat geben, Gaudenz.«

»Meinst, ich könnte sie so zum Tanz auffordern …, ohne, dass sie mir einen Korb gibt.«

»Ich glaube net, dass sie mit dir tanzt oder mit einem anderen Burschen. Sie hat die Anna gefragt, ob sie während des Hüttenabends in der Küche bleiben und dort die Arbeit übernehmen kann. Anna hat nur herausgefunden, dass sie sich aus Geselligkeit nicht viel macht. Sie will wohl auch vermeiden, zum Tanz aufgefordert zu werden oder in irgendeiner Art angesprochen zu werden.«

»Himmel, des klingt ja sehr abschreckend! Eigentlich wäre es besser, ich würde die Finger davon lassen. Aber das kann ich nicht, Toni! Mir geht des Madl nimmer aus dem Kopf. Ich habe sie gesehen, und es war einfach um mich geschehen. Es ist, als hätte ich auf sie gewartet. Ein Blick genügte mir, verstehst?«

Toni nickte. Sie prosteten sich wieder zu und tranken.

»Mir erging es mit meiner Anna auch so, damals im Zug nach Frankfurt. Sie saß mir gegenüber, und ich sah sie an. Ab diesem Augenblick wusste ich, dass der jungen Frau in der eleganten Reisekleidung mein Herz gehört. Damals war ich schlechter dran, als du jetzt. Ich kannte ihren Namen nicht und wusste nicht, woher sie kam. Ich bekam nur mit, dass sie in Frankfurt ausstieg.«

»Und jetzt seid ihr ein glückliches Paar!«

»Ja, das sind wir, und wir haben die beiden Kinder.«

Sie tranken wieder.

»Es macht Hoffnung, dass du Annas Herz erobert hast. Du hattest nicht aufgegeben, Toni. Und ich werde auch nicht aufgeben.«

Gaudenz rieb sich das Kinn.

»Jeder Mensch hat eine schwache Stelle, an der er zu packen ist. Ich überlege mir, wie ich sie ansprechen kann. Wenn ich gleich ins Schwarze treffe, dann habe ich vielleicht eine Chance.«

»Lass uns nachdenken, Gaudenz! Da muss doch etwas zu finden sein! Fassen wir zusammen! Sie ist ein ruhiges, stilles Madl. Sie ist häuslich. Sie legt keinen Wert auf Geselligkeit, wie es aussieht. Trauer hat sie nicht, obwohl sie nur dunkle Dirndl trägt.«

»Ich werde sie beobachten, Toni! Sag mal, bleibt sie wirklich den ganzen Abend in der Küche der Berghütte?«

»Im Prinzip schon, auch wenn sie vielleicht auch mal Sachen hinausträgt oder das schmutzige Geschirr holt. Sie wird aber auf keine Weise am Hüttenfest teilnehmen, also tanzen oder sich unterhalten. Auf was willst du hinaus? Dir geht doch eine Idee im Kopf herum, Denzl!«

»Es gibt ein Sprichwort: ›Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muss der Berg zum Propheten gehen‹, verstehst du, Toni?«

»Ich kenne das Sprichwort, aber was willst du damit sagen?«

»Du stellst mich ihr vor. Sagst, ich sei ein alter Freund aus Waldkogel, der heraufgekommen ist, um während des Hüttenabends zu helfen. Ich beziehe Stellung hinter dem Tresen im Wirtsraum der Berghütte. Dann kann ich in ihrer Nähe sein. Irgendwie werde ich es dann hoffentlich schaffen, mit ihr unverfänglich zu reden. Ich muss sie erst einmal dazu bringen, dass sie mich akzeptiert. Ich denke, dass sie kein Madl ist, das man im Sturm erobern kann. Wenn ich bei ihr eine Chance habe, dann nur, wenn ich auch den Stillen spiele, der nur gekommen ist, um zu helfen, damit du draußen beim Grill sein kannst und bei den Bierfässern.«

»Du, Gaudenz, die Idee ist nicht so schlecht. Jedenfalls wünsche ich dir Weidmannsheil, wie man sagt.«

Sie tranken ihr Bier aus. Toni und Gaudenz gingen zusammen nach vorne. Toni sprach heimlich kurz mit Anna und dem alten Alois. Dann ging er mit Gaudenz in die Küche. Rosel stand am Küchentisch und schnitt Brot auf.

»Rosel, wir haben Besuch bekommen. Das hier ist der Gaudenz Moosbauer. Du hast ihn ja schon einmal gesehen, als ich ihn bei meinen Vater getroffen habe. Aber jetzt kann ich ihn dir persönlich vorstellen. Gaudenz und ich kennen uns seit der Schulzeit. Er ist gekommen, um uns zu helfen. Denzl wird hinter dem Tresen Stellung beziehen. Er kann dir auch hier drin etwas zur Hand gehen. Anna und ich werden draußen beim Grill und dem Bier sein.«

Ganz wie es ihre Art war, nickte Rosel. Gaudenz streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich bin der Gaudenz.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann gab sie ihm die Hand.

»Rosemarie! Gerufen werde ich Rosel. Das ist kürzer, hat nur zwei statt vier Silben!«

»Mir gefällt Rosemarie sehr gut, auch wenn der Name länger ist als Rosel.«

Gaudenz war sich nicht sicher. Huschte ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht? »Gut, jetzt seid ihr miteinander bekannt. Ich lasse euch alleine. Gaudenz, du kannst gleich hinter dem Tresen Stellung beziehen. Übrigens vielen Dank, dass du gekommen bist und hilfst.«

»Mache kein Aufheben daraus, Toni. Du weißt, dass ich es gerne tue. Zupacken tue ich lieber, als Herumsitzen und Bier trinken. Ich tanze ja nicht so gern.«

»Ja, ja, du hast eben zwei linke Füße.«

»Richtig, aber besser zwei linke Füße als zwei linke Hände.«

Sie lachten. Toni ging hinaus auf die Terrasse. Gaudenz wusch sich die Hände.

»Rosemarie, Brotschneiden ist einfach. Diese Arbeit kann ich dir abnehmen. Vielleicht hast du noch andere Arbeit zu tun, Arbeit, die ich als Mann net machen kann. Also gib mir das Messer.«

Rosemarie zögerte. Doch dann überließ sie ihm am Tisch das Brett und die Brote. Sie raspelte Gewürzgurken und machte daraus eine Beilage zu der Grillwurst, ähnlich einem amerikanischen Relish, das sie einmal auf einem Fest gekostet hatte. Es war ganz einfach. Sie raspelte die Gewürzgurken klein und gab feingehackte Petersilie und Schnittlauch dazu. Sie schmeckte die Mischung mit Salz, Pfeffer und etwas Zucker ab. Gaudenz beobachtet sie, sprach sie aber nicht an.

Der Abend nahm seinen Verlauf. Es wurde zuerst auf der Terrasse der Berghütte gefeiert, bis es dunkel wurde. Es wurde getanzt und gegessen. Als es auf Mitternacht zuging, legten sich die meisten der Hüttengäste schlafen. Einige wenige saßen noch beim alten Alois am Kamin und lauschten seinen Geschichten. Toni und Anna kamen in die Küche.

»Danke euch beiden für eure Hilfe. Das war wirklich ein gelungener Abend! Ich hatte endlich einmal Zeit, mit meiner Anna zu tanzen. Wollt ihr euch nicht auch noch einen Augenblick zum Alois an den Kamin setzen? Anna und ich machen hier in der Küche weiter.«

»Es ist nicht mehr viel Geschirr, das zu spülen ist, Anna. Lass mich das fertig machen. Gönnt euch eine Pause, jetzt, wo ich hier bin. Außerdem habe ich dem Pfarrer Zandler versprochen, euch zu entlasten.«

»Da hörst du es, Toni«, warf Gaudenz ein, »wenn Pfarrer Zandler das so will, dann musst du dich fügen.«

Toni unterdrückte ein Grinsen. Er legte Anna den Arm um die Schultern.

»Gut, wir geben uns geschlagen, Anna. Dann lass uns schlafen gehen. Gute Nacht, Rosel, gute Nacht, Gaudenz!«

Als sie fort waren, bemerkte Gaudenz: »Die beiden verstehen sich gut! Sie sind ein schönes Paar, die beiden, und noch so verliebt wie am ersten Tag!«

Rosemarie schaute Gaudenz an.

»Ja, die beiden sind ein schönes Paar. Sie lieben sich wirklich, das kann man sehen. Es ist schön, dass es noch solche Paare gibt«, sagte Rosemarie leise, als führte sie ein Selbstgespräch.

»Ja, es gibt sie! Es gibt sie vielleicht öfters, als man annimmt. Es wird ja meistens über Paare geredet, die sich nicht verstehen und Anlass zu Skandalgeschichten geben«, warf Gaudenz ein.

»Das ist wahr«, sagte Rosemarie leise und fügte noch leiser hinzu, »üble Geschichten und Skandale verbreiten sich schneller als gute Geschichten.«

»Des stimmt, Rosemarie! Das hast du schön gesagt. Der Mensch hat eine Sucht nach schlimmen Sensationen. Das ist eigentlich eine Schande.«

Sie nickte wieder. Gaudenz räusperte sich.

»Rosemarie, dich stört es doch nicht, dass ich Rosemarie zu dir sage und nicht Rosel?«

Sie schaute ihn an. Es kam Gaudenz vor, als leuchteten ihre Augen einen Augenblick auf.

»Du kannst weiter Rosemarie zu mir sagen, wie ich richtig heiße, wenn dir der Name nicht zu lang ist.«

»Er ist nicht zu lange. Er ist schön und passt viel besser zu dir als Rosel. Wenn jemand Rosemarie heißt, denke ich eher, man ruft das Madl vielleicht ›Marie‹, aber doch nicht ›Rosel‹.«

Rosemarie warf ihm einen kurzen Blick zu. Er nahm es als Zustimmung. Draußen in der Wirtstube der Berghütte verstummten die Geräusche. Die Letzten zogen sich auf den Hüttenboden zurück. Alois warf durch die offene Tür den beiden einen Gruß zu und ging in seine Kammer. Bello, der die ganze Zeit vor dem Kamin gelegen hatte, verzog sich zu den Kindern.

»Jetzt sind wir alleine, Rosemarie!«

»Ja, wir sind auch gleich fertig hier!«

Sie trocknete die letzten Teller ab.

»Wollen wir zusammen noch ein Bier trinken? Bitte, das kannst du mir nicht abschlagen?«

»Du kannst dir gerne ein Bier nehmen. Ich trinke einen Kräutertee!«

»Gut, dann nehme ich auch einen Tee!«

Rosemarie nahm vom Küchenregal zwei Becher und schenkte Kräutertee ein, der immer hinten auf dem Herd in einer Emailkanne stand.

»Wollen wir einen Augenblick hinaus auf die Terrasse der Berghütte gehen?«

Statt einer Antwort holte Rosemarie ihre Jacke aus der Kammer. Sie ging hinaus auf die Terrasse der Berghütte.

Gaudenz hatte inzwischen einige Decken auf zwei Stühlen ausgebreitet.

»Bitte schön!«

»Danke!«

Gaudenz schaute hinauf in die Sterne.

»Was für eine schöne Nacht! Es ist zwar etwas kühl, aber dafür ist die Luft klarer. Man kann die Sterne noch besser sehen und den Mond.«

»Ja, es ist ein sehr schöner Anblick! Einfach überwältigend.«

»Gefällt dir Waldkogel?«, fragte Gaudenz.

»Ja! So auf den ersten Blick ist es sehr schön und die Menschen sind sehr freundlich. Es ist ein besonderer Ort.«

»Ja, Waldkogel ist ein besonderer Ort. Jeder, der einmal hier war, der kommt wieder. Wie lange bleibst du?«

»Es sind vier Wochen, bis Frau Träutlein aus der Kur zurück ist.«

»Und was machst du danach?«

»Ich werde in ein anderes Pfarrhaus als Vertretung geschickt.«

»Gefällt dir das?«

»Darauf kommt es nicht an! Es ist meine Arbeit!«

»Ich stelle mir das schwierig vor, ständig fremd zu sein. Sehnst du dich nicht, daheim zu sein?«

Rosemarie schwieg und schaute in den Becher mit dem Kräutertee.

»Es gefällt mir so!«

Gaudenz fiel auf, dass Rosemarie seine Frage nicht beantwortet hatte. Er dachte nach.

Behutsam steuerte er das Gespräch.

»Soll ich aus deiner Antwort schließen, dass die Fremde dir lieber ist als die Heimat?«

»Heimat – Fremde! Das sind bedeutungsschwere Wörter.«

»Du möchtest nicht darüber sprechen, Rosemarie?«

»So ähnlich! Ich rede kaum über mich. Es gibt auch nichts zu sagen. Außerdem habe ich im Leben gelernt, vorsichtig und nicht zu vertrauensselig zu sein. Ich bin mal hier, mal dort, immer nur einige Wochen. Wenn man ein Leben auf der Durchreise führt, dann stellt man sich um. Man passt sich an, hütet sich, Bekanntschaften zu knüpfen, denn man weiß, dass man wieder fortgehen wird. Es würde nur schmerzen.«

»Jetzt verstehe ich! Deshalb bist du so schweigsam. Es ist ein Selbstschutz. Bist du früher einmal enttäuscht worden? Oder willst du nicht mit mir darüber reden?«

»Ist nicht jeder Mensch schon einmal enttäuscht worden?«

»Du weichst meiner Frage aus.«

»Ich rede nicht über persönliche Dinge. Das bringt nichts.«

»Du bist sehr enttäuscht worden.«

»Wenn du unbedingt willst – ja! Aber ich möchte nicht darüber reden.«

»Du hast Angst vor Mitleid!«

»Möglich …, ja, wahrscheinlich ist es so. Es gibt viele Menschen mit falschen Gefühlen.«

»Hat dich ein Bursche so enttäuscht? Bist du verliebt gewesen und die Liebe ist zerbrochen?«

»Nein!«

»Wie? Ist das ein Nein auf meine erste Frage oder auf meine zweite Frage?«

»Auf beide Fragen! Warum interessiere ich dich? Das tue ich doch oder?«

Gaudenz spürte wie sein Herz schneller schlug.

»Ja, du interessiert mich. Ich hab mich gleich für dich begeistert«, verliebt wollte er nicht sagen, das schien ihm zu gewagt, bei Rosemaries Scheu. »Gleich als ich dich in Tonis Auto sah, bist du mir angenehm aufgefallen. Ist es schlimm, wenn ich dir gestehe, dass ich deinetwegen auf die Berghütte gekommen bin?«

»Nein, es ist nicht schlimm. Du solltest dir aber keine Hoffnungen machen.«

»Das ist ja nicht gerade ermutigend.«

»Ich will ehrlich sein, Gaudenz! Ehrlich und fair!«

»Es gibt wenige ehrliche Menschen, die dazu noch fair sind.«

»Das stimmt, Gaudenz. Es gibt viele richtige Gauner und Betrüger. Die Welt wäre um so vieles besser, und es gäbe so viel weniger Leid und Tränen, wenn …« Rosemarie verstummte.

Sie räusperte sich.

»Entschuldige, ich rede zu viel«, flüsterte sie leise.

