Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 9

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Anna lehnte sich an den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Sie beobachtete Toni, wie dieser versuchte, ihr Geburtstagsgeschenk aufzuhängen. Er hatte ihr einen Stich des Hamburger Hauptbahnhofes geschenkt. Annas Onkel hatte ihn für Toni gekauft und per Express nach Waldkogel geschickt zu Tonis Eltern.

»Etwas höher noch …, mehr links ..., nein, jetzt nach rechts …, noch etwas nach unten«, kommandierte Anna.

Toni schlug den Nagel ein.

»So, des haben wir! Soll ich den Stich aufhängen, oder willst du es machen?«, fragte Toni.

»Du!«

Toni nahm vorsichtig den gerahmten Stich vom Bett und hängte ihn an die Wand.

Er stellte sich neben Anna und legte den Arm um ihre Schultern.

Anna lehnte sich an Toni. Sie hob den Kopf und schaute ihm zärtlich in die Augen. Sie umarmten und küss­ten sich.

»Danke, für das schöne Geburtstagsgeschenk, Toni! Du hast mir damit wirklich eine große Freude gemacht.«

»Des freut mich, Anna! Mei, es war net so leicht, ein Geschenk für dich zu finden. Du bist eben so bescheiden und äußerst nie Wünsche.«

Anna lachte und gab Toni einen Kuss.

»Toni, was soll ich mir wünschen? Ich habe hier alles, was ich mir wünschen könnte. Da bist du, mein lieber Mann. Auf unserer Berghütte sind wir jeden Tag zusammen. Das ist mehr, als viele andere Frauen haben, deren Männer gehen morgens zur Arbeit und kommen oft erst spät am Abend zurück. Wir dagegen stehen gemeinsam auf und sind den ganzen Tag zusammen, bis wir uns abends schlafen legen. Wir haben hier alles, was wir brauchen, ein schönes Heim, an einem der herrlichsten Flecken auf Erden. Wir haben die Bichler Kinder adoptiert und der gute alte Alois ist auch bei uns wie ein Großvater. Was soll ich mehr wollen?«

Toni gab ihr einen Kuss.

»Mei, Anna, mir geht es genauso! Weißt, ich habe immer davon geträumt, Hüttenwirt auf der Berghütte zu werden. Aber, dass es so ein schönes Leben sein wird, mit einem außergewöhnlichen Madl an meiner Seite, das ich so liebe ...«

»Und das dich liebt!«, warf Anna ein.

»Richtig, das mich so liebt und meine Träume zu seinen macht, des hab’ ich mir net vorstellen können. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mich eines Tages in eine junge hübsche Bankerin verliebe und die aus Liebe zu mir ihren Beruf, ihre großartige Karriere aufgibt, mei, den hätte ich für verrückt erklärt. Des kommt mir alles immer noch wie ein Wunder vor.«

»Mir auch, Toni! Da ist eben das große Wunder der Liebe!«, seufzte Anna glücklich aus tiefstem Herzen. »Ich konnte mir so ein Leben nicht vorstellen. Ja, ich wusste nicht einmal, dass es so ein Leben gibt. Und jetzt ist es wirklich das Paradies auf Erden. Toni, liebster Toni, ich bin wirklich restlos glücklich!«

»Das freut mich! Manchmal denke ich, dass es viel Arbeit ist und ich dir zu viel aufbürde.«

»Toni, was redest du für einen Schmarrn? Ich will dir mal etwas sagen. Erstens, kann ich etwas einwenden, wenn es mir zu viel wird. Dann teilen wir uns die Arbeit anders ein. Zweitens, habe ich in Hamburg in der Bank viel mehr gearbeitet, das war wirklicher Stress. Hier empfinde ich die Arbeit als etwas sehr Schönes, etwas, was mir tief in meinem Inneren ein warmes Gefühl der Zufriedenheit gibt. So etwas kannte ich in Hamburg nicht. Meine Aufgabe und mein Leben hier füllen mich aus, und ich bin restlos glücklich. Für nichts auf der Welt möchte ich tauschen!«

»Ich will auch nicht tauschen!«

Sie küssten sich wieder.

»So, nach diesem romantischen Rückblick sollten wir wieder an die Arbeit gehen!«

»Ja, aber heute ist es etwas ruhiger. Ich denke, des wird auch bis zum Abend so bleiben.«

»Damit meinst du, dass der trübe Himmel noch andauert?«

»Ja, Anna! Aber Regen muss es auch geben. Alle wollen immer Sonnenschein haben – immer! Aber wo soll dann das Grundwasser herkommen? Dann würden die Quellen versiegen und die schönen Gebirgsbäche austrocknen, und Almen mit saftigem Gras würde es auch nimmer geben.«

Toni lachte.

»Als ich die Tage bei den Eltern unten im Dorf war, da lief bei der Mutter in der Küche der Fernseher. Es kam gerade die Wettervorhersage. Was haben die einen Schmarrn geredet, weil es jetzt einige Tage ein bissel feucht werden würde! Ich dachte bei mir, sind die denn alle deppert? Der Wettermoderator hat sich bei den Zuschauern für die Vorhersage des leichten Regenwetters indirekt entschuldigt. So ein Spinner!«

Anna lachte.

»Toni, rege dich nicht auf!«

»Ich rege mich net auf. Mich wundert nur manchmal die Dummheit der Menschen. Weißt, früher, da waren die Leut’ zufriedener, denke ich oft. Sie nahmen an, wie es kam, das Wetter genauso wie die Höhen und Tiefen des Lebens. Heute wollen sie nur noch Höhen. Sie wollen immer höher hinauf. Alles muss noch größer, noch schöner, noch prächtiger und noch teurer und moderner sein. Diese Höhenflieger gehen mir manchmal gewaltig auf die Nerven.«

»Sie werden es noch lernen, Toni. Jeder Mensch muss seine Erfahrungen machen. Die meisten lernen aus Erfahrungen. Andere sind wie Ikarus, der immer höher hinaus wollte und schließlich der Sonne zu nahe kam. Das nahm dann ein böses Ende. Religion, Geschichte, Legenden und Mythen geben den Menschen viele Beispiele dafür, was gut und richtig ist und was nicht so gut ist. Aber jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden. In Hamburg habe ich als Bankerin meistens nur mit Menschen zu tun gehabt, für die nur das Geld zählte. Sie wollten nur mehr und immer mehr. ›Sie waren hinter dem Geld her, wie der Teufel hinter einer armen Seele‹, so sagt der Volksmund. Sie waren nie, niemals zufrieden. Sie waren süchtig nach Geld wie ein Suchtkranker. Sie waren auf der Suche nach vollkommener Zufriedenheit und dachten, sie stellte sich ein, wenn sie noch mehr Geld haben.

Toni, ich sage dir, sie haben die Zufriedenheit nicht gefunden. Aber es war ihr Leben. Ich mache meinen ehemaligen Kunden keinen Vorwurf. Ich verurteile sie nicht. Jemanden für seinen Lebensentwurf und seine Lebensziele zu verurteilen, dazu hat kein anderer Mensch ein Recht. Ich sage dir aber, aus heutiger Sicht habe ich Mitleid mit ihnen. Sie werden das schöne Gefühl, das wir beide in unseren Herzen spüren, nie erleben. Es sind bedauernswerte Geschöpfe. Weißt du, jeder braucht ein Einkommen, keiner sollte hungern oder frieren.

Doch jeder sollte eine Balance finden zwischen dem, was notwendig ist, um sein Leben zu bestreiten, dem, was möglich ist und dem, was die Lebensqualität verringert, wenn man genau hinschaut.«

Anna streichelte Toni die Wange.

»Toni, du und ich, wir können daran wenig ändern. Was du und ich tun können, das tun wir. Wir bieten hier auf der Berghütte eine Idylle.«

Anna lächelte Toni an.

»Toni, die Anzahl der Hüttengäste steigt stetig an. Das heißt, dass immer mehr Menschen die alten Werte suchen. Auch wenn sie in ihrem täglichen Leben immer weniger die alten Werte leben können, um so mehr genießen sie den Aufenthalt bei uns auf der Berghütte.«

»Ja, so ist es! Deshalb habe ich auch darauf bestanden, dass die Berghütte nicht modernisiert wird und dass es keine Straße herauf gibt und nicht ständig elektrischen Strom aus der Steckdose. Weißt, Anna, ich denke, für viele ist die Berghütte ein wirklicher Zufluchtsort. Hier können sie Kraft schöpfen.«

»Ja, so ist es! Und die Erinnerung an den Aufenthalt bei uns in den Bergen, der gibt ihnen ein tröstliches Polster für den Alltag, wenn sie wieder daheim sind. Sie füllen hier ihr Herz mit Freude und Kraft an.«

Sie gingen hinaus. Anna schaute in der Küche nach dem Hefeteig. Sie wollte Apfelkuchen backen. Toni ging hinter die Berghütte und hackte Holz.

*

Burgl war draußen auf der Terrasse. Sie räkelte sich auf der Sonnenliege und las einen Roman. Es war ein alter Roman, der in den Bergen spielte. Burgl genoss es. Der Leidenschaft, Kitschromane zu lesen, wie ihr Lebenspartner Jochen diese Literatur bezeichnete, frönte sie nur, wenn er nicht da war. Burgl, die seit Jahren in Berlin lebte und als freie Grafikerin arbeitete, litt unter Heimweh.

Sie war in Waldkogel geboren und dort aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete in Kirchwalden. Mit sechzehn Jahren war sie mit ihren Eltern nach Berlin gezogen, weil ihr Vater dort eine sehr gute Arbeit gefunden hatte. Sie hatte ihr Abitur gemacht und Grafik und Design studiert. Jetzt stand bald ihr dreißigster Geburtstag an. Burgl hatte für sich ganz im Stillen Bilanz gezogen. Sie war nicht unglücklich, aber glücklich war sie auch nicht. Auf der einen Seite lebte sie in einer Beziehung, aber sie verspürte auf der anderen Seite seit einiger Zeit eine stetig wachsende Leere, eine tiefe innere Einsamkeit. Ihrem Heimweh konnte sie sich nur hingeben, wenn Jochen fort war. Sonst träumte sie nachts von Waldkogel und ihrer Kindheit, schwieg aber Jochen gegenüber bewusst über ihre nächtlichen Träume und ihre Tagträume.

Burgl sehnte sich nach einer Familie. Sie wäre bereit, Jochen zu heiraten. Doch Jochen wehrte jedes Mal ab, wenn Burgl vorsichtig das Thema anging.

»Was willst du? Uns geht es doch gut! Wozu noch einen Trauschein? Wir sind erwachsene Menschen mit Zielen. Unser Leben funktioniert doch gut«, hatte er jedes Mal gesagt.

Burgl kannte diese Sprüche schon auswendig. Es schmerzte sie. Trost fand sie in den Heimatromanen. Sie stellte sich beim Lesen vor, die Geschichten spielten in den Bergen, in ihrer Heimat, die sie so vermisste.

Burgl hatte es nicht geschafft, sich von Jochen zu lösen. Er war sehr gutaussehend, eben ein Mann wie aus einem Modemagazin für Männer. Viele waren hinter ihm her gewesen. Es war schmeichelhaft für Burgl gewesen, dass sie ein Paar wurden. Jochen war Juniorpartner in einem erfolgreichen Architekturbüro, das sich bundesweit einen Namen gemacht hatte. Er arbeitete sehr viel, und Burgl hatte als Freiberuflerin dafür auch Verständnis. Aber die romantischen Abende wurden immer seltener. Schon bald waren sie zusammengezogen und hatten gemeinsam diese Penthouse-Wohnung über den Dä­chern der Stadt gekauft. Im ersten Jahr hatten sie gemeinsam die Sonnenuntergänge auf der Terrasse genossen. Jetzt war Burgl sehr oft alleine.

Burgl, die mit vollem Namen Burghilde Luckner hieß, ließ ihr Buch sinken und hörte in sich hinein. Die weibliche Romanfigur hatte sich gefragt, ob sie den Burschen liebte.

»Liebe ich Jochen noch?«, flüsterte sie vor sich hin.

Sie erschrak selbst über ihre Worte. Ihr Herz fing an zu klopfen. Burgl wusste nicht warum. War es das freudige Pochen der Liebe? Oder kam es von dem Schreck, den die Frage bei ihr ausgelöst hatte?

Sie dachte an Jochen, hörte in sich hinein. Sie verglich ihn mit den anderen Männern, die sie vor Jochen gekannt hatte. Diesen Vergleich entschied der smarte Jochen für sich. Aber so verliebt wie am Anfang bin ich nicht mehr, wurde ihr plötzlich bewusst. Diese Erkenntnis war ihr einfach so gekommen.

Warum ist das so?

Was hat sich in meinem, in unserem Leben geändert?

Geht es allen Paaren so, die länger zusammen sind?

Vielleicht ist es ganz normal, dass es so ist, dachte sie. Die Schmetterlinge fliegen nicht mehr so schnell.

Liebe ich ihn, weil ich ihn lieben will oder liebe ich ihn, weil ich ihn wirklich liebe?

Burgl stand auf und ging in die Küche. Sie holte sich einen Saft aus dem modernen Kühlschrank, der auch Eiswürfel spendete. Jochen hatte darauf bestanden, ihn zu kaufen. Jochen hat im Prinzip all seine Wünsche bei der Wohnungseinrichtung durchgesetzt, bis auf ihr Studio. Barfuß wanderte Burgl durch die Räume. Sie waren sehr geschmackvoll eingerichtet. Doch es war irgendwie Jochens Heim, nicht das ihre. Es gab teure moderne Kunst, die Burgls Seele nicht berührte.

Burgl erkannte plötzlich, dass es an Wärme fehlte, an Gemütlichkeit, an Leben. Alles war steril und kalt. Ihre Gedanken wanderten wieder zurück in die schöne Zeit der Kindheit. Die Häuser mit den weit vorgezogenen Dächern, die im Winter gegen Schnee schützten, vermittelten Geborgenheit. Die Wärme des großen Kachelofens, der von der Küche aus befeuert wurde, verbreitete nicht nur Wärme, sondern auch Gemütlichkeit. Der weiße Kunstkamin mit der elektrischen Befeuerung in der Luxuswohnung konnte dagegen nicht mithalten.

Burgl nippte an ihrem Saft. Sie ging wieder hinaus auf die Terrasse.

Burgl konnte nicht sagen, wie lange sie dort gestanden hatte. Sie war ganz in Gedanken versunken gewesen. Die Stimme, die aus dem Lautsprecher drang, holte sie in die Wirklichkeit zurück.

»Hallo, Burgl! Ich bin es, Sabine aus Waldkogel. Habe geläutet, wollte dich überraschen! Also erstmal liebe Grüße! Melde dich!«

Burghilde riss den Hörer vom Telefon.

»Bine! Hallo, Binchen, ich bin da! Wo bist du?«

»Mei, ich stehe hier unten vor dem Haus!«

»Komme rauf!«

Burgl legte auf und betätigte den Türöffner. Auf dem Monitor sah sie ihre Freundin aus Kindertagen sich gegen die Tür werfen.

Burghilde rannte ins Treppenhaus und wartete beim Aufzug. Sie fuhr sich mit den Händen ins Gesicht und strich die Haare zurück. Erst jetzt fühlte sie, dass ihr Gesicht nass war. Burgl rannte in die Wohnung zurück und betrachtete sich in dem deckenhohen Spiegel im Flur. Die Tränen hatten deutliche Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Wie dunkle Rinnsale hatten sie ihre abgelöste Wimperntusche über die Wangen verteilt.

»Dabei soll die Tusche wasserfest sein!«, schimpfte Burgl.

Sie hörte, wie sich die Aufzugstür öffnete. Schnell rannte sie ins Badezimmer am anderen Ende des Flurs. Dabei rief sie:

»Komm rein, Sabine, und mache es dir bequem! Ich komme gleich! Muss nur noch mein Make-up erneuern.«

Augenblick später stand die Freundin aus Kindertagen in der offenen Tür des Badezimmers.

»Mei, für mich musst keine Kriegsbemalung anlegen!«

Dann sah Sabine, dass die Freundin Tränenspuren im Gesicht hatte. Sie trat neben Burgl, nahm sie bei den Schultern, drehte sie zu sich herum und schaute ihr in die Augen.

»Du hast geweint! Was ist los? Wolltest du deswegen die Tür nicht aufmachen? Ich habe mehrmals geklingelt.«

Burgl schaute die Freundin nur an. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sabine nahm sie in den Arm und ließ sie weinen. Dabei flüsterte sie leise:

»Erst mal ein herzliches ›Grüß Gott!‹ Es scheint, der Herrgott hat mich zur rechten Zeit geschickt.«

Als Antwort erhielt sie ein Schluchzen.

Sabine hielt die Freundin noch einen Augenblick fest. Dann drückte sie sie von sich. Sie nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Stuhl im Badezimmer.

»Setzen!«, sagte Sabine streng. »Jetzt nehme ich mal die Sache in die Hand! Mei, wie du ausschaust! Madl, Madl!«

»Lass mich, ich wollte mir gerade das Gesicht waschen.«

»Des mache ich jetzt. Wo hast du …«

»Dort im Spiegelschrank!«

»Spiegelschrank – wie geht der auf?«

Mehrere Meter über den beiden Waschbecken waren mit Spiegeln bedeckt. Sabine konnte keinen Griff entdecken. Burghilde berührte eine beleuchtete Fliese an der Wand, und ein Teil des Spiegels bewegte sich wie von Zauberhand hydraulisch nach oben und gab den Blick auf die Kosmetik frei.

»Mei, das ist ja wie im Märchen! So einen Spiegelschrank habe ich noch nie gesehen!«

»Gibt es auch noch nicht im Handel. Wird auf der nächsten Messe vorgestellt.«

»Lass mich raten! Das Ding ist eine Entwicklung von deinem Jochen, stimmt es?«

Burghilde nicke. Sabine säuberte der Freundin mit einer Reinigungstinktur die Wangen.

»So ist es gut, Madl! Jetzt kann man dich wieder anschauen, ohne gleich Angst zu bekommen.«

Ein scheues und verlegenes Lächeln huschte über Burghildes Gesicht.

»Ich habe erst gemerkt, dass ich wohl geweint habe, als ich dir aufmachte.«

»Himmel, wenn du so weggetreten warst, dann musst du echt großen Kummer haben.«

Sabine zog die Augenbrauen hoch und sah Burghilde an.

»Bist also schon dahintergekommen, wie?«

»Hinter was soll ich gekommen sein?«

Sabine erkannte, dass die Freundin wohl völlig ahnungslos war.

»Ach, darüber reden wir später! Ich hätte Lust auf einen Kaffee.«

»Gute Idee! Lass uns in die Küche gehen!«

Burgl ging voraus. Sabine, die auch Bine oder Bienchen genannt wurde, folgte ihr.

»Setz dich!«

Sabine nahm Platz.

Während sie Burghilde zusah, wie sie die chromblitzende italienische Kaffeemaschine in Gang brachte, erzählte sie.

»Ich war auf einer Tagung an der Ostsee. Da dachte ich mir, ich überrasche dich auf dem Rückweg.«

»Gute Idee, im Prinzip – aber ein schlechter Zeitpunkt.«

»Burgl, der Zeitpunkt ist richtig! Ich bin genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Du bist völlig daneben, wie man sagt. Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?«

»Ach, ich weiß auch nicht! Jochen ist zu einer Präsentation nach Hannover. Das Studio präsentiert die neuen Entwürfe. Er wird entweder spät kommen oder erst morgen.«

»Warum hat er dich nicht mitgenommen? Du kannst dir als Freischaffende deine Zeit doch einteilen.«

»Was soll ich dabei? Solche Termine, die nimmt er alleine wahr. Manchmal gehe ich mit zu einer Einweihung, aber nicht immer – früher bin ich öfters dabei gewesen. Aber ich kann nicht so gut heucheln. Ich bewunderte Jochen für seine Arbeit. Ich erkenne auch an, was er macht. Aber gefallen tun mir die Gebäude selten. Sie sind alle irgendwie kalt, zu funktional eben, alles immer in Weiß, Grau mit viel Glas und Edelstahl.«

»Wie heißt es? ›Die Geschmäcker sind verschieden.‹ Und wie steht es mit dem Architekten selbst?«

Statt einer Antwort zuckte Burghilde mit den Achseln.

»Entschuldige, Bienchen! Ich fühle mich nicht gut! Ich habe einen Heimatschinken gelesen und bin darüber zuerst in tiefes Heimweh versunken und dann in Weltschmerz. Mit mir stimmt etwas nicht.«

»Heimweh nach den geliebten Bergen hattest du immer!«

»Schon, aber in letzter Zeit wird es immer schlimmer. Da ist so eine große Sehnsucht in mir! Solange ich sie mit Arbeit betäube, kann ich sie aushalten. Aber wenn ich mich entspanne, dann bricht sie durch. Dann möchte ich am liebsten alles hinwerfen und weglaufen.«

Burghilde schenkte Kaffee ein und taute in der Mikrowelle Kuchen auf.

»Vielleicht solltest du auf dein Herz hören und wirklich alles hinwerfen. Deine innere Stimme zeigt dir mit diesem Wunsch einen Weg.«

Sabine schaute die Freundin ernst an.

Sie aß ihren Kuchen. Burghilde beobachtete sie.

»Bienchen, dir liegt etwas auf der Zunge! Sage es schon!«

»Ach, mir gehen nur verschiedene Gedanken durch den Kopf.«

»Mei, Bine! Wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander. Da fällt mir ein, wie hast du das vorhin gemeint, mit dem Dahinterkommen?«

Sabine seufzte tief.

»Gut! Wir sind Freundinnen! Unsere Freundschaft hat auch über die vielen Jahre gehalten, seit ihr aus Kirchwalden fortgezogen seid. Ja, es gibt etwas zu sagen. Vielmehr, es gibt da etwas, was mich sehr beschäftigt. Schon wochenlang quäle ich mich damit herum. Himmelherrgott, es muss nicht stimmen! Aber es ist schon ein wenig sonderbar. Ich habe tausendfach überlegt, ob ich dich anrufen soll. Doch dann kam ich auf die Idee, ich besuche dich! Erzähle es dir persönlich! Von Angesicht zu Angesicht zu reden ist besser, dachte ich mir.«

»Nun sage es einfach!«

Sabine schüttelte den Kopf.

»Das lässt sich nicht so einfach sagen! Das ist eine lange Geschichte. Es geht um eine Gruppe von Madln, dazu gehöre auch ich und ein Mann. Du bleibst aber ganz ruhig – bitte! Erst hörst du dir alles an!«

Burgl nickte. Sie nahm sich ein zweites Stück Kuchen.

»Gut! Dann fange ich an! Ich bekomme mehr Klarheit, wenn du mir sagst, wie das so ist, wenn man so lange schon mit jemandem zusammenlebt wie du und Jochen. Was ich fragen will, ist Folgendes: Hast du schon einmal daran gedacht, dich von ihm zu trennen oder er sich von dir? Hattet ihr mal so richtig Streit?«

»Wir hatten schon mal Streit, auch heftigen Streit! Jochen hat auch schon mal öfters eine Woche im Studio geschlafen. Wir hatten vor zwei Jahren eine Phase, da krachte es heftig. In letzter Zeit ist es wieder ruhiger.«

»Um was ging es dabei?«

»Es war das Thema Heirat! Ich wollte – will eigentlich immer noch – oder vielleicht auch nicht. Heute darfst du mich zu dem Thema nicht fragen, Bine. Ich bin heute emotional völlig gestört.«

»Du bist aber nicht schwanger? Ich meine, da sind Gefühlsschwankungen schon mal möglich! Die Hormone können schon mal verrückt spielen. Ich kenne mich da aus, immerhin bin ich Hebamme und habe eine Lehrbefugnis für die Hebammenausbildung. Hormonschwankungen, die solche unerklärlichen Stimmungsveränderungen auslösen, sind oft die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft«

Burghilde riss die Augen auch.

»Bewahre! Himmel! Das darf nicht sein! Jochen würde durchdrehen. Er will weder heiraten, noch Kinder!«

Burghilde sprang auf.

»Sabine, ich laufe schnell in die Apotheke im Erdgeschoss und hole mir einen Schwangerschaftstest! Man kann ja nie wissen!«

»Den Weg kannst du dir sparen! Die Pharmavertreter haben uns mit Werbung eingedeckt. Wann haben sie schon mal einen ganzen Saal voll Ausbilderinnen zusammen, die zukünftige Hebammen unterrichten?«

Sabine holte aus ihrer Reisetasche im Flur einen Schwangerschaftstest.

»Hier, bitte!«

»Danke!«

Burghilde riss der Freundin den Test aus der Hand. Sie rannte ins Badezimmer. Es vergingen einige Minuten. Dann kam sie wieder.

