Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 6
ОглавлениеToni hackte hinter der Berghütte Holz. Der alte Alois kam hinzu.
»Mei, Toni, bist schon sehr fleißig gewesen! Der Stapel reicht bis nächste Woche.«
Toni hielt einen Augenblick inne. Er trieb die Axt in den Holzklotz.
»Ja, wenn alles so einfach wäre, wie Holz zu hacken.«
»Mei, Toni, so kenne ich dich net! Kommst mir trübsinnig vor. Welche Laus ist dir über die Leber gekrabbelt?«
»Keine! Ich ärgere mich nur über mich selbst.« Toni dämpfte seine Stimme. »Alois, ich denke schon seit Tagen über etwas nach, aber mir fällt nix ein! Ich zermartere mir mein Hirn und überlege, was der Anna gefallen könnte.«
»Aha, dann suchst nach einen Geburtstagsgeschenk für sie! Da kann ich dich trösten. Ich denke auch schon seit Tagen darüber nach. Mir ist auch noch nix eingefallen. Ich hatte gehofft, du hättest eine Idee, schließlich bist du ja ihr Ehemann.«
Alois und Toni setzten sich etwas abseits auf das aufgeschichtete Holz.
»Naa, ich habe keine Idee! Ich wollte ihr etwas Besonderes schenken. Aber die Anna macht es mir auch schwer. Sie ist so lieb und so anspruchslos. Ich habe versucht, sie ein bisserl auszufragen, was ihr gefallen würde. Des ging daneben!«
»Und was hast du ihr vorgeschlagen?«
»Eine Reise! Wir könnten zum Beispiel nach Wien fahren und ins Theater gehen oder in die Oper oder in ein Musical.«
»Des ist doch eine gute Idee!«, bemerkte der alte Alois. »Ich würde derweil auf die Kinder und die Berghütte aufpassen!«
»Die Anna hat mich ausgelacht! Urlaub hat sie gesagt, des bräuchte sie net. Toni, sagte sie, wir leben dort, wo andere Urlaub machen.«
»Des stimmt, da kann ich der Anna net widersprechen.«
»Ich will ihr auch net widersprechen und freue mich, dass es ihr auf der Berghütte und bei mir so gut gefällt. Mei, Alois, ich bin dem Herrgott so dankbar für mein Glück. Die Anna, des ist des Beste, was mir jemals geschehen ist.«
»Des stimmt, Toni! Die Anna, die hat dir damals der Himmel geschickt und mir auch.«
Sie schauten sich an.
»Alois, dann habe ich an Schmuck gedacht. Aber die Anna trägt meistens das Kropfband mit dem Herzen als Anhänger und am Sonntag die feine Goldkette mit dem kleinen Kreuz. Sie trägt außer dem Ehering keinen Schmuck. Sie hat ein ganzes Schmuckkästchen voller Gold- und Silberketten, Armbändern und Ohrringen und Broschen. Des stammt alles aus der Zeit… du weißt schon... des ist aus der Zeit, als die Anna noch Bankerin war. Sie zieht davon nix an. Sie sagt, des macht ihr keine Freude. Ein Sträußchen Bergblumen, das sie ins Mieder stecken kann, das gefällt ihr besser.«
»Ja, ja, die Anna ist ein bescheidenes Frauenzimmer.«
»Ja, das ist sie! Weißt, für den Haushalt will ich ihr auch nix schenken. Es sollte schon ein persönliches Geschenk sein. Ich meine damit kein Geschenk für die Küche oder so ähnlich.«
»Vielleicht würde die Anna des aber freuen.«
»Naa, Alois! Ich will des net!«
»Ja, dann ist guter Rat teuer!«
»Du sagst es, Alois! Jedenfalls werde ich noch etwas Holz hacken und dabei nachdenken! Vielleicht fällt mir etwas ein.«
Der alte Alois holte seine Pfeife heraus und stopfte sie. Er zündete sie an, dass sie qualmte.
»Toni, ich habe einen Einfall, der dich vielleicht weiterbringt. Die Anna trifft sich doch regelmäßig mit deiner Schwester zu einem Bummel in Waldkogel. Rede doch mal mit der Maria. Vielleicht hat sie eine Idee!«
Toni hielt in seiner Arbeit inne.
»Des ist eine famose Idee, Alois! Die Ria kann mir vielleicht einen Hinweis geben. Ich muss die Tage eh nach Kirchwalden, verschiedene Behördengänge machen. Dann besuche ich meine Schwester. Außerdem will ich mit der Ria reden. Ich hoffe, sie ist inzwischen ihrem Mann nimmer böse. Die Ria kann recht nachtragend sein, Alois.«
»Ich weiß! Es war auch nicht richtig vom Rolf, seiner Frau seine
Weiterbildung zu verheimlichen. Da musste die arme Maria doch denken, er hat ein anderes Frauenzimmer, vor allem als die Maria ihren Rolf mit seiner Kollegin gesehen hat.«
»Mei, Alois! Der Rolf wollte die Ria überraschen! Und die Überraschung ist gelungen, wenn sie auch anders ausfiel, als er es sich vorgestellt hatte. Des muss ein riesiger Schreck für ihn gewesen sein, als er heimgekommen ist und seine Frau und die Kinder fort waren!«
»Ja, da hat er einen tüchtigen Schrecken bekommen. Des war Strafe genug, denke ich.«
»Aber die Ria war stocksauer und hat ihn ganz schön schmoren lassen. Jedenfalls hatte ich die Absicht, bei der nächsten Gelegenheit die beiden mal zu besuchen.«
»Des ist gut! Machst dir am besten eine Liste von dem Zeugs, von dem die Ria denkt, dass die Anna sich drüber freuen tut. Ich brauche auch noch ein Geschenk, Toni. Des kannst für mich dann gleich in Kirchwalden einkaufen.«
»Des mache ich, Alois. Aber noch ist es net so weit. Noch habe ich keinen blassen Dunst, mit was ich der Anna eine Freude machen könnte.«
»Wirst schon eine Idee bekommen und jetzt hörst auf mit dem Holzhacken oder willst alles klein machen? Dann muss der Weisgerber Albert früher neues Holz liefern. Der wird sich wundern, dass du schon alles weggeschafft hast.«
Toni sah ein, dass der Vorrat an gehacktem Holz groß genug war. So begann er die großen Holzscheite an der Rückwand der Berghütte aufzuschichten, dort wo der Schuppen unter dem großen Dach lag. Alois legte seine Pfeife zur Seite und packte mit an. Toni reichte ihm die Holzscheite, und Alois stapelte sie.