»Du musst dich nicht entschuldigen, Rosemarie. Ich freue mich über jedes Wort aus deinem Mund. Du bist so anders als die anderen Madln. Ich kenne zwar keines der Madln näher. Ich habe bisher sie nur von weitem angesehen. Ich war mit so vielen anderen Sachen beschäftigt, dass ich keine Zeit hatte, den Madln nachzusteigen, wie man in den Bergen sagt. Und kein Madl, das ich von weitem angesehen habe, hatte so eine Ausstrahlung wie du, Rosemarie. Du bist ganz besonders, ein ganz besonderer Mensch. Du beeindruckst mich sehr.«

Sie wandte den Kopf ab und schwieg. Gaudenz wartete eine Weile und warf ihr dann einen Blick zu. Er sah, wie Rosemarie stumm Tränen die Wangen herunterliefen. Er reichte ihr sein Taschentuch.

»Was hast du? Geteiltes Leid ist halbes Leid! Ich schwöre dir, dass dein Geheimnis gut bei mir aufgehoben ist.«

Sie wischte sich dir Tränen ab.

»Ich bin nur verlegen. Du hast mich verlegen gemacht. Noch nie hat mir jemand gesagt, dass ich besonders bin, ein ganz besonderer Mensch, im Guten, verstehst du?«

Gaudenz rückte ein Stück näher.

»Wer hat dir wehgetan? Wer hat deine Seele so verletzt, dass ein einfaches Kompliment dich zu Tränen rührt?«

»Einige!«

Und wieder quollen Tränen aus ihren Augen.

»Ich bin nicht einer von ihnen! Ich bin Gaudenz Moosbauer!«

Sie nickte eifrig.

»Gut! Weiter! Ich bin Gaudenz und du bist Rosemarie! Und über uns sind nur der Sternenhimmel und die göttliche Unendlichkeit. Ich denke, dass nichts geschieht ohne Sinn. Unsere Wege haben sich gekreuzt, weil es einfach vorgesehen war, dass wir uns begegnen. Denkst du nicht, dass es so sein könnte?«

»Es ist jedenfalls geschehen. Ich kann nur schlecht mit Freundlichkeit umgehen, die mir entgegengebracht wird.«

Gaudenz Herz klopfte wild. Es schmerzte ihn tief, Rosemarie so leiden zu sehen.

»Jemand muss dich tief verletzt haben. Sage mir, wer es war und ich schlage mich mit ihm und Toni wird auch dabei sein und viele unserer Freunde. Ich denke, dass sogar Pfarrer Zandler dabei wäre.«

»Jetzt machst du Witze, Gaudenz! Aber es klingt gut. Ich werde versuchen, nicht mehr zu weinen.«

Ohne sie zu fragen, fuhr Gaudenz mit der Hand über ihre feuchten Wangen. Dann nahm er sie bei der Hand.

»Komm mit, wir gehen ein Stück das Geröllfeld hinauf. Du kühlst dein Gesicht mit kaltem klarem Wasser aus dem Gebirgsbach. Damit dein schönes Gesicht nicht leidet. Du hast so ein schönes Gesicht! Es soll doch morgen früh niemand sehen, dass du geweint hast. Was würden Toni und Anna denken? Sie würden mich sofort zur Rede stellen. Sie würden denken, ich hätte dir ein Leid angetan, dich gekränkt. Das willst du doch nicht oder?«

»Nein!«

Gaudenz hielt ihre Hand fest, bis sie zum Gebirgsbach kamen. Er nahm sein Halstuch ab und tauchte es ins kalte Wasser. Dann tupfte er ihr Gesicht damit ab. Er lächelt sie an.

»Bist du schon irgendwo gewesen außerhalb der Berghütte? Kennst du das ›Erkerchen‹ oder den ›Paradiesgarten‹?«

»Nein!«

»Bist du müde?«

»Nein!«

»Dann gehen wir jetzt zum ›Erkerchen‹. Es ist nicht weit. Und morgen oder am Sonntag können wir zusammen zum ›Paradiesgarten‹ wandern.«

»Danke für die Einladung. Ich habe keine Zeit. Ich bin auf der Berghütte, um Anna und Toni zu helfen.«

»Tagsüber! Aber jetzt ist Nacht! Toni und Anna schlafen! Gib mir deine Hand. Es wäre zwar besser, wir hätten eine Stablampe, aber wenn wir vorsichtig sind, macht es nichts, wenn wir in der Dunkelheit gehen. Außerdem ist es eine mondhelle Nacht. Ich bin hier in den Bergen aufgewachsen und kenne jeden Pfad wie meine Westentasche. Ich werde auf dich aufpassen.«

Er zog Rosemarie einfach mit sich. Sie ließ es geschehen. Ihr Herz klopfte. Sie wusste nicht, dass es von der Liebe kam, die ihr widerfuhr. Dass man so lieb zu ihr war, war neu für sie. So etwas hatte sie noch nie erfahren. Es wühlte sie nur auf. Aber gleichzeitig war es so schön, dass sie sich unbewusst wünschte, die Nacht würde nie vorübergehen, die Zeit würde einfach stehenbleiben.

Sie gingen weiter über das Geröllfeld. Oben ging Gaudenz voraus.

»Am besten, du bleibst dicht hinter mir. Wir orientieren uns am Felshang auf der rechten Seite des Pfa­des. Es kann dir nichts geschehen. Ich halte dich bei der linken Hand. Deine rechte Hand legst du mir von hinten auf die Schulter.«

Zögernd und sehr sachte legte Rosemarie ihre Hand auf Gaudenz Schulter. Sie spürte seine warme Haut unter dem Hemd. Eine unbekannte Sehnsucht nach mehr Berührung schlich sich in ihr Herz.

Sie gingen los und erreichten sicher das ›Erkerchen‹.

»Schau, von hier aus kann man das ganze Tal überblicken. Liegt Waldkogel nicht schön im Mondlicht?«

»Es schaut wunderbar aus«, seufzte Rosemarie. »In nur ganz wenigen Häusern brennt noch Licht. Dort ist der Marktplatz. Die Kuppel des Turmes der Kirche mit dem Kreuz leuchtet im Mondschein. Danke, dass du mich hergebracht hast. Das ist ein wunderschöner Anblick. Ich bin mir sicher, dass ich ihn niemals vergessen werde, solange ich lebe.«

Sie setzten sich auf die Bank. Gaudenz hielt noch immer Rosemaries Hand fest. Sie entzog sie ihm auch nicht. Das freute ihn sehr. Behutsam legte er erst seinen Arm hinter sie auf die Rückenlehne der Bank. Dann glitt sein Arm weiter, bis er um ihre Schultern lag.

Ihr kam es vor, als erfasste sie eine vorher unbekannte Geborgenheit.

»Gaudenz, als Kind machte ich immer ein Spiel mit mir selbst. Ich dachte mir Wünsche aus, die ich einer Fee sagen würde, wenn sie vorbeikäme.«

Sie schauten sich im Mondlicht an. Gaudenz lächelte Rosemarie an.

»Hier gibt es keine Feen, aber Engel. Kennst du die Geschichte vom ›Engelssteig‹ über uns?«

»Toni hat auf dem Weg von der Oberländer-Alm zur Berghütte etwas erzählt. Er sprach auch über das ›Höllentor‹.«

»An das ›Höllentor‹ sollst du jetzt nicht denken. Also, die Engel steigen jede Nacht auf einer unsichtbaren Leiter vom Gipfel des ›Engelssteigs‹ hinauf in den Himmel. Wir hier alle in Waldkogel glauben, dass sie die Sehnsüchte, Wünsche und Gebete der Menschen hinauf in den Himmel tragen, zum Herrgott, seinem Sohn und der Heiligen Mutter Gottes. Es gibt viele Geschichten darüber. Verzweifelte Menschen haben sich ihnen anvertraut, und alles hat sich zum Guten gewendet.«

»Das ist schön und hört sich tröstlich an.«

»Was würdest du den Engeln sagen oder was willst du den Engeln sagen?«

»Ich würde ihnen sagen, dass es hier sehr schön ist. Dass sie die Zeit anhalten sollen, damit ich die Schönheit noch eine Weile erleben kann.«

»Sie werden für dich die Zeit anhalten, Rosemarie. Da bin ich ganz sicher. Doch auch Engel brauchen manchmal Hilfe von Menschen. Was kann ich für dich tun? Wer war so garstig zu dir? Wer war so bös zu dir, dass du so traurig aussiehst? Erzähle es mir.«

Rosemarie schwieg eine Weile. Er streichelte ihr den Kopf und zog ihn langsam zu sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter lag.

Rosemarie fühlte sich geborgen. Es war ein neues Gefühl, das sie so nicht kannte. Ihr Herz raste.

»Gaudenz«, sagte sie nach einer Weile, »Gaudenz, ich muss dir seltsam vorkommen, wie? Ist es nicht sündhaft, wie wir hier zusammensitzen?«

»Nein! Ich bin davon überzeugt, dass wir zusammengefunden haben, weil eine höhere Macht es so vorgesehen hat. Und ich schwöre dir, dass ich dir niemals weh tun werde.«

Langsam und zögerlich fing Rosemarie an zu erzählen.

»Mir gefällt der Anblick von Waldkogel so gut, weil ich keine Heimat habe.«

»Wie soll ich das verstehen? Hat nicht jeder Mensch eine Heimat, ein zuhause?«

»Ich habe nur ein Zimmer für meine restlichen Sachen, wenn ich nicht unterwegs bin. Ich schlafe nur höchs­tens ein oder zwei Nächte dort, bis ich wieder zum Einsatz fahre. Es ist eine kleine Dachkammer in einem Altersheim des Bistums.«

»Und dein Elternhaus?«

»Verloren!«

»Verloren? Wie soll ich das verstehen? Kannst du mir das näher erklären?«

»Ich will es versuchen. Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich weiß nur, was mir meine älteren Geschwis­ter erzählt haben. Aber an vieles können sie sich auch nicht mehr erinnern.«

Rosemarie seufzte.

»Mein Vater war Manager. Er verdiente viel Geld. Es soll ein großes schönes Haus gewesen sein. Ich habe noch ältere Geschwister. Dann machte er schlimme Betrügereien, unterschlug viel Geld. Er hatte wohl viele Frauengeschichten. Jedenfalls wurde er verhaftet, kam ins Gefängnis und wurde später verurteilt. Meine Mutter verkaufte das Haus und bezahlte alles. Wir zogen in eine kleine Wohnung und meine Mutter ging arbeiten. Mein Vater reichte die Scheidung ein. Sie wurden geschieden. Es war für meine Mutter alles zu viel. Sie wurde schwer gemütskrank. Sie war zuerst lange in einem Spezialkrankenhaus, dann viele Jahre in einem Sanatorium. Wir Kinder kamen in verschiedene Waisenhäuer. Ich war noch ein Säugling und kam in ein Waisenhaus für Babys. Als ich größer war, durchlief ich viele Waisenhäuser. Es war schlimm. Der Makel des Verbrechens meines Vaters klebte an mir. Ich war das Kind eines Betrügers. Wenn jemand einen Streich ausheckte, dann fiel der Verdacht immer zuerst auf mich. Du verstehst?«

»Ja! Das ist ja schrecklich! Wie können Menschen nur so etwas tun?«

»Das habe ich mich auch oft gefragt, Gaudenz. Ich lernte schnell, vorsichtig zu sein. Ich lernte, dass Freundschaften nicht ewig halten und Anteilnahme und Zuneigung nicht von Dauer sind. Ich machte die Schule zu Ende und lernte anschließend Hauswirtschaft an einer Schule der Kirche. Bei meiner Vergangenheit musste ich immer besser, anständiger und fleißiger als andere sein.«

»Und du hast gelernt, eine Mauer um dich herum aufzubauen. Du bist sehr vorsichtig, jedem gegenüber.«

»Ja, ich habe viele schlechte Erfahrungen gemacht! Ich lebe ständig in der Angst, dass die Vergangenheit meiner Familie mich einholt. Ich vermeide es, Bindungen jeder Art einzugehen. Deshalb gefällt mir auch meine Arbeit so. Ich bin mal hier und dann im nächsten Monat dort. Ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzähle. Ich habe noch niemals mit jemandem darüber gesprochen. Ich bin ja auch nie lange an einem Ort.«

»Das willst du ein ganzes Leben machen? Immer aus dem Koffer leben?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich später in ein Kloster.«

»Das ist ein Gedanke, der mir nicht gefällt, Rosemarie!«

»So schlimm ist es im Kloster nicht. Man hat eine Heimat und weiß, wo man hingehört. Es wird für einen gesorgt. Keiner stellt unangenehme Fragen. Keine fragt nach der Familie.«

»Deine Mutter ist noch im Sanatorium und dein Vater im Gefängnis?«

»Nein! Mein Vater wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Er hat nur ein paar Jahre abgesessen. Er ging ins Ausland. Ich habe ihn nie gesehen, ich weiß es nur. Meine Mutter brauchte lange, bis sie wieder Lebensmut fand. Sie hat wieder geheiratet, einen Pfleger aus dem Sanatorium. Wir schreiben uns zu Weihnachten und zum Geburtstag. Ich sehe sie selten. Sie hat mit ihrem zweiten Mann noch einmal Kinder bekommen. Meine Halbgeschwister wissen nichts von der Vergangenheit. Das ist auch gut so. So, und jetzt weißt du alles. Ich bitte dich, niemand etwas davon zu erzählen.«

»Aber du kannst doch nichts dafür! Warum fühlst du dich schuldig? Du hast ein Recht auf ein eigenes Leben, Rosemarie.«

»Das ist einfacher gesagt als es ist, Gaudenz. Ich habe vor einem Jahr den Antrag gestellt, in ein Kloster aufgenommen zu werden. Ich hatte auch ein Gespräch mit der Oberin. Sie erschien mir sehr freundlich zu sein und voller Verständnis. Aber sie sagte mir ab – das sei nur vorläufig. Sie würde später noch einmal auf mich zukommen. Ich weiß nicht warum. Vielleicht denkt sie auch, dass ich ein schlechter Mensch bin.«

»So ein Unsinn! Wer war die Oberin? Welches Kloster war es?«

Rosemarie zögerte zuerst, dann nannte sie Gaudenz das Kloster und den Namen der Vorsteherin.

»Also, an dir kann es nicht liegen, Rosemarie. Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat bestimmt andere Gründe gehabt. Jedenfalls bin ich der Frau sehr dankbar, dass sie dich nicht genommen hat, sonst wären wir uns nie begegnet.«

»Das stimmt! Vielleicht finde ich später Aufnahme, in einigen Jahren.«

»Rosemarie, warum willst du unbedingt in ein Kloster eintreten? Das Leben bietet doch noch andere Möglichkeiten.«

Rosemarie richtete sich auf.

»Gaudenz, ich habe alles genau bedacht. Es gibt erstens wenig Möglichkeiten für mich, und zweitens kenne ich sonst auch keine.«

»Nun, du könntest dich verlieben und heiraten, eine eigene Familie haben und deinen Kindern all die Liebe geben, die du nicht bekommen hast.«

»Das hört sich schön an, Gaudenz. Aber niemand will eine Frau, deren Vater ein Verbrecher ist und deren Mutter gemütskrank war. Es ist ein Makel. Die Menschen denken, so etwas vererbt sich.«

»Das ist doch Schwachsinn, Rosemarie! Das ist hirnrissig! Jeder der so denkt, ist total deppert!«

»Das sagst du, Gaudenz! Ich habe viele Menschen kennengelernt, die so denken. Einige haben es mir ins Gesicht gesagt, andere nur hinter meinem Rücken getuschelt.«

Gaudenz rückte dicht an Rosmarie heran. Er legte wieder einen Arm um sie.