»Gott sei Dank! Negativ! Bitte, höre auf, mich noch einmal so zu erschrecken. Wenn ich schwanger gewesen wäre, würde mir Jochen bestimmt unterstellen, ich wollte ihn damit hereinlegen und ihn zur Ehe zwingen. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie er regiert hätte. Also bitte keine solchen Schocks mehr!«

»Das kann ich nicht garantieren!«

»Dann hast du hoffentlich auch Beruhigungsmittel dabei?«

»Nein!«

Die Freundinnen lachten.

»Also, was ist so wichtig, dass du persönlich mit mir reden willst?«

Sabine erzählte von der Examensfeier des letzten Hebammenkurses.

»Wir waren sehr ausgelassen. Es wurde auch etwas getrunken. Schließlich waren wir alle etwas angeheitert, die Dozenten, die Dozentinnen und die frischen Hebammen. Der Stress fiel ab. Alle hatten mehr als gut bestanden. Es war der erfolgreichste Kurs seit Jahren. Es war nur eine kleine Gruppe gewesen. Irgendwann wurde die Party in der Aula der Schule aufgehoben und wir zogen uns alle ins Wohnheim zurück. Eine der frischgebackenen Hebammen bot an, dass wir auf ihrem Zimmer weiter feiern sollten. Vor ihrem Zimmer lagen ein riesiger Rosenstrauß und ein Brief. Wir waren alle neugierig. Sie erzählte, dass sie sich im Internet bei einer Partnervermittlung angemeldet und darüber einen Mann kennengelernt hatte. Er ist Arzt auf einem Schiff. Sie hatten sich auch mehrmals gesehen, wenn das Kreuzfahrtschiff in Amsterdam anlegte. Jedenfalls wurde aus der E-Mail-Bekanntschaft Liebe, und die beiden werden heiraten. Wir wollten natürlich alle wissen, wo – und wie – und eben alles. Sie schaltete den Computer ein und zeigte uns die Internetseiten der Partnervermittlung. Wir konnten uns durch ihr Passwort alle Profile der Männer ansehen. Und einer erinnerte mich an deinen Jochen. Das sagte ich auch. Jemand kam auf die Idee, ihm zu schreiben. Also, erfanden wir eine Frau, die ihm antwortete. Wir dachten uns alle zusammen einen Lebenslauf aus und fantasierten darauf los. Dann schickten wir die Mail ab. Es war mitten in der Nacht, es war drei Uhr oder so. Trotzdem meldete sich dieser Typ. Dann wurden Mails hin und her geschickt. Es endete erst um acht Uhr am nächsten Morgen. Jedenfalls ist in diesen Mails ganz schön geflirtet worden.«

»War es Jochen? War es mein Jochen?«

»Mit Bestimmtheit kann ich es nicht sagen. Aber es passt alles irgendwie. Das hat mich einfach nicht mehr losgelassen.«

»Und wie ging es dann weiter?«

»Nun, innerhalb der nächsten Tage reisten die frisch Examinierten ab. Ich bat diese ehemalige Schülerin, die ja jetzt in festen Händen war – sie hat ja diesen Schiffsdoktor an der Angel – mir ihr Passwort zu überlassen. Ich pflegte weiter mit dem Mann Kontakt, alles über das Netz. Ich muss sagen, ich spielte meine Rolle gut. Ich war Conny und eine erfolgreiche Raumausstatterin mit eigenem Studio in Nordrhein-Westfalen.«

»Du hast doch aber keine Berufskenntnisse!«

»Burgl! Engelchen! Wir schrieben uns ganz andere Sachen. Jedenfalls bat er mich um meine Adresse, Telefonnummer und private E-Mail-Adresse. Ich schrieb ihm, ich sei im Ausland auf Geschäftsreise und würde mich bei ihm melden, sobald ich wieder zurück sei. Er mailte mir eine Handynummer.«

Sabine griff in die Handtasche und schob Burgl ein Blatt Papier über den Tisch. Sie las es und wurde blass.

»Das ist wirklich eine von Jochens Handynummern. Er hat mehrere Handys. So ein verdammter, so ein hinterhältiger Betrüger, Saukerl!«, schrie Burghilde. »Ein Dreckskerl ist er!«

Sabine nickte.

»Ich wusste, dass es eine von Jochens Handynummern ist. Du hast mich mal auf ihr angerufen, als dein Handy leer war und ihr zusammen im Urlaub gewesen wart. Ich hatte sie mir damals sorgsam notiert.«

»Na, der kann etwas erleben, wenn er morgen heimkommt! So ein Schuft! Begibt sich im Internet auf die Suche. Und was ist mit mir? Was soll das? Der will mich wohl für dumm verkaufen!«

Burghilde sprang auf und rannte wütend um den Tisch herum.

»Ich bin so sauer! Ich hätte große Lust, hier alles zu zertrümmern! Aber das würde meine Wut auch nicht stillen. Ich will ihn fertig machen! Was denkt sich Jochen?«

»Er ist ein Mann! Und als solcher wollte er wohl Beute machen! Sind Männer nicht immer auf Beute aus? Jagen gehört zu ihrer Ausstattung.«

»Das werde ich ihm vermasseln! Ich werde Rache üben, wie es nur eine verletzte Frau tun kann. Was habe ich nicht alles gemacht für diesen Schuft? Ich passe mich an! Ich gebe seinen Launen nach! Lese ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Lasse mich sogar ›Conny‹ nennen, wenn wir zusammen auf eine Einweihung gehen. Burgl oder Burghilde, wie ich heiße, das ist ihm nicht stylisch genug, verstehst du? Das ist ihm zu bieder. Das passt nicht zu seinem Image. Bine, ich könnte schreien und schreien und schreien.«

»Bitte schön, tu deinen Gefühlen keinen Zwang an!«

Burghilde holte tief Luft und brüllte los:

»Mistkerl, verdammter! Dieser Hallodri! Himmelherrgottsakramentkruzefixundzugenäht, der Jochen benimmt sich wie ein Mini-Macho, wie so ein Westentaschen-Napoleon! Den soll der Blitz treffen!«

»Geht es dir jetzt besser? Was willst du jetzt machen?«

»Ich werde ihm das Fell über die Ohren ziehen! Bine, ich habe diesen Mann geliebt! Was war ich einmal so glücklich! Ich habe nur für ihn gelebt. Schau dich um! Diese Wohnung hat die Atmosphäre eines Kühlhauses, selbst bei dreißig Grad im Schatten. Ich duldete seinen Geschmack, pass­te mich an, ließ es mir gefallen, dass er mich allen als ›Conny‹ vorstellte. Ich verzichtete auf einen Hund, weil ihn die Hundehaare stören würden. Er will nicht heiraten, will keine Kinder, will keinen Hund. Aber er sucht sich über das Internet jemanden anderes. Welch ein Zufall! Es gibt Milliarden von Menschen auf dieser Erde und ausgerechnet du sitzt vor dem PC. Das ist eine Wahrscheinlichkeit, die jede Wahrscheinlichkeitsrechnung sprengt!«

»Ich würde es einfach Schicksal nennen, Burgl!«

»Ja, das ist Schicksal! Aber ich werde mir das nicht gefallen lassen. Ich werde mich wehren!«

Sabines Handy klingelte. Es war das Krankenhaus in Kirchwalden. Eine der Dozentinnen an der Schule war ausgefallen. Die Ausbildungsleiterin wollte von Sabine wissen, ob es möglich sei, dass sie am nächsten Tag den Unterricht übernehmen könnte. Sabine versprach, gleich zurückzurufen.

»Burgl, kann ich dich alleine lassen? Ursprünglich hatte ich vor bis morgen zu bleiben, aber …«

»Keine Sorge! Und danke – danke – danke dafür, dass du gekommen bist. Das, was du mir erzählt hast, hat eine Entscheidung angestoßen, die schon längst fällig war. Ja, sie war sogar längst überfällig.«

Burgl schaute Sabine an und lächelte.

»Weißt du, Burghilde, wie ich richtig heiße, ist ein alter, ein sehr alter Name. Der Namensteil ›Hilde‹ bedeutet ›Kampf‹. Ich kann kämpfen.«

»Dass du kämpfen kannst, das weiß ich, Burgl! Es dauerte immer etwas, bis du dich dazu entschlossen hattest, aber dann hattest du alles durchgestanden.«

»Richtig! Jochen war nicht der ers­te Mann. Aber ich schwöre dir, in Zukunft passe ich auf. Ich schwöre dir darauf eine heiligen Eid!«

»Versündige dich nicht, Burgl!«

»Naa, ich versündige mich nicht! Ich rede nur von Tatsachen und dass ich endlich den Durchblick habe. Ich habe meine Lektion gelernt, und so etwas passiert mir nie – nie wieder! Diese Dreckskerle, diese Hallodris sind doch alle gleich!«

»Ich weiß nicht, Burgl?«

»Aber ich weiß es! Sie sind alle gleich! Halten sich für die Größten, schauen auf uns Madln herab und denken, sie können alles mit uns machen. Was würde geschehen, wenn wir es genauso machen? Ich meine, sie an der Nase herumführen? Sie benutzen uns und tun sich heimlich nach etwas Besserem umsehen? Also, ich schwöre dir, so etwas passiert mir nicht noch einmal! Und was er kann, kann ich auch! Wie macht man das mit der Partneragentur im Internet? Könnte ich ihm auch schreiben?«

Sabine erklärte es ihr. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf in Burgls Studio. Sie setzten sich an den Computer. Sabine weihte Burgl in das Pass­wort ein und ließ sie die Mails lesen, die sie mit Jochen im Laufe der letzten Wochen gewechselt hatte.

»So ein Lump«, schimpfe Burghilde dazwischen immer wieder. »Dem werde ich es zeigen! Dem erteile ich eine Lektion, dass er nur so groß ist, dass er mit Stöckelschuhen und Zylinder bequem unter dem Teppich hindurchgehen kann!«

»Dann kann ich dich jetzt alleine lassen?«

»Ja, das kannst du. Mache dir keine Sorgen, dem werde ich es zeigen! Der wird sein blaues – grünes – gelbes Wunder erleben!«

»Was hast du vor?«

»Ich habe da verschiedene Ideen! Aber die muss ich erst im Kopf sortieren.«

Sabine lachte.

»Jetzt bist du ganz die Alte, wie ich dich kenne. Du hast die Sachen immer alleine ausgebrütet!«

»Ich rufe dich an, Bine!«

»Komme mich doch besuchen? Ich würde mich freuen. Ich habe zwar eine Dienstwohnung im Krankenhaus. Aber meistens bin ich daheim in Waldkogel auf unserem Hof. Die Eltern haben sich aufs Altenteil zurückgezogen. Sie leben jetzt im Austragshäusl, packen aber noch mit an. Mein Bruder hat den Hof übernommen.«

»Der Hannes ist jetzt der Bauer? Das wird ihm Freude machen.«

»Ja, es hat sich einiges geändert. Vor lauter Geschichten über Jochen bin ich nicht zum Erzählen gekommen.«

»Das werden wir nachholen! Ich komme gerne! Und grüße mir deine Eltern und Hannes.«

»Das werde ich! Hannes wird sich freuen. Er hatte immer ein Auge auf dich geworfen.«

»Ich weiß! Aber ich habe mich nie in ihn verliebt. Hätte ich es getan, dann wäre ich vielleicht bei euch auf dem Hof geblieben, wäre in Kirchwalden nach der Mittleren Reife abgegangen und hätte Hannes geheiratet. Dann wären wir heute nicht nur Freundinnen, sondern auch Schwägerinnen.«

»Was nicht ist, kann noch werden! Hannes würde dich nicht enttäuschen!«

»Das weiß ich! Aber er war leider nie mein Typ. Ich muss gestehen, dass ich mit Männern, die mein Typ waren, immer hereingefallen bin. Ich war immer nur für eine kurze Zeit glücklich. Ich werde neue Regeln aufstellen. Entweder finde ich so einen oder ich verzichte!«

»Irgendwann wird schon der Richtige kommen!«

»Schmarrn! Wahrscheinlich gibt es den perfekten Mann nicht, so wie ich ihn mir vorstelle. Auf jeden Fall werde ich beim nächsten Mal höllisch aufpassen. Entweder ich finde ihn oder ich lasse die Finger von ihm. Solche Kompromisse, wie ich sie mit Jochen eingegangen bin – nein – ich sage da nur nein und nochmals nein!«

»Ich verstehe dich, Burgl! Aber wie heißt ein anderes Sprichwort? ›Kommt Zeit, kommt Rat‹, so sagt man doch, oder? Meine Großmutter hatte diesen Spruch in Kreuzstich aus blauem Garn auf weißem Leinen in der Küche hängen.«

»Oh, Bienchen! Stimmt, daran erinnere ich mich auch noch!«

Sabine drängte jetzt darauf zu gehen. Es war noch eine lange Fahrt von Berlin nach Kirchwalden. Burgl zog sich schnell um und kam mit zum Auto. Die Freundinnen umarmten sich. Dann fuhr Sabine davon.

Burghilde rief ein Taxi und fuhr zu einer bestimmten Adresse. Sie wollte mit jemandem reden, sich qualifizierten Rat holen, denn sie wollte bei den weiteren Schritten keinen Fehler machen.

*

Burghilde traf die Rechtsanwältin noch an. Esther war in Burgls Alter. Sie hatten sich vor Jahren auf einer Studentenfete kennengelernt.

»Oh, Esther, Himmel, was bin ich froh, dass du noch in der Kanzlei bist! Hast du Zeit? Ich brauche Rechtsbeistand! Sofort«

»Ich wollte gehen. Meine Vorzimmerdamen sind schon alle gegangen. Zwei Minuten später und ich wäre auf dem Heimweg gewesen.«

Sie deutete auf einen der dicken Ledersessel. Burgl ließ sich hineinfallen. Esther musterte sie. Die Freundin stellte ihre Aktenkoffer wieder ab und nahm hinter dem Schreibtisch Platz.

»Du …, Rechtsbeistand? Hast du falsch geparkt oder bist du geblitzt worden, weil du zu schnell gewesen bist? Übrigens, wo steht dein Auto? Hast du wieder die Einfahrt vor der Villa zugeparkt? Du weißt, dass es dann Ärger gibt mit der Arztpraxis oben.«

»Ich bin mit dem Taxi gekommen, sonst hätte wohl die Gefahr bestanden, dass ich alles niederbrettere, was mir in den Weg kommt und ich eine Spur der Verwüstung hinter mir her ziehe.«

»Du bist wirklich sehr aufgewühlt! Also, um was geht es?«

»Ich, ich bin kurz davor …, ich will mich nicht versündigen …, aber ich könnte ihm mit meinen eigenen Händen …« Burgl machte in der Luft eine eindeutig zu deutende Handbewegung. »Du verstehst?«

»Ja! Das ist juristisch gesehen die eindeutige unmissverständliche Ankündigung einer schweren Straftat!«

»Ist mir egal! Jeder Frau geht das durch den Kopf, wenn sie so etwas erlebt. Gedanken sind zum Glück noch nicht strafbar! Höre zu! Jochen baggert hinter meinem Rücken eine andere Frau an übers Internet. Der Depp weiß nicht einmal, dass es eine solche Person in Wirklichkeit nicht gibt. Sie ist ein Kunstprodukt, eine Erfindung. Meine Freundin aus Waldkogel ist Hebammenlehrerin in Kirchwalden. Auf der letzten Examensfeier waren sie im Internet auf den Seiten einer Partneragentur. Sabine entdeckte Jochens Bild. Sie hat ihn sofort erkannt.

Die Weiber, alle schon etwas angeheitert, fantasierten sich ein weibliches Wesen zusammen, und Sabine schrieb ihm. Die Frau, mit der er seither Mails wechselt, gibt es also so nicht. Aber das wird der zweite Schlag für ihn sein, wenn ich mit ihm fertig bin. Er wird kleiner als ein Atom sein, das schwöre ich dir. Ich sage dir, ich bin so wütend. Wenn wir im Mittelalter lebten, dann würde ich ihn teeren, federn, aufs Rad spannen, den Kopf abschlagen und mit Sicherheit würden mir noch ganz neue Foltermethoden einfallen – vielleicht spezielle Methoden nur für einen Mann!«

»Du bist ganz schön in Fahrt, Burgl!«

»Ja, das bin ich! Und deshalb bin ich gleich zu dir gefahren. Halte mich davon ab, dass ich etwas tue, was ich bereuen könnte. Ich will ihn treffen, vernichten. Ich bin voller Rachegedanken. Verstehst du?«

»Ich sehe, dass du sehr wütend bist. Die Emotionen schäumen bei dir hoch. Aber nun erzähle mir alles einmal der Reihe nach! Soll ich einen Kaffee machen?«

»Esther, ich will keinen Kaffee. Ich will ihn fertigmachen! Verstehst du nicht? Du scheinst nicht begriffen zu haben, wie es in mit aussieht? He, du bist meine Freundin! Wieso regst du dich nicht mit mir auf?«

Esther lächelte sie an.

»Liebste Burgl! Ich bin Rechtsanwältin. Als solche bin ich ganz ruhig und sachlich. Als deine Freundin verstehe ich dich! Ich will versuchen, beides für dich zum Besten zusammenzufügen. So kann ich dir helfen. Also, jetzt erzählst du mir in Ruhe alles, schön langsam und nacheinander, wie du dahintergekommen bist, dass Jochen ein Geheimnis hat.«

»Das ist kein Geheimnis. Er führt nach meiner Erkenntnis ein Doppelleben.«

Esther nickte. Burgl seufzte.

»Esther, wollen wir zu mir fahren? Jochen kommt erst morgen. Er ist in Hannover. Er hat eine Präsentation, wenn es denn stimmt. Vielleicht ist er auch bei einer anderen Frau. Wer weiß? Ich glaube ihm im Augenblick nichts mehr, gar nichts mehr!«

»Gut, fahren wir zu dir!«

Sie gingen zu Esters Auto.

Den ganzen Weg bis zu ihrer Wohnung redete Burgl wie ein Wasserfall. Esther hörte zu und unterbrach sie nicht. Sie ließ sich Burgl einfach alles von der Seele reden. Langsam reimte sich Esther zusammen, was Burgl so in Rage gebracht hatte.

Sie kamen in Burgls und Jochens Wohnung an.

»Lass uns in die Küche gehen. Ich mache uns etwas zu essen.«

Während Burgl im Backofen zwei Pizzen warm machte, half Esther ihr den Tisch decken. Sie öffnete die Flasche Wein aus Italien und kostete.

»Das ist aber ein edler Tropfen!« bemerkte Ester.

»Ja, das ist Jochens Bestechungswein, wie ich immer sage. Damit umgarnt er Kunden. Privat wird der nicht getrunken. Aber heute ist es mir egal. Ich halte mich schadlos.«

Esther schenkte Burgl Wein ein. Sie prosteten sich zu und tranken.

»So, meine liebe, liebe Burgl! Was du mir da berichtet hast, das hört sich nicht gut an. Ich verstehe deine Wut sehr gut.«

»Danke! Aus tiefstem Herzen, danke! Das tut mir gut!«

Sie schauten sich an.

»Und ich bewundere dich, Burgl!« fügte Esther hinzu.

»Warum?«

Esther schmunzelte.

»Du steckst das alles sehr gut fort. Weißt du, wenn betrogene Ehefrauen zu mir in die Kanzlei kommen, dann sitzen sie meistens weinend vor meinem Schreibtisch. Sie sind tief verletzt und heulen sich die Seele aus dem Leib. Du und Jochen, ihr seid zwar weder verheiratet, noch verlobt, aber ihr seid ein Paar gewesen. Du hast ihm vertraut.«

»Verletzt bin ich auch! Sicher bin ich nicht seine Verlobte, noch seine Ehefrau. Jammern hilft nicht. Vielleicht kommt der Katzenjammer bei mir noch? Im Augenblick bin ich nur wütend. Ich bin genauso verletzt wie eine Ehefrau. Wir leben so zusammen, als wären wir ein Ehepaar.«

»Das ist richtig!«

»Wenn ich mit ihm verheiratet wäre, würde ich ihm das Fell über die Ohren ziehen. Kann ich auch so eine Entschädigung verlangen? Ich habe Hausarbeit gemacht, die Gastgeberin gespielt, wir teilten das Schlafzimmer. Esther, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich sehe es so, dass wir eine moderne Ehe führten, ohne Trauschein. Da muss doch etwas herauszuholen sein!«

Burgl holte die Pizzen aus der Mikrowelle.

Sie begannen zu essen. Esther überlegte.

»Entschädigung? Das muss ich prüfen. Wie steht es mit der Wohnung? Wer steht im Grundbuch?«

Burgl strahlte plötzlich. Sie sprang auf und rannte die Treppe hinauf in ihr Studio. Sie kam schnell mit einer Dokumentenmappe zurück. Sie enthielt nur Kopien.

»Himmel, dass ich nicht daran gedacht habe! Sie gehört mir – mir – mir! Die Wohnung läuft auf meinen Namen! Jochen und ich haben sie zu gleichen Teilen gekauft. Aber sie ist auf mich eingetragen.«

Esther schaute sich die Kopie des Grundbuchauszuges an.

»Habt ihr eine schriftliche Vereinbarung darüber, dass Jochen die Hälfte zahlt?«

Burgl schüttelte den Kopf.

»Nein! Jochen stieg damals mit viel Geld in die Studiogemeinschaft mit ein. Das heißt, er kaufte Anteile eines Partners ab, von dem sich die Architektengruppe getrennt hatte. Dieser Mensch war sehr unsolide und hatte hohe private Schulden gemacht. Das Architekturbüro ist keine GmbH, sondern eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Das heißt, wenn einer der Eigentümer Schulden macht, dann können die Gläubiger auf das Firmenvermögen zugreifen und alle müssen haften. Der Kollege war ein Spieler und Spekulant.«

»Ah, ich verstehe! Deshalb läuft die Wohnung auf deinen Namen.«

»Ja, die drei Architekten wollten die Firma zu einer GmbH machen, aber irgendwie war immer keine Zeit dazu. Sie haben viele Aufträge.«

»Verstehe! Also, du kannst über die Wohnung verfügen!«

»Großartig! Daran habe ich noch nicht gedacht. Esther, das ist wunderbar.«

In Burgls Kopf ratterten die Möglichkeiten herunter wie die Zahlenkolonnen auf einer Rechenmaschine.

»Dann könnte ich ihn rauswerfen, Esther?«

»Du kannst als Eigentümerin entscheiden, wer hier mit dir wohnt! Er wird natürlich versuchen, zu seinem Recht zu kommen. Und du weißt ja, ›Recht haben und Recht bekommen sind zwei Sachen‹, sagt man. Egal wie der Prozess ausgeht, falls er klagt, er wird erst einmal getroffen sein.«

Burgl rieb sich vergnügt die Hände.

»Dann werfe ich ihn hinaus! Und seine Möbel hinterher – unsere Möbel! Das meiste habe ich gekauft. Hätte ich das nicht gemacht, dann würden hier noch ganz andere Möbelstücke herumstehen, die noch weniger meinem Stil entsprechen würden.«

»Mm, ich verstehe!«

Sie aßen zu Ende. Dann gingen sie hinauf in Burgls Studio. Burgl zeigte Esther die Internetseiten und die Mails, die Jochen mit Sabine gewechselt hatte. Auf Esthers Rat hin druckte Burgl die gesamte Korrespondenz mehrmals aus. Einmal wollte Esther die Ausdrucke zu den Akten nehmen, einmal sollte Burgl sie behalten und einmal sollte Burgl die Ausdrucke Jochen zukommen lassen.

»Du könntest ihm eine Falle stellen, Burgl«, schlug Esther vor. »Verabrede dich zu einem eindeutigen Rendezvous, zu einem intimen Techtelmechtel. Schreibe ihm, dann wirst du sehen, wie er reagiert.«

Die beiden Freundinnen sprachen lange darüber. Dann schickte Burgl, als Sabine, an Jochen eine Nachricht. Sie benutzte dabei die Eingabemaske der Partnervermittlung, damit Jochen auf Grund der absendenden Mailadresse keine Rückschlüsse ziehen konnte. Darin schrieb sie, dass sie ihn gerne sehen würde. Zu lange hätten sie schon gewartet. Vielleicht könnte er ein stilles verträumtes Hotel buchen. Sie schrieb, dass sie sich gerne Zeit für ein romantisches Wochenende nehmen würde. Es könnte schon das nächste Wochenende sein oder das übernächste.

Sie schickten die Mail ab.

Es dauerte zwei Stunden, bis Jochen antwortete. Er war von dem Vorschlag begeistert und ergoss sich in zärtlichen Worten. Burgl kochte vor Wut. In ihrer Antwort täuschte sie aber Freude und eine gewisse erotische Erwartung an. Jochen hatte ein Hotel an einem See nördlich von Berlin vorgeschlagen. Burgl kannte das Hotel. Sie war im Anfang ihrer Beziehung mit Jochen oft dort gewesen. Burgl wurde immer wütender.