»Jetzt haben wir uns ein schönes Bier verdient, Alois. Meinst net auch?«, schlug Toni nach getaner Arbeit vor.
»Des kannst laut sagen, Toni! Und ich spende einen Schnaps, einen guten, einen meiner selbstgebrannten Obstler!«
»Musst bald wieder brennen, Alois! Es sind nimmer viele Flaschen davon da!«
»Ja, das habe ich auch gedacht! Vielleicht brenne ich nächste Woche einen Kartoffelschnaps. Ich werde es mir noch überlegen.«
Alois und Toni gingen in den Wirtsraum der Berghütte.
*
Susanne, Annas Freundin in Frankfurt, saß mit ihrem Mann Sven bei einem Glas Wein. Im Kamin des kleinen Einfamilienhauses brannte ein Feuer.
»Ich genieße es, wenn du abends daheim bist, Sven.«
»Nicht nur du, auch ich! Aber als Ingenieur bin ich eben viel auf der Baustelle. Doch ich habe mit meinem Chef schon geredet. Die nächste freie Stelle in der Verwaltung ist meine. Ich hoffe, dass es nach Weihnachten so weit ist.«
»Ich freue mich auch, wenn das ewige Kofferpacken für dich ein Ende hat. Verstehe mich nicht falsch, Sven, aber es ist nicht immer lustig, als Strohwitwe daheim zu sein.«
»Ich weiß schon, wie du das meinst. Außerdem gehört die Familie zusammen. Ich freue mich schon auf die tägliche Arbeit im Büro. Dann bin ich abends daheim bei Frau und Kind.«
»Drauf wollen wir trinken!«
Sie prosteten sich zu.
Es klingelte an der Tür. Susanne, die Sue gerufen wurde, warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war schon spät.
»Wer will denn um dieser Zeit noch etwas von uns?«
Sven stellte sein Glas ab und ging zur Tür. Draußen stand Judith Jäger, die Nachbarin der beiden. Sie war in die Dachwohnung des Nachbarhauses auf der anderen Straßenseite eingezogen. Judith, die Judy gerufen wurde, war eine freundliche junge Frau. Sue und Judith hatten sich bei deren Einzug kennen gelernt.
»Entschuldigt die späte Störung! Ich habe bei euch noch Licht gesehen und dachte deshalb … vielleicht kann ich noch stören. Ist Sue schon im Bett?«
»Grüß dich, Judy! Komm herein! Sue und ich sitzen gemütlich bei einem Glas Wein und träumen von der Zukunft.«
Er ließ sie vorbeigehen und schloss hinter ihr die Tür. Judy hastete ins Wohnzimmer. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Noch bevor Sue ihr einen Platz anbieten konnte, ließ sich Judith in einen der Sessel sinken.
»Siehst etwas verwirrt aus!«, bemerkte Susanne.
»Verwirrt ist untertrieben! Mein Chef rief an! Ich Dusseline nahm ab! Es ist meine eigene Schuld! Aber was soll es, er hätte sonst eine Mail geschickt oder wäre sogar vorbeigekommen. Er hat mich mal wieder kalt erwischt! Ich bin eben zu weich! Kann nicht Nein sagen. Dabei habe ich mir diese Position gesucht, damit ich nicht mehr so viel unterwegs bin. Ich hatte die Nase voll, dauernd auf Achse zu sein, wie man sagt. Dafür hatte ich gern gehaltliche Abstriche in Kauf genommen. Ich wechselte die Firma und die Stadt. Das hätte ich mir sparen können. Ich konnte im Lebenslauf doch nicht lügen. Mein Chef weiß, dass ich lange Jahre Seminarleiterin war. Das nutzt er aus, auch wenn ich für etwas völlig anderes eingestellt bin. Ich war sogar so clever, dass ich mir in meinem Arbeitsvertrag zusichern ließ, dass meine Tätigkeit firmenintern ist und ich nicht reisen muss. So viel zur Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Aber ich kann einfach nicht ablehnen. Ich bin so sauer! Das Wort ›Nein‹ kommt mir einfach nicht über die Lippen. Danach bin ich nicht nur meinem Chef böse, sondern vor allem mir selbst. Ich habe Seminare geleitet, in denen es um die Entwicklung der Persönlichkeit ging. Ich kenne mich mit den anerzogenen Strukturen aus, besonders bei Frauen. Mädchen werden von frühester Kindheit gedrillt, ja, gedrillt nenne ich es. Es wird Teil ihrer Persönlichkeit. Sie müssen lieb, brav und freundlich sein. Sie müssen sich anpassen und nachgeben, auch wenn sie dabei verzichten müssen. Himmel, ich könnte mich selbst ohrfeigen, dass ich wieder einmal nachgegeben habe! Ich kann anderen helfen, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln, aber ich selbst knicke ein und lasse mit mir Schlitten fahren.«
Judith sah abwechselnd Susanne und Sven an.
»Nun sagt doch etwas! Stimmt mir zu, dass ich dumm und blöd bin!«
»Wirst du dich dann besser fühlen?«, fragte Susanne.
»Ich weiß nicht!«
»Gut, dann probieren wir es aus! Liebe Judith, hast dich mal wieder falsch benommen! Bist in alte Muster zurückgefallen. Du solltest dich schämen!«
Sven und Susanne lachten, und Judith huschte ein Lächeln über das Gesicht.
»Ich schwöre euch, dass ich mich nie mehr so überrumpeln lasse! Nie mehr, bei allem, was mir heilig ist!«
Sven schenkte Judith ein Glas Rotwein ein. Sie trank und holte Luft.
»Also, ich muss mal wieder die Kartoffeln aus dem Feuer holen. Der Referent für das Führungsseminar fällt aus. Ich muss mal wieder einspringen – übermorgen! Ich würde sagen, der Herr drückt sich!«
Sie trank wieder einen Schluck.