»Rosemarie, jetzt verstehe ich deine Tränen. Ich habe solche Vorurteile nicht. Ich sehe nur dich. Du bist eine wunderbare, schöne junge Frau, ein wirklich fesches Madl, wie man hier in den Bergen sagt.«

»Du machst mich verlegen, Gaudenz!«, sagte sie leise, und ihre Stimme bebte.

Gaudenz hätte Rosemarie jetzt am liebsten geküsst. Doch er hielt sich zurück. Ich muss vorsichtig sein, dachte er. Sie hatte so viel Vertrauen zu mir, ich darf sie nicht überfordern.

Liebe, in jeder Form, wurde ihr in ihrem Leben wenig zuteil. Sie muss selbst erkennen, dass es jemanden gibt, der sie liebt, der sie nicht verrät, der zu ihr steht, der ihr treu ist, der sie so sieht, wie sie ist, als wunderbarer Mensch ohne eine Vergangenheit. Sie muss erkennen, dass ich es ehrlich meine. Dazu brauche ich Hilfe, dachte er.

Die Zeit verging schnell am ›Erkerchen‹. Über den Bergen im Osten ahnte man bereits den Tag.

»Schau, es wird bald hell, Rosemarie! Wollen wir zurückgehen oder wollen wir bleiben, bis die Sonne aufgeht. Es ist ein unbeschreibliches Erlebnis, die Sonne aufgehen zu sehen.«

»Musst du nicht wieder hinunter ins Dorf? Hast du morgen keine Verpflichtungen?«

Er lächelte sie an.

»Ich habe einen Hof. Ich betreibe aber keine große Landwirtschaft mehr. Wie haben nur noch ein paar Hühner und einen großen Gemüsegarten hinter dem Haus. Die Felder und Almwiesen sind verpachtet. Ich bin Technischer Zeichner und Freiberufler. Ich arbeite von daheim aus. Ich bin das einzige Kind. Meine Eltern sind vor einigen Jahren auf das Altenteil gezogen. Sie tun aber noch sehr viel auf dem Hof. Wir vermieten an Sommergäste. Ich kann es einrichten, dass ich über das Wochenende auf der Berghütte bleibe. Wir könnten dann zum ›Paradiesgarten‹ wandern. Der Flecken ist nur Einheimischen bekannt und auf keiner Karte verzeichnet.«

»Danke für die Einladung, Gaudenz. Du meinst es bestimmt gut. Aber gerade am Wochenende hat Anna sehr viel zu tun. Pfarrer Zandler sagte zu mir, dass ich am Sonntag nicht zur Messe in den Ort zu kommen brauche. Das Wochenende will ich Anna und Toni helfen.«

»Gut, das verstehe ich! Dann verschieben wir unseren Ausflug zum ›Paradiesgarten‹. Wir gehen nächste Woche an einem Werktag. Den Wunsch kannst du mir nicht abschlagen, Rosemarie – bitte!«

»Also gut! Wir gehen irgendwann, wenn auf der Berghütte nicht so viele Hüttengäste sind.«

»Fein! Ich freue mich! Du wirst es nicht bereuen. Man fühlt sich dort dem Himmel so nah.«

»Ich will aber nicht, dass du deine Arbeit vernachlässigst. Wir gehen nur, wenn es dir auch wirklich passt.«

»Rosemarie, was bist du doch für ein Ausbund an Pflichtbewusstsein! Sei doch etwas locker. Das Leben ist schön. Es ist wirklich schön. Du darfst nicht so viel denken und ängstlich sein. Willst du es nicht einmal versuchen?«

Sie schaute ihn an.

»Man kann doch nur etwas versuchen, von dem man weiß, wie es geht, Gaudenz. Ich bin, wie ich bin. Nur so fühle ich mich sicher. Nur so kann ich meine Welt ordnen. Ich kenne nichts anderes.«

Gaudenz seufzte.

»Habe ich etwas Falsches gesagt, Gaudenz?«

»Nein! Aber bei deinen Ansichten komme ich manchmal nicht ganz mit. Ich war noch nie mit jemand zusammen, der sich so gern in sein Schneckenhaus vergräbt. Darf ich dir einen Vorschlag machen?«

»Vorschläge kann man immer machen.«

»Gut! Danke! Wie bleiben jetzt hier sitzen, bis die Sonne ganz aufgegangen ist. Dann bringe ich dich zurück zur Berghütte. Ich gehe hinunter ins Dorf und widme mich verschiedenen anstehenden Angelegenheiten. Und an einem der nächsten Tage melde ich mich bei Toni. Er hat ein Handy. Dann reden wir und planen unseren Ausflug in die Berge. Bist damit einverstanden?«

»Wir können es probieren!«

»Warum sagst du probieren?«

»Das habe ich mir so angewöhnt, dann bin ich nicht enttäuscht, wenn etwas nicht so verläuft, wie ich es erwarte. Je weniger ich vom Leben erwarte, desto weniger kann ich enttäuscht werden.«

»Aus deiner Sicht ist das logisch. Soweit verstehe ich dich jetzt schon. Jetzt sage ich dir etwas! Erwarte, erhoffe dir immer das Schönste und das Beste, was dir Himmel und Erde geben können. Es wird geschehen. Gib dich niemals – wirklich niemals mit weniger zufrieden. Verzichte nie im Voraus auf Glück und auf Liebe!«

Sie schauten sich in die Augen. Rosemarie spürte, wie ihr Herz klopfte.

»Jemandem wie du bin ich noch nie begegnet, Gaudenz.«

»Das hast du schön gesagt! Könntest du dir vorstellen, dass wir dieses Zusammenfinden länger ausdehnen? Wünscht du es dir in einem Winkel, einem verborgenen Winkel deines Herzens?«

Es war inzwischen schon so hell, dass Gaudenz deutlich sehen konnte, wie Rosemarie tief errötete.

Er griff ihr mit der Hand unter das Kinn.

»Rosemarie, habe keine Furcht! Sei nicht ängstlich! Erforsche dein Herz und lasse die Gefühle zu. Fühle das Glück, die Liebe, die Hoffnung. Schäme dich nicht für deine Sehnsüchte und Träume. Willst du mir das versprechen?«

»Ich will es versuchen, Gaudenz! Mir schwindelt. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Mir dreht sich alles im Kopf!«

Das ist die Liebe, dachte Gaudenz. Du entdeckst die Liebe, Rosemarie. Aber das sage ich dir nicht. Du musst selbst dahinterkommen. Nur dann wirst du an die Liebe glauben.

»Es war ein langer Tag und eine lange Nacht, Rosemarie! Schau, die Sonne steht schon halb über den Berggipfeln. Lass uns zurückgehen.«

»Ja, gehen wir zurück.«

Sie standen auf und gingen Hand in Hand den Pfad zurück. Als die Berghütte in Sicht kam, sagte Rosemarie leise: »Danke, Gaudenz! Danke für das schöne Gespräch, danke, dass du mir zugehört hast. Mein Herz ist jetzt leichter, irgendwie. So etwas habe ich vorher nie verspürt.«

Er schaute ihr in die Augen. Sie sahen wirklich nicht mehr so traurig aus.

»Das freut mich. Ich möchte dir noch so viel sagen, Rosemarie. Wir werden auf unserem Ausflug wieder reden, einverstanden?«

»Ja, Gaudenz, einverstanden!«

Sie kamen zur Berghütte. Die Tür stand schon offen. Aber Toni war nicht zu sehen. Gaudenz brachte Rosemarie bis zu ihrer Kammertür.

»Schlafe gut! Gute Nacht! Und träume schön!«

Da huschte ein Lächeln über Rosemaries Gesicht und sie errötete.

»Dir auch! Und komme gut heim! Wenn du willst, kannst du deine Eltern unbekannterweise von mir grüßen.«

»Darf ich dir einen Kuss auf die Wange geben?«, fragte Gaudenz.

Sein Herz klopfte sehr.

Rosemarie sah ihn an. Die Röte stieg in ihre Wangen.

Sie schaute unter sich und schwieg.

Gaudenz näherte sich ihr vorsichtig und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Rosemarie drehte sich schnell um und verschwand in ihrer Kammer.

Gaudenz blieb einen Augenblick vor der verschlossenen Tür stehen und lächelte.

Tonis Räuspern im Hintergrund riss Gaudenz aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu Toni um.

»Mei, Gaudenz, du hast Rosemarie geküsst! Mei, des ist ja fast wie ein Wunder. Wie hast du den Eisberg zum Schmelzen gebracht?«

»Toni, ich will nicht darüber reden. Behalte bitte für dich, was du gesehen hast. Rosemarie ist sehr empfindsam und sehr verletzlich. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch, ein wunderbares Madl, und ich liebe sie. Ihr kann man sich nicht so nähern wie einem anderem Madl.«

»Ich wünsche dir Glück! Willst noch frühstücken, bevor du dich hinlegst?«

»Ich trinke einen Kaffee im Stehen. Dann gehe ich heim. Ich habe meine Pläne geändert.«

»Was du auch immer für Pläne hast, Denzl, ich drücke dir die Daumen.«

»Danke, Toni!«

Gaudenz ging mit Toni in die Küche der Berghütte. Toni schenkte ihm einen Becher Kaffee ein. Gaudenz gab viel Milch und Zucker hinein und trank aus. Dann holte er seinen Rucksack und machte sich auf den Weg hinunter auf die Oberländer Alm, hinter der er sein Auto geparkt hatte.

*

Er fuhr nicht heim. Mit Höchstgeschwindigkeit brauste er über die Landstraße und später über die Autobahn. Es war schon später Vormittag, als er durch das große offene Tor des Klosterbereiches brauste, zu dem eine schöne, alte Kirche gehörte. Er hielt vor einem großen Portal, von dem er vermutete, dass es zur Verwaltung des Klosters gehörte.

Eine ältere Nonne trat heraus.

»Grüß Gott, junger Mann! Die Parkplätze für Besucher sind auf der anderen Seite der Kirche. Die nächs­te Führung ist in einer Stunde.«

»Grüß Gott, Schwester!«, sagte Gaudenz. »Ich will nicht in die Führung. Ich suche die Oberin des Ordens.«

Die alte Nonne musterte ihn von oben bis unten.

»Haben sie einen Termin bei unserer Oberin? Sie hat mir nichts davon gesagt, dass sie Besuch erwartet heute am Samstag.«

Gaudenz atmete tief durch.

»Ich habe keinen Termin. Es hat sich erst kurzfristig ergeben, dass ich sie dringend sprechen muss. Es ist wirklich wichtig. Bitte lassen sie mich zu ihr! Bitte!«

»Warum wollen Sie die Oberin so dringend sprechen? Wie ist ihr Name? Kennt unsere Oberin Sie?«

Gaudenz seufzte tief.

»Mein Name ist Gaudenz Moosbauer. Ich komme aus Waldkogel und muss sie in einer wirklich dringenden Angelegenheit sprechen.«

Die Nonne musterte Gaudenz noch einmal. Dann sagte sie: »Warten Sie hier! Versprechen kann ich nichts. Es kann etwas dauern!«

Gaudenz nickte. Er wartete und lief dabei vor seinem Auto auf und ab. Dabei schaute er binnen einer Minute gleich mehrmals auf die Uhr. Er sah nicht, dass er von einem Fens­ter aus beobachtet wurde.

Endlich kam die Schwester an die Tür und hielt sie ihm auf.

»Unsere Oberin erwartet Sie! Kommen Sie bitte herein!«

»Danke!«

Gaudenz folgte der alten Schwester, die an einem Stock ging. Sie brachte ihn in einen großen Raum, offensichtlich das Büro der Oberin. Diese saß hinter einem Schreibtisch voller Papiere. Sie stand auf und ging Gaudenz entgegen.

»Grüß Gott, Herr Moosbauer! Was kann ich für sie tun?«

»Grüß Gott! Erst mal danke, dass Sie Zeit für mich haben.«

Die Oberin bat Gaudenz, Platz zu nehmen und betrachtete ihn. Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht.

»Entschuldigen Sie, dass ich unrasiert bin. Normalerweise sehe ich nicht so aus, aber ich bin gleich nach Sonnenaufgang durchgefahren. An eine Rasur habe ich nicht mehr gedacht.«

Die Oberin lächelte gütig.

»Also, ich will gleich zur Sache kommen. Sagt Ihnen der Name Rosemarie Rankl etwas?«, fragte Gaudenz.

»Ja, was ist mir ihr?«

»Sie dürfen Sie nicht in den Orden aufnehmen!«, platzte Gaudenz heraus.

Die Oberin runzelte die Stirn.

»Haben Sie deshalb den weiten Weg gemacht, um mir das zu sagen? Warum sollte ich das nicht tun?«

Gaudenz spürte, wie sein Herz klopfte.

»Es mag Ihnen vielleicht … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … Ich habe Rosemarie kennengelernt. Sie macht Vertretung für die Haushälterin von Pfarrer Zandler bei uns in Waldkogel. Da sind wir uns über den Weg gelaufen. Jedenfalls, ich habe sie gesehen, und mir war sofort klar, dass sie ein wunderbarer Mensch ist. Sie ist wirklich ein besonderer Mensch, ein ganz besonderes Madl. Wir haben die ganze Nacht geredet – nur geredet! Sie hat mir viel aus ihrem Leben erzählt. Sie hat so wenig Liebe erfahren. Ich liebe sie! Ich will sie heiraten. Aber Rosemarie sprach von einer Zukunft im Kloster. Sie verstehen?«

»Herr Moosbauer, ganz so weltfremd sind wir nicht, wie uns immer angedichtet wird. Sie müssen Rosemarie wirklich gern haben, wenn sie gleich zu mir kommen.«

»Ja, ich habe sie nicht nur gern. Ich liebe Rosemarie!«

»Haben Sie es ihr gesagt?«

»Das wäre zu viel auf einmal gewesen. Rosemarie ist nicht so wie andere Madln. Bei ihr kann ich so ein Thema nicht einfach anschneiden. Ich vermute fast, dass jede Art von Liebe und Zuneigung fremd für sie ist. Sie ist sehr verschlossen und unsicher. Ich tastete mich behutsam heran und sagte ihr, dass sie besonders sei. Da kamen ihr die Tränen. Aber dann fasste sie Vertrauen zu mir, und wir unterhielten uns die ganze Nacht. Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte in Kurzfassung. Sie ist heimatlos und wählt das Klos­ter, um eine Heimat zu haben. Sie sehnt sich nach einem Ort der Sicherheit und Geborgenheit. Ich möchte ihr Heimat geben auf meinem Hof. Heimat in meinem Herzen habe ich gleich beim ersten Anblick gegeben. Aber ich fürchte, alleine schaffe ich es nicht. Ich brauche Hilfe. Ich liebe Rosemarie so und will ihr wirklich ein guter Mann sein. Ich weiß, dass ich Geduld mit ihr haben muss. Sie muss sich nicht nur zu mir bekennen, sondern erst einmal sich selbst entdecken. Sie muss erkennen, dass ihre Herkunft nichts mit ihr als Person zu tun hat. Ich habe nur einen Wunsch, sie glücklich zu machen.«

Aus Gaudenz war es einfach so herausgesprudelt. Die Oberin lächelte.

»Sie sind ein mutiger und doch besonnener junger Mann. Sie sagen, sie arbeitet im Pfarrhaus in Waldkogel?«

»Ja, aber nicht ganz!«

Gaudenz erzählte alles, was er wusste, dass Rosemarie auf der Berghütte weilte, weil sie Pfarrer Zandler dorthin geschickt hatte. Er erzählte von dem Gespräch mit seinem Freund Toni, der ihm die Bedenken und Überlegungen Pfarrer Zandlers anvertraut hatte. Er berichtete, wie er sich Rosemarie vorsichtig genähert hatte und ließ am Schluss auch den zaghaften Kuss auf die Wange nicht aus.