Sie schäumte noch mehr, als kurz darauf eine Mail von Jochen an Burgl ankam. Darin schrieb er, dass sich die Verhandlungen in Hannover hinziehen würden. Sie hätten den Auftrag bekommen, aber die Auftraggeber hätten noch viele Änderungswünsche, die noch besprochen werden müssten. Er wäre auch gebeten worden, sich den Baugrund noch einmal anzusehen. Deshalb müsste er länger bleiben. Vielleicht käme er deshalb erst am Montag. Sobald er eine ruhige Minute habe, würde er anrufen und ihr alles ausführlich berichten.

»Dieser Lügner! Dieser Betrüger!«, schrie Burgl. »So, jetzt mache ich Nägel mit Köpfen! Hilfst du mir?«

»Wie sagten die Musketiere? ›Einer für alle und alle für einen‹, ich bin für dich da, als Freundin und als deine Rechtsverdreherin«, lachte Esther.

Sie schalteten den Computer aus und gingen hinunter auf die Terrasse der Penthouse-Wohnung. Burgl holte eine zweite Flasche vom teuren Wein.

Die Sonne färbte den Himmel über Berlin zartrosa.

»Welch ein wunderschöner Sonnenuntergang!«, hauchte Esther.

»Sonnenuntergänge in den Bergen sind noch schöner. Dann leuchten die Schneefelder und Gletscher rötlich. Der nackte Fels schaut dann aus, als würde er von einem im Berg liegenden Feuer von innen erleuchtet. Ach, Esther, ich liebe Sonnenuntergänge in den Bergen!«

»Du bist hier in der Stadt nie richtig heimisch geworden, wie?«

»Ich fühle mich hier nicht unwohl. Aber mein Herz schlägt für die Berge, für mein Waldkogel. Und dahin werde ich fahren. Dort werde ich erst einmal Zuflucht suchen. Wenn es im Leben Schwierigkeiten gibt, dann ist es gut zu wissen, wohin man gehört, wo die Heimat ist, die einen aufnimmt.«

»Hast du Verwandte in Waldkogel?«

»Nein, ich habe dort keine Verwandte, aber enge, sehr enge Freunde. Die Familie von Sabine ist für mich wie Verwandtschaft. Ich werde zu Sabine fahren. Dort werde ich eine Weile bleiben und mein Leben neu ordnen.«

»Dann wünsche ich dir dazu alles Gute!«

»Danke!«

Sie prosteten sich zu. Burgl holte einen Block. Sie machte eine Liste, was sie als nächstes erledigen wollte und wie sie es schnell durchführen konnte.

Sie dachte es sich so: Es galt für den nächsten Morgen eine Umzugsfirma zu finden, die Jochens persönlichen Sachen abholen und ihm diese am Montag ins Studio liefern sollte. Dabei konnte ihr Esther gut helfen. Eine junge Spedition gehörte zu ihrer Mandantschaft. Esther rief sie noch spät am Abend an. Die drei jungen Leute waren über den unerwarteten Auftrag sehr froh. Sie versprachen, ganz früh am nächsten Morgen zur Stelle zu sein. Bis zum Freitagmittag würde alles verpackt und abtransportiert sein. Danach würde Burgl das Sicherheitsschloss auswechseln und den Code der Sprechanlage ändern lassen.

Burgl fing sofort an, Jochens Sachen in dem riesigen Wohnzimmer aufzuhäufen, seine Kleider aus dem begehbaren Wandschrank, seine Sportsachen, seine Sachen aus dem Badezimmer, die Bücher, seine Schallplatten und Filme, einfach alles Persönliche.

Esther half ihr dabei. Anschließend klebte Burgl Zettel an alle Möbelstücke, welche die Möbelpacker mitnehmen konnten.

»Die Wohnung wird leer sein, Burgl. Willst du ihm die Sachen wirklich überlassen?«

»Ja, soll er sie haben! Ich will sie nicht mehr. Ich könnte sie stattdessen auch zum Sperrmüll geben.«

»Oder verkaufen!«

»Das dauert, bis ich einen Käufer finde.«

Doch Esther hatte eine Idee. Sie kannte jemanden, dem dieser nüchterne sachliche Stil sicherlich gefallen würde. Esther schickte eine SMS und erhielt sofort Antwort.

Der junge Rechtsanwaltskollege kam noch in der Nacht. Er kaufte zum Pauschalpreis alle Möbel. Er war sogar daran interessiert, die ganze Wohnung zu mieten oder zu kaufen, nachdem er von Esther und Burgl die Geschichte gehört hatte.

Burgl überlegte kurz.

»Okay, ich verkaufe! Esther, kannst du mir für morgen Mittag einen Notartermin machen und dich um alles kümmern?«

»Sicher! Einer meiner Seniorpartner ist auch Notar!«

Sie besprachen die Einzelheiten. Der junge Rechtsanwalt sicherte Burgl zu, dass sie ihre Sachen in der Wohnung lassen konnte, bis sie eine andere Bleibe gefunden hatte.

»Was willst du mit dem Geld machen? Kaufst du dir etwas anderes?«

»Darüber werde ich nachdenken! Vielleicht gehe ich ganz zurück in die Berge. Ich habe für heute genug Entscheidungen getroffen. Mir brummt der Schädel. Müde bin ich auch. Die Spedition wird früh kommen, ich sollte noch einige Stunden schlafen.«

Der junge Rechtsanwalt verabschiedete sich.

Esther blieb über Nacht bei der Freundin. Sie hatte am nächsten Vormittag keine Gerichtstermine und wollte Burgl beistehen.

Burgl gab Esther Nachtwäsche. Sie tranken den Rotwein aus und gingen schlafen. Burgl malte sich Jochens verdutztes Gesicht aus, und mit einem tiefen Gefühl der Schadenfreude schlief sie ein und träumte von ihrem geliebten Waldkogel und den Bergen.

*

Burgl hielt auf dem Hof und hupte laut. Es dauerte nicht lange, da kam Sabine aus der Haustür gerannt.

»Grüß Gott, Burgl! Mei, des ist ja eine Überraschung! So schnell habe ich mit dir nicht gerechnet. Was gibt es? Warum hast net angerufen, Madl?«

Burgl fiel ihrer Freundin um den Hals. Sabine fühlte, wie Burgl leicht zitterte.

»Komm rein! Ich bin alleine! Die Eltern sind in die Kirch’, und der Hannes ist schon früh mit einigen Freunden zu einer Bergtour aufgebrochen. Ich wollte mich gerade zum Frühstück hinsetzen.«

»Grüß Gott, Bine! Frühstück mit viel starkem Kaffee, das kann ich jetzt auch vertragen. Ich habe nur wenig geschlafen und bin mitten in der Nacht losgefahren. Es ist doch eine lange Strecke bis hierher!«

»Lass dein Gepäck im Auto! Das holen wir später.«

Sabine legte den Arm um Burgls Schulter. Sie gingen hinein in das große Bauernhaus. In der Wohn­küche war der Tisch für eine Person gedeckt. Sabine drückte Burgl auf einen Stuhl. Sie legte ein zweites Gedeck auf und schenkte Kaffee ein. Sie gab Zucker und Milch dazu und rührte um.

»Hier, trinke erst mal! Kaffee mit viel Milch und Zucker – ich weiß, wie du ihn gerne trinkst.«

Burgl setzte die Tasse an die Lippen und trank sie aus. Sabine schenkte nach.

»Mei, Burgl! Du siehst ganz schön fertig aus! Hast du dich mit dem Jochen ausgesprochen?«

Burgl schüttelte den Kopf.

»Naa, ich habe ihn verlassen. Das heißt, ich habe ihn hinausgeworfen. Er weiß es noch nicht. Er kommt erst am Montag! Er sitzt in einem Hotel und wartet, bis seine Liebste kommt.«

Burgl holte aus ihrer Handtasche einen Stapel Computerausdrucke und gab sie Sabine zu lesen.

»Mei, Burgl, den hast voll ins Messer laufen lassen!«

»Ja, das habe ich! Erst brachte ich ihn dazu, sich mit dir zu verabreden – ich meine mit der Person, die du erfunden hast und mit der er sich geschrieben hat. Das habe ich gleich am Donnerstagabend noch hinbekommen. Dann musste ich ihn am Freitag hinhalten, weil er natürlich am Freitagabend vergeblich wartete. Ich wollte nicht riskieren, dass er heimkommt. Er hat nämlich kein Zuhause mehr. Ich habe alle seine Sachen ausräumen lassen. Die Kisten mit dem Zeugs werden ihm am Montag ins Büro geliefert mit einer Kopie dieser Mails als Begleitschreiben. Möbel, die er gekauft hat, kann er sich bei der Spedition abholen, die ich beauftragt habe. Die anderen Möbel habe ich am Freitagmittag zusammen mit der Wohnung verkauft. Es ist ein neues Schloss an der Tür. Er kommt nicht mehr hinein. Der Käufer ist ein junger Rechtsanwalt, ein Kollege meiner Freundin Esther. Er weiß über alles Bescheid. Jochen wird sich an ihm die Zähne ausbeißen.«

»Himmel! Da hast du ja aufregende Tage hinter dir! Du hast dein ganzes Leben umgekrempelt. Da wundere ich mich nicht mehr, dass du so schlimm ausschauen tust. So etwas geht an die Nerven. Was willst jetzt machen?«

Burgl zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht!«

Dann versagte ihr die Stimme. Tränen quollen ihr aus den Augen. Sabine stand vom Stuhl auf und nahm die Freundin in den Arm.

»Weine ruhig! Das hilft!«

»Auf der einen Seite bin ich froh, dass ich diesen Schurken los bin. Auf der anderen Seite tut es weh, Bine. Du magst mich für verrückt halten, aber es tut so weh, so schrecklich, ganz fürchterlich weh!«

Sabine streichelte Burgl übers Haar. Sie tröstete sie, wie eine Mutter ein Kind tröstet.

»Ich kann verstehen, dass es dir weh tut, Burgl. Du hast ihn geliebt und hast dir Hoffnungen gemacht. Die sind zusammengebrochen wie ein Kartenhaus.«

»Ja, das sind sie! All meine Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft mit ihm sind dahin. Erst war ich nur wütend. Doch jetzt ist nur ein tiefer Schmerz in mir!«

»Ich weiß, ich weiß! Ich habe dich erlebt, Burgl. Aber der Katzenjammer holt dich jetzt ein. Heule dich ruhig aus!«

Burgl schnäuzte sich in ihr Taschentuch. Sie hob den Kopf und schaute Sabine mit geröteten Augen und verquollenem Gesicht an.

»Kann ich einige Zeit bei euch bleiben? Ich muss mir erst eine Wohnung suchen. Ich bin heimatlos!«

»Sicher kannst du bleiben. Solange du willst, kannst du bleiben! Suchst du hier in der Gegend eine Wohnung, oder gehst du wieder nach Berlin zurück?«

»Ich weiß nicht. Ich muss erst mal zur Ruhe kommen. Meine Sachen sind noch in der Wohnung. Sie können dort bleiben, bis ich etwas gefunden habe. Ich würde gern hier in Waldkogel oder der näheren Umgebung bleiben. Aber ich muss alles noch einmal genau durchdenken. Meine Eltern sind in Berlin. Ich habe ihnen noch nichts gesagt. Sie wissen von nichts. Ich werde Vater eine Mail ins Büro schicken. Dann hat er sie gleich morgen früh. Ich bin sicher, dass Jochen ihn aufsuchen wird. Da muss ich ihn doch vorwarnen.«

»Ja, das musst du! Und was die Wohnung betrifft, da sage ich dir, lass dir Zeit. Jetzt machst du erst einmal Urlaub. Du tust dich erholen, und dann bringst du Ordnung in dein Inneres, Burgl.«

»Ja, ich will es versuchen. Aber fünf Jahre aus dem Gedächtnis zu streichen, ist keine leichte Aufgabe.«

»Des ist wahr, des ist eine schwere Übung. Doch du bist eine Kämpfernatur, Burghilde. Du schaffst des schon. Jetzt tust essen, und dann zeige ich dir dein Zimmer. Ich gebe dir des Gästezimmer, des du als Mädchen immer benutzt hattest, wenn du hier gewesen bist. Das ist doch auch so etwas wie eine kleine Heimat für dich.«

Burgl nickte. Sie nahm sich eine Scheibe Brot, gab Butter und Marmelade darauf. Sie aß. Sabine setzte sich ebenfalls und frühstückte.

Nach dem Frühstück brachte Sabine die Freundin hinauf in die obere Etage. Sie ließ ihr ein schönes Bad ein. Während Burgl badete, räumte Sabine deren Auto aus.

»So, Burgl, jetzt tust dich erst mal richtig ausschlafen. Wirst sehen, danach fühlst dich besser!«, sagte Sabine, als Burgl aus dem Bad kam.

Sabine wartete, bis Burgl unter die Decke geschlüpft war. Dann verließ sie leise das Zimmer.

*

Es war später Nachmittag, als Hannes von seiner Bergtour zurück auf den Hof kam. Staunend stand er vor dem Auto mit dem Berliner Kennzeichen. Das kann doch nur die Burgl sein, dachte er und rieb sich das Kinn. Er lächelte still vor sich hin.

Als er in die große Wohnküche kam, saß seine Schwester am Tisch und las.

»Ah, bist wieder da! Bist aber früh zurück. Wie war es auf dem Gipfel?«

»Wir sind nett auf dem Gipfel vom ›Engelssteig‹ gewesen. Der Seppel hat sich die Hand verstaucht.«

»Des ist schlimm. Wie ist des denn passiert?«

»Er wollte einen jungen Bullen einfangen und ist ausgerutscht. Dabei ist er unglücklich mit der Hand aufgeschlagen.«

»Pech gehabt! So etwas ist sehr schmerzhaft.«

»Ja, das ist es! Deshalb waren wir nur oben auf der Berghütte und haben alle zusammen Bier getrunken und uns einen schönen Tag gemacht. Ich soll dich schön grüßen, besonders von der Anna.«

»Danke!«

Hannes sah seine Schwester an. Er grinste.

»Sag mal, kann des sein, dass des Auto, des draußen auf dem Hof steht, der Burgl gehört?«

»Ja, des ist Burgls Auto. Sie schläft. Sie ist die ganze Nacht durchgefahren und war sehr erschöpft.«

»Des ist zu verstehen, Berlin ist weit. Und wie geht es ihr sonst so?«

»Mei, Hannes! Was für eine Frage? Die Burgl hat sich von Jochen getrennt.«

Hannes lächelte. Er holte sich einen Obstler und trank.

»Soso, dann weilt die liebe Burgl wieder unter der Schar der Madln, die net gebunden sind. Mei, so etwas höre ich doch gern. Dann ist sie wieder zu haben!«

Sabine warf ihrem Bruder einen Blick zu.

»Hannes, gib acht! Die Sabine hat dich noch nie haben wollen. Sie mag dich gut leiden, weil du mein Bruder bist und sie meine Freundin. Aber mit Liebe hat das nichts zu tun. Also, lass sie in Ruhe!«

»Des muss ich mir erst mal noch überlegen. Vielleicht hab’ ich jetzt doch eine Chance bei ihr, jetzt, da ihr dieser Jochen so einen Kummer bereitet hat.«

»›Des einen Leid, des anderen Freud‹, so denkst du. Wenn du dich nicht mal irrst. Die Burgl ist im Augenblick net gut auf Mannsbilder zu sprechen. Ich sage dir, gib dich keiner Hoffnung hin. Du wirst dir die Finger verbrennen.«

»Des kannst nicht wissen! Ich biete ihr meine Schulter zum Ausweinen. Dann wirst schon sehen, welchen Erfolg ich damit bei ihr habe.« Hannes lächelte. »Damals hatte ich sie fast soweit. Aber dann ist sie mit den Eltern nach Berlin gegangen und aus war es, bevor es richtig begonnen hatte.«

»Ach, Hannes! Meinetwegen tue, was du net lassen kannst. Ich habe dich gewarnt. Und wenn du mir meine Freundin verärgerst, dann bekommst du es mit mir zu tun, des sage ich dir.«

»Was bist heute so grantig, kleine Schwester!«

»Ich bin net grantig! Ich weiß nur, dass du schon immer der Burgl nachgeschaut und nachgestellt hast.«

»Des ist damals gewesen, da waren wir fast noch Kinder. Jetzt sind wir erwachsene Leut. Jeder von uns beiden hat im Leben seine Erfahrungen gesammelt. Ich weiß genau, wie sich die Burgl fühlt. Schließlich hat mir ein Madl mal Hörner aufgesetzt. Wenn die Burgl also jemand verstehen kann, dann bin das doch wohl ich.«

Er seufzte.

»Sie soll froh sein, den Kerl los zu sein! Der hat doch nix getaugt. Dankbar müsste sie dir sein, Bine, dass du ihr die Augen geöffnet hast. Hast du ihr gesagt, dass ich dich bestärkt habe, mit ihr zu reden?«

»Naa, das habe ich net! Burgl weiß nicht, dass du über alles informiert bist – jedenfalls über fast alles.«

»So, über fast alles! Was weiß ich denn net?«

»Nix, was für dich von Interesse ist. Von mir erfährst du nix, Hannes. Wenn die Burgl dir etwas erzählen will, dann soll sie des selbst machen. Ich bin froh, dass ich aus der Sache heraus bin. Es war eine schlimme Zeit für mich. Ich war dem Schicksal böse, dass ich Jochens Foto entdecken musste.«

»Des hatte eben alles seinen Sinn, Bine. Und jetzt ist die Burgl hier, und ich kümmere mich ein bissel um sie. Dann sehen wir weiter.«

»Tue, was du net lassen kannst! Bist schon immer ein Dickschädel gewesen, Hannes!«

»Manchmal ist es net schlecht, ein Dickschädel zu sein. Aber ›Dickschädel‹ würde ich des net nennen in dem Fall. Ich bin nur ehrgeizig und zielstrebig!«

»Des ist Ansichtssache!«

»Willst jetzt mit mir streiten?«

»Naa, ich will nur, dass du Ruhe gibst und dich net zum Narren machst.«

»Ich mache mich net zum Narren, wenn ich mich um die Burgl bemühe! Wann steht sie auf?«

»Wenn sie ausgeschlafen hat. Sei leise, wenn du raufgehst und dich umziehst.«

Sabine vertiefte sich wieder in ein Buch.

»Was liest du?«

»Ein Fachbuch! Jetzt lasse mich in Ruhe!«

»Wo sind die Eltern?«

»Die werden im Garten sein!«

So schnell gab Hannes aber nicht auf.

»Sabine, was meinst? Ich lade die Eltern, dich und die Burgl heute Abend zum Essen ein. Wir können zum Xaver Baumberger gehen oder auch ins Restaurant vom Hotel ›Zum Ochsen‹, des wäre doch etwas, oder?«

Sabine warf ihrem Bruder nur einen Blick zu, dann sagte sie:

»Rede erst mal mit den Eltern!«

Hannes rieb sich das Kinn und ging hinaus in den Garten.

Sabine hörte Schritte auf der Treppe. Sie sah auf. Da kam Burgl auch schon in die Küche.

»Siehst schon besser aus! Hast gut geschlafen?«

»Danke der Nachfrage! Ja, ich habe gut geschlafen, tief und traumlos. Oder ich kann mich an die Träume nicht mehr erinnern.«

»Das ist gut! Dann waren es wenigstens keine Albträume, an die erinnert man sich immer.«

»Albträume muss ich nicht träumen, die habe ich im wirklichen Leben gerade durchgemacht.«

»Ja, das hast du! Hannes ist zurück. Er ist vor einer Minute in den Garten zu den Eltern. Er will uns alle zum Abendessen einladen. Was hältst du davon? Hast du Lust, essen zu gehen?«

»Nein! Nein, eigentlich habe ich keine große Lust. Ich bin noch ziemlich durch den Wind, wie man in Berlin sagt.«

»So sagt man nicht nur in Berlin!«

»Aber ich will euch nicht den Abend verderben. Ihr könnt gerne alleine gehen.«

»Du verdirbst uns nicht den Abend. Hannes kam auf die Idee, weil du hier bist!«

»Ah, dann will er ein Willkommensessen für mich ausgeben. Da kann ich mich ja schlecht verweigern.«

Sabine legte ein Buchzeichen in das Buch und klappte es zu.

»Hannes ist ganz aufgekratzt, dass du hier bist! Seine Hormone feiern wohl fröhliche Urstände, wenn du verstehst, was ich damit sagen will?«

»Ja, ich verstehe genau, was du damit sagen willst. Danke, dass du so deutlich bist. Ich werde vorsichtig sein. Nicht, dass er sich falsche Hoffnungen macht!«

»Zu spät! Hannes ist voller Hoffnungen!«

»Sabine, das geht nicht!«

»Das musst du mir nicht sagen! Rede mit ihm. Du musst es ihm knallhart ins Gesicht sagen.«

»Gut, das werde ich! Dann gehe ich zu ihm, dabei kann ich gleich deinen Eltern ›Guten Tag‹ sagen.«

Burgl ging hinaus. Sabine las weiter in ihrem Fachbuch.

Es dauerte nicht lange, dann kamen Hannes, die Eltern und Burgl aus dem Garten herein.

»Wir essen daheim! Ich koche«, sagte die Bäuerin und band sich gleich eine Schürze um.

»Ich helfe dir, Mutter!«

»Naa, du kümmerst dich um die Burgl!«

»Um mich muss sich niemand kümmern. Ich bin nicht krank«, wehrte sich Burghilde.

»Naa, Madl, richtig krank bist du nicht! Aber so ein Kummer wie du ihn hast, des ist auch eine Krankheit. Du musst dich ablenken. Warum hast dem Hannes seinen Vorschlag abgelehnt? Du musst unter Leute!«

Noch bevor Burghilde antworten konnte, frage Sabine, was für einen Vorschlag Hannes gemacht hatte.

»Mei, ich hab’ die Burgl nur eingeladen, am nächsten Mittwoch mit auf die Berghütte zu kommen. Dort macht der Toni einen Hüttenabend mit viel Bier und gutem Essen und Tanz. Weißt, die Burschen der Bergwacht fliegen doch immer die Bierfässer auf die Berghütte, wenn sie ihre Übungsflüge machen. Und deshalb gibt der Toni dann und wann eine richtig schöne Feier für die Kameraden. Es wird ein Tanzboden aufgebaut. Der alte Alois spielt auf der Ziehharmonika und vielleicht hat der Toni auch ein bissel Zeit, um auf der Zitter zu spielen. Ich dachte mir, so ein Abend auf der Berghütte wäre genau das Richtige für die Burgl. Da überwindet sie ihren Kummer und denkt nimmer so intensiv an den Jochen.«

Sabine überlegte.

»Wann hast des erfahren von dem Hüttenabend?«

»Als wir heute oben gewesen sind. Also, was ist, Burgl, willst du es dir nicht noch mal überlegen?«

»Ich werde darüber nachdenken!«, antwortete sie.

»Du gehst, Burgl!«, sagte Sabine streng. »Wir gehen! Ich komme mit! Das wird wunderbar werden. Ich habe sowieso noch jede Menge freie Tage zu bekommen. Die nehme ich mir. Dann bleiben wir auf der Berghütte und machen uns eine schöne Zeit.«

Burghilde sah das Leuchten in den Augen der Freundin. Sie wollte Sabine nicht enttäuschen und gab schließlich nach.

»Mei, des wird richtig zünftig werden«, jubelte Hannes. »Und dein ers­ter Tanz, der gehört mir.«

»Das kann ich nicht versprechen, Hannes!«, sagte Burgl leise.

»Was hast an mir auszusetzen, Burgl?«

»Nichts, Hannes! Ich will nur nicht tanzen!«

»Wie heißt es?«, lachte Hannes. »›Der Hunger kommt beim Essen‹, so sagt man doch! Also, ich bestehe auf den ersten Tanz mit dir, wenn du tanzen tust!«

Sie schauten sich an, und Burghilde errötete. Das war ihr alles sehr peinlich.

»Hast ein Dirndl dabei, Burgl?«, fragte die Bäuerin.

Als Burghilde den Kopf schüttelte, wusste sie sofort, was zu tun war.

»Die Sabine kann dir eines leihen. Geht doch schon mal rauf in Sabines Zimmer und schaut mal, was der Burgl steht.«

Burghilde stand sofort auf. Sabine begriff, dass das die Chance war,

Burgl und ihren Bruder Hannes zu trennen, bevor es für die Freundin noch peinlicher wurde.

Sie griff nach der Hand der Freundin und zog sie fort.

»Komm, wir gehen, Burgl! Aufi! Wir machen eine Modenschau!«

Die beiden liefen die Treppe hinauf.

»So kommst mir nicht davon,

Burgl«, flüsterte Hannes fast unhörbar vor sich hin. »Ich gebe net so schnell auf.«

Dann ging er hinaus in den Stall. Es war die Abendarbeit zu machen. Sein Vater folgte ihm.