»Das passt mir überhaupt nicht! Erstens bin ich nicht gerne unterwegs und zweitens bin ich sauer. Alles deshalb, weil ich ledig bin. Mein Chef meint, er könnte meine Flexibilität ausnutzen. Ich bin aber nicht mit der Firma verheiratet. Ich habe noch ein Privatleben! Und außerdem passt es mir im Augenblick überhaupt nicht. Meine Eltern sind in Urlaub und haben mir ihre zwei Katzen zur Pflege gebracht. Dazu steht meine ganze Terrasse voll mit Pflanzen. Wenn ich fort bin, gehen sie ein und die Katzen müssen auch versorgt werden. Ich sagte meinem Boss, dass ich dieses Mal unmöglich einspringen kann und habe ihm die Gründe erläutert. Er meinte, ich sollte die Katzen in eine Tierpension bringen. Meine Eltern lynchen mich, wenn ich das
tue.«
Judith holte Luft.
»Deshalb will ich euch fragen, ob es euch – ob es dir, Sue, möglich ist, nach den Tieren und den Pflanzen zu schauen. Ich weiß, dass das eine Zumutung ist. Es ist mir auch peinlich, euch bitten zu müssen.«
Sue lächelte Judith an.
»Mach daraus kein Drama! Wie lange bleibst du weg?«
»Es sind zwei Seminare von je einer Woche. Dazwischen liegt eine freie Woche. Mein Chef will mir die dazwischenliegende Woche als Sonderurlaub geben. Er will mir sogar das Hotel bezahlen. Er muss wirklich in Druck sein.«
»Du wirst ihm Druck gemacht haben, Judy!«
»Ja, das habe ich! Darauf kann ich wenigstens stolz sein. Ich habe mich teuer verkauft, auch wenn ich am Ende nachgegeben habe.«
»Wo geht es denn hin, Judith?«
»Der Ort heißt Waldkogel. Das ist wohl ein kleines Dorf in den Bergen. Ruhig und idyllisch soll es sein.«
Sven und Sue warfen sich Blicke zu.
»Wenn es Waldkogel bei Kirchwalden ist, dann kennen wir den Ort gut.«
»Ja, Sue! Es liegt ganz in der Nähe von Kirchwalden. Dort fanden bisher die Managerseminare statt. Aber das Tagungshotel hat abgesagt, deshalb findet die Veranstaltung jetzt in Waldkogel statt. ›Zum Ochsen‹ heißt das Hotel. Klingt ziemlich rustikal! Bin gespannt, was mich dort erwartet! Ich denke, dass der Herr Trainer sich deswegen drückt. Das Hotel scheint ihm nicht fein genug zu sein. Er ist so ein Überflieger, ihr wisst schon, ein typischer Yuppie eben.«
»Das ist ein feines Sternehotel! Du wirst überrascht sein, Judy. Ich bin sicher, dass es dir gefallen wird.«
»Das ist ja beruhigend! Wenn den gestressten Managern, die zum Seminar kommen, die Unterbringung nicht gefällt, dann gibt es Probleme.«
»Da musst du dir keine Sorgen machen, Judy! Waldkogel ist ein ganz reizender Ort. Meine beste Freundin hat dort hingeheiratet. Sie lebt mit ihrem Mann auf der Berghütte. Ich kann dir nur raten, sie zu besuchen. Vielleicht verbringst du die freien Tage zwischen den Seminaren auf der Berghütte, da kannst du dich schön erholen. Wenn du willst, rufe ich an und kündige dein Kommen an.«
»Berghütte! Ich weiß nicht recht?«
Unschlüssig schaute Judith die beiden an.
Susanne ergriff das Wort:
»Also, du gibst mir den Schlüssel zu deiner Wohnung. Ich kümmere mich um die Katzen und die Pflanzen. Du musst dir keine Sorgen machen!«
Judith seufzte.
»Danke, Susanne! Ich bin morgen am Vormittag noch mal kurz im Büro, aber am Nachmittag daheim. Komm rüber, dann zeige ich dir alles!«
»Gut, dann bin ich so gegen Drei bei dir. Ich bringe Kuchen mit!«
Judith trank ihr Glas leer. Sie stand auf. Susanne brachte sie zur Tür.
»Du bist lieb, Sue! Was würde ich ohne dich machen?«
»Nun übertreibst du aber! Du würdest dir für die Katzen einen anderen Katzensitter suchen.«
»Ha, das sagt sich so leicht!«
»Nun geh und schlafe gut! Wir sehen uns dann morgen, Judy!«
Susanne blieb noch an der Tür stehen, bis Judy im gegenüberliegenden Haus verschwunden war.
»Ist Judy fort?«
»Oh ja! Sie ist eine ganz Liebe, aber sie ist im Augenblick selbst etwas gestresst. Ihr Chef beutet sie richtig aus. Und Judith kann nicht Nein sagen. Sie springt immer wieder ein und spielt Feuerwehr. Dabei ist das gar nicht ihre Aufgabe. Aber alle anderen in der Firma sind verheiratet und weigern sich standhaft.«
»Judy liebt Tiere und Pflanzen! Ich bin sicher, sie wird sich in der schönen Natur rund um Waldkogel gut erholen, Sue. Überrede sie, dass sie einige Tage auf der Berghütte bei Toni und Anna verbringt.«
»Ja, Sven, ich werde es versuchen!«
Für die beiden wurde es auch Zeit, schlafen zu gehen. Sie stellten die Weingläser in die Spülmaschine und gingen hinauf. Sie warfen noch einen Blick ins Kinderzimmer, in dem der kleine Peter fest schlief.