»Sie hat sich von Ihnen küssen lassen? Das kommt fast einem Wunder gleich. Junger Mann, Sie wissen nicht, was sie da vollbracht haben!«

Gaudenz schaute die Oberin erstaunt an. Diese stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und telefonierte.

»Sie haben seit gestern Abend nichts mehr gegessen. Ich lasse etwa bringen. ›Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen‹, sagt ein altes Sprichwort. Und Sie werden alle Kraft brauchen.«

Zwei jüngere Nonnen fuhren einen großen Teewagen herein und verschwanden wieder. Die Oberin deckte selbst den Tisch und sie begannen zu essen. Dabei erzählte sie von Rosemarie. Als junge Nonne hatte sie in dem Kinderheim gearbeitet, in das Rosemarie als Baby gebracht worden war.

»Sie war damals schon ein stilles Kind und sehr ernst. So blieb sie auch. Später war ich Leiterin eines Heims für Mädchen. Rosemarie gehörte zu den Kindern im Heim. Sie war immer noch sehr ernst und zog sich zurück. Sie war nie fröhlich und ausgelassen. Sie hatte wenig Selbstvertrauen. Sie schloss nie Freundschaften und hielt sich immer abseits. Sie verschloss ihre Gefühle nach außen hin, dass es schmerzte, sie so zu sehen.«

»Rosemarie sagte, sie hätte schlechte Erfahrungen gemacht. Man hätte sie verdächtigt, weil ihr Vater …, sie wissen schon.«

»Nicht in dem Kinderheim, in dem ich die Leitung hatte. Aber die Mädchen gingen in eine öffentliche Schule. Mit dem Namen Rankl war einmal ein großer Skandal verbunden. So etwas bleibt den Menschen in Erinnerung. Und Kinder können ungerecht und hart sein. Doch Rosemarie hat nie bei mir geklagt.«

Die Oberin schenkte Gaudenz noch eine Tasse Kaffee ein.

»Ich bin mir sicher, dass Rosemarie eine gute Mutter sein würde. Sie ist wirklich ein besonderer Mensch. Ich hätte sie gerne hier als Nonne.«

Die Oberin sah, wie Gaudenz vor Schreck zusammenzuckte und hob beschwichtigend die Hand.

»Ich habe ihren Antrag erst einmal abgelehnt, weil sie ihn aus dem Motiv der Flucht gestellt hat. Das habe ich ihr aber nicht gesagt. Ich bin der Meinung gewesen, dass sie sich nach all den Jahren in Heimen und Schulen im wirklichen Leben den Wind um die Nase wehen lassen sollte. Sie sollte das wirkliche Leben kennenlernen, damit sie weiß, auf was sie sich einlässt, wenn sie darauf verzichtet.«

Die Oberin lächelte Gaudenz an.

»Es scheint, dass Sie ihr eine Tür zum Leben geöffnet haben. Gehen Sie den Weg weiter, junger Mann. Wenn sich Rosemarie für sie entscheidet, dann werden Sie bestimmt sehr glücklich mit ihr werden. Sie wird eine hingebungsvolle, treue Ehefrau sein und eine wundervolle Mutter. Dessen bin ich mir ganz sicher.«

Gaudenz strahlte. Er wollte zu einem Satz ansetzen.

Aber die Oberin gebot ihm, zu warten.

»Ich kann und werde Rosemarie zu einem späteren Zeitpunkt den Eintritt in den Orden nicht verwehren, wenn sie noch will. Es ist die Rosemaries Entscheidung. Sie soll sich mit den Möglichkeiten eines bürgerlichen Lebens auseinandersetzen. Sie soll alles abwägen, damit sie die richtige Entscheidung trifft. Nur dann ist es eine wahre Entscheidung.«

Sie lächelte.

»Persönlich wünsche ich mir, dass Rosemarie die Liebe entdeckt, die sie ein Leben lang so vermisst hat. Sicher können Sie ihr Elternliebe nicht geben, sondern nur die Liebe eines Mannes. Aber das ist mehr, als sich Rosemarie je erhofft hat. Sie traut der Liebe zwischen zwei Menschen nicht durch ihre Erfahrung im Elternhaus, auch wenn sie noch klein war. Wer nicht in einem glücklichen Elternhaus aufwächst, mit sich liebenden, selbstlosen, ehrlichen Eltern, dem fehlt das Urvertrauen. Wo jeder Mensch im Herzen ein warmes Polster hat, hat Rosemarie eine gähnende Leere. Es ist zu wünschen, dass Sie diese Leere füllen. Nach dem, was sie mir erzählt haben, scheinen Sie auf dem besten Weg zu sein, diese Leere auszufüllen. Doch Rosemarie muss selbst erkennen, dass sie es will, ein Leben mit Ihnen. Verstehen Sie? Alles, was ich Ihnen sagen kann ist, dass ich Sie verstehe und Rosemarie nicht zu einem Beitritt in den Orden drängen werde. Ich werde ihr genügend Zeit geben, ihren Lebensweg zu bedenken.«

»Ich verstehe, wie Sie das meinen. Ich hoffe Rosemarie entscheidet sich für mich.«

»Ich hoffe, dass sich Rosemarie so entscheidet, dass Sie es in ihrem weiteren Leben nicht bereut.«

Die Oberin lächelte Gaudenz an.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Ich liebe Rosemarie wirklich.«

»Das glaube ich Ihnen! Falls Sie ihr von meinem Besuch erzählen, dann sagen Sie ihr Grüße von mir. Ich denke, es wäre allerdings sehr ratsam, ihr erst einmal nichts davon zu sagen.«

Die Oberin stand auf. Sie begleitete Gaudenz zum Auto.

»Fahren Sie vorsichtig, Herr Moosbauer. Sie sind müde und haben heute Nacht nicht geschlafen.«

»Das werde ich! Und nochmals danke!«

Gaudenz stieg ins Auto und fuhr davon. Die Oberin schaute ihm nach. Er würde ein guter fürsorglicher Ehemann für Rosemarie abgeben. Er liebt sie wirklich. Er liebt sie so sehr, dass er sich sogar mit der Kirche anlegen würde und dazu gehört eine gehörige Portion Mut, dachte sie.

Sie ging wieder in ihr Arbeitszimmer. Dort zündete sie auf ihrem kleinen Altar eine große Kerze an. Sie betete darum, dass Rosemarie ihren Weg finden wird, wie immer sie sich auch entscheidet.

*

Rosemarie wachte auf. Sie streckte sich und rieb sich die Augen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr ließ sie im Bett aufspringen. Es war schon Nachmittag.

»Oh Gott, ich habe total verschlafen!«, stöhnte sie vor sich hin.

Schnell wusch sie sich, putzte die Zähne und zog sich an. Dabei lauschte sie auf Geräusche. Aber es war sehr still. Kein Laut drang aus der Wirtsstube durch die Tür. Rosemarie machte ihr Bett und ging hinaus. Anna saß am Kamin und trank eine Tasse Tee.

»Guten Morgen oder besser Guten Tag, Anna! Ich habe verschlafen. Es tut mir leid und ist mir peinlich!«

Rosemarie sah zerknirscht aus. Anna lachte. Sie stand auf und ging zu ihr.

»Du bist schon ein herziges Madl, wie man in den Bergen sagt, Rosel! Du musst doch kein schlechtes Gewissen haben. Toni hat mir erzählt, dass du spät ins Bett gegangen bist. Also, was soll es?«

Rosemarie errötete tief. Nervös spielte sie mit ihren Schürzenbänder.

»Anna, ich bin schon früher gelegentlich spät ins Bett gegangen, wenn ich zum Beispiel für Prüfungen gelernt habe. Ich musste mir nie einen Wecker stellen. Ich bin immer von ganz alleine pünktlich und rechtzeitig aufgewacht. Nur heute scheint mein innerer Wecker nicht zu funktionieren.«

Anna legte den Arm um Rosemaries Schultern.

»Stopp jetzt! Kein Wort mehr! Es ist, wie es ist, und zu verschlafen ist kein Drama. Wir gehen jetzt in die Küche. Dann gibt es erst einmal ein ausgiebiges Frühstück.«

»Wo sind die Hüttengäste? Es ist niemand hier.«

»Es regnet seit dem frühen Morgen. Die meisten sind abgereist. An Regentagen ist es immer sehr ruhig. Schau mal raus. Über dem Tal hängen dichte Wolken und es regnet und regnet. Ich mag solche Tage und genieße dann die Einsamkeit hier auf der Berghütte. Außerdem bringt Regen Wasser, und Wasser wird gebraucht, ganz dringend. Die Almwiesen waren sehr trocken. Das Vieh wird sich freuen.«

Sie gingen in die Küche. Anna drückte Rosemarie auf einen Stuhl. Sie deckte den Tisch und setzte sich zu ihr.

»Toni hat sich auch noch einmal schlafen gelegt. Er war früh aufgestanden und hat mich länger schlafen lassen. Die Kinder schliefen auch länger. Jetzt sind sie in ihren Zimmern. Sebastian liest, und Franziska schreibt ihrer Brieffreundin einen Brief. Alois ist in seiner Kammer und sortiert alte Fotos. Du siehst, fast könnte man glauben, die Berghütte sei in einen Dornröschenschlaf gefallen. Du musst dir also keine Gedanken machen. So haben wir viel Zeit zum Reden, wenn du magst. Du bist ja jemand, der sein Herz nicht gerade auf der Zunge trägt.«

Rosemarie errötete. Sie machte sich ein Brot mit Butter von der Oberländer Alm und gab Himbeermarmelade darauf, die Tonis Mutter aus Gartenfrüchten eingekocht hatte. Anna schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich.

»Ja, ich bin nicht sehr gesprächig. Aber so war ich schon immer. Das soll nicht bedeuten, dass ich euch alle ablehne und nicht mit euch reden will. Ich war mein ganzes Leben irgendwie immer alleine, hatte keine richtigen Freunde, keine Busenfreundin, mit der man alles beredet. Es hat sich einfach nicht ergeben, dass ich zu jemandem wirklich Vertrauen aufbauen konnte. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht und mich wohl deshalb schon als Kind entschlossen, meine Gedanken für mich zu behalten und wenig zu reden. Wenn man schweigt, gibt man nichts von sich preis und kann auch nicht enttäuscht werden.«

»Mm, zwar ist da etwas Wahres dran, aber dir entgehen vielleicht auf diese Weise auch Erfahrungen, die positiv sind. Ich sage Franzi und Sebastian immer, mit allem im Leben ist es so wie mit dem Laufen lernen oder wenn man lernt, das Gleichgewicht auf dem Fahrrad zu halten. Im Anfang kann man sich blutige Knie holen. Das Wichtigste ist einfach, dass man weitermacht. Man muss es wieder probieren und immer wieder probieren. Es ist für mich als Mutter sehr wichtig, die Kinder dafür zu loben, dass sie etwas Neues versuchen. Nicht das Ergebnis ist wichtig, sondern der Versuch, es zu probieren. Ich ermutige die beiden, so gut ich kann, immer wieder etwas anzupacken, was sie vorher noch nie gemacht haben. Der Erfolg stellt sich dann von selbst ein, auch wenn er nur in kleinen Schritten kommt. Außerdem können sie nur so herausfinden, was ihnen Freude macht und mit was sie glücklich sind. Sie können auf diese Weise erfahren, welche Fähigkeiten sie haben, worin sie sich leicht tun und was ihnen schwer fällt.«

Anna schmunzelte.

»Sicher haben die Kinder manchmal Ideen, da kräuseln sich mir die Haare. Himmel, was für ein Unsinn, denke ich dann.«

Anna lachte laut.

»Vor einiger Zeit wollte Sebastian einen Swimming-pool haben. Er meinte, Wasser vom Gebirgsbach gäbe es genug, man könnte es einfach umleiten.«

»Klingt logisch«, warf Rosemarie ein. »Wie ging die Geschichte weiter?«

»Toni, ich und der alte Alois beredeten es ausführlich und gaben Sebastian grünes Licht für seine Idee. Er sollte nach einem Weg suchen. Wochenlang war er damit beschäftigt. Er machte Pläne, redete mit dem Bürgermeister, den wir heimlich ins Vertrauen gezogen hatten. Wir waren nicht dagegen, wir wussten nur, dass die Idee nicht zu verwirklichen war. Doch diese Erfahrung sollte Sebastian selbst machen.«

»Und?«

»Er stellte fest, dass es besser war, alles so zu lassen. Er hat dabei viel gelernt, über die Berge, Gestein, Geologie, die Umwelt, die Natur im Allgemeinen und über Wirtschaft und die Folgen.«

»War er nicht enttäuscht?«

»Es war nicht einfach für ihn. Wir trösteten ihn und beglückwünschten ihn, dass er sich so eingesetzt hatte. Jetzt hat er neue Pläne.«

»So, welche?«

»Solarenergie und Windkraft! Er liest sehr viel darüber. Er will Strom für die Berghütte durch Solarenergie oder Windkraft gewinnen.«

»Und wie wäre es mit Wasserkraft? Ihr habt doch den schönen Gebirgsbach hier.«

»Richtig! Aber im Augenblick verschlingt er alles, was mit Solarenergie und Windkrafträder zusammenhängt. Wir lassen ihn. Mein Schwiegervater, Xaver Baumberger, hat versprochen, mit ihm im nächsten Winter eine kleine Versuchsanlage zu bauen. Aber vielleicht ist das Thema bis zum Winter schon wieder vergessen. Warten wir es ab! Jedenfalls reden wir mit ihm darüber und hören uns alles an. Er spricht mit seinem Freund darüber. Sebastians bester Freund ist Paul Hofer, der Sohn des Försters. Kinder haben Träume und sie sind notwendig für sie. Wir Erwachsenen billigen uns oft unsere Träume nicht zu. Wir sind oft zu ängstlich, versagen uns, für unsere Träume zu leben. Wir haben einfach zu viel Angst vor dem Scheitern. Das ist falsch! Was kann passieren, wenn wir scheitern? Nichts! Okay, sollten wir uns dann sagen, es war keine so gute Idee, aber wir haben es probiert. Es ist nicht gelungen. Also machen wir einen neuen Anfang.«

Anna lächelte Rosemarie an.

»Jetzt habe ich viel geredet. Sebastian würde sagen, ich habe dich zugetextet, wie man neudeutsch sagt. Entschuldige, Rosel!«

»Nein, nein! Das war sehr interessant und auch sehr klug, was du gesagt hast, Anna. Ich denke im Augenblick auch über etwas nach. Der Gedanke ist völlig neu für mich. Ich habe eine Erfahrung gemacht, von der ich nicht weiß, wohin sie mich führt. Ich habe mich auf ein Gebiet begeben, das völliges Neuland ist. Du musst dir das so vorstellen. Nehme an, ein Nomade aus der Wüste würde ins ewige Eis verpflanzt oder ein Eskimo in die Sanddünen. Beide wären in der neuen Gegend völlig fremd und sehr unsicher. Sie hätten Angst.«

»Ich verstehe! Du sprichst aber jetzt nicht gerade von der Berghütte?«

»Nein, Anna, nein!«

»Gut, dann sollte dein Eskimo in der Wüste und dein Nomade im ewigen Eis sich jemanden suchen, der sich mit dem Leben in dem Gebiet auskennt. Er kann ihn fragen, einfach mit ihm reden. Das bedeutet nicht, dass er alles so tun muss. Er kann von seinen Erfahrungen Nutzen ziehen und sie mit seinen eigenen Erfahrungen mischen. Verstehst du?«

Rosemarie nickte. Anna redete weiter.