*

Burgl war froh, als es endlich Mittwoch war. Sie war Hannes auf dem Hof so gut es ging aus dem Weg gegangen.

Entweder verkroch sie sich in ihrem Zimmer, hielt sich bei den Eltern im Altenteil auf, oder machte alleine lange Spaziergänge. Dabei erinnerte sie sich an schöne Stunden ihrer glücklichen Kindheit in den Bergen.

Sabine kam am späten Mittwoch­nachmittag heim. Burgls und Sabines Rucksack waren schon gepackt. Sabine zog schnell ihre Wandersachen an. Dann fuhren die beiden Freundinnen auf die Oberländer Alm.

»Du musst mich an Wenzel und Hilda vorbeilotsen, Bine. Ich will nicht mit ihnen reden. Halte mich bitte nicht für unhöflich, Sabine. Aber sie werden mir Fragen stellen, und ich will nicht über mein Leben in Berlin reden. Die letzten Kapitel handelten nicht von einem Happy End.«

»Warum fühlst du dich schuldig?«, staunte Sabine. »Das ist doch Unsinn. Warum schämst du dich? Du hast Schluss gemacht und nicht Jochen. Du hast ihm den Laufpass gegeben.«

»Alle erwarten, dass man einen Freund, Verlobten oder Ehemann hat, wenn man in unserem Alter ist. Ich kann nichts dergleichen aufweisen. Während meines letzten Besuches habe ich allen von Jochen vorgeschwärmt. Wie stehe ich jetzt da?«

»Was redest du nur für einen Unsinn, Burgl! Ich bin doch auch ledig. Ich habe den Richtigen noch nicht gefunden. Lieber keinen Mann, als einen der Spielchen treibt!«

»Sicher! Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Warum fühle ich mich nur so schuldig?«

»Weil du nach außen hin eine moderne Frau bist, aber im Innern an den Werten Familie, Kinder, Mann und Heim hängst.«

»Ja, ich hänge daran und sehne mich danach! Aber ich habe es nicht bekommen. Vielleicht lag es doch an mir, dass Jochen sich so verhalten hat. Vielleicht habe ich ihm einen Anlass gegeben. Ich gebe zu, dass ich ihn sehr bedrängt habe, zumindest eine Weile. Ich wollte, dass er mit mir meine Träume erfüllt von Ehe, Familie und Kindern.«

Sabine seufzte tief.

»Burgl, ich sage dir jetzt einmal etwas. Manche Männer muss man bedrängen. Sie wollen schon, haben aber Angst vor der eigenen Courage. Die Frauen sind das stärkere Geschlecht, davon bin ich felsenfest überzeugt. Wir sind diejenigen, die die Welt am Laufen halten.«

»Aber wenn ich mir die Welt so betrachte, dann ist der Zustand kein Ruhmesblatt.«

»Schmarrn, die Welt wäre noch viel, viel schlimmer, wenn wir nicht das tun würden, was wir tun. Sicherlich könnten wir noch viel mehr tun. Aber es hat sich doch viel geändert, seit Frauen das Wahlrecht haben, studieren können, ihnen alle Wege offen stehen. Die ausgetretenen Pfade von so vielen Hunderten von Jahren Männermacht kann man nicht in einem Jahrhundert ändern. Aber wir gewinnen jedes Jahr mehr an Einfluss. Die Zauberwörter dazu lauten: Nein! So geht es nicht! Das mache ich nicht! Da spiele ich nicht mit!«

Burgl zog die Brauen hoch.

»Tue nicht so, Burgl. Du hast getan, was zu tun war. Du hast Jochen mehr als die Stirn geboten. Jetzt falle nicht in das Muster des Schuldig­seins zurück.«

»Stimmt schon! Aber der Druck ist so groß. Noch immer wird eine verheiratete Frau anders angesehen als eine Ledige.«

»Ich weiß! Aber auch da ändert sich viel. Habe Geduld und sei etwas nachsichtig und mache dir vor allem keine Vorwürfe. Du hast richtig gehandelt!«

»Jedenfalls hat das Ganze etwas Gutes gehabt. Ich bin ein ganzes Stück weiter gereift. Ich lasse mich nie mehr so von der Schönheit eines Mannes blenden. Ich achte mehr auf die inneren Werte. Wenn ein Mann schön ist, dann muss man auf der Hut sein. Er ist sich seines Körpers bewusst und weiß, dass die Frauen auf ihn fliegen.«

»Soll das heißen, dass du nur nach hässlichen Männern schaust?«

»Das heißt jedenfalls, dass ich um Schönlinge einen Bogen machen will, einen Riesenbogen. Ich werde sie meiden wie der Teufel das Weihwasser.«

»Soso! Nun immerhin scheinst du nun genau zu wissen, was du willst und was du nicht willst. Das ist schon einmal ein Fortschritt bei der Bewältigung deines Traumas.«

Sabine schmunzelte.

»Setz’ deine Sonnenbrille auf und steige aus! Du gehst vor, läufst weiter und schaust dich nicht nach Wenzel und Hilda um. Ich folge dir in einer Minute. Wir treffen uns hinter der nächsten Biegung des Bergpfades! Ich kann bei Hilda und Wenzel nicht vorbeigehen, ohne Hallo zu sagen. Also, los!«

»Danke«, hauchte Burgl.

Sie zog die Sonnenbrille aus dem Haar und setzte sie auf. Burgl stieg aus dem Auto. Sie schulterte ihren Rucksack, griff mit den Händen in Brusthöhe nach den Gurten und wanderte los.

Sabine sah ihr nach. Sie schüttelte den Kopf.

»Madl, Madl! Ich hoffe, du kommst bald wieder zu dir! Dir bei deinem Gefühlschaos beizustehen, ist wirklich nicht einfach. Aber was beklage ich mich, ich habe es mit ausgelöst«, sagte sie leise vor sich hin.

Sabine stieg aus dem Auto, nahm ihren Rucksack und ging auf die Oberländer Alm zu.

»Grüß Gott!«, rief Sabine laut.

»Mei, des Bienchen! Grüß Gott, Madl!«, rief Hilda Oberländer aus.

»Bist auf dem Weg hinauf zur Berghütte?«, fragte Wenzel. »Da gibt es heute Abend Tanz!«

»Wenzel, wo sollte ich sonst hingehen?«, lachte Sabine.

»Man wird ja noch einmal fragen dürfen, Bine.«

»Ich habe aber keinen Burschen dabei, Wenzel. Zum Tanzen werde ich schon einen oder mehrere finden.«

»Madl, ich wundere mich nur. Bist so ein fesches Madl und tüchtig bist auch. Da wundert man sich, dass du noch net in festen Händen bist.«

»Woher willst du das wissen, dass ich net in festen Händen bin?«

»Weil dein Liebster sonst auch hier wäre!«

»Vielleicht hatte er keine Zeit? Vielleicht hat er arbeiten müssen?«

»Ah, dann hast doch einen Burschen, des ist schön. Ist es vielleicht sogar ein Doktor aus dem Krankenhaus, in dem du arbeitest? Krankenschwestern sollen ja die besten Chancen haben, einen Doktor zu heiraten.«

»Wenzel, Wenzel! Was du dir da wieder ausdenkst!«, schmunzelte Sabine.

»Bine, auf den Wenzel musst net hören. Der ist manchmal schlimmer als jedes alte Tratschweib. Er will alles genau wissen, auch wenn es ihn nichts angeht«, entschuldigte Hilda ihren Mann. »Und du, Wenzel, du hörst jetzt sofort auf, des Madl in Verlegenheit zu bringen.«

»Dazu wird er nicht mehr Gelegenheit haben, Hilda! Ich will rauf zur Berghütte und lasse mich jetzt auch nicht mehr aufhalten. Also, pfüat euch!«

»Pfüat di!«, riefen sie ihr nach.

Sabine ging schnell den Milchpfad hinauf.

Burghilde hat Recht, dachte sie. Ob man einen Burschen hat, vielleicht sogar verheiratet ist, ist für viele immer noch wichtig. Aber im Grunde ist eine Ehe die beste Verbindung zwischen zwei Menschen. Es müssen nur das Madl und der Bursche zusammenfinden, die harmonieren. Sie sollten sich ähnlich sein und doch auch gleichzeitig verschieden, aber sich in der Verschiedenheit ergänzen. Erzwingen kann man das nicht, dachte Sabine. Da muss man einfach auf die Kraft der Liebe vertrauen und sein Herz offen halten, damit die Liebe dort einziehen kann. Sicher ist es kein Vergehen, wenn man sich die bessere Hälfte genau anschaut. Burghilde hat vielleicht beim Jochen im Anfang nicht so genau hingeschaut und ist deshalb in eine Beziehung hineingeraten, die nicht in dem großen Planungsbuch der Liebe stand.

Sabine holte Burghilde ein. Gemeinsam wanderten sie im Schein der Abendsonne hinauf zur Berghütte.

Toni begrüßte Sabine und Burghilde herzlich. Er stellte Burgl seine Frau Anna vor.

»Sicher finden wir später einen Augenblick Zeit, Burgl. Ich freue mich und finde es immer interessant, jemanden kennenzulernen, der aus Waldkogel ist oder früher hier gewohnt hat«, sagte Anna. »Ich höre gern Geschichten, wie es hier früher so war. Von solchen Geschichten kann ich nicht genug hören.«

»Wir bleiben bis Sonntagabend, Anna!«, warf Sabine ein. »So hast du genug Zeit, Burgl auszufragen. Können wir dir etwas helfen?«

»Danke! Der Alois steht hinter dem Tresen. Sagt ihm, er soll euch eure Kammer zeigen. Ihr müsst sie euch teilen. Wir haben noch eine Matratze auf den Boden gelegt. Es übernachten nach so einem Hüttenabend immer viele bei uns, da ist es etwas eng.«

»Das macht nichts, Anna! Wir sind Freundinnen und teilen uns gern eine Kammer«, beruhigte sie Sabine.

Der alte Alois schloss Burghilde in die Arme.

»Mei, Madl, des ist eine richtige Freud’, dass ich dich noch mal sehe. Man weiß ja nie, wie viel Zeit mir der Herrgott noch gibt. Ich erinnere mich noch gut, wie du als kleines Madl immer mit deinem Vater auf die Berghütte gekommen bist. Hast dich net viel verändert. Bist nur größer geworden. Bist eben jetzt ein richtig fesches Madl. Tust mir die Ehre geben und später mit mir tanzen?«

»Aber sicher tue ich das, Alois! Ich tanze mit dir und mit sonst keinem.«

Der alte Alois lachte.

»Mei, da werden die junge Burschen ganz schön eifersüchtig auf mich werden.«

Der alte Alois kam mit seinem Gesicht näher.

»Schaut mal zur Tür! Ihr scheint schon entdeckt worden zu sein. Die Burschen lassen euch net aus den Augen. Wundern tut es mich net, so fesch wie ihr seid.«

Burgl fragte Alois schnell nach der Kammer und verschwand darin. Sabine plauderte noch etwas mit dem Alois und kam dann nach.

Burgl war dabei, ihren Rucksack auszupacken. Sie stopfte sich Schokolade in die Taschen ihrer Jacke.

»Was gibt das, Burgl?«, fragte Sabine.

»Es sind noch gut zwei Stunden bis zur Dunkelheit. Ich werde mir noch ein wenig die Beine vertreten. Ich wandere rüber zum ›Erkerchen‹. Ich will ein wenig alleine sein, Bine. Die vielen Burschen hier machen mich nervös. Ich will nicht angesprochen werden.«

»Himmel, Burgl!«, seufzte Sabine.

Dann lächelte sie.

»Gut, dann gehe! Irgendwie verstehe ich dich! Später, wenn es dunkel ist und nur das große Feuer auf dem Geröllfeld brennt, dann ist es für dich vielleicht einfacher. Dann kannst du dich in die Dunkelheit zurückziehen, wenn es dir zu viel wird. Lass dir vom Alois eine Stablampe geben für den Rückweg in der Dunkelheit.«

Burghilde lächelte Sabine an. Sie gingen gemeinsam hinaus. Sabine stand auf der Terrasse und schaute Burgl nach, wie sie davonging ohne sich umzudrehen.

Der Aufenthalt beim »Erkerchen« wird ihr guttun, dachte Sabine. Sie erinnerte sich, wie Burghilde und sie als Teenager zum »Erkerchen« gewandert waren, das als gutes Plätzchen für Verliebte galt. Dort hatten die beiden Mädchen geträumt, wie es später sein würde, wenn sie selbst verliebt wären und sich mit ihren Burschen treffen würden. Sabine lächelte. Das war lange her. Doch sie hatte die Hoffnung, dass die Freundin aus Kindertagen dort beim ›Erkerchen‹ ihre verlorenen Träume wiederfinden würde. Sicher würden es nicht dieselben sein, dagegen stand Burgls Erfahrung mit Jochen. Sie muss einfach neue Träume finden, dachte Sabine. Der Himmel möge ihr dabei helfen, dachte sie und warf einen Blick hinauf auf das Gipfelkreuz des »Engelsteigs«.

»Wo will die Burgl hin?«, riss Toni Sabine aus ihren Gedanken.

»Zum ›Erkerchen‹ geht sie!«

»Oh, hat sie ein Date, wie man heutzutage sagt? Wer ist es?«

»Toni, hüte deine Zunge. Mit einer solchen Bemerkung würdest du es dir bei der Burgl verderben. Sie hat gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Sie leidet sehr, obwohl sie froh sein sollte, dass sie den Kerl los ist. Sie hat ihn rausgeworfen.«

»Soso! Dann hat die Burgl Liebeskummer! Des tut mir leid. Dass sie den Burschen gefeuert hat, wundert mich nicht. Die Burgl war schon immer ein starkes Madl. Dass es trotzdem weh tut, ist auch normal. Ich hoffe, dass sie in den Bergen hier etwas findet, was ihr wundes Herz tröstet.«

»Ja, das hoffe ich auch, Toni! Allerdings müsste da wirklich ein Wunder geschehen!«

»Wunder sind in Waldkogel keine Seltenheit. Die Engel auf dem ›Engelssteig‹, die passen auf uns Wald­kogler doch ganz gut auf.«

»Ja, so ist es, Toni! Dann wollen wir mal hoffen.«

Toni schüttelte den Kopf.

»Net nur hoffen, Bine! Man muss daran glauben. Es kommt im Leben immer etwas Besseres nach. Burgl weiß, denke ich, dass das so ist. Wir Menschen verrennen uns manchmal in etwas, was nicht gut für uns ist. Dann bekommen wir einen tüchtigen Tritt ins Kreuz, damit wir wissen, wo es langgeht. Und nach einer ganzen Weile, da sind wir dem Himmel dankbar, dass wir in die richtige Richtung geschubst worden sind, auch wenn der Tritt recht unsanft gewesen ist und uns große Schmerzen gemacht hat.«

»Toni, der Philosoph!«, sagte Sabine.

»Des hat mit Philosophie nur wenig zu tun, Madl. Des ist einfach im Leben so. Der alte Alois hat mir des gesagt. Und Recht hat er. Er hat im Leben schon viel erlebt, da kannst ihn fragen.«

Sabine hätte sich noch gern länger mit Toni unterhalten. Aber dieser hatte wenig Zeit. Es galt, den Hüttenabend vorzubereiten. Sabine setzte sich auf die Terrasse. Sie saß nicht lange alleine. Sofort setzten sich einige Burschen an den Tisch. Sabine plauderte zwanglos mit ihnen, und sie scherzten.

*

Burghilde erreichte das »Erkerchen«. Sie freute sich, dass sich niemand dort aufhielt. Zuerst stellte sie sich an das Geländer, das den kleinen Felsvorsprung nach unten hin absicherte. Nur so groß wie ein Zimmer hing der kleine Felsvorsprung an der Felswand, daher hatte er auch seinen Namen.

Burghilde ließ ihre Augen über das Tal schweifen. Ja, das ist meine Heimat. Hier ist alles ruhig und geordnet. Sie schaute hinunter über die Dächer von Waldkogel und versuchte zu erraten, zu welchem Hof die großen Dächer gehörten. Mitten drin erhob sich die schöne alte Barockkirche mit ihrem Turm. Das Kreuz auf dem Turm und der Wetterhahn auf dem Dach leuchteten golden in der Abendsonne. Burgl war es, als flossen Ströme des Trostes in ihr Herz. Ich bin heimgekehrt, dachte sie. Ich bin daheim. Hier gehöre ich her. Hier stand meine Wiege. Hier war mein Herz daheim. Ich lebte zwar in Berlin, aber wie andere irgendwo einen Koffer zurücklassen, so hatte ich mein Herz in Waldkogel gelassen.

Alles wird gut werden, dachte sie plötzlich. Sie wusste auch nicht, wa­rum diese Zuversicht in ihr aufkeimte. Sie konnte es sich nur so erklären, dass die Heimat sie mit offenen Armen aufnahm. Ich bin eben ein Madl aus den Bergen und kann nur hier mein Glück finden. Ganz gleich wie das Leben für sie in Zukunft aussehen würde, Burgl wusste, es konnte nur noch besser werden. Sie reute die Zeit in Berlin nicht. Sie lächelte vor sich hin. Vielleicht erkennt man in der Fremde erst die Heimat, dachte sie. Es gab auch schöne Zeiten in der Großstadt, gestand sie sich ein. Die Zeit, in der sie mit Freundinnen und Freunden aus der Schule in die Disco ging, die Zeit als Studentin, und auch die erste Zeit mit Jochen. Es war nicht alles schlecht, sah Burgl ein. Sie machte ihren Frieden mit der Vergangenheit.

Die Vergangenheit ist die Erde, in der die Pflanzen der Gegenwart ihre Wurzeln schlagen, damit sie in der Zukunft grünen können. Diese Erkenntnis kam Burghilde, als sie über die Wiesen und Felder blickte.

Ich hätte meinen nächtlichen Träumen längst nachgeben müssen, dachte Burgl. Ich habe immer und immer wieder in den letzten Monaten von Waldkogel und den Bergen geträumt. Es zog mich in die Heimat. Ich hätte auf diese innere Stimme hören sollen, die mir mit so schönen Bildern zeigte, wohin ich gehöre. Vielleicht wäre es dann weniger schmerzlich gewesen?

Burghilde seufzte tief.

Seit Sabines unerwartetem Besuch in Berlin hatte sie mit ihrem Schicksal gehadert. Zuerst war sie so wütend gewesen, wie nie zuvor in ihrem Leben. Dann war sie traurig und verzweifelt. Doch jetzt reifte in ihr immer mehr die Erkenntnis, dass es alles hatte so kommen müssen. Sonst würde ich jetzt mich Sicherheit nicht hier beim »Erkerchen« weilen und die Liebe der Heimat tief in meinem Inneren spüren. Das Leben geht vielleicht gelegentlich etwas unsanft mit dem Menschen um, wenn er die Hinweise, die er bekommt, nicht sieht und ihnen nicht folgt. Dann greift das Schicksal dramatisch ein und zwingt zur Kursänderung. So war es auch bei mir, dachte Burghilde.

Sie ging zur Bank und setzte sich. Sie holte einen Schokoladenriegel aus der Jackentasche und aß ihn auf. Dann begann sie langsam, aber ernsthaft an ihre Zukunft zu denken. Ich muss mir eine Bleibe suchen, meine Sachen aus Berlin kommenlassen. Burghilde war klar, dass sie die alte Wohnung in Berlin nicht mehr betreten wollte, obwohl dort jetzt Esthers Kollege wohnte. Sie fühlte sich noch nicht endgültig so gefestigt, dass sie sich dem aussetzen wollte. So wollte sie ihre Eltern bitten, ihre Sachen zu verpacken und sie nach Waldkogel zu schicken. Doch das konnte alles erst geschehen, wenn sie eine Wohnung gefunden hatte. Burghilde war sich sicher, dass Sabine und deren Familie ihr dabei helfen würden. Eines wusste Burgl genau. Es würde schwierig, wenn sie länger mit Hannes unter einem Dach leben würde. Hannes war jetzt der Bauer, jedenfalls nach außen hin, auch wenn die Hälfte des Hofes Sabine gehörte.

Burgl dachte über Hannes nach. Er war Sabines Bruder und sie sah in ihm deshalb einen Freund. Er war ihr vertraut. Sie kannte ihn gut. Er war verlässlich und bodenständig. Hannes wird seinem Madl bestimmt treu sein, dachte sie. Aber ihr Herz klopfte in seiner Nähe nicht. Er war mehr der große Bruder, den Burghilde nie hatte. Die Zeiten der Vernunftehen sind vorbei, zum Glück, dachte Burghilde. Heute heiratet man nur noch aus Liebe. Und wenn es die wahre, die einzige, die unvergleichliche Liebe ist, dann muss es der Himmel auf Erden sein. Ich will alles oder nichts, dachte Burgl.

Sie nahm noch einen Schokoladenriegel aus der Jackentasche und aß ihn auf. Die Sonne versank langsam hinter den Bergen im Westen. Vom Tal kroch die Dämmerung die Berghänge herauf. In Waldkogel brannten schon die Lichter in den Häusern, und die Straßenlaternen leuchteten weithin sichtbar.

Burghilde überlegte, ob sie jetzt zurück zur Berghütte gehen sollte. Sie vermutete, dass der Hüttenabend schon begonnen hatte. Bei dem Gedanken an die vielen Menschen, vor allem den Burschen, die sicherlich tanzen wollten, drängte es Burgl nicht, sich auf den Rückweg zu machen. Sie wollte noch etwas warten. Sie kannte den Weg gut und würde ihn auch in der Dunkelheit sicher gehen. Schließlich war sie in Waldkogel aufgewachsen und würde somit auf einem vertrauten Pfad wandeln. Dazu kam, dass sie eine Stablampe dabei hatte. Es bestand also nicht der geringste Grund zur Eile. Außerdem würde inzwischen bestimmt Hannes auch auf der Berghütte eingetroffen sein. Er hatte am Mittag nach dem Vieh auf den Almen gesehen und wollte später kommen.

Burgl schob die Gedanken an Hannes zur Seite. Sie dachte wieder daran, wie sie ihr zukünftiges Leben gestalten wollte. Eine kleine Wohnung muss als erstes her. Ob sie genügend Arbeit als freie Grafikerin finden würde, wusste sie nicht. Irgendeine Arbeit werde ich schon finden. In Kirchwalden gibt es bestimmt Arbeit, wenn ich nicht wählerisch bin. Sabine muss mir eine Zeitung mitbringen. Ich kann auch in der Gas­tronomie arbeiten. Schon als Schülerin habe ich in einem Eiscafé ausgeholfen. Sicher wird es das noch geben. Vielleicht frage ich dort einmal nach. Es war ein Familienbetrieb, und ich war dort gern gesehen. Außerdem habe ich bald das Geld aus dem Wohnungsverkauf.

Burghilde wollte nur erst einmal die Hälfte für sich beanspruchen. Sie war ein ehrlicher Mensch. Jochen hatte damals die Hälfte der Kaufsumme beigesteuert. Esther würde mit Jochen verhandeln. Aber darüber wollte sich Burgl jetzt keine Gedanken machen. Es war jedenfalls genug, dass sie sorglos in die Zukunft blicken konnte. Ich finde vielleicht sogar einen kleinen Bauernhof oder eine Kate mit großem Garten. Sie nahm sich vor, nichts zu überstürzen. »In der Ruhe liegt die Kraft«, erinnerte sich Burghilde an die chinesische Weisheit.

Sie lehnte sich zurück, barg die Hände in den Taschen und schaute weiter dem Sonnenuntergang zu. Der Mond war am Himmel schon gut zu sehen. Langsam traten die Sterne hervor. Burgl genoss den Anblick. Am Himmel über Berlin konnte man durch das Streulicht der Großstadt die Sterne nicht so gut sehen. Burgl beschloss, noch eine Weile beim »Erkerchen« zu bleiben. Sie hatte so viel nachzuholen. Sie sog das Bild des nächtlichen Sternenhimmels ein, wie ein Verdurstender nach Wasser lechzte.

Die Stunden vergingen.

*

»He, da bist du ja! Warum bist net gekommen?«

Hannes’ Stimme riss sie aus ihren Träumen.

»Ach, du!«, bemerkte Burghilde mit einem Unterton der Ablehnung in ihrer Stimme.

»Mei, des klingt net, als wärst erfreut, mich zu sehen.«

»Ich habe das ›Erkerchen‹ weder gemietet, noch gepachtet, noch gekauft. Ich kann dich nicht daran hindern, hier zu sein.«

»Warum bist so garstig, Burgl? Ich habe dir doch nichts getan!«

Burghilde stand auf und ging zum Geländer. Sie wollte verhindern, dass sich Hannes neben sie setzte. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf.

Hannes stellte sich neben sie.