*
Alban Grummer war bei seinen zukünftigen Schwiegereltern zum Mittagessen eingeladen. Er stand vorm Spiegel und legte seine Krawatte um. Er freute sich auf Alinas Eltern. Er kam gut mit ihnen aus. Sie waren reizende Menschen. Alina war ihr einziges Kind. Die beiden hatten spät geheiratet und waren erst nach Jahren Eltern geworden. So war Alina ein Einzelkind geblieben. Das hatte sich ausgewirkt. Alban war klar, dass Alina verwöhnt war. Ihre Eltern hatten ihr alle Wünsche erfüllt, wie es so oft bei Einzelkindern geschieht. Erschwerend kam dazu, dass die Eltern schon älter waren. Alina war eine kluge junge Frau. Sie hatte Sprachen studiert und arbeitete bei einer großen Messeagentur als Simultanübersetzerin. Alban kannte sie schon lange. Aus einer zufälligen Begegnung auf einer Yachtmesse war zuerst Freundschaft geworden. Man sah sich öfters und es wurde mehr daraus. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen, jedenfalls nicht bei Alban. Er war ohnehin ein Mensch, der sich seine Gefühle nicht anmerken ließ. Nur wenn man ihn sehr gut kannte, war es möglich, die kleinen Veränderungen in seiner Mimik zu deuten. Alban war früh Vollwaise geworden, als sein Vater am Berg verunglückte und seine Mutter bald darauf an gebrochenem Herzen starb. Der Bruder seines Vaters, Adam, und seine Frau Lore versuchten dem Waisenkind die Eltern zu ersetzen. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, so sahen sie es als ihre gottgewollte Aufgabe an, für den Neffen zu sorgen. Adam Grummer war Bauer in Waldkogel. Er liebte die Landwirtschaft und die Arbeit in freier Natur. Gern hätte Adam gesehen, dass Alban in seine und seines Vaters Fußstapfen getreten wäre. Aber der Junge entwickelte sich völlig anders. Er half zwar Onkel und Tante nach der Schule und in den Ferien tatkräftig auf dem Hof und der Alm, aber er ließ nie einen Zweifel daran, dass er später etwas ganz anderes machen wollte. Er wollte zur See. Dieser Berufswunsch war für seine Zieheltern sehr exotisch. So erkundigten sie sich und beschlossen, dass Alban in Kirchwalden auf das Gymnasium gehen und danach Ingenieurwissenschaft studieren sollte. Dabei könnte er den Schwerpunkt auf den Schiffsbau legen. Alban vergaß seiner Tante und seinem Onkel nie, dass sie alles getan hatten, seinen Berufswunsch zu fördern. Er wusste, wie schwer es für sie gewesen war. Dabei ging es nicht um Materielles, sondern um die Anfeindungen und das Unverständnis, dem sich die beiden lange Zeit in Waldkogel aussetzten. Noch niemals hatte dort jemand zur See gewollt. Hinzu kam, dass die beiden selbst keine Kinder hatten und er später einmal den Hof erben würde. Also war es nach Ansicht vieler ziemlich unklug von den beiden, den Berufswunsch des Buben zu fördern.
Während Alban seine Krawatte band, musste er an das bevorstehende Mittagessen denken. Sie wollten Einzelheiten der Hochzeit bereden, die im Herbst stattfinden sollte.
Alban ging ins Wohnzimmer seiner Junggesellenwohnung unweit der Werft, auf der er arbeitete und goss sich einen Cognac ein. Er setzte sich und ging in Gedanken noch einmal die Argumente durch, die er mit Nachdruck vorbringen wollte. Er wusste, dass er in dem einen strittigen Punkt nicht nur Alina gegen sich hatte, sondern auch deren Eltern, die ihrer Tochter keinen Wunsch abschlagen konnten. In vielen Dingen war Alban Kompromisse eingegangen. In dem Punkt der Örtlichkeit für die kirchliche Trauung wollte er hart bleiben, koste es, was es wolle. Alban wollte seine Braut in der schönen Barockkirche in Waldkogel zum Altar führen. Dort hatten seine Eltern geheiratet, auf dem Friedhof in Waldkogel lagen sie im Familiengrab der Grummers. Alban war in der Kirche getauft worden und danach zur Erstkommunion und zur Firmung gegangen, er war dort Messdiener geworden. Das Gotteshaus war ein Stück Heimat für ihn und immer wieder Zuflucht in schwierigen Lebenslagen gewesen.
Mit seinem Wunsch, dort vor den Altar zu treten, hatte Alban bei seiner Braut bisher nur Widerstand ausgelöst. Dabei könnte alles so einfach sein. Heirat in Alinas Heimat auf dem Standesamt und eine Feier mit Alinas Verwandten, ihren Freunden und Kollegen. Eine Woche später dann die kirchliche Segnung der Ehe in Waldkogel mit seinem Onkel und seiner Tante während einer Sonntagsmesse. Alban stellte sich alles genau vor. Nach der Trauung wollte er mit seiner Braut das Grab seiner Eltern besuchen und einen Blumenstrauß niederlegen.
Alban trank seinen Cognac. Er schaute auf die Uhr. Es war Zeit zu fahren. Er zog das Jackett an und nahm den Aufzug in die Tiefgarage. Im Kofferraum des Geländewagens lag eine gute Flasche Wein. Auf dem Weg zu den Fischers wollte er noch am Blumengeschäft halten und zwei Blumensträuße kaufen, einen für seine Braut und einen für deren Mutter. So geschah es dann auch. Alban wählte Rosen für Alina und einen bunten Sommerstrauß für seine künftige Schwiegermutter.
Er parkte vor der kleinen Villa. Die Haustür ging auf, und Alina kam auf ihn zu. Sie warf sich ihm an den Hals und küsste ihn.
»Liebster, endlich bist du da! Ich dachte, du wolltest früher kommen?«
Alban blickte auf seine wasserdichte sportliche Armbanduhr.
»Ich bin doch pünktlich, sogar eine Viertelstunde früher.«
»Sicher, das bist du! Ich meinte das auch nicht so. Schlimm, dass du als Ingenieur alles so wörtlich und genau nimmst. Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich vermisst habe und hoffte, dass du mir sagst, dass jede Minute ohne mich eine sinnlose Minute ist, verschenkte, vergeudete Zeit.«
»Ja, sicher ist es so, Alina!«
Alban überreichte ihr den Blumenstrauß. Dann gingen sie zusammen ins Haus. Alinas Mutter freute sich über die Blumen, und ihr Vater war von dem guten Tropfen Wein beeindruckt.
Man setzte sich zum Essen ins Esszimmer.