»Nehmen wir zum Beispiel mich und Toni. Ich war Bankerin, eine sehr erfolgreiche Bankerin. Ich weigerte mich, etwas mit Bergen zu tun zu haben. Meine Eltern kamen bei einem Unfall in den Bergen ums Leben.«

»Oh, das tut mir leid!«

»Danke! Also weiter! Toni wollte die Berghütte haben und sein Leben als Hüttenwirt verbringen. Ich brachte Erfahrungen ein, die dazu beitrugen, dass wir heute hier sind und glücklich. Er lehrte mich alles, was eine gute Hüttenwirtin ausmacht. Himmel – war ich am Anfang unsicher, Rosel. Du kannst dir das nicht vorstellen.«

»Und wie hast du diese Unsicherheit überwunden? Wie lange hat es gedauert?«

»Oh, das ging eigentlich sehr schnell. Es war Tonis Liebe, unsere Liebe. Ich lehnte mich bei ihm an. Er ist so stark wie ein Berg.«

Anna lachte fröhlich und strahlte.

»Du liebst ihn sehr, Anna?«

»Oh ja! Vorher kannte ich in Hamburg, da komme ich her, einen anderen Mann, auch so einen Geldmanager. Doch dann begegnete ich Toni im Zug. Da hat der Blitz der Liebe eingeschlagen. Ich wollte die Gefühle verdrängen, aber ich konnte nicht. Ich habe mich gewehrt, gesträubt, aber je mehr ich mich wehrte, desto mehr sehnte ich mich nach ihm. Wir kamen schnell zusammen. Ich erkannte, dass mein Platz hier in Waldkogel ist, bei Toni. Und ich nahm all meinen Mut zusammen und packte es an. Binnen eines Tages wurde aus der eleganten Bankerin mit den Designerklamotten ein Madl aus den Bergen im Dirndl, mit Kniebundhosen und Wanderschuhen. Es war, als schlüpfe ich in eine andere Haut. Und bei allem, was als heilig gilt, schwöre ich dir, Rosel, dass ich in meinem Herzen nur ein Gefühl spürte – hier gehöre ich her – das ist mein Platz auf der Welt, den ich immer gesucht habe.«

»Wie schön für dich! Du siehst auch richtig glücklich aus. Das Dirndl steht dir gut.«

»Danke! Übrigens, Franzis Bemerkung stimmt, dass du in dem dunklen Dirndl traurig aussiehst. Du bist doch eine junge hübsche Frau. In deiner Freizeit solltest du schon etwas Bunteres anziehen.«

Rosemarie rührte in der Kaffeetasse.

»Anna, ich will dir nicht mein ganzes Leben erzählen. Nur soviel, ich bin in Waisenhäusern groß geworden. Ich komme aus einer Familie, die sogar böse Schlagzeilen in der Zeitung hatte. Ich wurde deswegen immer gehänselt, und ich tue mich schwer mit meiner Herkunft. Ich kam nur durch das Leben, in dem ich versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen, still zu sein, keine Bindungen einzugehen, fleißig zu sein, mich zu verkriechen. Pfarrhäuser bieten dazu Gelegenheit, Klöster auch. Du bist der zweite Mensch mit dem ich darüber rede, zumindest Andeutungen mache. Der erste Mensch, mit dem ich gesprochen habe, ist Gaudenz. Deshalb kam ich erst heute Morgen zur Berghütte zurück. Er entführte mich zum ›Erkerchen‹ und wir redeten und redeten. Er ist mir doch fremd, sagte ich mir immer wieder. Doch ich konnte es einfach nicht lassen, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Dabei ist er ein Mann, ein Bursche, wie ihr hier in den Bergen sagt.«

»Gefällt er dir?«, fragte Anna direkt.

Rosemarie seufzte.

»Anna, ich weiß nicht – nicht, dass ich es nicht weiß – ich meine, ich habe keine Erfahrung mit Burschen – ich hatte nie einen Freund – ich habe nie an so etwas gedacht. Wie soll ich es dir sagen, beschreiben?«

»Liebe ist für dich nicht nur ein Fremdwort, sondern auch ein völlig unbekanntes Gefühl.«

Rosemarie dachte einen Augenblick nach.

»Ja, so ist es! Ich habe mit der Liebe keine Erfahrung und schon gar nicht mit einer Liebe, wie sie zwischen Mann und Frau … Meine Eltern sind geschieden, Vater hatte Liebschaften. Das hat man mir erzählt und noch mehr. Für mich war es bisher so, dass ich mir sagte, jede Art von Liebe gibt keine Sicherheit.«

»Ein gebranntes Kind, scheut das Feuer, sagt ein Sprichwort, Rosel. Jetzt sage ich dir einmal etwas. Du denkst viel zu viel! Was sagt dir dein Herz? Hast du vor dem Einschlafen an Gaudenz gedacht? Hast du beim Aufwachen an ihn gedacht? Hast du vielleicht sogar von ihm geträumt?«

Rosemarie wurde dunkelrot im Gesicht.

»Volltreffer! Du bist verliebt! Du hast dein Herz an Gaudenz Moosbauer verloren! Großartig! Freue dich! Du hast die Liebe gefunden! Übrigens, Gaudenz hat Toni gegenüber auch so eine Andeutung gemacht, er mag dich sehr.«

»Anna, ich bin ganz durcheinander! So etwas wie heute Nacht ist mir noch nie passiert. Ich habe mir es nicht gewünscht, nie davon geträumt, nie und nimmer einen Gedanken daran verschwendet. Und dann tue ich es!«

»Was hast du getan?«

»Gaudenz hat seinen Arm um mich gelegt. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, und es war schön. Anna es war so wunderschön. Nie zuvor in meinem Leben war ich so ruhig und glücklich. Über uns waren die Sterne. Im Tal lag Waldkogel im Schlaf. Alles war so friedlich und schön. Ich wünschte mir, die Zeit würde stehenbleiben. Dabei ist Gaudenz doch fremd. Eigentlich müsste ich mich schämen, dass ich mich habe so gehen lassen.«

Rosemarie errötete wieder. Anna schüttelte den Kopf.

»Rosel, Rosel, Rosel! Für mich ist das eindeutig. Du bist verliebt. Ihr habt euch gefunden. Wenn du diese Geborgenheit verspürt hast, dann ist Denzl derjenige, nach dem dein Herz gesucht hat.«

»Ich habe nicht gesucht, Anna. Das schwöre ich dir. Ich überlegte, ins Kloster zu gehen.«

»Sicher hast du nicht bewusst gesucht. Aber die Liebe ist immer auf der Suche, und die Liebe führt die beiden Teile zusammen, die zusammengehören. Denzl ist ein guter Bursche. Toni schätzt ihn sehr. Er ist fleißig und verlässlich, ordentlich und ehrlich. Er macht keine Spielchen und hat mit Sicherheit keine Frauengeschichten. Rosel, ich bin sicher, dass du das erste Madl bist, um das er den Arm gelegt hat. Weißt du, auf dem Dorf ist es so, dass man schon mitbekommt, wer mit wem …, und so. Gaudenz hatte nie ein Madl.«

Rosemarie schaute Anna mit großen Augen an wie ein unschuldiges Kind. Anna lächelte sie warmherzig an.

»Rosel, du brauchst Nachhilfe in Sachen Liebe. Soll ich dir eine Lektion geben? Willst du?«

»Ja, bitte! Ich bin völlig durcheinander!«

»Gut! Dann höre! Die Macht der Liebe ist etwas, was sich außerhalb unseres Verstandes abspielt. Sie ist ein Geschenk des Himmels, das Größte überhaupt. Liebe kann man nicht kaufen und nicht verkaufen. Liebe kann man nur schenken und geschenkt bekommen. Sie ist nicht planbar und folgt keinem Kalender. Die Liebe allein wird unverhofft über zwei Menschen ausgeschüttet. Da schützen auch kein Schirm und keine Schutzkleidung. Die Liebe dringt tief ins Herz. Sie füllt die Herzen der Menschen aus, die sie ereilt hat, und es zieht sie zueinander. Sie können sich noch so wehren, vom Verstand her. Die Liebe bringt sie zueinander. Sie spüren, dass sie alleine nie mehr so glücklich sein werden, wie sie es sein werden, wenn sie zusammen sind. Höre auf, zu denken und dir Sorgen zu machen. Warte einfach ab und höre auf dein Herz, deine innere Stimme. Wenn die Liebe mit dem goldenen Band der Zuneigung zwei Herzen umgarnt und zusammenbindet, dann spürst du es. Das kann ich dir versichern. Dann ist es völlig unwichtig, wo du bist, im Urwald, in der Wüste, in einem U-Boot oder auf einer Berghütte. Du spürst, dass du da hingehörst, zu ihm, an seine Seite. Du weißt, dass nichts und niemand auf der Welt dich davon abhalten kann, dem Ruf deines Herzens, der Stimme der Liebe zu folgen.«

Rosemarie schaute Anna mit großen Augen an.

»Hör mal, Rosel! Als ich zum ersten Mal mit Toni hierher kam, die Berghütte sah, in der Berghütte stand und er mir draußen in der Wirtstube von seinem Traum erzählte, da bekannte ich mich für mich zu meiner Liebe. Ich war schon seit Tagen in ihn verliebt und redete mir krankhaft ein, dass wir zu verschieden sind. Ich las die Liebe zu mir in seinen Augen, blickte in sein Herz. Ich kannte nur noch ein Ziel, ich wollte bei ihm bleiben, ich wollte mit ihm hier sein auf der Berghütte. Rosel, ich hatte Karriere gemacht, war Investmentbankerin, hätte es sogar als Frau in den Vorstand schaffen können in einigen Jahren. Mir war klar, dass ich das nicht mehr wollte. Jemand hätte mir an diesem Tag den Vorsitz der Weltbank anbieten können, ich hätte abgelehnt. Verstehst du? Begreifst du, was ich dir sagen will? Es gab nur noch Toni. Ich sehnte mich mit jeder Faser meines Herzens nach einem Leben mit ihm. Alles, was mir vorher wichtig war, versank von einem Augenblick zum anderen in tiefe Bedeutungslosigkeit. Die Liebe durchdrang mein Herz und damit auch mein Leben. Ich bog von meiner Lebensstraße in einen kleinen Bergpfad ab, folgte dem Wegweiser der Liebe. Rosel, gehe nicht achtlos an deinem Wegweiser vorbei!«

Anna sah, wie ein glücklicher Schimmer Rosemaries Augen veränderten.

»Du hast es gut beschrieben, Anna. Danke, dass du mit mir darüber geredet hast. Ich höre die Stimme in meinem Herzen. Ich werde darauf lauschen und sehen, was geschieht.«

Und ganz leise fügte Rosemarie hinzu: »Ich werde mich nicht dagegen wehren. Es ist ein neues Gefühl, aber es ist sehr schön. Alles kommt mir leichter vor. Es ist, als könnte ich schweben. Aber ich bin mir auch unsicher und habe Angst. Diese Gefühle sind neu für mich. Sie verwirren mich total!«

Anna lächelte.

»Das sind die Schmetterlinge in deinem Bauch. So fühlt es sich an, wenn man verliebt ist.«

Rosemarie errötete.

»Du musst dich für deine Gefühle nicht schämen. Es muss dir nicht peinlich sein.«

»Ich muss auch nichts überstürzen.«

»Richtig! Außerdem hat die Liebe ihren eigenen Zeitplan, daran kannst du auch nichts ändern. Lass der Liebe einfach ihren Raum.«

Anna stand auf und ging um den Küchentisch herum. Sie griff nach Rosemaries Hand und zog sie vom Stuhl hoch.

»Der neue Glanz in deinen Augen passt nicht zu dem dunklen Dirndl.«

»Ich habe nur dunkle Sachen!«

»Ich kann dir etwas Buntes geben. Willst du es wagen, auch äußerlich etwas Farbe in dein Leben zu bringen?«

»Ich werde mir in dem Laden am Marktplatz etwas kaufen. Dort habe ich mir die Schaufenster angesehen. Da war ein gelbgrünes Dirndl ausgestellt. Es war sehr schön. Es hatte auch keinen so tiefen Ausschnitt.«

»Welche Größe trägst du?«

»Es kommt darauf an, Größe acht­unddreißig, meistens!«

»Lass mich machen! Und kein Wort jetzt! Ich dulde keine Ablehnung!«

Anna griff zu Tonis Handy, das auf dem Küchenschrank lag. Sie rief ihre Schwiegermutter Meta Baumberger an.

»Hallo, hier ist Anna! Du, Mutter, ich habe eine große Bitte an dich. Du kennst doch die Veronika Boller gut. Der Laden hat jetzt bestimmt schon geschlossen. Aber sicherlich kannst du die Veronika erreichen. Im Schaufenster war in dieser Woche ein Dirndl ausgestellt. Es ist gelbgrün.«

»Das ist sehr schön, Anna. Ich habe es auch gesehen!«

»Das ist gut! Kannst du es holen? Kann der Vater es noch heute auf die Oberländer-Alm bringen? Ich schicke Bello hinunter. Er kann das Paket holen.«

»Anna, es regnet! Bist du sicher, dass es so dringlich ist?«

»Mutter, es ist sehr dringlich! Alles andere erzähle ich dir ein anderes Mal.«

»Gut, Anna! Ich gehe gleich hin. Ich hoffe, das Dirndl wird auf dem Weg nicht feucht. Es regnet wirklich stark hier unten in Waldkogel.«

»Hier ist es nicht ganz so schlimm. Bellos Packtaschen sind dicht.«

»Wenn du meinst?«

»Ja, Mutter! Und noch etwas! Suche dazu ein schönes farbiges Umschlagtuch aus oder eine Strickweste.«

»Anna, was ist los? Ich bin doch ein bisserl verwundert.«

»In dem Wort ›verwundert‹ steckt das Wort ›Wunder‹. Die Liebe kann Wunder vollbringen. Das Dirndl ist für ein Madl, das unser Gast beim Hüttenabend war, und es gibt auch einen Burschen. Du verstehst?«

»Wer ist es denn? Kenne ich den Burschen? Ist er aus Waldkogel? Und wer ist das Madl?«

»Mutter, später! Ich muss jetzt Schluss machen! Und danke! Und sei vorsichtig, die Veronika ist sehr neugierig!«

»Ja, schon gut, Anna! Ich werde mein Möglichstes tun. Hoffentlich hört der Regen bald auf. Des war ja ein gewaltiger Wettersturz, der heute am Vormittag über dem Tal hereingebrochen ist.«

»Warte, ich gehe an die Tür und schaue, wie es hier oben ist.«

Anna hielt das Handy weiter an das Ohr und ging zur Tür der Berghütte.

»Mutter, der Regen hört hier auf. Es ist schon ein Stück blauer Himmel zu sehen.«

»Das ist gut! Es wäre schade, wenn es das ganze Wochenende geregnet hätte. Dann bis später, Anna. Xaver ruft dich an, wenn er auf der Oberländer-Alm ist.«

»Danke, Mutter, und grüße ihn! Und nochmals vielen Dank!«

Anna legte auf.