»Ich will dich holen. Willst net mit zurückkommen?«

»Nein!«

»Aber du wolltest mit mir tanzen. Man muss halten, was man versprochen hat.«

»Hannes, ich habe dir nichts versprochen. Du hast mir wohl nicht richtig zugehört.«

»So, meinst? Weißt, Burgl, die Madln sagen oft etwas anderes, als sie wirklich meinen und wollen. Als Bursche weiß ich des gut zu deuten.«

Burgl schwieg.

»Du sagst nichts! Des werte ich als Zustimmung.«

»Bilde dir ja nichts ein, Hannes!«

»Ich bilde mir nichts ein. Ich habe dich gern, Burgl, und ich finde auch, dass es seinen Reiz hat, wenn ein Madl net gleich von Anfang an zu willig ist.«

»Mache dich nicht lächerlich, Hannes!«

»Ich mache mich net lächerlich, Burgl.«

»Doch, das tust du. Ich habe dir nicht im geringsten Anlass gegeben, dass du irgendwelche Schlüsse da­raus ziehen könntest.«

»Des stimmt schon. Aber ich werde schon einen Weg finden, dich zu überzeugen. Mei, Burgl, wir kennen uns seit der Kindheit. Du verstehst dich gut mit meiner Schwester. Meine ganze Familie mag dich. Ich konnte dich schon immer gut leiden. Weißt nimmer, wie ich dir damals Blumen geschickt habe?«

»Damals war damals! Wir waren noch Kinder!«

»Naa, Kinder waren wir nimmer. Wir wussten schon um die Liebe.«

»Rede dir da nichts ein, Hannes!«

»Ich rede mir nichts ein. Ich werbe um dich, wie man des altmodisch nennen tut.«

»Lass es sein!«

»Des musst du schon mir überlassen, Burgl.«

Sie seufzte tief.

»Hannes, du bist Sabines Bruder. Ich habe nichts gegen dich. Du bist schon immer ein guter Freund gewesen. Aber zu einer Beziehung gehört mehr. Und auf meiner Seite gab es nie etwas und wird es auch nie etwas geben, was du irgendwie mit dem in Verbindung bringen könntest, was du dir vorstellst.«

Burgl umschrieb elegant ihre Ablehnung ihm gegenüber.

»Was nicht ist, des kann ja noch werden. Mei, Burgl! ›Rom wurde auch net an einem Tag gebaut‹, sagt man. Mir genügt es, wenn du mir erst mal nur Sympathie entgegenbringst, wenn du net ganz so ablehnend bist. Ich werde dich schon davon überzeugen, dass du mich liebst.«

Burghilde erinnerte sich an Sabines Rat, deutlich mit Hannes zu reden.

»Da du nicht verstehen willst, sage ich es dir klipp und klar, Hannes.

Ich liebe dich nicht – und ich werde dich auch wohl niemals lieben! Da ist nicht das allerkleinste Gefühl in meinem Herzen für dich, so wie es ein Madl spüren sollte, wenn es Interesse an einem Burschen hat. Ich will dich nicht! Ich werde dich nicht wollen! Da bin ich mir absolut sicher.«

»Niemand kann in die Zukunft sehen, Burgl. Des müsste dich deine Erfahrung mit dem Jochen gelehrt haben.«

»Hannes, lass den Jochen aus dem Spiel!«

»Ich bin besser und ganz anders als der Jochen!«

»Hannes, sei still.«

»Naa, des bin ich net! Und jetzt hörst du mir zu, Burgl. Du hast gedacht, dass der Jochen der Richtige für dich ist. Da hast dich geirrt! Du dachtest, es wäre die große Liebe. Des war es aber net. So wie du eingesehen hast, dass der Jochen der falsche Bursche ist, so wirst erkennen, dass ich der Richtige bin. Du musst nur aufhören, dich zu sträuben. Du kannst keine Liebe für mich empfinden, weil du dich innerlich so wehrst.«

»Was redest du da für einen Unsinn, Hannes? Bist du jetzt unter die Hobbypsychologen gegangen?«

»Naa, ich verlasse mich da nur auf meinen gesunden Menschenverstand.«

»Dann solltest du dich auf deinen Geisteszustand untersuchen lassen. Du scheinst an der fixen Idee zu leiden, dass aus uns ein Paar werden muss. Aus uns wird aber kein Paar, Hannes! Nun sei doch vernünftig! Wir sind doch Freunde. Durch dein Verhalten willst du doch nicht die Freundschaft zwischen uns zerstören?«

»Ich zerstöre gar nix, Burgl.«

»Doch das tust du, Hannes! Ich finde, es ist besser, du gehst jetzt!«

»Gut, ich gehe! Aber du kommst mit! Es ist ein schöner Hüttenabend. Es wird dir gefallen.«

»Nein, ich bleibe hier!«

»Was bist so stur, Burgl!«

»Schmarrn! Wer ist von uns stur? Du doch!«

»Ich bin nicht stur, ich bin verliebt in dich, Burgl!«

»Der Himmel stehe mir bei! Hannes, höre damit auf. Du gibst dich sinnlosen Hoffnungen hin. Ja, kannst du es denn gar nicht begreifen? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

»Doch, schon! Ich habe alles gehört. Aber ich lasse es nicht gelten. Ich liebe dich, Burgl! Ich muss immerzu an dich denken!«

»Hannes, hör auf! Aus uns wird kein Paar, wie oft soll ich es dir noch sagen?«

Hannes sah im Mondschein, wie Burgls Augen funkelten. Er sah, dass sie zornig und ärgerlich war. Das reizte ihn noch mehr.

Er trat dicht neben sie und griff nach ihrer Hand. Sie entzog sie ihm, schlug ihm auf die Finger und steckte ihre Hände in die Jackentaschen.

»Hast ja richtig Temperament! Mei, dass du so Feuer hast, des hab’ ich jetzt net vermutet.«

»Zieh Leine, Hannes! Geh jetzt! Sage deiner Schwester, ich komme bald, sobald ich mich von dir erholt habe.«

»Du musst dich von mir nicht erholen. Ich habe dir doch nur meine Liebe gestanden.«

»Du hast Unsinn geredet und Blödsinn und steigerst dich immer mehr in etwas hinein! Schluss jetzt, Hannes. Dein ewiges Gesülze bringt mich nur noch mehr gegen dich auf. Hau ab!«

Hannes schaute sie an. Burghilde sah, dass er sie anlächelte. Aber es war kein freundliches Lächeln. In seinen Augen stand ein unheimlicher Glanz. Dieses Flackern machte Burgl Angst.

Dann geschah es. Hannes griff blitzschnell zu. Er riss sie an sich und hielt sie fest. Burghilde spürte seinen heißen Atem, er roch nach Bier und Schnaps.

»Lass mich los, Hannes! Sofort!«

Er lachte laut.

»Ja, des hättest du gerne! Aber des mache ich net! Wenn ich dich net mit Worten überzeugen kann, dann muss ich es durch Taten versuchen.«

Im nächsten Augenblick presste Hannes seine Lippen auf die ihren. Er umschloss sie. Sie spürte seine Leidenschaft, und ihr Herz verkrampfte sich aus Angst. Burgl versuchte ihre Hände frei zu bekommen, die immer noch in ihren Taschen steckten. Aber Hannes hielt ihren Körper fest wie in einem Schraubstock. Burgl geriet in Panik. Sie versuchte den Kopf zu drehen. Es gelang ihr aber zunächst nicht, sich von seinen Lippen zu lösen.

Irgendwann, Burgl kam es wie eine Ewigkeit vor, löste Hannes seine Lippen von den ihren.

»Aufhören! Sofort aufhören! Lass mich los!«

»Schrei nur, hier hört dich keiner! Hier gibt es nur dich und mich!«

Und wieder spürte sie seine Lippen. Da trat Burgl ihm mit aller Macht gegen sein Schienbein. Mit ihren festen Wanderschuhen traf sie einmal – zweimal – dreimal.

»Aua, was bist du für eine temperamentvolle Raubkatze! Willst wohl gezähmt werden, wie?«

Für einen Augenblick lockerte Hannes seinen Griff. Burghilde bekam ihre Hände frei.

Sie holte aus und wollte Hanne eine saftige Ohrfeige geben. Doch er war schneller. Er fing ihre Hand ab, hielt sie fest und griff dann nach ihrer anderen Hand.

»Lass mich los, Hannes! Du bist ja ganz von Sinnen! Hör auf! Lass mich in Ruhe! Bitte, bitte!«, verlegte sich Burghilde aufs Betteln.

Sie war richtig in Panik.

Dann geschah es. Aus der Dunkelheit der Nacht kamen zwei starke Hände, sie rissen Hannes von Burgl los. Dann sausten mehrere Fausthiebe auf Hannes nieder. Sie trafen ihn im Gesicht und in der Körpermitte. Er taumelte und ging zu Boden.

»Verschwinde! Wenn du nimmer laufen kannst, dann kannst zur Berghütte zurückkriechen, Hannes! Sei froh, wenn dich des Madl net anzeigen tut wegen Belästigung!«

Hannes erhob sich und wollte auf den anderen losgehen, fing sich aber gleich weitere Fausthiebe ein. Hannes torkelte und schwankte. Dann schleppte er sich davon.

*

»Vielen Dank! Sie haben mir das Leben gerettet!«, keuchte Burghilde atemlos, während sie sich an das Geländer klammerte, um nicht zu Boden zu sinken.

Sie holte ihr Taschentuch heraus und wischte sich die Lippen und das Gesicht ab, so als könnte sie damit auch die Erinnerung abwischen.

»Hier, trink! Das wird dir guttun!«

Der silberne Flachmann glänzte im Mondschein. Burgl griff zu und trank einen kräftigen Schluck.

»Danke!«, hauchte sie.

»Geht es dir jetzt besser, Burgl? Es ist besser, wenn du dich hinsetzt!«

Er streckte ihr die Hand entgegen. Burghilde brachte kein Wort heraus. Sie hielt sich an seiner Hand fest und ließ sich die wenigen Meter zur Sitzbank bringen.

Dort verdeckte sie erst einmal mit den Händen das Gesicht. Sie saß eine Weile ganz ruhig da. Dann ließ sie die Hände sinken.

»Danke nochmals! Wer weiß, wie weit er noch gegangen wäre?«

»Hannes hat zu viel getrunken! Er ließ sich ziemlich volllaufen auf der Berghütte. Sabine war sehr in Sorge, auch weil Hannes allen erzählte, dass du sein Madl bist. Da dachte ich mir, ich gehe ihm nach!«

»Wer sind Sie? Kennen wir uns?«

Burgl schaute ihn im Mondschein an. Der Bursche lächelte.

»Es ist zu dunkel hier, und du

stehst unter Schock. Da wäre es zu viel verlangt, zu erwarten, du würdest mich erkennen. Wir waren zusammen in der Schule, zuerst hier in Waldkogel und dann später auf dem Gymnasium in Kirchwalden.«

Burgl rückte näher und schaute ihn an.

»Ja, Sie kommen mir irgendwie nicht ganz fremd vor. Aber …«

»Ich bin der Matthäus Schönwander! Erinnerst du dich?«

»Jetzt erinnere mich an dich, Matze! Entschuldige, dass ich dich nicht gleich erkannt habe!«

»Des ist doch verständlich, nachdem, was du mit dem Hannes erlebt hast.«

Sie schauten sich an und lächelten. Dann fielen sie sich einfach in die Arme.

»Du hast mich gerettet, Matze!«

Matthäus spürte, wie Burgl leicht zitterte. Er zog seine Jacke aus und hing sie ihr um die Schultern.

»Trink noch einen Schluck von dem Obstler! Er wird dich wärmen.«

Burghilde nahm den ihr angebotenen Flachmann. Sie trank einen Schluck. Dann zog sie Matthäus’ Jacke enger um sich. Er legte den Arm um ihre Schultern.

»Keine Angst, ich trete dir nicht zu nahe! Ich halte dich nur fest, bis es dir besser geht. Kannst ganz sicher sein, dass ich dich nicht belästige. Das würde gegen meine Berufsehre gehen.«

»So, gegen deine Berufsehre? Was machst du?«

»Ich bin hauptberuflich bei der Bergwacht!«

»Mei, was du nicht sagst? Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du schon immer zur Bergwacht.«

»Ja, da erinnerst du dich richtig. Fantastisch, dass du das noch weißt.«

»Dann ist dein Traum also wahr geworden?«

»Ja, ich habe ihn wahr gemacht. Ich habe Sportmedizin studiert und bin danach zur Bergwacht!«

»Dann bist du Arzt?«

»Ja, ich bin ein Doktor!«

»Aber zuschlagen kannst wie ein Boxer! Mei, hast du dem Hannes eine Abreibung gegeben.«

»Das war nötig! Ich war in der Nähe und habe einen Teil deines Gespräches mit ihm mit angehört, das muss ich dir gestehen, fairerweise. Hoffentlich bist du nicht böse, dass ich nicht früher eingegriffen habe.«

»Schon gut! Mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, wie Hannes auf mich los ist. Ich dachte, ich könnte ihn mit Worten davon überzeugen, dass er sich unnötige Hoffnung macht.«

»Jetzt gibt er Ruhe! Ich glaube, ich habe ziemlich gut getroffen. Er wird morgen nimmer richtig aus den Augen sehen können.«

»Das ist gut! Ich hoffe, er hat dazu so einen Brummschädel, dass er das Bett nicht verlassen kann. Dann kommt er mir auch nicht in die Quere, wenn ich ausziehe. Ich bleibe keinen Tag länger auf dem Hof. Ich wollte mir ohnehin bald eine Wohnung suchen. Jetzt muss ich mich früher darum bemühen. Sabine sagte zwar, ich könne solange auf dem Hof bleibe, wie ich wollte, aber unter den gegebenen Bedingungen ist das unmöglich.«

»Das sehe ich auch so! Du willst also wieder hierher in die Berge? Du hast doch in Berlin gewohnt. Was treibt dich zurück?«

»Heimweh! Ehrlich gesagt, hatte ich immer Heimweh nach den Bergen, nach Waldkogel.«

»Das verstehe ich!«

»Wirklich?«, staunte Burghilde.

»Ja, ich musste zum Studium auch fort. Ich war froh, als die Jahre vorüber waren. Ich lebe jetzt seit zwei Jahren in Kirchwalden. Mein jüngerer Bruder hat unseren Hof in Waldkogel übernommen. Er betreibt ihn nur im Nebenerwerb.«

»Himmel, ist mir so kalt! Aber, bitte keinen Obstler mehr!«

»Dann kann ich dir nur anbieten, dichter an mich zu rutschen!«

Burgl schmiegte sich an Matthäus und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Du stehst noch unter Schock. Aber es ist sicherlich bald vorbei«, tröstete sie Matthäus.

»Erzähle mir etwas!«, bat Burghilde. »Dann denke ich nicht mehr an das schlimme Erlebnis mit Hannes.«

»Gut, dann erzähle ich dir, wie es mir in den letzten fünfzehn Jahre ergangen ist, seit wir uns nicht mehr gesehen haben. Also, ich bin weiter in Kirchwalden auf das Gymnasium gegangen. Ich habe ein gutes Abitur gemacht und in München einen Studienplatz bekommen. München ist nicht so weit, trotzdem hatte ich Heimweh. Ich kam her, so oft es ging. Ich litt richtig in der Stadt. Es ist eben etwas ganz anderes in der Stadt, allemal in einer Großstadt zu leben, als hier in den Bergen.«

»Stimmt genau, mir musst du das nicht erklären!«

Matthäus berichtete weiter. Er hatte seinen Facharzt auch in München gemacht und hatte danach sofort eine Stelle bei der Bergwacht bekommen.

»Und weil der Toni heute für die Bergwacht einen zünftigen Hüttenabend macht, bin ich auch hier. Ich saß ganz in der Nähe der Sabine und bekam mit, wie sich Hannes benommen hat. Sabine hatte alles versucht, ihn aufzuhalten. Aber ihm war es doch gelungen, sich davonzuschleichen. Als Sabine es bemerkte, war sie sehr verzweifelt und bat mich um Hilfe.«

Matthäus griff zu seinem Handy.

»Ich will nur schnell mit Toni telefonieren.«

Es läutete länger, bis Toni sich meldete.

»Toni, ich bin es, der Matze Schönwander! Toni, kannst der Sabine sagen, dass die Brugl bei mir in Obhut ist. Der Hannes hat sie belästigt. Ich war gezwungen, dazwischen zu gehen. Ist der Hannes schon wieder auf der Berghütte?«

»Ja, Matze! Er ist hier! Hast ihm wohl eine tüchtige Abreibung ver­passt, wie?«

»Es war nicht anders möglich, ihn dazu zu bringen, von der Burgl die Finger zu lassen. Der war wie in einem Wahn.«

»Ja, er hatte schon ziemlich viel getrunken. Er kann ja ein Menge vertragen, und auf den ersten Blick sieht man es ihm auch nicht an.«

»Alkohol wirkt bei jedem anders, Toni. Auf jeden Fall ist die Burgl jetzt sicher, des kannst der Sabine sagen.«

»Das werde ich! Pfüat di, Matze!«

»Ja, dann bis später, Toni!«

Er legte auf.

»So das wäre erledigt. Jetzt muss sich die Sabine keine Sorgen machen.«

»Ja, das muss sie nicht! Danke, Matze!«

Burgl war es längst nicht mehr so kalt. Sie zitterte auch nicht mehr. Aber sie fühlte sich bei Matthäus so glücklich, wie schon lange nicht mehr. So gab sie einfach nicht zu erkennen, dass sie den Schock überwunden hatte. Es war wunderbar, Matthäus’ starken Arm zu fühlen und den Kopf an seine Schulter legen zu können. Burgl wollte dieses Gefühl auskosten, so lange es möglich war. Sie schloss die Augen.

Matthäus blickte auf sie herab und lächelte. Er schwieg und betrachtete sie. Nach einer Weile stellte er fest, dass Burghilde eingeschlafen war. Er blieb ganz ruhig sitzen.

*

Die Sonne ging langsam über den Bergen auf. Ihre Strahlen leckten die vereinzelten Dunstschleier über dem Tal. Die Vögel begannen zu zwitschern. Ein frischer Duft lag in der Luft.

Matthäus saß ganz ruhig auf der Bank und hielt Burghilde im Arm. Sie schlief tief und fest. Sie lächelte im Schlaf. Sie wird etwas Schönes träumen, dachte Matthäus. Das ist gut, dass sie schläft. Schlaf ist die beste Medizin.

Liebevoll ruhten Matthäus Augen auf dem Gesicht der schlafenden Burgl. Sie gefiel ihm. Sie war schon immer fesch gewesen, erinnerte er sich, und jetzt ist sie eine Schönheit.

Ein Vogel flog dicht am »Erkerchen« vorbei und schrie. Davon erwachte Burghilde.

Zuerst blinzelte sie, dann richtete sie sich auf und rieb sich die Augen. Sie schaute Matthäus an und errötete tief.

»Sag bloß, ich habe die ganze Nacht hier …, hier …, also hier …«

Matthäus schmunzelte.

»Du kannst es ruhig aussprechen. Ja, du hast die ganze Nacht hier geschlafen in meinem Arm, an meiner Seite. Übrigens – einen schönen guten Morgen!«

»Dir auch, einen schönen guten Morgen, Matze. Dir muss ja der Arm weh tun! War das nicht schrecklich unbequem für dich? Warum hast du mich nicht geweckt?«

Er lächelte und streichelte ihr die Wange. Burgl ließ es geschehen, als sei es selbstverständlich.

»Du hast so schön geschlafen. Du hast im Schlaf gelächelt. Du musst sehr schön geträumt haben.«

»Ich kann mich nicht erinnern, was ich geträumt habe.«

Burgl stand auf und streckte sich. Sie rieb sich den Hals.

»Bist du verspannt? Setz dich her, ich massiere dich, dann wird es gleich besser.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir so eine Privatbehandlung leisten kann«, lachte Burgl.

Sie setze sich auf die Bank. Matthäus, der in Waldkogel Matze gerufen wurde, schob Burghilde die Jacke von den Schultern. Mit geschickten Griffen massierte er ihr den oberen Teil des Rückens, die Schultern und den Nacken.

»Oh, das tut gut! Du hast wirklich heilende Hände.«

Matthäus hörte es mit Freude.

»Sag mal, wie spät ist es? Ich habe keine Uhr dabei!«

»Gleich acht Uhr, Burgl! Die Turmuhr wird bald schlagen.«

»Himmel, was wird Sabine denken? Sie hat bestimmt auf mich gewartet.«

»Um Sabine musst du dir keine Sorgen machen. Während du schliefst, habe ich dem Toni eine SMS geschickt. Sabine hat bald geantwortet. Sie wünschte dir und mir eine gute Nacht!«

»Ich habe gut geschlafen, aber für dich muss es unbequem gewesen sein. Bist du nicht hundemüde?«

Matthäus beendete die Massage. Er setzte sich neben sie und legte wieder seinen Arm um sie.

»Ich bin nicht müde. Es war schön, dich im Arm zu halten und dir einen geruhsamen Schlaf zu ermöglichen. Außerdem hatte ich viel zu tun.«

»Was hast du getan? Du konntest doch nichts tun, du hast mich festgehalten.«

»Burgl, ich war sehr beschäftigt, dich zu betrachten.«

Sie errötete.

»Und was ich gesehen habe, hat mir sehr gefallen.«

»Bitte, sage so etwas nicht, Matze! Ich mache gerade eine schlimme Zeit durch. Ich kann mit Komplimenten nicht umgehen.«

»Entschuldigung! Also, es war eine schreckliche Nacht. Mir fallen vor lauter Schmerzen gleich Hände und Arme ab. Dein Anblick ist erschreckend. Ich habe schrecklich darunter gelitten, so ein hässliches Madl die ganze Nacht halten zu müssen. Bist du jetzt zufrieden?«

Sie lächelten sich an. Burgl konnte nicht anders, einem inneren Zwang folgend, legte sie wieder den Kopf an seine Schultern.

Er beugte sich zu ihr herunter.

»Deine Haare duften wunderbar! Pardon, ich wollte sagen, sie stinken schlimm. Sie vernebeln mir völlig die Sinne.«

»Du bist lustig, Matze! Du hast Humor. Das gefällt mir!«

Die Turmuhr der schönen Barockkirche von Waldkogel fing an zu schlagen.

»Matze, wir sollten zur Berghütte gehen!«

»Sollen, sollen wir schon? Aber ich mag net!«, blinzelte er ihr zu. »Mir gefällt es hier mit dir alleine sehr viel besser!«

»Du machst mir schon wieder ein Kompliment!«

»Richtig! Mei, wie schlimm! Des ist ja direkt unverzeihlich von mir! Ja, was sage ich jetzt?«

Sie lachten und schauten sich in die Augen.

Plötzlich erstarb Burghildes Lächeln.

»Was hast du?«

»Denkst du, dass der Hannes noch auf der Berghütte ist?«

»Damit ist zu rechnen. Es sei denn, ein paar seiner Freunde haben ihn mit ins Dorf genommen heute Nacht. Wir werden sehen.«

Burgl schaute ihn mit großen Augen an.

»Hast du Angst, ihm zu begegnen?«

»Ich bin dumm, nicht wahr?«

»Nein, dir ist die Sache nur peinlich. Das sollte sie aber nicht. Sie muss nur Hannes peinlich sein. Und verlasse dich darauf, ich werde dafür sorgen, dass die Geschichte in ganz Waldkogel die Runde macht. Er wird sich noch lange an seine Dummheit erinnern.«

»Trotzdem wäre mir wohler, wenn ich ihn nicht sehen müsste.«

»Das kann ich verstehen! Dann mache ich dir einen Vorschlag. Wir gehen nicht zur Berghütte zurück. Wir laufen den Pfad weiter in die Richtung des alten ›Pilgerwegs‹. Dann führe ich dich querfeldein zu unserem Hof. Die Mutter macht uns ein gutes Frühstück. Du bleibst bei uns auf dem Hof, und ich erkunde die Lage.«

Burgl fing an zu strahlen.

»Du bist schon wieder mein Retter. Ich weiß, dass ich mich nicht schämen muss. Aber ich nehme deinen Vorschlag gerne an.«

Matthäus stand auf. Er streckte seine Hand aus. Burgl sah ihm in die Augen. Sie zögerte einen Augenblick, dann legte sie ihre Hand in die seine. Sie gingen los.

Sie wanderten eine lange Strecke still nebeneinander her. Sie warfen sich nur verstohlene Blicke zu. Viele Gedanken gingen Burgl durch den Kopf.

»Es kommt mir so vor, als ginge ein Brummen von deinem Gehirn aus, es muss auf Hochtouren arbeiten«.