»Das duftet ja! Was gibt es denn Gutes?«
Alinas Vater beugte sich leicht zu Alban hin und flüsterte, damit es Alina und ihre Mutter in der Küche nicht hören sollten:
»Alina hat heute gekocht. Sie sagte, es handelt sich dabei um eines deiner Lieblingsessen, Rotkraut, Bratwurst mit Kartoffelbrei und als Nachtisch Apfelkompott.«
»Ah schön, aber das macht mich auch ein wenig misstrauisch. Wenn Alina mich mit einem guten Essen zu umgarnen versucht, dann will sie ihren Willen durchsetzen.«
»Junge, du kennst sie gut!«
»Sollte nicht jeder Bräutigam seine Braut gut kennen?«
»Doch, Junge, das sollte man annehmen. Alina ist ein kleiner Dickkopf, aber das muss ich dir nicht sagen.«
»Nein, das musst du mir nicht sagen! Ich vermute, sie will mich umstimmen, was die kirchliche Trauung betrifft. Richtig?«
Alinas Vater nickte. Alban fuhr fort:
»Da wird sie auf Granit beißen! Darin bleibe ich hart.«
»Das habe ich mir schon gedacht! Ich habe mit ihrer Mutter gesprochen, ich denke, ihr beiden solltet das unter euch ausmachen. Wundere dich bitte nicht, dass wir uns da nicht einmischen. Alina würde uns nie verzeihen, wenn wir uns auf deine Seite schlagen. Wir finden die Hochzeit gut, so wie sie geplant ist. Außerdem bedeutet Ehe auch, dass man auf die Wünsche des anderen eingeht. Ich befürchte fast, dass dies Alina noch lernen muss. Junge, ich bewundere dich, ich möchte nicht in deiner Haut stecken.«
Die beiden Männer sahen sich an. Das Gespräch brach ab. Alina und ihre Mutter brachten die Schüsseln und die Platte mit dem Essen. Sie aßen.
Nach einer Weile fragte Alina:
»Wie schmeckte es dir, Alban?«
»Sehr gut! Es ist mein Lieblingsessen! Ich genieße jeden Bissen.«
»Alina hat heute gekocht«, bemerkte ihre Mutter.
»Das Essen ist dir gelungen, Alina! Und ich gestehe, ich bin überrascht. Ich wusste nicht, dass du so gut kochen kannst!«
»Danke für das Kompliment! Du wirst nach unserer Hochzeit noch viel Gutes an mir entdecken. In mir schlummern ungeahnte Talente.«
»Dann lasse ich mich überraschen!«
Alban aß weiter. Alina führt behutsam das Gespräch auf das heikle Thema, kirchliche Trauung in Waldkogel. Alban legte sein Besteck ab und tupfte sich mit der Serviette die Lippen. Er schaute seine Braut an.
»Alina, bitte! Lass uns später darüber reden!«
»Nein, ich will jetzt darüber reden und es klären. Ich habe mit Mama und Papa schon alles besprochen. Sie sind ganz meiner Meinung. Wir heiraten hier standesamtlich und kirchlich. Nicht wahr Mama, Papa, darüber waren wir uns einig! Du bist also überstimmt, Alban!«
Alban warf seinen zukünftigen Schwiegereltern Blicke zu. Ganz ruhig sagte er: »Alina, gut, ganz wie du willst, dann klären wir das jetzt und hier! Ich heirate dich und nicht deine Eltern. Ich lasse bezüglich der kirchlichen Trauung nicht mit mir handeln. Es ist mein inniger Wunsch, es so zu machen. Ich hatte gehofft, du verstehst meine Beweggründe.«
»Liebster Alban, sicher kann ich sie verstehen. Aber wenn wir schon kirchlich heiraten müssen, dann will ich hier heiraten mit meinen Freundinnen als Brautjungfern. Ich will ganz groß heiraten wie im Film, ich im weißen Brautkleid mit langer Schleppe und du im Cut oder Frack! So stelle ich mir das vor. In Waldkogel wäre das unangebracht. Am Ende willst du einen dieser unkleidsamen Lodenanzüge tragen und erwartest, dass ich in ein Dirndl schlüpfe? Das kommt nicht in Frage!«
Alban aß weiter.
»Nun sage doch etwas!«, forderte ihn Alina auf.
»Es gibt nichts dazu zu sagen, Alina. Es ist mein Wunsch und ich bin etwas traurig, dass du mich so gar nicht verstehen kannst.«
»Nein, in diesem Punkt kann ich dich wirklich nicht verstehen. Ich bekomme Albträume, wenn ich nur an dieses Waldkogel denke. Es ist mir zu ländlich und zu spießig. Und ich kenne niemanden dort, außer deiner Tante und deinem Onkel.«
»Nach der Feier auf dem Grummer Hof wirst du viele Leute kennen. Es wird schön werden, Alina. Komm, gib deinem Herzen einen Ruck. Ich verspreche dir, es wird eine sehr gefühlvolle Trauung und eine wunderschöne große Feier.«
»Nein, darüber lasse ich nicht mit mir reden! Die Hochzeit ist ein wichtiges Ereignis im Leben einer Frau.«
»Das streite ich nicht ab! Es ist nur bitter für mich, dass du dich noch nicht einmal in die Möglichkeit eindenkst und mit mir vernünftig redest. Ich könnte dir genau erzählen, wie schön ich es mir vorstelle.«
»Ich stelle es mir nicht schön vor!«
Alinas Augen verengten sich. Sie schaute Alban an.
»Wenn du mich wirklich liebst, dann gibst du nach!«
Nachdem Alina diesen Satz trotzig geäußert hatte, wurde es ganz still im Esszimmer. Ihre Eltern schauten Alban an. Er bewahrte Ruhe.
»Alina, du redest Unsinn! Das weißt du auch! Ich würde dich nicht heiraten, wenn ich dich nicht lieben würde.«
»Dann liebst du mich nicht genug!«
Alban lockerte seine Krawatte.
»Alina, wollen wir beiden nicht in Ruhe bei einem Spaziergang darüber reden?«
»Nein!«
Er unternahm einen weiteren Versuch.
»Ich habe noch eine Überraschung für dich! Du sagtest doch, dass du bis zur nächsten Messe deine Überstunden abbummelst. Ich habe mir Urlaub genommen. Ich dachte, wir beiden könnten zusammen nach Waldkogel fahren. Du schaust dir in Ruhe die Kirche an und redest mit meiner Tante.«
»Ich habe viele Termine, Alban! Ich fahre nicht mit. Außerdem, wenn du dir Hoffnung machst, dass du mich umstimmen kannst, dann hoffst du vergebens.«
Alban wusste, dass das mit den Terminen nicht ganz wahr war. Er ließ sich aber nicht auf einen Streit über diesen Punkt ein. Er aß weiter. Nach einer Weile sagte er:
»Ich fahre morgen! Wann soll ich dich abholen?«
Alina brach in Tränen aus. Tränen waren immer die letzte Waffe im Kampf, ihren Willen durchzusetzen. Alban wusste es. Er schaute auf seinen Teller und tat, als sehe er die Tränen nicht.