»Du bist verrückt, Anna! So ein Aufwand! Ich hätte …«

»Nix da! Außerdem macht es mir Freude. Du hast mir, hast uns gestern so geholfen, und ich lasse keine Einwände gelten. Wir schenken dir das Dirndl. Es soll dir zu einem neuen Anfang in deinem Leben verhelfen. Rosemarie, du musst auch lernen, Freundlichkeit einfach anzunehmen!«

»Danke, Anna! Mehr kann ich dann wohl nicht sagen. Ich bin gespannt, wie ich darin aussehe. Ich kann mit gar nicht vorstellen, wie ich in dem Dirndl aussehe. Ich habe seit Jahren keine hellen Farben mehr getragen.«

»Lass dich einfach überraschen!«

Rosemarie fiel Anna einfach um den Hals.

Franziska stürmte in die Küche.

»Anna, Rosel! Es hat aufgehört zu regnen. Ich habe es vom Fenster aus gesehen. Es stehen drei Regenbogen über dem Tal. Komm schnell, Anna!«

Anna und Rosel folgten Franziska auf die Terrasse der Berghütte. Der Himmel war blau. Es wehte noch ein kühler Wind. Über dem Tal standen drei Regenbogen.

»Das bedeutet Glück, wenn man drei Regenbogen findet«, sagte Franzi.

Rosemarie streichelte Franziskas Haar.

»Ja, ich habe davon gehört! Und ich denke, es ist auch so!«

Franziska schaute Rosemarie an.

»Du schaust nicht mehr so traurig aus, Rosel!«

»Ich weiß, Franzi, das kommt bestimmt vom Glück, das die drei Regenbogen anzeigen.«

Anna und Rosemarie sahen sich an und lächelten sich zu.

*

Gaudenz erreichte kurz nach Mittag Waldkogel. Er hielt am Marktplatz an. Eilig strebte er dem Pfarrhaus zu. Er drückte lange auf die Klingel.

»Mei, ich komme ja schon!«

Pfarrer Zandler schaute aus dem offenen Fenster seines Studierzimmers. Kurz darauf öffnete er die Tür.

»Grüß Gott, Gaudenz! Du hast ja fast die Klingel eingedrückt. Was gibt es denn, dass du so ungeduldig bist?«

Pfarrer Zandler hielt ihm die Tür auf.

»Ich muss mit Ihnen reden. Es geht um die Rosemarie Rankl.«

»Die ist net hier! Die ist auf der Berghütte.«

»Das weiß ich. Daher komme ich. Naa, des stimmt net ganz. Aber zuvor war ich auf der Berghütte. Da will ich auch wieder hin. Aber zuerst muss ich mit Ihnen reden.«

Pfarrer Zandler sah Gaudenz prüfend an.

»Siehst ein bisserl zerrupft aus und bist unrasiert. Schaust aus, als hättest net geschlafen. Hast Ringe unter den Augen. Auf der anderen Seite scheinst recht aufgekratzt zu sein.«

»Ja, ich bin ein bisserl durcheinander.«

Pfarrer Zandler führte Gaudenz in die Küche des Pfarrhauses.

»Die Meta Baumberger hat mir einen Topf Suppe gebracht. Tust mitessen, Gaudenz?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte Pfarrer Zandler einen zweiten Teller hin und gab Gaudenz einen Löffel. Der Geistliche füllte die Teller. Er sprach das Tischgebet. Sie fingen an, zu essen.

Zwischendrin redete Gaudenz sich alles von der Seele. Pfarrer Zandler aß dabei weiter und warf ihm nur Blicke zu. Er wartete geduldig, bis Gaudenz mit seinem Bericht fertig war.

»So, jetzt wissen Sie alles, Herr Pfarrer Zandler! Ich musste es Ihnen erzählen. Sie sind dem Toni hoffentlich net bös’, dass er mir gesagt hat, welche Gedanken Sie sich über Rosemarie machen. Des ist wirklich ein armes Madl.«

»Ja, Gaudenz, das scheint sie wirklich zu sein. Jetzt wird mir einiges klar. Deshalb ist sie so scheu. Du scheinst des Madl wirklich zu lieben.«

»Ja, das tue ich! Sie ist die Richtige. Ich bin mir ganz sicher. Wenn da nur net die Angst wäre, dass die Rosemarie mich doch net nimmt. Wie soll ich es machen? Können Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Wenn es soweit ist, dann werde ich der Rosel sicher einen wohlgemeinten Rat geben, Gaudenz. Aber es ist noch lange net soweit.«

»Wie meinen S’ des, Herr Pfarrer!«

»Also, man nimmt an, dass wir Geistliche wenig von der Liebe verstehen. Ich sage dir, des ist net so. Aber des ist ein anderes Thema. Jedenfalls weiß ich mehr darüber, wie eine solche Liebschaft zur Ehe führt, als du dir das vorstellst. Schließlich bist du nicht der erste Bursche, der Kummer hat und sich bei mir sein Herz ausschüttet. Aber du bist wohl der zurückhaltendste Bursche, den ich kenne. Du sorgst dich, dass dich des Madl abblitzen lässt, wie man modern sagt. Dabei hast du ihr deine Liebe noch nicht richtig gestanden. Ich meine, du hast ihr nicht deutlich gesagt: Rosel oder Rosemarie, ich liebe dich! Stimmt’s?«

»Ja, schon …«

»Weiter! Und einen Antrag hast du ihr auch nicht gemacht, wie?«

»Nicht so direkt. Aber des kann man bei der Rosemarie nicht so einfach machen. Sie ist net so wie andere Madln.«

»Das habe ich schon begriffen! Doch sie hat sich von dir auf die Wange küssen lassen. Also, kann und wird sie dir gegenüber schon ein bisserl wohlwollend sein.«

»Ja, schon! Sie tut sich sehr schwer damit, wenn jemand nett und freundlich zu ihr ist. Ich habe ihr nur gesagt, dass sie besonders ist, und da kamen ihr die Tränen. Ich habe Angst, dass sie mir nicht glaubt. Sie hat so schlechte Erfahrungen gemacht im Leben. Sie ist so voller Angst. Ihr fehlt das Urvertrauen.«

»Des mag schon sein! Doch wenn sie dich nicht mögen und sie dir nicht ein bisserl vertrauen würde, dann hätte sie sich nicht so gehen lassen. Sie hätte sich nie von dir umarmen lassen, dir nicht ihre Lebensgeschichte erzählt und sich von dir auch nicht auf die Wange küssen lassen. Das ist für ein Madl, wie es die Rosemarie Rankl ist, sehr viel, Gaudenz. Des Madl ist über sich hinausgewachsen.«

»So, meinen S’, Herr Pfarrer?«

»Ja! Für ein so scheues Reh, wie die Rosel eines ist, deutet das auf gewaltige Zuneigung hin.«

Gaudenz strahlte.

»Wirklich? Mei, des wäre ja …, also, ich meine …, des ist …, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Gaudenz, reiß dich zusammen und gackere nicht wie ein liebeskranker Hahn herum. Ich finde es großartig, dass du dir Gedanken gemacht hast und bei der Oberin gewesen bist und auch zu mir gekommen bist. Aber jetzt gehörst du auf die Berghütte, in die Nähe von deinem Madl.«

Gaudenz gähnte.

»Ah, bist doch müde«, bemerkte Pfarrer Zandler. »Ich sage dir jetzt etwas. Du gehst jetzt erst mal heim und tust dich ausschlafen. Ich muss mich ohnehin nach der Rosel erkundigen und werde mit Toni und Anna ein Wörtchen reden. Und wenn du ausgeschlafen hast, rasiert bist und wirklich wie ein verliebter Bursche aussiehst und nicht wie ein übermüdeter Landstreicher, dann nimmst einen Blumenstrauß und gehst zu ihr. Ich denke, dass die Rosel ein Madl ist, das man auf die altmodische Art und Weise erobern muss. Mag sein, dass du viel Geduld haben musst, Gaudenz. Die musst du aufbringen, verstehst? Geduld ist das, was du jetzt man nötigsten brauchst, sonst läufst du Gefahr, dass sich des Madl wieder in sein Schneckenhaus zurückzieht.«

»Ich verstehe!«

»Ja und dann noch etwas! Sie muss wissen, dass nicht nur du ihr wohlgesonnen bist, sondern auch deine Eltern. Ich nehme net an, dass der Ludwig und die Trudi Vorurteile haben. Aber ich rate dir, sie vorher einzuweihen, bevor du die Rosel zum ersten Mal mit heimnimmst. Wenn sie auch nur den leisten Verdacht hat, dass deine Eltern nicht mit ihr einverstanden sind, dann rennt sie dir davon und ist schneller im Kloster, als du dir des vorstellen kannst.«

»Ich verstehe! Ich werde mit den Eltern reden!«

Pfarrer Zandler schaute Gaudenz an.

»Es ist wichtig, wie sie sich ihr gegenüber verhalten. Das Madl hat nie eine Familie kennengelernt. Das ist auch Neuland für sie. Sie kennt nur Waisenhäuer, kirchliche Internate, des Altersheim, in dem sie ihr Zimmer hat, und Pfarrhäuser. Des musst du dir bewusst machen, Gaudenz. Sich zu verlieben ist eine Sache. Ein Leben in einer Familie zu führen, wenn man keine Familie gekannt hat, ist eine andere Sache.«

»Daran habe ich noch nicht gedacht. Sie bräuchte darin auch etwas Praxis.«

»Das bekommt sie sicherlich auf der Berghütte. Toni und Anna führen eine gute und stabile Ehe. Die Kinder sind glücklich bei den beiden und haben den tragischen Unfalltod ihrer leiblichen Eltern gut verarbeitet. Das ist sicherlich auch ein Verdienst von Toni und Anna. Der alte Alois hat mit seiner geduldigen Lebensweisheit auch ein Stück dazu beigetragen. Ich denke, wenn die Rosel noch eine Weile auf der Berghütte weilt, dann bekommt sie eine Vorstellung von einer glücklichen Familie. Vielleicht freundet sich die Anna mit ihr an. Dann wird die Anna die Rosel schon auf den rechten Weg bringen. So, jetzt gehst heim und tust dich erst einmal ausschlafen. Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut. Du hast heute schöne Fundamente gelegt. Jetzt ruhst du dich aus. Wie versprochen, ich halte mal meine Augen und Ohren offen.«

Pfarrer Zandler stand auf und brachte Gaudenz zur Tür. Er sah ihm nach, wie dieser zu seinem Auto ging und abfuhr.

Meta Baumberger kam die Hauptstraße entlang. Sie trug einen Regenschirm, weil es immer noch leicht nieselte. In der Hand hielt sie einen kleinen Koffer. Pfarrer Zandler zog die Stirn in Falten. Er konnte sich darauf keinen Reim machen.

Er ging auf sie zu.

»Grüß dich, Baumbergerin! Deine Suppe war sehr gut. Wo willst denn mit dem Koffer hin? Willst verreisen? Willst über Nacht zu deiner Tochter und ihrer Familie nach Kirchwalden? Warum fährt dich der Xaver net hin?«

Meta Baumberger blieb stehen. Sie seufzte.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Des sind viele Fragen. Aber nix trifft zu. Es geht um die Anna. Sie hat mich angerufen und will unbedingt, dass ich sofort und auf der Stelle bei der Veronika Boller ein grüngelbes Dirndl kaufe. Des kann net warten, sagt sie. Es ist net für die Anna selbst, des hab ich herausgefunden. Da scheint es ein junges Liebespaar zu geben auf der Berghütte nach dem Hüttenabend gestern. Aber dass des so eilig ist mit dem Dirndl, des ist doch sehr verwunderlich. Es regnet und trotzdem will die Anna, dass der Xaver des Dirndl auf die Oberländer Alm schafft. Sie schickt den Bello mit den Packtaschen. Himmel, was ein Umstand! Wenn des Madl kein Dirndl dabei hat, dann könnte die Anna ihr doch von sich eines leihen. Außerdem, was ist, wenn des Dirndl net passen tut? Muss ich es heute dann noch einmal umtauschen? Und kein weiteres Wort hat die Anna gesagt! Sie macht ein Geheimnis daraus. Warum geht des Madl nicht selbst sich ein Dirndl kaufen? Ah, ein Umhängetuch oder eine Weste soll ich auch noch kaufen.«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»Deshalb also der Koffer.«

»Ja, damit des Dirndl net nass wird. Und was wird die Veronika denken, wenn ich jetzt nach Ladenschluss zu ihr einkaufen gehe.«

»Nix wird die denken! Und nix wird sie sagen, Baumbergerin. Mir kommt nämlich gerade die Idee, dich zu begleiten.«

Meta Baumberger stand die Überraschung im Gesicht.

»Sie wissen etwas, Herr Pfarrer! Aber ich frage nicht. Ich will sie nicht in Verlegenheit bringen.«

»Du bringst mich nicht in Verlegenheit, Meta. Aber ich sage dir trotzdem nichts. Aufi, komm jetzt!«

Pfarrer Zandler und Meta Baumberger gingen zum Hintereingang, des Ladengeschäftes. Veronika Boller war die Überraschung anzusehen.

»Grüß Gott? Was gib es denn?«

»Hast du noch das gelbgrüne Dirndl, das du die Woche im Schaufenster gehabt hast, Veronika?«

»Ja, das habe ich gerade herausgeholt, weil ich immer am Samstag­nachmittag das Schaufenster neu dekoriere.«

»Das kaufen wir! Einpacken!«, sagte Pfarrer Zandler.

Seine feste Stimme erstickte bei Veronika jede weitere Frage. Sie gingen hinein.

Das Dirndl war sehr schön. Meta Baumberger suchte zusammen mit Pfarrer Zandler noch ein Umschlagstuch und eine Strickweste aus. Außerdem kauften sie noch eine Kropfkette und weiße Strickstrümpfe. Veronika Boller verpackte alles in Plastiktüten. Meta verstaute sie zusätzlich in den kleinen Koffer, den Pfarrer Zandler trug.

Veronika sah den beiden nach. Sie war sehr neugierig und konnte sich keinen Reim darauf machen, wer so dringend ein Dirndl benötigte.

»Franz, ich bin sehr gespannt, wer des Madl ist. Es muss eine wichtige Persönlichkeit sein, weil der Pfarrer Zandler mit dabei war«, sagte sie zu ihrem Mann.

»Musst warten, Veronika! Irgendwann wirst du ein Madl in dem Dirndl sehen, dann wirst du es wissen! Und bis dahin musst mit deiner Neugierde leben.«

»Typisch Mann«, brummte Veronika vor sich hin und fuhr fort, das Schaufenster neu zu dekorieren.

*

Gaudenz stellte sein Auto in die Garage. Er ging ins Haus. Es war Samstag. Seine Mutter hantierte in der großen Wohnküche. Sie backte einen Kuchen. Ludwig Moosbauer saß am Tisch und las die Zeitung.

»Grüß Gott!«, sagte Gaudenz.

Er blieb im Türrahmen stehen. Seine Eltern drehten sich zu ihm um.

»Grüß Gott, Bub! Himmel, schaust du aus! Des muss ja ein sehr feuchtfröhlicher Hüttenabend gewesen sein. Ihr habt wohl durchgemacht, wie? Gab es keinen Schlafplatz mehr auf der Berghütte, dass du runtergekommen bist? Du wolltest doch bis morgen Abend bleiben.«

»Der Hüttenabend war schon besonders, des kann ich sagen. Ich erzähle euch alles später. Jetzt lege ich mich erst mal ein paar Stunden hin. In meinem Kopf ist mir ein bisserl wirr.«

Gaudenz rieb sich seinen Bart.