»Matze, du willst also wissen, über was ich nachdenke, worüber ich brüte, mir mein Hirn schinde, dass es qualmt? Das wundert mich nicht. Ich konnte schon immer schlecht verbergen, wenn mich etwas sehr beschäftigte.«

»Es geht mich nichts an, was du denkst. Aber ich will dir nur sagen, wenn du bei irgendetwas Hilfe brauchst, dann kannst du dich gerne an mich wenden.«

»Danke, das ist nett von dir. Aber ich versuche, alleine klarzukommen. Du hast schon so viel für mich getan. Statt auf dem Hüttenfest fröhlich zu tanzen, hast du mir beigestanden.«

»Deshalb musst du kein schlechtes Gewissen haben. Außerdem war das genau das, was ich wollte.«

Burgl blieb stehen. Sie schaute ihn ernst an.

»Wie darf ich das verstehen? Wie soll ich das verstehen?«

Er lächelte sie an.

»Mach kein so erschrockenes Gesicht. Ich erkläre es dir gerne.«

»Dann los! Ich höre dir zu!«

»Burgl, als ich gestern Abend zur Berghütte kam, habe ich gleich Sabine begrüßt. Von ihr erfuhr ich, dass du zu Besuch bist. Ich freute mich darauf, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Ich freute mich sehr. Ich setzte mich in Sabines Nähe und wartete. Dabei bekam ich zwangsläufig die Diskussion zwischen Hannes und Sabine mit. Als Hannes dann fort war, redeten Sabine und ich. Sabine wollte selbst gehen. Ich redete ihr das aus und versprach ihr, mich deiner anzunehmen.«

»Was dir auch in jeder Beziehung gelungen ist!«

»Ja, und ich bin mit meinen Bemühungen noch nicht zu Ende. Weißt du, wenn ich etwas tue, dann tue ich es ganz oder gar nicht.«

»Ich weiß, so bist du schon immer gewesen, Matze. Auf dich war immer Verlass.« Burgl errötete.

»Was geht dir jetzt wieder durch den Kopf?«

Burghilde blickte verlegen auf ihre Schuhspitzen.

»Ach, ich dachte nur, dass dein Madl zu beneiden ist.«

Matthäus brach in lautes Lachen aus.

»Da musst du dir keine Gedanken machen. Bisher – also bis gestern – hatte ich noch kein Madl. Die Richtige war mir noch nicht begegnet. Aber ich hoffe jetzt, dass sich an meinen Alleinsein bald etwas ändern wird. Willst du mit mir hoffen? Vielleicht könntest du mir sogar dabei helfen. Was meinst dazu?«

Burghilde errötete tief.

»Ah, ich sehe, meine Botschaft ist angekommen!«

»Langsam, langsam, bitte ganz langsam, Matze! Mein Leben ist in völliger Unordnung. Ich habe vor wenigen Tagen eine langjährige Beziehung beendet. Ich habe von Männern die Nase voll!«

»Ich bin aber nicht irgendein Mann. Ich bin ein Bursche, den du kennst und ich werde dir Zeit lassen. Ich verstehe, dass du erst noch deine Wunden pflegen musst und Ordnung in dein Leben bringen musst. Lass mich dir dabei helfen, Burgl. Ich sage dir, dass ich dir gern helfe, so wie jeder hier in Waldkogel einem anderen hilft, wenn Not am Mann ist. Ich tue es nicht aus Berechnung. Du sollst dich nicht verpflichtet fühlen. Nimmst du mir das ab?«

Burghilde seufzte.

»Versprechen kann ich es nicht, dass ich dir glaube. Aber ich will es versuchen. Außerdem habe ich wenig Auswahl. Die Jahre über, die ich in Berlin war, hatte ich nur Kontakt zu Sabine. Es ist besser, wenn ich den Kontakt zu ihr reduziere, wenn sie hier in Waldkogel ist, wegen Hannes. Ich werde mich mit Sabine die nächste Zeit nur in Kirchwalden treffen können.«

»Ich, wir alle vom Schönwander Hof werden dir helfen. Mein Bruder Gustl wird sich auch freuen, dich zu sehen. Du wirst staunen, was aus meinem Bruder geworden ist. Er ist einen Kopf größer als ich, verheiratet und hat schon drei Kinder, zwei Buben und ein Madl. Seine Frau ist eine Seele von Mensch. Sie heißt Irina und kommt aus Russland. Ihre Familie sind Rückwanderer. Sie suchte Arbeit und stand eines Tages bei uns auf dem Hof. Sie sprach noch wenig Deutsch. Mutter stellte sie ein, und bald wurden aus Irina und Gustl ein Paar.«

»Wie haben sie sich denn verständigt? Wie konnten sie miteinander sprechen?«

Matthäus lachte.

»Irgendwie schlug die Liebe eine Brücke. Im Anfang war es sicherlich nicht leicht. Irina lief nur mit einem Wörterbuch herum. Doch dann lernte sie schnell. Heute nach vier Jahren hat sie nur noch einen leichten Akzent. Du wirst sie mögen.«

Matthäus nahm Burgls Hand, und sie gingen weiter.

*

»Mutter Schönwander!«, schrie Irina über den Hof, als sie Matthäus mit Burgl kommen sah. Sie setzte das Kind, das sie auf dem Arm trug, zu seinen beiden Geschwistern in den Laufstall, der vor dem Haus in der Sonne stand.

»Schön brav sein! Die Mama muss sich um den Onkel kümmern und das Madl.

Mutter Schönwander, so komm doch! Der Bub ist da! Der neue Held von Waldkogel!«

Matthäus Mutter kam aus der Scheune.

»Bub, was war denn los? Ganz Waldkogel redet über dich!« Sie blinzelte ihm zu. »Und alle sagen, du bist ein Held. Der Hannes wurde auf einer Trage gleich zum Doktor gebracht. Zum Glück war unser Martin auch auf dem Hüttenfest mit seiner jungen Frau. Der Doktor Engler hat sich den Schaden angesehen und entschieden, des muss geröntgt werden. Dann hat der Toni eine Trage gemacht aus einer alten Leiter, die er mit einer Matratze polsterte. Darauf haben sie den Hannes runter bis zur Oberländer Alm getragen. Von dort aus fuhr ihn der Doktor in seinem neuen Krankenwagen in seine erweiterte Praxis. Als hätte es der Martin geahnt, dass er den Krankenwagen braucht. So ist er net mit seinem Geländewagen zum Hüttenfest gefahren, sondern mit dem Krankenwagen«, sprudelte die Schönwander Bäuerin alles heraus. »Der Martin muss einen siebten Sinn gehabt haben!«

Sie schaute ihren Sohn an.

»Musst dir aber keine Gedanken machen, Matze! Gebrochen ist nix, sagt der Martin. Eine Platzwunde über der einen Augenbraue hat der Hannes wie bei einem Boxer. Die hat der Martin schon versorgt. Jetzt liegt der Hannes beim Martin in einem der neuen Notfallkrankenzimmer und schläft seinen Rausch aus. Sag, hat sich der Hannes wirklich so daneben benommen?«

»Mutter, ja! Schlimm, wie er sich benommen hat. Übrigens, des ist die Burghilde. Erinnerst du dich noch an sie?«

»Grüß Gott, Madl! Sicher erinnere ich mich noch an die Burgl! Was für ein fesches Madl du geworden bist! Ja, ja, wie die Zeit vergeht. Ich bin jetzt schon dreifache Großmutter!«

»Grüß Gott, Bäuerin! Ich sehe es! Die Kindl sind ja wirklich herzig. Mei, was für schöne und freundliche Kindl des sind. Mei, da müssen S’ und können S’ wirklich glücklich sein, Bäuerin!«

»Das bin ich! Und des hat alles die Irina zustande gebracht, des zierliche Persönchen hier.« Die Bäuerin lachte laut und legte ihrer Schwiegertochter den Arm um die Schulter. »Nun gut, unser Gustl hat auch ein bissel was dazu getan. Aber wie viel die Männer dazu beisteuern und wie viel die Weiber, das weiß ja ein jeder.«

»Mutter, kannst uns ein Frühstück machen?«

»Aber sicher, Matze! Gehen wir alle rein!«

Burgl stand am Laufstall und betrachtete die drei Kinder, im Alter von einem bis drei Jahren, so schätzte sie. Irina bückte sich, hob das Kleinste heraus und drückte es Burgl in den Arm. Dann hob sie das nächst­ältere Kind heraus und gab es ihrem Schwager Matthäus auf den Arm.

»Hier, kümmere dich um dein Patenkind!«

Das dritte Kind setzte sie sich auf die Hüfte.

Sie gingen in die große Wohnküche des Schönwander Hofes. Matthäus bot Burghilde einen Stuhl an.

»Mutter, wir müssen der Burgl helfen. Sie wohnt im Augenblick bei der Sabine und dem Hannes.«

»Matze, keine Sorgen! Deine Mutter und ich haben schon alles besprochen. Die Sabine hat auf der Berghütte viel erzählt und jetzt weiß jeder, dass die Burgl eine Bleibe suchen tut. Und die hast du auch schon gefunden, wenn du magst, Burgl? Ich kann doch Burgl zu dir sagen? Ich bin die Irina!«

»Gern, Irina!«

Burgl reichte Irina die Hand. Diese drückt sie, dann drehte sie Burgls Handfläche um und betrachtete sie genau.

»Irina, was tust lesen?«, rief die Bäuerin herüber.

Sie stand am Herd und machte eine große Pfanne mit Rühreiern mit Speck.

»Mutter Schönwander, sei net so neugierig! Du weißt, dass ich nie drüber reden tue, was ich in den Händen der Leute lese. Aber es ist sehr interessant.«

»Du kannst mir doch nicht wirklich in der Hand lesen?«, fragte

Burgl.

»Und ob sie das kann, unsere Irina! Sie hat sogar mich als Naturwissenschaftler in Erstaunen versetzt«, sagte Matthäus.

Irina streichelte Burghilde die Wange.

»Mach dir keine Sorgen! Alles wird gut! Wenn du erst den Berg überwunden hast, dann wird alles gut!«

»Welchen Berg, Irina?«, rief die Bäuerin dazwischen.

»Mutter Schönwander, welchen Berg? Natürlich den Berg, den die Burgl sich selbst aufgetürmt hat, den muss sie raufklettern oder forträumen. Der Berg muss weg! Das ist alles, was ich sagen kann!«

»Berge wegzuräumen, ist ein hartes Stück Arbeit. Also, wirst du dich jetzt erst mal mit einem Frühstück stärken. Dann geht es weiter.«

Die Bäuerin verteilte die Eier mit Speck und schnitt Brot ab. Matthäus schenkte Burgl Kaffee ein.

»Gib mir das Kleine, damit du in Ruhe essen kannst!«

Die Bäuerin nahm Burgl das Kind ab. Matthäus setzte sein Patenkind in den Hochstuhl, der am Tisch stand. Sie aßen.

»Nun rede schon, Mutter! Ich kann nicht mehr lange bleiben. Ich muss ins Amt.«

Irina und ihre Schwiegermutter warfen sich Blicke zu.

»Burgl, du kannst unsern Altenteil haben. Der steht im Augenblick leer. Dann hättest erst mal eine Bleibe und wärst aus dem Dunstkreis vom Hannes raus. Nach dem Frühstück gehen wir alle zusammen rüber und schauen es uns an. Wir haben des in der Familie besprochen. Der Bauer und der Gustl, die sind damit einverstanden. Drüben in den drei Zimmern, der Küche und dem Bad, da bist ganz für dich!«

Burghilde sah Matthäus an. Dieser lächelte.

»Des ist doch eine gute Lösung, Burgl! Dann hast du erst mal eine Bleibe. Telefon und einen Internetanschluss gibt es dort auch. Die Zimmer hat die Irina bewohnt, bis sie den Gustl geheiratet hat.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll?«, flüsterte Burgl.

»Ansehen sollst du dir die Stuben, und dann kannst Ja sagen, wenn du magst. Eigene Wände zu haben ist besser als eine Ferienwohnung. Außerdem behüten wir dich alle vor dem liebeskranken Hannes, diesem verrückten Kerl«, betonte die Bäuerin.

Sie aßen zu Ende. Dann gingen sie zusammen über den Hof. Das Altenteil war ein kleines Häuschen. Es war sehr sauber und gemütlich eingerichtet. Burgl war begeistert. Es war groß genug, dass sie auch ihre Sachen aus Berlin unterbringen konnte.

»Ja, ich nehme es! Ihr müsst mir nur sagen, was ihr dafür haben wollt.«

»Schmarrn! Des Häusl hätte leer gestanden. Zahlst deinen Strom und das Wasser, ansonsten bist du unser Gast.«

»Bäuerin, das kann ich nicht annehmen!«

»Das musst du aber, Burgl«, sagte Irina. »Außerdem bin ich hier die Bäuerin, seit Gustl den Hof übernommen hat. Aber ich lasse die Eltern net ins Austragshäusl ziehen. Des ist kein gutes Omen. Im Austragshäusl werden sie schneller alt. Außerdem brauche ich die beiden drüben.«

»Das verstehe ich, mit drei Kindern wirst du froh sein, die Großeltern in der Nähe zu haben!«

Irina strahlte. Sie strich sich über die Kittelschürze in der Höhe ihres Bauches.

»Es werden im nächsten Jahr vier Kindl sein!«

Dabei strahlte sie.

»Du freust dich auf dein viertes Kind, Irina! Man sieht es dir an.«

»Ja, das tue ich! Und Gustl freut sich auch! Wir haben alles schon beredet. Du sollst Patin werden, wenn du magst, Burgl.«

»Es wird mir eine Ehre sein! Ich liebe Kinder!«

»Das ist gut so! Zeige mir noch mal deine Hände!«

Burgl lachte.

»Besser nicht, Irina!«

»Du glaubst mir nicht?«

»Irina, ich habe schon gehört, dass es Menschen gibt, die eine solche Fähigkeit haben sollen. Aber im Augenblick habe ich in der Gegenwart so viele Fragen zu lösen, dass ich mich darauf beschränken will und keine Kraft mehr habe, mich mit der Zukunft auseinanderzusetzen.«

Irina lächelte Burghilde an.

»Die Zukunft kommt schneller, als man denkt! Komm, Mutter Schönwander, wir gehen!«

Die beiden Frauen gingen hinaus. Das älteste Kind lief hinterher.

Burgl ließ sich erst einmal auf den Stuhl fallen.

»Himmel, Matze, deine Schwägerin ist eine wirklich liebe und herzige Person, aber …«

»Aber sie ist ein bissel gewöhnungsbedürftig!«, vollendete Matthäus den Satz.

»Genau!«

Sie sahen sich in die Augen.

»Ich kann nicht länger bei dir bleiben, Burgl. Die Bergwacht wartet. So gegen sechs Uhr bin ich wieder zurück. Kommst du bis dorthin ohne mich aus?«

Burgl sah ihm in die Augen. Sie lächelte.

»Ja, ich werde es versuchen. Ich werde Sabine anrufen und ihr sagen, dass ich jetzt bei euch wohne. Dann werde ich meine Sachen holen und mein Auto. Ich habe viel zu erledigen. Ich werde keine Zeit haben, dich zu vermissen.«

»Das ist aber sehr schade!«

Er ging auf sie zu, beugte sich zu ihr herunter und hauchte ihr sanft einen Kuss auf die Wange.

»Alles Gute, Burgl! Willkommen auf dem Schönwander Hof. Ich hoffe du bleibst, lange, lange …«

Sie sahen sich in die Augen. Burgl errötete.

»Was soll ich sagen, Matze?«

»Nichts musst du sagen. Wenn ich etwas wissen will, was du mir nicht sagen willst, dann frage ich Irina!«

»Unterstehe dich, Matze!« schimpfte Burgl, doch sie meinte es nicht so böse.

Matthäus ging hinaus, Burgl sah ihm nach. Nachdem er abgefahren war, suchte sie Sabines Handy-Nummer und rief sie an. Sie riss sie auf der Berghütte aus dem Schlaf.

Die beiden Freundinnen sprachen lange zusammen. Burgl erfuhr, dass Hannes wütend zur Berghütte zurückgekehrt war. Er hatte geschimpft und gebrüllt. Er hatte eine ganze Flasche von Alois selbstgebranntem Obstler ausgetrunken, bevor ihn jemand davon hatte abhalten können. Sabine schämte sich für ihren Bruder.

»Das ist mir so peinlich, Burgl! Erst bereite ich dir Kummer wegen Jochen, und jetzt benimmt sich mein Bruder so schändlich dir gegenüber.«

»Ganz ruhig, Sabine! Du musst dir keine Vorwürfe machen! Ich hole meine Sachen bei euch. Morgen komme ich wieder zu dir auf die Berghütte, dann reden wir über alles.«

»Die Krankenhausleitung hat angerufen. Sie haben einen Engpass im Dienstplan des Kreissaals. Ich mache dort ab morgen und über das ganze nächste Wochenende Dienst. Tut mir leid, Burgl. Aber wenn du willst, kannst du mich in Kirchwalden besuchen. Meine Dienstwohnung ist groß genug. Du kannst bei mir übernachten. Dann können wir wenigstens abends reden.«

»Heute bist du aber noch auf der Berghütte?«

»Nein, ich will nach dem Frühstück gehen. Ich habe morgen Mittag Dienst. Aber ich muss ja wohl nach Hannes sehen. Der kann etwas erleben. Ich werde ihm eine Standpauke halten, die er nie mehr in seinem Leben vergisst!«

»Können wir uns sehen, wenn du wieder in Waldkogel bist? Es gibt so viel zu bereden, Sabine! Sachen, die ich nicht am Telefon bereden kann.«

»Ich könnte zu dir auf dem Schönwander Hof kommen.«

»Nein, Bine, das möchte ich nicht. Wir könnten uns am Abend am Bergsee treffen. Dort sind wir ungestört. Erinnerst du dich an die Stelle, an der wir uns als Kinder immer getroffen haben?«

»Wie könnte ich unser Geheimversteck vergessen! Also gut, Burgl! Ich warte nach zwanzig Uhr dort auf dich!«

»Pfüat di, Bine!«

»Pfüat di, Burgl!«

Sie legten auf.

Burgl schaute sich die kleine Wohnung noch einmal genau an. Dann rief sie ihre Eltern an. Es wurde ein langes, sehr langes Gespräch. Anschließend ging Burgl hinüber zu Irina.

Sie sagte nur, sie würde jetzt ihre Sachen holen und Lebensmittel einkaufen.

Irina fütterte gerade ihr jüngstes Kind. Sie nickte nur.

Welch ein Bild einer so glücklichen jungen Mutter, dachte Burgl, wie aus einem Gemälde. Burgl verspürte dabei wieder diese tiefe innere Sehnsucht nach einer eigenen Familie und Kindern.

Sie seufzte tief und machte sich auf den Weg, ihre Sachen zu holen.

*

Burghilde ging zum Bergsee. Sie zog Schuhe und Socken aus und lief barfuß im kalten Wasser des seichten Ufers entlang. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie blieb einen Augenblick stehen und schaute über die Wasseroberfläche. Die Wellen kräuselten sich im sanften Abendwind, der von Süden her über die Berge wehte. Die Sonne stand als feurig rote Scheibe tief über den Bergen im Westen. Burghilde reckte die Arme gegen den blauen Abendhimmel und sagte leise:

»Heimat, meine Heimat, ich grüße dich! Ich bin wieder hier! Ich bin heimgekehrt.«

Sie lief weiter und besah sich dabei das Ufer. Es hatte sich nicht viel verändert, nur die Bäume weiter hinten waren gewachsen. Damals, als sie als Kind mit Sabine hier am Bergsee ihre Geheimnisse teilte, waren es noch junge Bäume, die sich im Wind bogen. Jetzt erschienen sie Burghilde groß und stark, als könnten sie sich gegen jede Unbill der Natur wehren.

Als die junge Frau an ihrer alten Lieblingsstelle angekommen war, ließ sie sich im Ufer ins hohe Gras fallen. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den Himmel. Verträumt gab sie sich dem alten Spiel hin. Sie versuchte die Formen der wenigen Wolken zu deuten, die vom warmen südlichen Föhn über den Himmel getrieben wurden. Das Leben empfand Burghilde nicht mehr so schwer und bedrückend, wie sie es noch vor einigen Tagen in Berlin empfunden hatte. Da war sie wieder, die alte Zuversicht, die sie so lange nicht mehr verspürt hatte, dieses wunderbare warme Gefühl, dass es etwas gibt, dem man nur einfach vertrauen musste.

Burghilde lag lange dort und dachte über sich nach und darüber, wie das Leben für sie jetzt weitergehen sollte. Sie vergaß die Zeit.

»He, Burgl! Da bist du ja!«

»Grüß dich, Bine!«

Etwas außer Atem ließ sich Sabine neben Burghilde ins Gras fallen.

»Bist du schon lange hier?«, fragte sie.

Burghilde schaute auf ihre Uhr.

»Ja, schon eine ganze Weile. Ich war zu früh. Mache dir keinen Kopf. Du bist ja ganz schön abgehetzt! Wie kommt es?«

»Ich kam doch später von der Berghütte herunter! Ich packte noch etwas mit an und half beim Aufräumen. Ich soll dich von Toni, Anna und dem alten Alois grüßen, ebenso von Franziska und Sebastian.«

»Danke!«

»Ich konnte nicht eher kommen, daheim gab es ein langes Gespräch mit den Eltern über den Hannes. Himmel, die sind vielleicht sauer! Verstehen kann ich es ja! Der Vater hat sogar davon gesprochen, dass er dem Hannes den Hof wieder wegnehmen will, weil er sich deppert und völlig unreif benommen hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass unsere Eltern jemals so ärgerlich waren. Es ist auch schlimm, wie sich Hannes dir gegenüber verhalten hat. Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich bei dir dafür entschuldigen.«

»Du musst dich doch nicht entschuldigen, Bine! Du kannst doch nichts dafür!«

»Mei, Burgl, des sagt sich so leicht! Ich bin doch der Auslöser für alles. Ich habe dich in Berlin besucht und eine Lawine ausgelöst, einen Erdrutsch, der alles in deinem Leben durcheinandergewirbelt hat. Und es waren wahrlich keine freudigen Ereignisse! Ich fühle mich dafür verantwortlich, zumindest mitverantwortlich.«

»Bine, was redest du da für einen Unsinn? Schluss jetzt! Hast du Hannes besucht?«

»Ja, ich war beim Martin und habe Hannes besucht. Der Doktor besteht darauf, dass er noch einige Tage bei ihm bleibt, bis sein Gesicht mehr abgeschwollen ist. Du, der Matze, muss richtig zugehauen haben. Aber Mitleid habe ich mit meinem Bruder nicht. Ich hoffe, er hat noch einige Tage richtig einen Brummschädel und Schmerzen. Also ich weiß nicht, ob ihm der Martin ein Schmerzmittel gibt und wie viel. Ich würde es nicht tun. Wenn ich seine behandelnde Ärztin wäre, bekäme ihr von mir keine einzige Schmerztablette, das schwöre ich dir. Dieser Hornochse, dieser Idiot!«

»Er war betrunken!«

»Das ist es ja! Heute behauptet er, er könnte sich an nichts erinnern!«

Sabine grinste.

»Aber er bekommt viel Besuch von den Burschen, die gestern Abend auf dem Hüttenfest waren. Das ist ihm ziemlich peinlich. Soll es ihm auch sein. Lass ihn mal erst wieder daheim auf dem Hof sein, dann werden die Eltern und auch ich noch ein Hühnchen mit ihm rupfen, Burgl. Er muss sich bei dir entschuldigen.«

»Lass ihn, Bine! Ich will ihn nicht mehr sehen, jedenfalls vorläufig nicht!«

»Das verstehe ich! Ich mache mir solche Vorwürfe, Burgl. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen oder vor ihm zu dir zum ›Erkerchen‹ gehen.«

»Du hast Matze geschickt. Das war nicht schlecht.«

Burgl warf der Freundin einen Blick zu.

»Oh, was sehe ich da in deinen Augen, Burgl? Stimmt! Du bist ja die ganze Nacht mit dem Schönwander-Matthäus allein gewesen. Ein fescher Bursche ist er, findest du nicht auch?«

»Ja, er ist schon besonders, ja, das ist er!«

Burghilde seufzte tief.

»Deswegen wollte ich, dass wir uns hier treffen, Bine. Ich muss mit dir über Matze reden. Das wollte ich nicht am Telefon machen.«

»Er gefällt dir? Gib es zu!«

»Später reden wir vielleicht da­rüber. Erst will ich wissen, ob es zwischen dir und ihm … gibt es da etwas, was ich wissen muss. Immerhin habt ihr an einem Tisch gesessen, und du hast dich mit deiner Sorge um Hannes an ihn gewandt. Das spricht eigentlich für eine gewisse Vertrautheit.«

»Ist das für dich so wichtig, dass du mich das nicht am Telefon fragen konntest? Ich denke, du hast dich in Matze verliebt, Burgl.«

»Sabine, du weichst mir aus. Ziere dich nicht, beantworte mir meine Frage.«

Sabine schwieg eine Weile. Burgl ließ ihr Zeit und wartete geduldig. Schließlich sagte Sabine leise:

»Falls du denkst, dass du mir in die Quere kommst, dann kann ich dich beruhigen. Matze hat kein Interesse an mir. Er ist nur ein guter alter Schulfreund.«

»Aber du hast Interesse an ihm?«

»Wem gefällt Matze nicht? Burgl, er ist erfolgreich, sieht gut aus, hat einen guten Charakter. Kurz, er ist ein Traummann! Wenn er um mich ernsthaft geworben hätte, dann wäre ich ganz schnell schwach geworden. Aber er warb nicht um mich. Und soviel ich weiß, hat er auch kein Madl. Entweder ist er mit seinem Beruf verheiratet oder hat in Bezug auf Frauen einen zu hohen Anspruch. Möglich ist auch, dass ihm nur noch nicht die Richtige begegnet ist. Ist damit deine Frage ausreichend beantwortet?«

Sabine sah Burgl prüfend ins Gesicht. Diese errötete tief.