»Du hörst mir nicht zu, Alban! Du verstehst mich nicht! Du enttäuschst mich schwer!«, schrie Alina.
Sie sprang vom Tisch auf und rannte hinaus. Augenblicke später drang der Knall einer Tür, die wütend zugeschlagen wurde, durch das Haus.
Alban seufzte. Wortlos aßen er und seine künftigen Schwiegereltern zu Ende. Dann schenkte Alinas Vater einen Cognac ein.
»Ja, Junge, das war kein schöner Auftritt unserer Tochter. Was wirst du machen?«
»Ich denke, es ist das Beste, wenn ich gehe. Danke für die Einladung. Ich fahre nach Hause. Ich bin für den Rest des Tages dort erreichbar.« Alban lächelte hilflos. »Nur für den Fall, dass Alina mich erreichen will, was ich nicht glaube. Sagt ihr noch einmal, dass ich morgen nach Waldkogel fahre. Wenn sie mitfahren will, dann soll sie mich anrufen.«
»Das werden wir, Junge! Du wirst wirklich ein guter Schwiegersohn bei deiner Geduld«, bemerkte Alinas Vater und legte Alban kurz die Hand auf die Schulter.
Sie verabschiedeten sich von ihm. Alinas Vater begleitete Alban zum Wagen.
»Es tut mir sehr leid! Es war nicht meine Absicht, euch den Sonntag zu verderben!«
»Das hast du nicht, Alban! Vielleicht überlegt sie es sich noch einmal anders! Alina hat Temperament und reizt alle Möglichkeiten bis zum Äußersten aus.«
»Ja, das stimmt!«
»Ich hoffe, sie erkennt, dass sie nachgeben muss und gibt ihren Trotz auf.«
Alban stieg ins Auto und fuhr heim.
Traurig und niedergeschlagen betrat Alban seine Wohnung. Als er
den Telefonanrufbeantworter blinken sah, schlug sein Herz schneller. Hoffnung keimte in ihm auf.
Hat Alina angerufen? Kommt sie mit nach Waldkogel? Hat sie ihre Meinung geändert? Fragen jagten Alban durch den Kopf, und sein Herz klopfte.
Er hörte den Anrufbeantworter ab. Aber es war nicht Alina, die ihn angerufen hatte, sondern ein Studienkollege, der einige Tage in der Stadt weilte. An jedem anderen Tag hätte sich Alban über die Nachricht gefreut. Doch heute war ihm nicht nach solcher Gesellschaft. Er wollte nur auf Alinas Anruf warten.
Alban zog sich um. Er zog eine bequeme, helle weite Leinenhose an und dazu einen Seemannspullover. Er las den ganzen Tag. Abends ließ er sich eine Pizza bringen. Er wollte das Haus nicht verlassen. Immer noch machte er sich Hoffnung auf ein Lebenszeichen seiner Braut. Einige Male war er kurz davor nachzugeben. Er hatte die Hand schon auf dem Hörer, sah aber doch davon wieder ab.
So verging der Tag. Alban packte seine Reisetasche und stellte sie im Flur neben die Eingangstür. Um Mitternacht legte er sich schlafen. Unruhig wälzte er sich im Bett, bis ihn endlich der Schlaf übermannte.
Alina schmollte den ganzen Tag und hielt sich in ihrem Zimmer auf. Sie ging unruhig auf und ab. Ihre Eltern konnten es hören. Einige Male versuchte ihre Mutter zu ihr vorzudringen und klopfte bei ihr. Aber sie machte nicht auf. Zum Abendessen kam sie nicht herunter. Ihre Mutter stellte ein Tablett mit Essen neben ihre Tür.
Weitere Stunden vergingen.
Gegen Mitternacht legten sich Alinas Eltern schlafen. Aber sie fanden keine Ruhe. Sie unterhielten sich noch lange über ihre Tochter. Sie waren sich einig. So tüchtig Alina auch in ihrem Beruf war, so unberechenbar und sprunghaft war sie in ihrem Privatleben. Dort konnte sie sich nicht anpassen und verhielt sich wie ein kleines trotziges Kind. Dabei war Alina schon dreißig Jahre alt.
»Ich hatte gehofft, die Liebe lässt sie erwachsen werden«, sagte ihre Mutter.
»Sie hat sich schon ganz gut entwickelt, seit sie mit dem ruhigen, vernünftigen Alban zusammen ist. Aber wir müssen uns als Eltern schämen für die Szene, die sie heute geboten hat.«
»Ja, das war schlimm. Wir sollten versuchen, Alban zu erreichen und ihm noch einmal sagen, wie leid es uns tut.«
»Ja, heute ist es schon zu spät dafür. Wir werden ihn morgen anrufen!«
Sie wälzten sich noch lange im Bett hin und her. Es war traurig, als Eltern erkennen zu müssen, wie die Tochter ihr Glück mit Füßen trat. Sie waren sich einig, dass ihre Alina so einen herzensguten Mann wie Alban nicht verdient hatte.
*
Susanne stand pünktlich mit einem Kuchen vor Judiths Tür. Diese öffnete. Die beiden Katzen schlichen um Judiths Beine. Der kleine Peter war begeistert. Die Tiere erkannten, dass sie Streicheleinheiten von ihm bekommen konnten und schnurrten.
»Komm rein, Sue! Ich habe in der Küche den Kaffeetisch gedeckt!«
Judith Jäger ging voraus. Auf der Anrichte türmten sich mehrere Kisten mit Katzenfutter.
»Im Badezimmer habe ich einen großen Sack Katzenstreu stehen. Ihre beiden Katzenklos stehen auf der Terrasse. Du kannst die Tür einen Spalt offen lassen. Ich habe dir hier alles aufgeschrieben. Dazu hängen an den Blumentöpfen Zettel. Darauf steht genau, wann und wie oft die Grünpflanzen gegossen werden dürfen.«
»Mache dir keine Sorgen! Ich werde Katzen und Pflanzen hüten.«
Sie setzten sich. Judith schenkte sich und Susanne Kaffee ein. Sie hatte Limonade für den kleinen Peter. Aber dieser wollte nur mit den Katzen spielen.