»Bis später«, sagte er leise.

Seine Eltern schauten ihm nach, wie er langsam die Treppe hinaufging.

Gaudenz stellte sich kurz unter die Dusche. Dann legte er sich ins Bett. Rosemaries Bild vor Augen versank er sofort in tiefen Schlaf.

Es war schon dunkel, als Gaudenz aufwachte.

»Himmel, solange wollte ich nicht schlafen«, brummte er ärgerlich über sich selbst vor sich hin.

Er stand auf und ging ins Bad. Nach der Dusche und der Rasur gefiel ihm sein Spiegelbild besser. Er zog sich an.

»Da bist ja wieder! Hast gut geschlafen? Willst etwas essen? Soll ich dir etwas aufwärmen? Oder tust kalt essen?«

»Kuchen? Du hast doch einen Kuchen gebacken.«

»Ja, ich habe Apfelkuchen gemacht.«

Trudel Moosbauer holte den Kuchen. Sie schnitt ihn auf. Gaudenz aß wortlos ein ganzes Stück.

»Schmeckt gut, Mutter!«

Er aß ein zweites Stück. Seine Eltern beobachteten ihn. Sie kannten ihren Buben gut und wussten, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Ich war nicht nur auf der Berghütte. Da bin ich am gestrigen Abend und heute Nacht gewesen. Heute Morgen habe ich eine längere Fahrt gemacht und hatte zwei wichtige Gespräche.«

Gaudenz’ Eltern staunten, als sie hörten, dass ihr Bub zu dem mehrere hundert Kilometer entfernten Kloster gefahren war und anschließend den Pfarrer besucht hatte.

»Warum nur in aller Welt bist du dort gewesen?«

Gaudenz blickte seine Eltern an.

»Weil ich Pläne habe, die hier einiges verändern werden, wenn …, ja wenn, des alles so wird, wie ich es mir wünsche.«

»Bub, du sprichst in Rätseln! Also, jetzt spanne uns net so auf die Folter und lass dir net jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«

»Gut, ihr habt ja Recht. Aber des ist net so einfach. Normalerweise kann ein Bub zu seinen Eltern sagen, ich habe da ein Madl kennengelernt, und des gefällt mir. Des bringt er dann heim und dann …, ihr wisst schon. Aber so ist des bei mir net. Es stimmt nur, dass ich ein Madl gefunden habe, von dem ich mir vorstellen könnte …, naa – ich bin mir ganz sicher, dass des Madl die Richtige für mich ist. Aber es ist net so wie andere Madln. Deshalb war ich zum Klos­ter gefahren und auch schon beim Pfarrer.«

Gaudenz Eltern waren sehr überrascht. Sie saßen ganz still am Tisch und starten Gaudenz an. Sie konnten sich im ersten Augenblick über die gute Nachricht, dass er sich verliebt hatte, nicht freuen. Die Liebe ihres Buben zu dem Madl hatte offensichtlich einen Haken.

»Was ist mit dem Madl?«, fragte Ludwig Moosbauer seinen Sohn.

»Sie ist anders! Sie hat im Leben nur schlechte Erfahrungen gemacht und erwägt sogar ins Kloster zu gehen.«

»Ah, deshalb bist dort gewesen?«

»Ja, Mutter und deshalb war ich auch beim Pfarrer Zandler! Er kennt des Madl. Er kennt sie noch net lang, aber er ist sehr von ihr angetan. Er meint, ich solle um sie kämpfen und ich bräuchte viel Geduld. Er sagte auch, dass ich mit euch reden soll, bevor ich weiter mit dem Madl … Sie kennt des net …, Familie und so … Sie kommt aus einer ziemlich zerrütteten Familie und ist in Waisenhäusern aufgewachsen. Sie leidet unter ihrer Herkunft. Sie schämt sich und ist zutiefst davon überzeugt, dass ihre Vergangenheit andere Menschen, andere Familien belasten könnte. Dabei kann sie doch nix dafür. Sie kam schon als Baby ins Heim. Sie hat nie Liebe und Zuneigung erfahren, nur Ablehnung und Feindschaft. Ich habe ihr bloß gesagt, dass sie besonders ist, da kamen ihr die Tränen. Sie ist Freundlichkeit und Anteilnahme, Zuneigung und Liebe nicht gewohnt. Das kennt sie nicht. Es war ziemlich mühevoll, bis sie sich mir anvertraut hat. Sie ist wunderbar. Sie ist sehr hübsch, hat schönes brünettes Haar. Ich vermute, dass es sehr lang ist. Sie trägt es zu einem Knoten frisiert. Sie benutzt kein Make-up. Eigentlich ist sie sehr unscheinbar, doch auf den zweiten Blick strahlt sie etwas aus, was besonders ist. Sie hat große blaugrüne Augen. Sie ist so unschuldig, wie …, wie ein Kind. Es ist schwer, euch des alles so zu sagen, dass ihr des wirklich richtig versteht. Ich weiß nur eines, dass ich sie heiraten will.«

»Ja, Bub, dann musst du ihr einen Antrag machen!«, sagte Ludwig Moosbauer. »Ich habe deiner Mutter damals auch gleich gesagt, dass ich sie will.«

»Vater, so einfach ist das nicht. Ich bin mir sicher, dass ich der erste Bursche bin, mit dem sie überhaupt geredet hat, zu dem sie Kontakt hatte. Ich habe ihr einen Kuss auf die Wange gegeben, nachdem ich sie erst um Erlaubnis gefragt habe. Versteht ihr? Ich musste ganz behutsam sein. Sie ist net so wie andere Madln. Sicher würde ich sie auf der Stelle zum Altar schleppen. Aber sie muss fühlen, dass sie wirklich willkommen ist, auch von euch. Des sagt auch Pfarrer Zandler.«

»Und wie willst jetzt weiter vorgehen?«, fragte Gaudenz’ Vater.

»Also ich habe einen Plan. Ich muss des aber auch noch mit Pfarrer Zandler bereden. Er hat Einfluss auf sie. Wenn er seine Zustimmung gibt, dann habe ich gute Chancen, denke ich. Also, des Madl hat eine Arbeit. Ich will sie überreden, sich einen längeren unbezahlten Urlaub zu nehmen und hierher auf den Hof zu kommen. Sie kann hier sein, mich besser kennen lernen, sehen was eine Familie ist und wie unser tägliches Leben aussieht. Sie wird euch kennenlernen und sehen, dass es auch sich liebende Familien gibt. Das kennt sie nicht. Du müsstest dich ihr etwas annehmen, Mutter, so von Frau zu Frau, verstehst?«

»Des scheint ja wirklich ein besonderes Madl zu sein, Gaudenz!« bemerkte Ludwig Moosbauer.

Er stand auf und holte den Obstler und zwei Bier.

Gaudenz Mutter schaute ihren Sohn an.

»Bub, ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Kann es sein, dass du von der jungen Haushälterin redest, der Rosel? Deine Beschreibung, die Haare zu einem Knoten gewickelt, zurückhaltend, kein Make-up, dass du mit dem Pfarrer geredet hast und zum Kloster gefahren bist …, des passt auf des Madl.«

»Ja, Mutter! Ja, Vater! Ich rede von der Rosemarie! Der Pfarrer Zandler hatte sie am Dienstag auf die Berghütte geschickt. Toni hat sie vom Pfarrhaus abgeholt. Ich habe Toni unterwegs getroffen, und sie saß im Auto. Ein Blick, und es war geschehen. Ich hatte mich sofort in sie verliebt.«

Gaudenz’ Mutter schmunzelte.

»Deshalb bist du die Woche mit deinen Gedanken so oft abwesend gewesen. Du hast dich in das Madl verliebt, so war des also. Jetzt wird mir alles klar.«

Gaudenz’ Vater schenkte Gaudenz und sich zwei Obstler ein. Sie tranken. Dann erzählte Gaudenz seinen Eltern alles.

»Das arme, arme Madl! Aber des mit seinen Eltern, des hat doch nix mit ihr zu tun. Das unschuldige Kindl hat doch nur darunter leiden müssen. Des arme Wurm! Mei, was können Menschen so grausam sein!«

Trudel Moosbauer schnäuzte sich die Nase. Sie war sehr bewegt.

»Bub, ich bin ja net, also normalerweise net, dafür, dass ein Madl schon ins Haus zieht, wie des heute so ist, also vorher, vor der Ehe. Aber in dem Fall ist des etwas anderes, etwas ganz anderes. Du redest mit dem Zandler. Ich werde auch mit ihm reden. Er kann des mit der Bistumsverwaltung klären, mit dem Urlaub oder des Bistum kann sie zu uns auf den Hof ausleihen. Wir sind zwar kein Pfarrhaus, aber eine Familie, die eine tüchtige Haushälterin braucht«, blinzelte Trudi. »Himmel, da muss doch etwas zu machen sein. Bub wir nehmen des gleich morgen in Angriff. Ich mache mir noch ein paar Gedanken. Wir finden sicher einen Weg. Die Rosel ist ein ganz liebes Madl. Sie hat eine gute Ausstrahlung. Ich bin überzeugt, dass du mit ihr glücklich wirst. Und niemand wird hier in Waldkogel etwas über ihre Familie erfahren. Jeder kennt sie als Vertretung der Helene Träutlein und sonst gibt’s da nix. Basta! Wir als Familie halten zusammen. Die Rosel wird lernen, was es heißt, wenn eine Familie zusammensteht. Ende und aus!«

»Puh! Jetzt ist mir wohler! Danke!«, seufzte Gaudenz.

»Nix zu danken, Bub! Hauptsache, du wirst glücklich. Ich habe mich immer gefragt, warum dir noch nicht das richtige Madl begegnet ist, warum du noch keine gefunden hast? Jetzt weiß ich es! Die Liebe, der Himmel, hat euch füreinander bestimmt und den Moosbauer-Hof als Heimat für des arme Madl ausgesucht. Ja, davon bin ich überzeugt.«

»Ja, Bub, so wie deine Mutter des sagt, wird es sein!«, stimmte Gaudenz Vater zu.

Sie saßen noch lange zusammen und redeten über die Zukunft und wie sie es sich vorstellten. Sie wollten Rosemarie ein Heim geben, eine Heimat voller Liebe und Zuneigung.

*

Nach dem Gespräch mit Anna war in Rosemarie eine Veränderung vor sich gegangen. Als Bello mit den Packtaschen auf die Berghütte kam, probierte sie sofort das Dirndl an. Sie gefiel sich darin gut.

»Oh, Anna, schau doch! Bin das wirklich ich?«

»Ja, das bist du! Oder besser, das ist die neue Rosel!«

Die junge Frau sah in den Spiegel und sagte leise: »Anna, die Rosel gibt es nicht mehr! Es gibt nur noch die Rosemarie!«

»Das ist gut! Und ein sehr guter Anfang. Gaudenz wird staunen, wenn er dich so sieht. Mit deinen Haaren solltest du auch etwas machen.«

Anna bot Rosemarie einen Stuhl an. Sie löste den Knoten, kämmte die Haare aus und formte die Haare zu einem langen Zopf.

»So, diese Frisur passt besser zu dir. Jetzt gibt es die alte Rosel nicht mehr, nur noch die Rosemarie!«

»Ja, so ist es! Ich fühle mich wie neu geboren. Oh, Anna, ist das schön! Ich wusste nicht, dass man sich so wundervoll fühlen kann. Was so ein Kleid alles ausmacht!«

Anna schmunzelte.

»Es ist nicht nur das Kleid, Rosemarie! Das Dirndl ist nur eine Äußerlichkeit, aber die Veränderung war wichtig. Du hast dich innerlich verändert. Du hast die Liebe entdeckt. Sie hat dich verändert. Liebe gibt Kraft und Zuversicht. Liebe gibt Frohsinn und Optimismus. Gib dich der Liebe einfach hin! Liebe macht jeden Menschen schön.«

»Das werde ich, Anna, das werde ich! Wenn ich Gaudenz das nächste Mal sehe, dann werde ich es ihm sagen. Ich habe keine Angst mehr, ›besonders‹ zu sein.«

»Du hast dich gehäutet, Rosemarie. Aus einer unscheinbaren Raupe ist ein wunderschöner Schmetterling geschlüpft.«

»Ich habe mir etwas Geld gespart. Ich werde mir lauter neue Sachen kaufen. Kommst du mit mir, wenn ich einkaufen fahre?«

»Den Gefallen tue ich dir gerne. Wir fahren zusammen nach Kirchwalden.«

»Ja, das tun wir! Ich will mir auch Hosen kaufen, engsitzende Kniebundhosen, die eine gute Figur machen. Gaudenz will mit mir zum ›Paradiesgarten‹ wandern.«

»Das ist gut! Ich rede mit Toni. Er kann euch die Biwakausrüstung mitgeben. Dann bleibt ihr über Nacht. Der Sternenhimmel ist dort oben zum Greifen nahe. Einen Sonnenaufgang im ›Paradiesgarten‹ zu erleben, lässt sich kaum in Worten fassen.«

»Klingt gut, Anna! Das hört sich wirklich gut an, sehr verlockend sogar!«

Rosemarie lächelte glücklich. Sie errötete leicht. Anna dachte, sie errötet nicht mehr aus Verlegenheit, sondern sie denkt an eine mögliche, unbeschreibliche erste Nacht.

Es waren wenige Hüttengäste an diesem Samstag auf der Berghütte. Es hatte ununterbrochen bis zum Nachmittag geregnet und viele von einer Wandertour abgehalten. So genossen Toni, Anna, der alte Alois, die Kinder und Rosemarie den ruhigen Abend. Sie saßen beim Kamin. Toni spielte auf der Zitter. Sie sangen Lieder, und der alte Alois erzählte Geschichten.

*

Rosemarie fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Sie dachte an Gaudenz und fieberte einem Zusammentreffen mit ihm entgegen. Sie stellte sich vor, wie er sie betrachten würde. Sie rätselte, wann er kommen würde. Sie ärgerte sich, dass sie seine Einladung abgelehnt hatte, am Sonntag mit ihm zum ›Paradiesgarten‹ zu wandern. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen oder Toni darum bitten sollte, ihn anzurufen. Durch den Regentag sei es ruhig auf der Berghütte und so stünde einem Ausflug nichts im Wege.

Rosemarie warf sich von einer Seite auf die andere. Sie schlief immer nur eine kurze Weile, dann wachte sie wieder auf. Als sie draußen in der Wirtstube Geräusche hörte, stand sie auf. Sie zog sich an und ging hinaus.

»Guten Morgen! Schon wach?«

»Guten Morgen, Toni! Ich mache eine ganz neue Erfahrung. Wenn man verliebt ist, hat man nicht nur weniger Hunger, sondern man braucht wohl auch weniger Schlaf.«

»Da ist etwas dran, Rosemarie! Das hast du richtig erkannt. Trotzdem solltest du mit mir frühstücken. Die Eier mit Speck sind gleich fertig!«

»Gut, dann lass mich den Kaffee aufbrühen, das Wasser ist heiß.«

Toni und Anna saßen beim Frühstück, als sie Schritte hörten.

»Nanu? So früh schon ein Wanderer?«

Toni legte die Gabel hin und stand auf. Er schaute aus der Küchentür und lachte.

»Da hat wohl noch jemand wenig geschlafen. Es scheint, du kommst doch noch zu deinem Ausflug, Rosemarie!«

Gaudenz betrat die Küche. Er blieb erst einmal stehen und schaute Rosemarie an.