»Aha, es hat sich also zwischen euch etwas abgespielt, gib es zu, Burgl!«

»Vielleicht gab es da ein Knistern und etwas Herzklopfen. Aber ich bin sehr unsicher, Bine. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich habe mich erst von Jochen getrennt. Ich muss einen neuen Anfang in meinem Leben machen. Ich bin mit meinen Gefühlen noch nicht im Reinen und mit meinem Leben auch nicht. Außerdem habe ich mir vorgenommen, einen riesigen Bogen um jeden Burschen zu machen. Aber es klappt irgendwie nicht, Bine. Matze bringt meine Vorsätze ins Wanken. Zudem sieht er so gut aus! Er bringt in mir Gefühle hervor, von denen ich nicht wusste, dass ich solche Gefühle überhaupt habe. Himmel, was soll das nur werden? Ich wollte mich nie mehr in einen so gutaussehenden Burschen, einen Schönling …«

Burgl brach den Satz ab. Sie seufzte wieder.

»Ich will es anders sagen. Ich hatte mir geschworen, mich mit keinem Mann einzulassen, der schön ist.«

Sabine lachte.

»Was lachst du, Sabine? Was gibt es da zu lachen?«

»Du kannst das Wort ›Verlieben‹ nicht aussprechen. Dein ursprünglicher Satz lautete: ›Ich wollte mich nie mehr in einen Schönling …‹, und dann hätte müssen das Wort ›verlieben‹ kommen.«

»Ja, zum Teufel! Es ist passiert. Bine, ich verstehe nicht. Ich begreife es nicht. Ich renne aus einer langjährigen Verbindung davon und schlafe in den Armen eines anderen Mannes ein, noch nicht einmal eine Woche später.«

»Du hast …, wirklich? Himmel, du hast wirklich ein Tempo!«

»Bine, doch nicht so! Nicht, was du denkst! Ich war nach Hannes’ ungebührlichem Benehmen ziemlich verstört. Ich fror und zitterte. Matze gab mir seine Jacke und versuchte mich zu beruhigen. Das gelang ihm auch. Ich beruhigte mich bald und entspannte, und dann bin ich an seiner Schulter eingedöst. So war das!«

»Ah, ich hatte wirklich an etwas anderes gedacht, aber das ist ja schon mal ein Anfang. Jedenfalls scheint es mir, dass du wenigstens noch Gefühle empfinden kannst.«

»O ja, auf der einen Seite schon und auf der anderen bin ich unsicher und habe Angst.«

»Das verstehe ich! Du hast Angst, dass du dich noch einmal irrst, stimmt es?«

Burgl setzte sich auf. Sie riss eine Binse aus und wickelte sie sich um den Finger. Sabine setzte sich neben sie und legte ihr die Hand auf den Unterarm.

»Burgl, dir wäre es gelegen gekommen, wenn ich dir gesagt hätte, dass da etwas ist, zwischen mir und Matze, stimmt es? Dann hättest du dich nicht entscheiden müssen. Du würdest dir sagen, Matze gehört zu Sabine. Damit wärst du aus dem Schneider, wie man so schön sagt. Tut mir leid, meine Liebe, damit kann ich dir nicht dienen. Ich leugne nicht, dass ich Matze gern sehe. Aber richtig verliebt bin ich in ihn nicht. Ich denke, dass die Liebe in einem Herzen erst erblüht, wenn sich die liebevollen Blicke zweier Menschen treffen. Das ist dann wie eine Initialzündung. Peng! Und die Herzen stehen in Flammen, sie lieben sich. War es so oder ist es so, mit dir und Matze?«

Burghilde errötete.

»Ich denke, ich mag ihn und er mag mich auch, das ist ganz offensichtlich. Als er mich heute Morgen auf dem Schönwander Hof zurückließ, um zur Arbeit zu fahren, küsste er mich zum Abschied auf die Wange.«

»Auf die Wange? Nur auf die Wange?«

»Ja!«

»Mmm, entweder ist er ein Trottel oder er hat Respekt vor dir. Was hast du gefühlt?«

»Das ist es, Bine! Ich verstehe es nicht. Kann man sich schon so kurz nach einer Enttäuschung neu …«

»Verlieben, das Wort lautet ›Verlieben‹, Burgl.«

»Ja, ich habe dich schon verstanden. Also, was meinst du? Ich befinde mich in einem Gefühlschaos! Soll ich meinen Gefühlen nachgeben, oder soll ich ihn auf Abstand halten?«

Sabine legte der Freundin den Arm um die Schultern.

»Diese Frage kann niemand beantworten, außer du selbst. Du hast Angst, du könntest dich irren.«

»Ja, ich habe Angst, mich zu irren. Ich habe Angst, meinen Gefühlen zu vertrauen. Ich habe mich in Jochen geirrt. ›Gebranntes Kind scheut das Feuer‹, sagt man.«

»Ja, so sagt man. Es heißt aber auch: ›Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen‹, Burgl. Du musst einfach nur herausfinden, ob es eine Flucht in eine neue Beziehung ist oder wirkliche Liebe.«

»Ja, das muss ich herausfinden, ganz alleine und nur für mich!«

»Zieh dich doch einige Tage auf die Berghütte zurück. Du musst ohnehin noch mal hinauf. Deine Sachen, dein Rucksack und dein Fotoapparat sind noch oben. Als hätte ich es geahnt, habe ich sie dir nicht mit heruntergebracht. Alles liegt in der Kammer. Anna und Toni erwarten dich. Sie freuen sich, wenn du kommst.«

Burghilde schaute auf ihre Uhr. Dann blickte sie in die Richtung der untergehenden Sonne. Sabine lächelte.

»Ich bin mit dem Auto hier. Es steht auf dem Weg weiter hinten. Ich kann dich sofort auf die Oberländer Alm hinauffahren. Dann schaffst du es, vor dem Einbruch der Nacht auf der Berghütte zu sein.«

Burgl stand auf und zupfte sich Gräser von der Kleidung.

»Ja«, sagte sie leise. »Ich will hinauf zur Berghütte. Ich muss mir über meine Gefühle klarwerden. Dazu ist die Berghütte ein guter Platz. Schon als Kind bin ich immer in die Berge geflüchtet, wenn mich Kummer bedrückte.«

»Dann lass uns gehen, Burgl!«

Sabine erhob sich. Sie gingen zurück zum Auto.

»Du solltest auf dem Schönwander-Hof Bescheid geben, dass du auf der Berghütte zu erreichen bist, Burgl. Vielleicht machen sie sich sonst Sorgen und Matze begibt sich mit der gesamten Mannschaft der Bergwacht auf die Suche.«

»Zutrauen würde ich es ihm! Hast du die Telefonnummer vom Schönwander-Hof?«

Sabine schüttelte den Kopf. Sie hielt am Marktplatz bei der Telefonzelle. Die Nummer war schnell herausgesucht. Sabine übernahm die Aufgabe und rief auf dem Schönwander-Hof an. Irina war am Hörer. Bine sprach nur kurz mit ihr und teilte ihr das Wesentliche mit.

»Danke für deinen Anruf, Bine! Ich werde es Matze sagen, wenn er von der Arbeit kommt! Pfüat di!«

»So, alles in Ordnung! Matze ist noch in Kirchwalden! Also los, rauf zur Oberländer Alm!«

Sabine fuhr den Milchpfad hinauf, wendete ihr Auto auf der Wiese hinter der Almhütte und ließ Burghilde aussteigen.

»Danke, Bine!«

»Gern geschehen!«

Die Freundinnen verabschiedeten sich. Burghilde lief los, und Sabine fuhr zurück ins Dorf.

*

Ein Cabrio fuhr auf den Hof und hielt vor dem schönen alten Bauernhaus des Schönwander-Hofes.

Gustl, seine Frau Irina und seine Eltern saßen in der Küche. Die Kinder schliefen schon. Sie warteten auf Matze. Der hatte angerufen, dass er später kommen würde.

»Gustl, wer ist das? Schau, Gustl, das Auto hat eine Berliner Autonummer«, bemerkte Gustls Vater.

»Wer des ist? Des werde ich doch mal gleich feststellen.«

Gustl stand auf und ging hinaus. Irina folgte ihm.

Der Fahrer stieg aus. Die beiden musterten ihn von Kopf bis Fuß. Er trug teure Designerkleidung und Schuhe aus Italien. Der schwarzhaarige Mann schob die Sonnenbrille in sein gegeltes Haar.

»Guten Abend! Bin ich hier richtig auf dem Schönwander-Hof?«

Irina und ihr Mann Gustl warfen sich Blicke zu. Gustl legte seinen Arm um die Schultern seiner Frau.

»Des heißt ›Grüß Gott‹ bei uns! Bist wohl ein Preiß, wie?«

»Ja, ich komme aus Berlin. Ich hoffe, es stört Sie nicht allzu sehr. Die Feindschaft mit den Preußen liegt geschichtlich doch schon weit zurück und dürfte sogar hier der Toleranz gewichen sein.«

»So, meinst! Was du net sagen tust! Des kommt ganz darauf an, was du willst.«

»Man hat mir den Weg hierher beschrieben. Ist das nun der Schönwander-Hof oder nicht? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir Auskunft geben würden.«

Er siezte die beiden, und Gustl blieb beim Du.

»Des ist schon gut möglich, dass des hier der Schönwander-Hof ist. Aber wir geben Fremden gegenüber, die wir net kennen, net einfach so Auskunft. Du musst uns schon sagen, was du auf dem Hof willst?«

»Ich habe auf der Hauptstraße angehalten und eigentlich einen Hof gesucht, auf dem eine Sabine wohnt. Sie ist eine Freundin meiner Partnerin.«

»Da gibt es einige Höfe, die ein Madl haben, des so heißen tut.«

»Ja, das habe ich gehört. Ich suche eine Sabine, die vor Jahren mit einer Burghilde Luckner, die auch hier aus Waldkogel stammt, befreundet ist. Man gab mir die Auskunft, dass ich diese Burghilde hier bei Ihnen finden würde.«

Gustl und Irina schauten sich an. Irina stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihrem Mann etwas ins Ohr. Dieser schaute sie an.

»Wenn du denkst, du musst des machen, dann mache es, Irina!«

Irina lächelte den Fremden an.

»Ja, das ist hier der SchönwanderHof. Das ist mein Mann Gustl Schönwander, und ich bin die Irina.«

»Jochen Wuttke, ich bin aus Berlin. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt!«

Irina reichte Jochen die Hand. Dann drehte sie seine Hand um, hielt sie fest und betrachte sie. Ihr genügte ein Blick.

»Gustl, von dem geht keine Gefahr aus!«, rief sie ihrem Mann zu.

Sie ließ Jochens Hand los.

Gustl rieb sich das Kinn.

»Also, wenn du die Burgl suchst, dann kommst vergeblich. Des Madl ist nicht hier.«

»Wo ist sie? Ich muss unbedingt mir ihr reden!«

»So, meinst, du musst. Was net sagen tust? Was meinst, Irina?«

»Die Burgl ist oben auf der Berghütte. Ich denke, sie ist morgen wieder hier. Dann kannst du noch einmal vorbeischauen. Wir werden der Burgl sagen, dass du nach ihr gefragt hast«, lächelte Irina.

Jochen hob abwehrend die Hände.

»Danke, das ist nicht nötig! Sagen Sie ihr nicht, dass ich sie gesucht habe. Ich möchte Burgl überraschen!«

Irina schmunzelte. Jochen errötete tief. Kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

»Ja, des war dann wohl alles, oder?«, fragte Gustl.

»Ja, ja! Vielen Dank für die Auskunft! Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend! Auf Wiedersehen!«

Gustl nickte Jochen nur zu und schwieg. Dieser beeilte sich in sein Auto zu steigen und fuhr davon.

»Des ist ein Hallodri! Dem sieht man doch fünf Meilen gegen den Wind an, dass er es net ehrlich meint.«

Gustl und Irina gingen ins Haus.

»Und wer war es?«, fragte die alte Bäuerin.

»Wie wir schon vermutet haben, des war der Jochen aus Berlin, der Lump, der der Burgl solchen Kummer bereitet hat, wie die Sabine dem Matze erzählt hat.«

»Des arme Madl«, seufzte die alte Bäuerin. »Wie schlecht muss sich die Burgl fühlen! Ganz Waldkogel weiß über sie und den Verflossenen Bescheid.«

»Frau, mache dir net so viel Gedanken! Es wird viel geredet, bis der Tag lang ist. Ich gebe nix darauf. Was wirklich in Berlin vorgefallen ist, wissen wir erst genau, wenn es uns die Burgl selbst erzählt. Vielleicht söhnen sich die beiden wieder aus? Es kommt in der besten Beziehung schon mal etwas vor.«

»Des sagst du so leicht daher, Vater. Die Burgl scheint mit den Burschen kein glückliches Händchen zu haben. Sie verlässt den Jochen, flüchtet nach Waldkogel, wird hier vom Hannes sehr bedrängt, so sehr in die Enge getrieben, dass der Matze sie retten muss. Mei, des ist ja spannender als im Film!«

Irina lächelte ihren Mann an.

»Dann warten wir, wie der Film ausgeht!«, sagte sie leise.

»Willst uns net eine kleine Andeutung machen, Irina?«

Irina stemmte ihre Arme in die Seite und sah ihren Mann an.

»Gustl, du gibst jetzt Ruhe. Ich lasse mich net ausfragen. Ich hab’ schon genug gesagt.«

Sie drehte sich um und verließ die große Wohnküche des Schönwander Hofes.

»Ich schaue, ob die Kinder zugedeckt sind und schön schlafen«, sagte sie leise.

*

Die Berghütte lag schon im Dämmerlicht, als Burghilde ankam.

»Grüß Gott, Toni! Hallo, Anna! Gott zum Gruß, Alois!«

»Burgl, dass du hier raufkommst? Die Bine ist nimmer hier, wenn du die suchst!«

»Ich weiß. Die Sabine ist unten im Dorf. Wir haben uns getroffen. Sie hat mich zur Oberländer Alm heraufgefahren. Ich bin gekommen, weil ich hier oben …, ach, Toni …«

»Wir verstehen, Burgl! Die Sache mit dem Hannes hat ganz schön Staub aufgewirbelt. Da bist die nächsten Tage bei uns hier bestimmt besser aufgehoben als drunten in Waldkogel. Da kannst sicher an niemanden auf der Straße vorbeigehen, ohne dass du angesprochen wirst. Mei, des ist auch eine dumme Geschichte mit dem Hannes!«

»Reden wir nicht mehr davon, Toni! Doch du hast Recht. Hier bei euch auf der Berghütte habe ich bestimmt mehr Ruhe, da kann ich über alles nachdenken.«

Burgl schaute sich um. Toni schmunzelte.

»Ist noch ziemlich voll. Der Hüttenabend gestern war ziemlich feucht fröhlich. Viele der Hüttengäste haben lange geschlafen und sind deshalb jetzt noch auf. Ich hoffe, du findest ein Plätzchen. Hast Hunger? Soll dir die Anna eine Pfanne mit Rösti bringen oder willst lieber eine Teller vom Alois seinem guten Eintopf?«

Erst jetzt bemerkte Burgl, wie hungrig sie war.

»Eintopf! Kann ich ihn in der Küche essen?«

»Sicher kannst des!«

Bald darauf saß Burgl am Küchentisch in der Berghütte. Toni und Anna schauten sie an.

»Schmeckt es dir?«

»Ja, es schmeckt sehr gut! Wirklich köstlich!«

Burgl räusperte sich.

»Toni, kannst du mir einen Biwakschlafsack leihen? Ich muss noch mal fort!«

»Jetzt? Um diese Uhrzeit? Wo willst hin? Burgl, es ist rappendunkel draußen!«

»Toni, ich bin hier in den Bergen aufgewachsen! Ich bin gestern Abend zum ›Erkerchen‹, um nachzudenken. Aber Hannes hat mich gestört. Du wirst mich nicht davon abhalten können, hinzugehen. Toni, ich kenne den Weg. Die Berghütte ist wunderschön. Du bist ein guter und fürsorglicher Hüttenwirt. Aber ich will – ich muss jetzt alleine sein.«

Toni rieb sich das Kinn. Er warf Anna einen Blick zu.

»Toni, hole du für Burgl einen Biwaksack und eine Matte. Ich richte ihr Proviant.«

»Danke, Anna!«, sagte Burgl leise.

»Du kannst den Bello mitnehmen, wenn du willst!«

»Ach, Toni, du bist herzig! Ich komme schon alleine klar.«

»Toni, sorge dich nicht um Burgl. Sie weiß schon, was sie tut.«

»Wenn du meinst, Anna! Net, dass ihr was passiert.«

Anna trat zu Toni. Sie streichelte ihm die Wange. Toni lächelte. Er gab Anna einen Kuss. Dann ging er hinaus, den Rucksack holen.

»Dann wünschen wir dir, dass die heutige Nacht besser wird als die ges­trige«, sagte Toni zu Burgl zum Abschied.

Burghilde schaute hinauf in die Sterne.

»Heute Nacht ist es genauso mondhell und sternenklar wie gestern. Ich kann euch gar nicht oft genug sagen, wie ich die Sterne hier über Waldkogel vermisst habe. Ich saß beim ›Erkerchen‹ und genoss den Anblick wie ein Kind den Weihnachtsbaum. Es war herrlich, so wunderbar, bis mich Hannes störte. Deshalb will ich heute weitermachen. Es sind meine Heimatsterne, es ist der heimatliche Nachthimmel über Waldkogel. Der Anblick macht so ein gutes inneres Gefühl. Es ist so wohltuend.«

»Des verstehen wir, Burgl! Der Anblick der Sterne ist schon schön, aber mit einem Liebsten sind sie noch schöner.«

»Toni, man kann im Leben vielleicht nicht alles haben. Ich bin zufrieden, einfach nur wieder in der Heimat zu sein. Gute Nacht!«

»Dir auch eine gute Nacht unter den Sternen! Vielleicht kommt für dich auch mal der Tag, an dem du die Nacht mit dem Burschen deines Herzens unter den Sternen verbringst.«

»Möglich, Toni! ›Man soll die Hoffnung nie aufgeben‹, sagt man.«

Burghilde stapfte über das Geröllfeld. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Außerdem war es nicht stockdunkel, sondern eine wunderschöne mondhelle Nacht.

*

Burgl erreichte das »Erkerchen«. Sie streifte den Rucksack von den Schultern. Dann breitete sie auf der Bank die schmale Isoliermatte aus. Sie rollte den Schlafsack darauf aus. Ihren Rucksack benutzte sie als Kopfstütze. Burgl legte sich darauf. Es war mild, und sie fror nicht. Sie schaltete die Stirnlampe aus und legte sie neben die Bank auf den Boden. Sie seufzte tief. Endlich alleine, dachte sie.

Während sie so dalag und in die Sterne sah, überdachte sie die Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren. Burghilde war ehrlich zu sich selbst. Hannes unziemliches Benehmen war sicher für ihn peinlicher als für sie. Außerdem war es noch einmal gut ausgegangen. Sie war sich be­wusst, dass sie das Matze zu verdanken hatte.

Sie dachte an ihn. Es war ihr peinlich, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte. Matthäus Schönwander, der stille und fleißige Mitschüler, mit dem Burgl in dieselbe Klasse gegangen war. Er hat sich wie ein Ehrenmann benommen, stellte Burgl fest. Ja, er war ritterlich, wie ein Bursche nur ritterlich sein konnte. Burgl dachte weiter über ihn nach. Sie gestand sich ein, dass er ihr gefiel. Kam es nur daher, dass er sie vor Hannes gerettet hatte? Würde er mir auch gefallen, wenn er mich nicht vor Hannes weiteren Zudringlichkeiten bewahrt hätte? Sind meine Gefühle nur Dankbarkeit oder ist es mehr? Kann ich mir meiner Gefühle sicher sein? Morgen ist erst eine Woche um, seit mich Sabine in Berlin besucht hat. Somit sind es noch keine sieben Tage, dass mich die Erkenntnis über Jochen aus der Bahn geworfen hat. Kann man sich so schnell wieder verlieben? Oder habe ich nur Angst vor dem Alleinsein und hatte ich gestern Angst vor Hannes? Habe ich mich nur deshalb in die Arme von Matze geflüchtet?

Burgl prüfte ihr Herz genau. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie keine endgültige befriedigende Antwort auf ihre Fragen finden würde. Jede Antwort, die Burgl logisch und erschöpfend vorkam, zog neue Fragen nach sich. Dabei wuchs die Sehnsucht nach Matthäus in ihrem Herzen.

Vielleicht gibt es doch die Liebe auf den ersten Blick, dachte sie.

Burgl erinnerte sich, wie sie im Morgenlicht in seinem Arm aufgewacht war und wie er sie angesehen hatte. Und Burgl erinnerte sich, wie es damals in Berlin mit Jochen gewesen war.

Ich habe Jochen nicht wirklich geliebt, wurde ihr plötzlich klar. Wie war es dazu gekommen, dass sie ein Paar wurden? Mit dem jetzt ihr zur Verfügung stehenden zeitlichen, räum­lichen und auch gefühlsmäßigen Abstand, erinnerte sich Burgl.

Jochen war ein begehrter erfolgreicher Junggeselle gewesen, dem die jungen Frauen nur so nachliefen. Er hatte an jedem Finger eine oder sogar mehrere. Jede wusste, dass sie nicht die einzige war. Doch alle standen im Wettstreit um seine Gunst. Ihre Mitbewohnerin aus der Studentenwohnung war mit Jochen zusammen. Sie gab eine Geburtstagparty. Auf dieser Fete lernte Burgl Jochen kennen. Er interessierte sich für Burgl. Burgl war geschmeichelt, als Jochen nur noch mit ihr ausging und sie sich näher kamen. Es war Jochen, der vorgeschlagen hatte, dass sie zusammenziehen. Das war etwas gewesen, was er vorher keiner Frau angeboten hatte. Bald darauf zogen sich seine anderen Verehrerinnen beleidigt und enttäuscht zurück. Burgl gab sich der trügerischen Hoffnung hin, dass Jochen monogam geworden wäre, besonders, nachdem sie bald zusammen diese Eigentumswohnung gekauft hatten.

Es war ein Irrtum, dachte Burgl! Ich habe mich selbst betrogen! Im Grunde passt die Sache zu Jochen. Er will der Stargockel sein, inmitten einer Schar von Hennen. Aber alles soll unverbindlich sein und bleiben. Nur keine Bindung, keine Verpflichtung! Im Grunde hat Jochen mir nie etwas versprochen. Er versprach mir nie die Ehe. Somit hat er mich nie belogen. Ich habe mich selbst betrogen, dachte Burgl. Doch warum hatte er dann nach einer Partnerin auf den Seiten dieser Partnervermittlung im Internet gesucht? Also, geht es doch gegen mich. Er ist so ein Schönling! Wenn er gewollt hätte, hätte er doch auch so jemanden finden können.

Ein seltsames Geräusch drang an Burghildes Ohr. Sie setzte sich auf und lauschte. Das Geräusch kannte sie doch. Es klang wie das Geklimper von Jochens großem Schlüsselbund. Es war ein größerer Karabinerhaken, an dem die vielen Schlüssel der Bauwagen zusammengefasst waren. Auf jeder Großbaustellte gab es einen Bauwagen, in dem die Bauleitung untergebracht war. Zu allen hatte Jochen einen Schlüssel. Den Schlüsselbund mit allen Schlüsseln trug er immer in der Hosentasche mit sich he­rum. Es gehört zu Jochens Eigenarten, dass er mit ihm spielte. Er klimperte so mit dem Schlüsselbund, wenn er nervös war.

Burghilde sprang auf. Sie zog schnell ihr Stirnband auf und schaltete die Lampe ein. Ihr Herz raste, als sie weiter lauschte. Das Geräusch kam näher. Es kam nicht aus der Richtung des Pfades von der Berghütte zum »Erkerchen«, sondern aus der anderen Richtung. Dann sah sie einen Lichtschein auf dem Teil des Pfades, der zum »Pilgerweg« führte.

Burgl erkannte Jochen sofort.