Susanne schaute Judith an.
»Schaust heute besser aus! Wirkst irgendwie gelassener auf mich!«
»Ja, das stimmt. Ich habe mich damit abgefunden. Es ist nicht zu ändern. Und außerdem erhalte ich eine Woche bezahlten Urlaub mit Unterbringung und Vollpension. Das ist auch nicht zu verachten. Wenn ich zurückkomme, werde ich mit meinem Chef reden.«
Susanne verteilte den Kuchen. Die beiden fingen an zu essen.
»Wirst du in deiner freien Woche im Hotel ›Zum Ochsen‹ bleiben?«
»Ja, mein Chef hat alles schon gebucht und bezahlt.«
»Dann hast du ein festes Quartier und kannst von dort aus schöne Wanderungen machen. Ich habe heute schon mit Anna telefoniert. Sie freut sich darauf, dich kennen zu lernen. Ich habe einige Geschenke für Anna, Toni und die Kinder und für den alten Alois. Ach, und natürlich für den Hund! Es ist ein Neufundländerrüde. Anna ist eine richtige Hundenärrin.«
»Mit Hunden habe ich es nicht so, Sue. Ich liebe Katzen.«
»Oh, die kleine Franziska hat einen Kater, Max heißt er. Für ihn habe ich nichts gekauft. Den habe ich ganz vergessen.«
»Keine Sorge!« Judith stand auf und holte eine Dose mit Katzendrops. »Hier, die kannst du haben!«
»Danke! Wann fährst du?«
»Schon bald, dann bin ich heute schon im Hotel und kann mich in Ruhe auf meine Arbeit vorbereiten.«
»Das ist besser, als mitten in der Nacht loszufahren und dann abgehetzt anzukommen und gleich mit der Seminarleitung beginnen zu müssen.«
»Du sagst es, Sue! Jetzt trinken wir noch gemütlich unser Kaffee zu Ende, dann fahre ich. Hier sind die Schlüssel. Mein Handynummer hast du ja. Ich habe deine Telefonnummer auch meinen Eltern gegeben. Für die beiden alten Leute sind die Katzen wie Kinder. Sei also bitte nicht überrascht, wenn sie dich anrufen.«
Susanne schmunzelte.
»Mache dir keine Sorgen. Ich werde schon mit ihnen klarkommen. Ich habe sie ja kennen gelernt, als du hier eingezogen bist.«
»Richtig! Sie kamen und haben mir geholfen!«
Susanne und Judith aßen ihren Kuchen zu Ende und tranken ihren Kaffee aus. Judith wollte noch das Geschirr spülen, aber Sue hielt sie davon ab. Sie brachte sie zum Auto. Susanne holte die Tüte mit den Geschenken, die Judith mitnehmen sollte. Nach vielen Umarmungen der beiden Freundinnen fuhr Judy ab. Susanne winkte, bis sie am Ende der Allee um die Ecke fuhr. Dann ging sie mit Peter über die Straße zu sich heim.
*
An diesem Tag war Alban bereits in Waldkogel angekommen. Wie immer, wenn er seine Verwandten besuchte, hielt er unterwegs am Friedhof und schaute zuerst nach dem Grab seiner Eltern. Seine Tante hielt es in Ordnung. In einer Grableuchte aus Ton brannte ein ewiges Licht. Alban legte den kleinen Blumenkranz ab, den er unterwegs in Kirchwalden gekauft hatte. Er sprach ein Gebet.
Anschließend stand er lange vor dem Grab. In Gedanken erzählte er seinen Eltern von Alina und der Auseinandersetzung mit ihr. Sein Herz war schwer. Die Szene beim Mittagessen hatte sich tief in seine Seele gebrannt. Dass Alina an seiner Liebe zweifelte, hatte Alban sehr verletzt. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken. Immer wieder stiegen leise Zweifel auf, die er sofort im Keim erstickte. Er hatte sich für Alina Fischer entschieden. ›Die Hoffnung stirbt zum Schluss‹, zitierte Alban in Gedanken das alte Sprichwort.
Er drehte sich um und schaute hinauf zum Gipfel des ›Engelssteigs‹. Er lächelte. Alban war mit den Geschichten vom ›Engelssteig‹ und dem ›Höllentor‹ aufgewachsen. Als kleiner Bub konnte der davon nicht genug hören. Alban lächelte vor sich hin. Er war sich sicher, dass seine Tante einige der Geschichten erfunden hatte. Denn über viele Jahre gehörte es zum Einschlafritual, dass sie ihm eine Geschichte von den Engeln erzählte, wie andere Kinder ein Märchen als Gutenachtgeschichte zu hören bekamen. Sie waren ihm in seiner Kindheit ein Trost gewesen.
Alban verließ den Friedhof und betrat die schöne Kirche von Waldkogel. Er setzte sich zuerst in die letzte Bank. Er sah sich um und betrachtete die schönen Barockmalereien. Auch die Putten an der Decke hatten es ihm angetan. Langsam wurde er ruhiger. Friede, Ruhe, Geborgenheit legten sich über sein Herz. Alban stiftete der Mutter Gottes Maria eine große Kerze. Leise erzählte er ihr seinen Kummer, wie er es als Kind immer getan hatte. Als er damit fertig war, hatte er das Gefühl, alles getan zu haben, was er tun konnte. Er ging zu seinem Auto und fuhr zum Grummer Hof.
»Mei, der Alban! Was eine Freud’!«
Seine alte Tante eilte aus dem Wohnhaus. Sein Onkel kam aus dem Schweinestall, dort hatte er die jungen Ferkel gefüttert. Sie schlossen nacheinander ihren Buben in die Arme.
»Kommst genau richtig! Wir wollten uns zur Vesper setzen. Komm mit rein! Erst essen wir! Dein Gepäck bringen wir später hinauf!«
Seine Tante hakte sich bei ihm unter. Sein Onkel ließ es sich nicht nehmen, Albans Reisetasche in sein Zimmer zu bringen.
»Was für eine Überraschung! Wie freuen wir uns. Warum hast net angerufen, Bub? Dann hätte ich dir deinen Lieblingskuchen gebacken. Aber morgen gibt es dein Lieblingsessen, Bratwurst, Rotkohl und Kartoffelbrei.«
Albans Tante sah die geringe Veränderung in seinen Gesichtszügen.