»Der Himmel stehe mir bei! So eine Veränderung! Madl, bist du es wirklich? Fesch schaust aus.«

Eine zarte Röte stieg Rosemarie in die Wangen.

»Ich bin es wirklich, Gaudenz! Ich bin Rosemarie. Die neue Rosemarie hat nichts mehr von der alten traurigen Rosel. Es sei denn, die alte Rosel hat dir besser gefallen?«

»Wie kannst du so etwas denken? Du gefällst mir immer, ob als Rosel oder als Rosemarie. Doch als Rosemarie bist du so strahlend. Ich glaube, da ist ein Wunder geschehen. Die Engel vom ›Engelssteig‹ haben nicht nur die Zeit angehalten, die haben eine neue Zeit anbrechen lassen.«

Gaudenz ging auf Rosemarie zu. Er griff nach ihren Händen.

»Du siehst einfach nur fesch aus. Das bunte Dirndl steht dir gut. Der Glanz in deinen Augen ist wunderbar. Ich wünsche mir, dass er nie mehr erlischt. Es ist, als brennen tausende Kerzen in deinem Innern, als würde die Sonne in deinem Herzen sein. Lass nie mehr Regenwolken aufziehen!«

»Dann musst du sie vertreiben, Gaudenz! Du hast sie einmal vertrieben und wirst sie immer vertreiben.«

»Ich werde mich bemühen! Es werden nie mehr wieder dunkle Wolken über deinem Leben stehen, wenn du mich machen lässt und mir vertraust. Und wenn es sein muss, dann trage ich mit meinen eigenen Händen den Berg ab. Steinbrocken für Steinbrocken räume ich vom ›Höllentor‹ fort, damit nie wieder schwarze Wolken dort über dem Gipfel stehen können.«

Toni räusperte sich.

»Gaudenz, ich will dein poetisches Gesäusel nicht tadeln. Du hast wirklich eine dichterische Ader. Aber du solltest deutlicher werden. Du hast die neue Rosemarie vor dir und nimmer die alte Rosel.«

Toni blinzelt Gaudenz zu und verließ die Küche.

»Ja, Toni hat Recht«, sagte Gaudenz leise.

Er nahm Rosemaries Hände und legte sie um seinen Hals. Er musste nicht viel dafür tun. Rosemarie kam ganz nah an ihn heran.

»Rosemarie, ich liebe dich! Ich liebe dich, seit dem Augenblick, als ich dich in Tonis Auto gesehen habe.

Sie schaute ihm in die Augen.

»Ich weiß, Gaudenz! Ich habe den Blitz der Liebe auch gespürt. Ich liebe dich, Gaudenz!«

Rosemarie spürte, wie Gaudenz leicht zitterte.

»Ich bin sehr glücklich, Rosemarie! Ich möchte dich sofort etwas fragen. Doch ich bin mir nicht sicher, ob es für dich nicht zu früh ist. Nicht, dass du erschrecken tust. Aber es fällt mir so schwer, die Geduld aufzubringen.«

»Nur Mut, Gaudenz! Ich bin hart im Nehmen!«

Sie mussten beiden lächeln.

»Willst du mich heiraten? Willst du meine Frau werden? Musst dir keine Gedanken machen. Mit meinen Eltern habe ich gesprochen. Ihnen macht die Vergangenheit deiner Familie und dass du im Waisenhaus aufgewachsen bist und deine Eltern geschieden sind und dein Vater im Gefängnis war, nichts aus.«

»Das war eine lange Erklärung, Gaudenz! Ja, ich will deine Frau werden. Ich will es, weil ich dich liebe und mir sicher bin, dass du mich liebst. Die Vergangenheit kann ich nicht ungeschehen machen. Aber ich kann damit leben. Sie wird unsere Zukunft nicht trüben. Ja, liebster Gaudenz, ich werde gern deine Frau!«

Sie schauten sich tief in die Augen. Dann näherten sich ihre Lippen. Zuerst berührten sie sich ganz sacht und vorsichtig. Dann verschmolzen sie in inniger Liebe.

»Ich liebe dich so, meine Rosemarie! Du machst mich so glücklich!«

»Ich bin glücklich bei dir, Gaudenz! Ich bin mir sicher, dass uns eine besondere, eine außergewöhnliche Liebe verbindet. Sie wird halten, ein ganzes langes Leben.«

»Ja, Rosemarie, sie wird halten und darüber hinaus wird unsere Liebe in unseren Kindern weiterleben.«

»Wir werden glückliche Kinder haben, Gaudenz, nicht?«

»Ja, das werden wir, ganz bestimmt!«

Sie küssten sich wieder.

Toni kam herein. Er schüttelte ihnen die Hände. Viel sagen musste er nicht. Rosemarie und Gaudenz hatten sich gefunden.

Rosemarie aß ihre Eier mit Speck zu Ende, Gaudenz trank eine Tasse Kaffee.

Dann packte Rosemarie ihren Rucksack, und sie verließen die Berghütte.

*

Gaudenz und Rosemarie betraten Hand in Hand die Wohnküche auf dem Moosbauer Hof. Die Eltern saßen beim Frühstück.

»Guten Morgen! Mutter! Vater! Das ist Rosemarie! Sie ist meine Braut! Wir haben uns ausgesprochen. Ich habe ihr meine Liebe gestanden und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hat ihn angenommen!«

Gaudenz legte den Arm um Rosemaries Schultern.

»Rosemarie, das sind meine Eltern, Ludwig und Trudel Moosbauer!«

Gaudenz’ Mutter ging auf Rosemarie zu. Sie breitete die Arme aus.

»Komm her, Madl! Bist uns willkommen. Wirst unseren Buben glücklich machen, dessen bin ich sicher. Was uns angeht, mich und meinen Mann, so wollen wir dir die Elternliebe geben, die du nie hattest, auch wenn wir nur die Schwiegereltern sind.«

Zuerst schloss Trudel Moosbauer Rosemarie in ihre Arme, dann ihr Mann Ludwig, bevor die beiden ihren Buben umarmten.

»Des ist dann ja ganz schnell gegangen mit euch beiden, schneller als wir gehofft hatten. Das ist wunderbar!« bemerkte Ludwig Moosbauer.

»Ludwig, dabei hat der Himmel eingegriffen. Ich will mich net versündigen. Aber da ist etwas gutzumachen gewesen, denke ich. Des arme Madl war lang genug unglücklich gewesen«, sagte Gaudenz’ Mutter.

Sie setzten sich zu Tisch. Ludwig und Trudel frühstückten zu Ende. Dann zeigten Gaudenz und seine Eltern Rosemarie das große Haus, die Nebengebäuden, und den Garten.

»Was sagst dazu? Gefällt es dir hier?«

»Wie kannst du fragen, Gaudenz! Das Haus ist so riesig! Ich kann mir nicht vorstellen, darin alleine mit dir zu wohnen.«

»Oh, die Eltern wohnen zwar auf dem Altenteil, aber sie gehen eigentlich nur zum Schlafen über den Hof. Sonst sind sie hier. Und die vielen Zimmer …, des gibt wunderbare Kinderzimmer …, denke ich mir.«

»Oh ja! Jedes Kind wird sein eigenes Zimmer haben!«, freute sich Rosemarie.

Die Glocken auf dem Kirchturm der schönen Barockkirche läuteten zur Sonntagsmesse.

»Wollen wir alle zur Messe gehen?«, fragte Trudel. »Dann können euch alle sehen.«

Gaudenz schmunzelte.

»Mutter, ich kenne dich gut. Du willst mit der Rosemarie ein bisserl angeben, den anderen Frauen gegenüber, die noch ledige Buben daheim haben.«

»Ja, und was ist dabei? So eine Braut wie die Rosemarie bekommt keiner von denen! Wirst sehen, die werden grün vor Neid.«

Alle lachten.

Kurz darauf spazierten die vier die Hauptstraße von Waldkogel entlang. Sie waren spät. Pfarrer Zandler hatte schon mit der Messe begonnen, als sie durch die Kirchentür in das Innere des schönen Gotteshauses traten. Pfarrer Zandler verstummte mitten in der begonnenen Liturgie. Er schaute zuerst, als traue er seinen Augen nicht. Dann rief er laut: »Ihr hier vorne in der ersten Reihe rückt ein bisserl zusammen. Macht Platz! Da kommen noch Leut’, die hier vorne sitzen sollen.«

Ludwig Moosbauer schritt mit seiner Frau durch den Mittelgang. Ihnen folgten Rosemarie und Gaudenz. Ein lautes Getuschel erfüllte das Kirchenschiff.

»Wollt ihr ruhig sein!«, schimpfte Pfarrer Zandler. »Wir sind hier in einem Gotteshaus und net auf dem Marktplatz. Zum Tratschen habt ihr später noch Zeit. Ja, es ist die Rosemarie, die neben dem Gaudenz geht. Ich habe sie auch erst auf den zweiten Blick erkannt, so verändert und so gut, wie des Madl aussieht. Ich freue mich, sie so glücklich zu sehen. Und jetzt fahre ich mit der Messe fort, damit ihr bald Zeit zum Tratschen habt.«

Pfarrer Zandler blinzelte seiner Gemeinde zu und setzte dann die Messe fort.

*

Einige Tage später kam Anna zum Moosbauer-Hof. Rosemarie und Anna hatten sich für den Einkaufsbummel in der Stadt verabredet.

»Grüß dich, Anna!«

»Grüß Gott, Rosemarie! Wie geht es dir?«

»Mir geht es großartig! Gaudenz und seine Eltern verwöhnen mich sehr. Ich fühle mich, als würde Weihnachten, Ostern, Geburtstag und Namenstag auf ein Datum fallen. Morgens kümmere ich mich im Pfarrhaus um Pfarrer Zandler und am Nachmittag bin ich meistens mit Gaudenz’ Mutter zusammen. Aber die Helene wird bald aus der Kur zurück sein, dann bin nur noch hier. Wir legen den Garten neu an und kümmern uns um das Haus. Mutter Trudi, so darf ich zu ihr sagen, besteht darauf, dass alles so eingerichtet wird, wie es mir gefällt. Gaudenz lässt mir völlig freie Hand. Ein Haus gemütlich zu machen, sei ›Weiberangelegenheit‹, sagt er.«

»Ein kluger Bursche, dein Gaudenz!«

»Ja, und lieb ist er! Aber ohne Trudi würde ich es nicht schaffen, Anna. Es ist völliges Neuland für mich, ich hatte noch nie ein eigenes Zuhause. Die Kammer im Altenheim, die ist mehr eine Abstellkammer. Mir schwirrt der Kopf. Ich muss so viel entscheiden.«

»Macht es dir keine Freude?«

»Doch, doch! Aber es ist kompliziert für mich. Es gibt so eine große Auswahl an Möbeln und Stoffen und Sachen. Ständig muss ich mich entscheiden, welche Farbe, welche Größe, wie ist die Qualität und so weiter. Ich träume nachts schon von Stoffmustern und Möbelkatalogen.«

Anna lachte.

»Du solltest von Gaudenz träumen.«

»Anna, das tue ich! Außerdem ist er bei mir!«, sagte Rosemarie leise und lächelte. »Die Liebe ist sehr schön!«

Rosemarie nahm Anna mit in die Küche. Sie holte aus dem Schrank eine kleine Schachtel.

»Schau, das hat mir Gaudenz ges­tern gegeben!«

Voller Stolz zeigte Rosemarie Anna die kleine Brosche.

»Die ist wirklich schön!«

»Ja, das ist sie! Gaudenz war in Kirchwalden wegen seiner Arbeit und hat sie mir mitgebracht.«

Annas Blick fiel auf die Verpackung.

»War die Brosche in der kleinen Schachtel?«

»Ja? Warum fragst du?«

»Das ist eine lange Geschichte, Rosemarie! Franzi bekommt Briefe ohne Absender. Toni und ich haben es ihr aber nicht gesagt. In jedem Brief ist eine solche kleine Schachtel mit einem winzigen Anhänger, weißt diese kleinen Dinger, die viele sammeln und sie an einem Armband tragen. Kannst du Gaudenz fragen, in welchem Geschäft er dir die Brosche gekauft hat? Vielleicht können Toni und ich so herausfinden, wer der Absender ist. Er unterschreibt mit Berni.«

»Die kleine Franziska hat einen heimlichen Verehrer?«

»Das wissen wir nicht! Jedenfalls wollen Toni und ich herausfinden, wer dieser mysteriöse Berni ist.«

»Das verstehe ich. Ich werde Gaudenz fragen, wenn ich ihn heute Abend sehe. Er ist bei einem Kunden.«

»Danke, Rosemarie! Jetzt haben wir aber genug Zeit verloren. Lass uns fahren, schließlich haben wir einen Großeinkauf vor. Hast du dir eine Liste gemacht, was du dir an neuer bunter Kleidung kaufen willst?«

Rosemarie lachte.

»Ich habe eine Liste im Kopf. Ich weiß genau, was ich will. Welche Frau weiß das nicht?«

»Rosemarie, du hast dich verändert!«

»Ja, das macht die Liebe! Und ich will mir ein Brautkleid aussuchen. Hast du eine Idee, wo ich ein schönes Kleid finden kann?«

»Habe ich! Lass uns gehen!«

Rosemarie und Anna stiegen in den neuen kleinen Jeep, der Rosemarie gehörte und ein Geschenk zur Verlobung von Trudi und Ludwig war. Sie fuhren nach Kirchwalden.

*

Vier Wochen später heirateten Rosemarie und Gaudenz. Es war ein Dienstag. Darauf hatte Rosemarie großen Wert gelegt, weil sie sich an einem Dienstag zum ersten Mal begegnet waren. Die standesamtliche Trauung fand am Vormittag statt. Toni und Anna waren Trauzeuge.

Am späten Nachmittag segnete Pfarrer Zandler die beiden in der schönen Barockkirche von Waldkogel, die bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Gaudenz und Rosemarie waren ein sehr schönes Paar. Rosemarie trug ein knöchellanges zartrosa Dirndl mit einem Jäckchen und hatte als Brautschmuck einen Kranz aus kleinen rosa Rosen auf ihrem schönen brünetten Haar.

Ihr Braut­strauß war ein Gebinde aus weißen und rosaroten Rosen. Gaudenz trug einen Lodenanzug aus feinstem blauem Loden mit einer Weste aus rosa Seide, die in sich gemustert war.

Auf dem Moosbauer-Hof wurde bis zum nächsten Tag gefeiert und getanzt.

»Du bist ein Schlitzohr, Gaudenz! Du hast gar keine zwei linken Füße. Du bist ein wunderbarer Tänzer«, flüsterte Rosemarie Gaudenz ins Ohr.

»Das war Strategie! Ich wollte in deiner Nähe sein! Böse?«

»Nein! Ich nehme es als Liebeserklärung!«

Ihre Lippen fanden sich zu einem innigen Kuss.

Nach der Hochzeit kündigte Rosemarie beim Bistum. Sie war jetzt nur noch Frau Moosbauer und kümmerte sich um das Haus. Mit Helene Träutlein verstand sie sich gut. Diese war jetzt sehr beruhigt, jemanden vor Ort in Waldkogel zu wissen, der sie auch mal vertreten konnte, sollte es notwendig werden.

Gaudenz und Rosemarie bekamen in den folgenden Jahren vier Kinder. Es waren zwei Jungen und zwei Mädchen. Rosemarie war eine wunderbare Mutter und gab ihren Kindern all die Liebe, von der sie immer nur hatte träumen können.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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