»Jochen!«, sagte sie laut und deutlich.

Der Schein einer Stablampe traf sie ins Gesicht.

»Du blendest mich!«

Abwehrend hob Burgl eine Hand vor die Augen.

»Du? Hier? Wieso bist du nicht auf der Berghütte?

»Wer hat dir gesagt, dass ich auf der Berghütte bin? Ach, ist auch egal! Sage mir lieber, was du hier willst! Und blende mich nicht weiter!«

»Ich suche dich!«

»Mich? Was willst du? Hat dir Esther nicht gesagt, dass …«

»Burgl! Burgl! Mich interessiert nicht, was Esther mir von dir übermittelt. Es geht nicht um die Hälfte des Geldes, das du aus dem Verkauf der Wohnung bekommen hast. Das Geld interessiert mich nicht.«

»Was willst du damit sagen?

»Kannst du nicht diese Stirnlampe ausmachen? Sie blendet mich!«

Burgl zog das Stirnband ab und schaltete die Lampe aus.

»Danke! Können wir uns setzen? Ich habe dir etwas zu sagen.«

Wortlos ging Burgl zur Bank, schob die Matte mit dem Schlafsack zur Seite und setzte sich. Die zusammengerollte Isomatte mit dem Schlafsack legte Burgl so auf die Bank, dass sich eine Barriere zwischen ihr und Jochen ergab. Er setzte sich.

»Ich höre!«, sagte Burghilde knapp.

Burghildes Stimme klang hart und abweisend. Jochen räusperte sich.

»Höre mir zu, bis ich zu Ende bin. Also, ich bin gekommen, weil ich dich zurückhaben möchte. Dazu will ich dir einen Vorschlag machen. Wir fangen noch einmal von vorne an. Ich bin bereit, alles zu vergessen und zu vergeben. Du hast die Wohnung verkauft, nun ja …, das war etwas überstürzt. Doch es ist nicht tragisch. Es gibt andere Wohnungen, bessere, schönere Wohnungen. Ich baue uns ein Haus. Sage, wie du es haben willst und ich mache die Pläne. Alles wird so sein, wie du es haben willst.«

Burghilde schwieg.

»Burgl, ich kann nicht mehr arbeiten, seit du fort bist. Ich kann nicht mehr essen. Ich schlafe nicht. Alles geht drunter und drüber. Komme zurück! Ich schwöre dir, ich werde dir niemals einen Vorwurf machen.«

Burghilde schwieg weiter.

»Burgl! Das kann doch nicht alles gewesen sein. Wegen so eines Miss­verständnisses soll alles aus sein zwischen uns? Warum hast du nicht mit mir gesprochen? Das war doch alles nur ein Scherz mit der Partnerseite im Internet. Wir waren alle daran beteiligt, das ganze Team im Büro. Es war einfach nur ein Scherz, ein dummer Scherz. Es war nur mein Bild darin, weil ich der Jüngste von uns bin und die allgemeine Meinung war, dass ich deshalb dafür eigne.«

Brunhilde schwieg noch immer.

»Ich soll mich auch im Namen der Kollegen bei dir entschuldigen. Sie sind sehr geknickt. Nie hätten sie damit gerechnet, dass so etwas passiert.«

Jochen schwieg.

»Bist du jetzt mit deiner Ansprache fertig?«

»So im Großen und Ganzen, ja! Was sagst du?«

»Nichts, ich sage dazu nichts. Oder nur soviel: Du kannst gehen!«

»Du schickst mich fort? Burghilde, ich habe den weiten Weg auf mich genommen. Es war ein beschwerlicher Weg. Ich kenne mich in den Bergen nicht aus. Ich will dir damit zeigen, wie wichtig du für mich bist.«

»Du hattest unser Hotel vorgeschlagen!«

»Ja, das stimmt. Ich war aber nicht alleine dort. Die Kollegen waren dabei. Wir waren alle neugierig auf diese Frau, diese Eva. Sie schrieb ein paar Mails, schickte einige SMS, kam dann doch nicht. Wir haben bis Sonntagabend gewartet.«

Jochen räusperte sich wieder.

»Am Montag wurde uns dann alles klar, als die Spedition meine Sachen in die Firma lieferte mit den Computerausdrucken dabei. Ich habe sofort deine Freundin Esther angerufen und bin hingefahren. Ich war mit allen Kollegen dort. Esther hat uns dann von Sabine erzählt. Es war dumm von uns. Es tut uns leid. Bitte, Burgl, glaube mir! Wenn ich irgendetwas tun könnte, damit ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich würde es tun.«

»Du redest Unsinn, Jochen! Ich gebe dir deine Hälfte des Geldes zurück. Wenn ich deine Ehefrau gewesen wäre, würde mir etwas zustehen als Entschädigung, eine Art Schmerzensgeld, denke ich mir. Aber lassen wir das! Jochen, es ist vorbei!«

»Burgl, ich verstehe, dass du verärgert bist! Du bist in deinem Stolz verletzt. Du fühltest dich hintergangen, betrogen. Glaube mir, das war alles nicht so gemeint. Ruf die Kollegen im Büro an. Sie werden es dir bestätigen!«

Er hielt ihr sein Handy hin.

»Mache dich nicht noch lächerlicher, Jochen. Du steckst doch mit ihnen unter einer Decke. Es ist vorbei, es ist aus mit uns!«

Das Gespräch ging weiter und weiter. Sie drehten sich im Kreis. Jochen versuchte Burghilde zu überreden, es wenigstens noch einmal einige Monate zu versuchen. Er bot ihr eine Art gemeinsame Probezeit an.

»Ich habe ein Haus gemietet. Es wird dir gefallen. Es ist sehr romantisch. Es ist ein altes renoviertes Fachwerkhaus außerhalb von Berlin. Es hat einen großen Garten und wenn du willst, dann kannst du auch einen Hund haben. Ich habe der Sekretärin im Büro schon den Auftrag gegeben, eine Liste mit Hundezüchtern zusammenzustellen.«

Burgl seufzte.

»Jochen, sei einen Augenblick still. Ich kann dir nicht mehr zuhören.«

Jochen schwieg. Burgl stand auf. Jochen stand auf.

»Setze dich hin!«

Jochen nahm gehorsam wieder Platz.

Burgl trat an das Geländer. Weit unten im Tal waren die Lichter von Waldkogel zu erkennen. Die Lichter der Berghütte waren auch als kleine helle Punkte zu erkennen.

Plötzlich schallte das Geräusch eines Hubschraubers durch die Nacht.

»Was ist das?«, fragte Jochen.

Er trat neben Burghilde ans Geländer.

Sie sahen, wie der Hubschrauber näherkam. Auf halber Strecke zwischen Dorf und der Berghütte landete er kurz. Dann flog er weiter. Im senkrechten Licht des Suchscheinwerfers landete er schließlich auf dem Geröllfeld der Berghütte. Er blieb aber dort nicht lange. Es verging keine Minute, dann hob er wieder ab und flog in Richtung Kirchwalden davon.

»Das kann eigentlich nur ein Helikopter der Bergwacht gewesen sein. Entweder ist etwas passiert oder sie machen einen nächtlichen Übungsflug. Wundern tut es mich schon«, sagte Burgl leise vor sich hin.

»Mache dir keine Gedanken, es wird dafür schon eine logische Erklärung geben. Wenn wir später zur Berghütte kommen, wirst du es erfahren.«

Burghilde atmete tief durch.

»Jochen, wir kommen später nicht zur Berghütte. Ich wollte heute Nacht hier am Berg biwakieren. Und das werde ich auch tun, und du wirst gehen. Es gibt nichts mehr zu sagen, Jochen. Es ist vorbei mit uns! Du hast den Bogen überspannt.«

»Burgl, das sagst du doch nur, weil du dich so über mich geärgert hast. Ich verstehe dich ja. Denke doch noch einmal darüber nach. Es gibt immer mal Missverständnisse zwischen Menschen, die eine Beziehung haben. Es ist eine ganz dumme Geschichte. Du hättest von dem Scherz nie erfahren, wenn sich hinter dieser Eva nicht zufällig deine Freundin Sabine mit ihren Kolleginnen versteckt hätte. Das war einfach Pech. Auf beiden Seiten war es ein schlechter Scherz.«

»Nenne es, wie du willst. Bei mir hat dieser Scherz einen Erdrutsch ausgelöst. Ich habe dadurch viel gelernt, vor allem über mich selbst. Es war eine äußerst schmerzhafte Lek­tion. Doch nun habe ich hier in Waldkogel einen neuen Anfang gemacht. Ich beginne ein neues Leben. Darin ist für dich kein Platz. Das ist mein letztes Wort, Jochen. Jetzt gehe! Wenn du den Pfad weitergehst, kommst du zur Berghütte. Sei vorsichtig. An einigen Stellen ist der Weg sehr eng. Du hast eine Stablampe, und ich gebe dir meine Stirnlampe dazu. Hier nimm!«

»Nein! Ich gehe nicht zurück. Ich bleibe hier!«

Jochen setzte sich wieder auf die Bank. Er verschränkte die Arme und legte ein Bein über das andere.

So ein sturer Bock, dachte Burghilde. Und egoistisch und verlogen, dass sich die Balken biegen. Ich muss dem Himmel dankbar sein, dass er mir die Augen geöffnet hat. Burgl blieb am Geländer stehen. Sie schwieg.

Hundegebell schallte durch die Nacht.

»Bello, ruhig! Aus!«, drang eine Stimme zum »Erkerchen« vor.

»Toni, bist du das?«, rief Burgl.

»Ja, wir sind es!«

Wenige Augenblicke kam Toni, der Bello an der Leine führte, heran. In seiner Begleitung war Matthäus Schönwander.

»Toni, Matze, was macht ihr hier? Was war auf der Berghütte los? Das war doch ein Hubschrauber der Bergwacht, stimmt es?

»Scharf beobachtet, Burgl«, antwortete Matthäus. »Das war der Leonhard, mein Chef, und gleichzeitig auch Freund. Ich habe ihn angerufen, weil ich so schnell es ging zu dir wollte. Von Gustl und Irina hatte ich erfahren, dass Jochen in Waldkogel ist und er weiß, dass du auf der Berghütte bist. Ist alles in Ordnung?«

Er trat neben Burgl, streichelte ihr die Wange und legte den Arm um sie.

»Ja, es ist alles in Ordnung. Hast du gedacht, du müsstest mich wieder retten?«

»Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig!«

»Du bist mir ein ganz Lieber und Fürsorglicher, mein lieber Matze.«

»Burgl, wer ist das?«

Jochens Stimme klang sehr scharf.

»Matze, das ist Jochen! Jochen, das ist Matthäus Schönwander, auch Matze gerufen.«

»Er scheint ja sehr besorgt um dich zu sein! Kannst du mir das erklären? Du hast eine Unterkunft auf dem Schönwander-Hof, und jetzt taucht er noch auf. Vielleicht wirst du mir das erklären? Scheint am Ende schon länger mit euch zu gehen, wie?«

In jedem Wort von Jochen klang seine Eifersucht heraus.

»Nein, Jochen, so wie du dir es vorstellst, ist es nicht. Obwohl es dich nichts angeht, gebe ich dir Auskunft. Es geht noch nicht länger mit uns, obwohl wir uns schon lange kennen. Aber es kann durchaus sein, dass es länger mit uns geht!«

»Mei, Burgl, des höre ich gern. Ja, ich hoffe auch, dass es länger mit uns geht, ein ganzes langes Leben kann es dauern«, rief Matthäus begeistert aus.

»Will dieser Kerl damit sagen, dass er dich liebt?«, zischte Jochen.

»Das geht dich nichts an, Jochen. Du bist hier aufgetaucht, hast rumgefaselt. Das Wort ›Liebe‹ kam dir dabei nicht über die Lippen!«

»Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich bereit bin, alles zu tun. Das ist doch Liebe pur.«

»Nein, Jochen, aus jedem Wort, das aus deinem Mund kam, sprach Egoismus. Dir geht es nicht um mich, nicht um Liebe. Dich motiviert nur deine verletzte Eitelkeit. Dir geht es zu beweisen, dass du mich wieder bekommen kannst, dass ich nach deiner Pfeife tanze, Jochen. Das tue ich nie wieder! Toni geht bestimmt zurück zur Berghütte. Du kannst mit ihm gehen! Ich sage nicht ›Auf Wiedersehen‹, Jochen, denn ich will dich nie, nie wiedersehen.«

»Aufi, wir gehen! Nimm deine Sachen! Es ist spät, und ich will auch meinen Feierabend. Morgen ist bei Sonnenaufgang die Nacht um. Als Hüttenwirt muss ich früh aufstehen.«

»Burgl, du hast mich völlig miss­verstanden«, versuchte es Jochen noch einmal.

»Himmelsakrament!«, donnerte Toni los.

»Hast net gehört, was die Burgl gesagt hat? Du sollst mit mir kommen. Des würde ich dir auch empfehlen, sonst kann es leicht passieren, dass der Matze dir eine Abreibung gibt, wie dem Burschen, der ges­tern in der Nacht die Burgl belästigt hat. Der Bursche liegt jetzt bei unserem Doktor in einem Krankenbett. Ich rat dir dringend mitzukommen. Außerdem ist der Matze heute nicht alleine. Ich bin auch hier. Da kannst dir selbst ausrechnen, wie des ausgehen wird, wenn du weiterhin versuchst, hier zu bleiben.«

Toni drehte sich in Burgls Richtung.

»Burgl, halte bitte den Bello fest, bis wir mit dem Heini hier fertig sind.«

Toni übergab Burgl die Hundeleine.

»Ihr meint es ernst? Das ist kein Scherz, oder? Würdet ihr wirklich handgreiflich werden?«

»Matze, wir sollten den Burschen aufklären. Der weiß net, dass es hier in den Bergen ein ungeschriebenes Gesetz und eine Ehrensache für jeden ist, einem bedrängten Madl zu helfen. Das war schon immer so. Matze und ich werden mit diesem Brauch nicht brechen«, drohte Toni.

»Nach dem ersten Fausthieb wird er es schon begreifen, Toni. Wer fängt an, du oder ich?«

»Du solltest mit ihm anfangen, Matze. Die Burgl ist dein Madl!«

»Stop!«, schrie Jochen. »Ich gehe mit. Vorher habe ich noch eine einzige Frage an Burghilde.«

»Beeile dich, mir kribbeln schon die Fäuste!«, drohte Toni.

»Burgl, sage mir, liebst du diesen Mann?«

Burgl schaute Matze im Mondschein in die Augen.

Ihr Herz fing schneller an zu schlagen.

»Ja, Jochen, ich liebe ihn!«

Jochen ergriff seinen Rucksack, nahm seine Stablampe und ging davon. Toni eilte mit Bello hinterher.

*

Es war ganz still. Burgl und Matthäus sahen sich an.

»Du liebst mich, Burgl?«

»Ja, Matze, ich liebe dich! Es ging so schnell. Ich kann es selbst noch nicht ganz begreifen. Aber es ist so, ich liebe dich! Es ist, als sei mein Herz heimgekommen. Anders kann ich es dir nicht sagen.«

»Ich liebe dich, Burgl!«

Matthäus nahm sie in die Arme. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, einem sehr langen innigen Kuss.

»Es ist ein Wunder, Matze! Ich begreife es nicht, wie das so schnell mit uns geschehen konnte.«

»Es ist das Wunder der Liebe! Wunder kann man nicht mit dem Verstand erfassen. Wunder kann man nur mit dem Herzen erfahren. Du hattest immer Heimweh nach Waldkogel, weil dein Herz gespürt hat, dass hier ein anderes Herz ist, das dich sucht, ein Herz das auf dich wartet. Ich liebe dich so, Burgl. Ich bin fast verrückt geworden vor Sorge um dich, als mir Gustl und Irina erzählten, dass Jochen auf dem Hof war und dich gesucht hat. Ich muss ihn nur um Minuten verfehlt haben. Ich bin gleich los und habe ihn gesucht. Zuerst bin ich zur Oberländer Alm hinaufgefahren. Da war aber kein Auto mit einem Berliner Autokennzeichen. Dann habe ich im Hotel ›Zum Ochsen‹, nach ihm gefragt, und ich war bei Tonis Eltern. Vielleicht ist er in der Pension abgestiegen, dachte ich.

Aber dort war er auch nicht. Ich war verzweifelt. So habe ich mit Leonhard telefoniert. Er setzte kurzfristig einen nächtlichen Übungsflug an. Er nahm mich außerhalb auf einer Almwiese an Bord des Hubschraubers und flog mich zur Berghütte.«

»Oh, Matze! Welch eine romantische Geschichte! Wir werden sie eines Tages unseren Kindern erzählen. In den Märchen kommt der Prinz auf einem fliegenden Drachen und rettet die Prinzessin. Du bist mit dem Rettungshubschrauber der Bergwacht gekommen.«

Matthäus lachte.

»Was lachst du?«

»Unsere Kinder werden vielleicht auch lachen. Sie werden sagen, dass ich ganz schön Wirbel gemacht habe. Dabei hätte ich Tante Irina nur glauben sollen.«

»Was hat Irina gesagt?«

»Sie sah in deiner Hand, dass wir ein Paar werden, und sie sah in Jochens Hand, dass du niemals die seine wirst und auch keine Gefahr für dich von ihm ausgeht.«

»Oh! Das heißt wohl, dass ich mich darauf einstellen muss, dass Irina wirklich vieles sehen und aus der Hand lesen kann? Oh, das kann kompliziert werden im Alltag, denke ich. Ich werde mir viele Handschuhe zulegen. Ich will nicht, dass Irina so viel aus meinen Händen liest.«

»Das wirst du nicht immer verhindern können, Burgl. Ich habe mich daran gewöhnt und Gustl und die Eltern ebenso. Es kann auch ganz praktisch sein. Heute zum Beispiel war es sehr praktisch. Ich wusste nicht genau, ob es sinnvoll war, einkaufen zu gehen. Ich stand in Kirchwalden vor einem Laden und fragte mich, ob ich hineingehen oder mit dem Einkauf warten soll. Da rief ich Irina an.«

»Und?«

»Ich ging in den Laden! Ich habe eingekauft. Deshalb kam ich so spät nach Hause.«

Matthäus griff in die Hosentasche. Er holte eine kleine herzförmige Schachtel hervor, öffnete sie und hielt sie Burgl hin.

»Ich hoffe, sie gefallen dir! Unsere Namen habe ich schon eingravieren lassen. Ich dachte, solch ein schlichtes Modell wird dir gefallen.«

»Oh, Matze!«

Burgl starrte die Ringe an. Matthäus Schönwander nahm den kleineren der Ringe heraus.

»Burgl, ich liebe dich! Willst du meine Frau werden?«

»Ja, ich will deine Frau werden.«

Er steckte ihr den Ring an den Finger. Dann streifte Burgl den größeren Ring Matthäus über den Finger.

»Ich liebe dich, Matze!«

»Ich liebe dich, Burgl!«

Sie küssten sich zärtlich und voller Hingabe.

Ein jeder spürte darin die tiefe Liebe des anderen. Die Gefühle in ihren Herzen verschmolzen.

»Bleiben wir die Nacht hier beim ›Erkerchen‹, Burgl? Oder willst du zur Berghütte zurück?«

Sie schaute ihm tief in die Augen. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals.

»Matze, wie ist das mit dem ›Fens­terln‹? Hier gibt es keine Fenster und keine Leiter. Als ein Madl aus den Bergen ist es mein Recht, auf diesem Brauch zu bestehen! Ich weiß auch nicht, ob die Berghütte der geeignete Ort ist. Etwas einsamer wäre es mir schon lieber, verstehst du?«

Matze strahlte Burgl an. Er küsste sie.

»Was dein Recht ist, sollst du auch bekommen. Ich halte es sehr mit der Tradition.«

Sie packten Isomatte und den Schlafsack zusammen.

»Dann lasse dich überraschen, Burgl. Ich habe eine Idee. Es gibt ein Fenster dort und eine hohe Leiter.«

Hand in Hand wanderten sie durch die Nacht.

Matthäus brachte Burgl zu einer Waldlichtung. Dort am Rand stand ein Hochsitz, der rundum geschlossen war und an einer Seite ein Fens­ter hatte. Eine lange Leiter führte nach oben.

»Wie romantisch, Matze! Ich wuss­te nicht, dass es hier so einen Hochsitz gibt.«

»Der steht auch noch nicht so lange. Ein Fernsehteam hat ihn gebaut. Sie hatten eine Dokumentation über Rotwild gedreht. Damit das Summen der Kameras die Tiere nicht verscheucht, wurde der Hochsitz rund herum abgedichtet.«

»Genau richtig für Liebespaare!«, flüsterte Burgl.

»Du wirst staunen, wie komfortabel der Hochsitz ist«, sagte Matthäus.

Als die Sonne über den Bergen aufging, lagen sie engumschlungen beieinander.

»Burgl, ich muss dir etwas sagen. Ich denke, ich sollte es dir nicht verschweigen. Es hat etwas mit Irina zu tun.«

»Pst! Still! Ich will es nicht hören! Ich kann mir denken, was es ist?«

»Kannst du hellsehen?«

»Nein! Aber ich liebe dich. Du, ich wünsche mir mit dir viele Kinder der Liebe! Dazu benötige ich nicht Irinas Kunst des Handlesens. Ich gestehe dir, dass mich Irinas Fähigkeiten nicht so ganz überzeugen. Vielleicht ist sie nur eine gute Menschenkennerin und kann Situationen besser abwägen und einschätzen als die meis­ten Menschen. Doch denken wir jetzt nicht an Irina.«

Sie küssten sich heiß und innig.

*

Matthäus und sein Bruder beschlossen, den Schönwander-Hof zu vergrößern. Sie bauten das Dach des Wohnhauses aus, und das Altenteil wurde auch zu einem richtigen großen Wohnhaus umgebaut. Die Großeltern zogen nach dem Umbau dort ein. Unter dem Dach des Wohnhauses lagen die Kinderzimmer von Gustls und Irinas Kindern und weitere Zimmer. Die ganze Etage sollte in Zukunft den Kindern gehören, ihren und den Kindern von Matthäus und Burgl.

»So werden sie zusammen aufwachsen. Wir werden eine große Familie sein«, verkündete Irina.

Nach der Vollendung der Umbaumaßnahmen heirateten Burghilde und Matthäus in der schönen Barockkirche von Waldkogel. Matthäus’ Kameraden von der Bergwacht waren alle Trauzeugen und standen vor der Kirche Spalier, als das Brautpaar nach der Trauung herauskam. Gefeiert wurde auf dem Schönwander-Hof. Sabine, Hannes und ihre Eltern waren auch gekommen. Burgl und Hannes hatten sich ausgesprochen, ebenso Matthäus und Hannes.

»Bist um die Burgl zu beneiden, Matze!«, sagte Hannes.

»Ich weiß! Hab’ noch ein bissel Geduld! Irgendwo gibt es auch für dich ein Madl. Wenn es Zeit ist, dann führt euch die Liebe zusammen.«

»Wenn du es sagst, Matthäus, dann muss es wohl stimmen«, sagte Hannes. »Dann muss ich mich in Geduld üben.«

»So ist es, Hannes, und wenn du mir nicht glaubst, dann frage deine Schwester Sabine. Schau sie dir an! Sie kennt den Verwaltungschef des Krankenhauses von Kirchwalden schon so viele Jahre, und erst jetzt haben die beide die Liebe entdeckt. Alles im Leben hat seine Zeit, Hannes! ›Der Mensch denkt und Gott lenkt‹, sagt man.«

»Ja, Matze, so ist es!«

»Das bedeutet aber nicht, dass du ruhig sitzen bleiben und die Hände in den Schoß legen kannst, Hannes. Es heißt auch: ›Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‹. Deshalb forderst du jetzt ein lediges Madl nach dem anderen zum Tanz auf. Und wer weiß, vielleicht passiert es?«

Es wurde bis in die Nacht gefeiert. Die Flitterwochen waren kurz. Matthäus und Burgl verbrachten eine Woche in Berlin. Burgl wollte Matze zeigen, wo sie all die Jahre gewohnt, gelebt und gearbeitet hatte.

»Mei, die Stadt ist schön und noch größer als München. Aber unser kleines idyllisches Waldkogel ist mir lieber, Burgl.«

»Das ist es mir auch. Waldkogel ist ein viel besserer Platz für Kinder.«

Sie schlossen sich in die Arme und küssten sich.

Burgl flüsterte Matthäus ins Ohr, dass sie schwanger sei.

»Mei, dann hatte die Irina doch mal wieder recht!«, lachte er.

Monate später bekamen die beiden einen Buben. Danach folgten im Abstand von zwei Jahren ein Mädchen und noch ein Junge. Sie waren sehr glücklich.

Burgl ging ganz in der Rolle der Mutter auf, der schönsten Aufgabe einer Frau.

Esther kam oft zu Besuch. Sie erzählte, dass Jochen ins Ausland gegangen sei.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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