»Was ist Bub? Was hast? Du freust dich net? Bleibst nicht einige Tage?«
»Ja, schaust ein bisserl angespannt aus oder wie des neudeutsch heißt – gestresst!«, bemerkte sein Onkel, der in die Küche kam.
Alban nahm seine Tante in den Arm.
»Doch, ich bleibe länger! Ich habe mir Urlaub genommen und kann auch noch Überstundenfrei dranhängen.«
»So! Ich dachte, du wolltest alles für deine Flitterwochen aufsparen.«
Alban seufzte. Er war ein Mann, der nicht lange um den heißen Brei herumredete.
»Ich war am Sonntag bei den Fischers zum Essen eingeladen. Alina hatte gekocht, Bratwurst, Rotkraut und Kartoffelbrei. Aber es blieb ein bitterer Geschmack dabei zurück. Während des Essens gerieten wir in Streit. Das heißt, Alina wollte wie immer ihren Dickschädel durchsetzen. Es geht um die kirchliche Trauung. Jedenfalls ist sie dann heulend aus dem Zimmer gelaufen.«
»Des Madl beruhigt sich auch wieder, Alban«, bemerkte Adam Grummer. »Die Weiber sind vor der Hochzeit all’ net berechenbar! Des ist eine Tatsache! Des vergeht wieder! Am besten tust so, als würdest du den ganzen Trubel, des ganze Theater um das Hochzeitsfest net mitbekommen.«
»Des sagt sich so leicht, Onkel Adam! Die Planung der Hochzeit artet in eine echte Krise aus. Alina ist in der Beziehung richtig bockig!«
Das abendliche Angelusläuten drang durch die offenen Küchenfenster. Sie setzten sich an den Tisch. Der Bauer sprach das Tischgebet. Sie bekreuzigten sich. Dann verteilte Albans Tante Lore die dicke Suppe. Dazu gab es Brot.
»Wir waren heute Mittag oben auf der Alm. Deshalb habe ich für abends so eine kräftige Suppe gemacht. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommen tust, dann …«
Alban griff über den Tisch und streichelte seiner Tante die Wange.
»Ich weiß! Lass es gut sein! Ich bin doch kein Staatsbesuch. Ich bin hier immer noch daheim!«
Die Tante lächelte. Sie aßen. Wie immer sprachen sie bei Tisch wenig. Erst als Lore Grummer den Tisch abgeräumt und Adam das Bier eingeschenkt hatte, redeten sie weiter.
»Mei, ich kann euch net verschweigen, dass ich von der Alina ein bisserl enttäuscht bin.«
Alban schilderte ausführlich die Auseinandersetzung.
»Des drückst du fein aus, Bub! Mei, ich wäre da net nur enttäuscht, sondern stocksauer. Ich erinnere mich, wie du uns einmal mit ihr besucht hast und sie sogar mit in die Kirche ging. Ich dachte, sie hätte begriffen, was dir das Gotteshaus bedeutet und der Glaube und so weiter, du weißt schon. Außerdem hast du ihr damals genau gesagt, dass die Grummers alle eng mit der Tradition verbunden sind. Und dass du, wenn du einmal heiratest, hier von unserem Pfarrer Zandler getraut werden willst.«
»Ja, ich erinnere mich daran! Damals dachte ich, Alina gefällt der Gedanke. Sie lächelte mich an. Ich habe ihr Lächeln wohl falsch gedeutet. Außerdem war des vor der Zeit, in der wir dann enger zusammengekommen sind. Ich hab’ ihr vorgeschlagen, hier mit mir den Urlaub zu verbringen. Sie muss doch erfassen, wo meine Wurzeln sind. Ich wollte ihr die Tradition nahe bringen, mit ihr schöne Wanderungen machen. Ich dachte, ich gehe mit ihr auf die Berghütte und mache sie mit Anna bekannt. Ich hoffte, die Anna könnte sie anstecken mit ihrer Liebe zur Tradition und den Bergen.«
Alban trank einen Schluck Bier.
»Sie hat sich seit dem Zwischenfall nicht mehr bei mir gemeldet!«
»Vielleicht tut sie es noch, Alban.«
»Danke für den Versuch des Trostes, Tante Lore. Aber es kommt mir immer mehr so vor … wie heißt es? Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass sie nachgeben tut. Bei der Alina kann ich sagen, dass sie immer ihren Kopf durchsetzen will. Sie ist das typische verwöhnte Einzelkind!«
»Du bist auch ein Einzelkind und noch net einmal unser eigen Fleisch und Blut und bist doch wohl geraten. Bub, wir sind richtig stolz auf dich! Drauf wollen wir jetzt mal anstoßen. Auf dich, Alban, und auf ein langes und glückliches Leben, mit wem auch immer!«
»Ja, mit wem auch immer! Zum Wohl!«
Sie tranken.
»Wie wirst jetzt weiter vorgehen, Alban? Rufst sie an?«
»Naa! Des habe ich mir geschworen. Dieses Mal mache ich nicht den ersten Schritt. Ich habe alle Wogen geglättet, bin als liebender Bräutigam auf sie zugegangen. Aber jetzt – naa! Ich mache mich net zum Affen. Wenn die denkt, sie könnte mich durch ein paar Tränen umstimmen, dann ist sie bei mir falsch gewickelt, versteht ihr?«
Lore und Adam sahen, wie unglücklich ihr Neffe war. Er hatte richtige Schatten unter den Augen.
»Liebst du sie noch, Bub?«, fragte sein Onkel.
Alban trank einen Schluck Bier.
»Wenn ich ganz ehrlich bin …« Er zuckte mit den Achseln. »Mei, ich weiß es nicht mehr. Ich bin nur durcheinander und verletzt. Es bedeutet mir so viel, die Alina hier zum Altar zu führen. Die Eltern liegen neben der Kirche auf dem Friedhof. So wären sie irgendwie dabei … versteht ihr?«
Seine Stimme bebte, er war sehr bewegt. Sein Onkel stand auf und holte einen hochprozentigen Obstler.
»Hier, jetzt trinkst davon einen Schluck! Dann kannst gut schlafen. Du bist jetzt erst mal daheim. Lass dir Zeit und höre auf dein Herz.«
Adam stellte Alban die Flasche und das Glas hin. Dieser schenkte sich ein und trank.
»Mei! Himmelherrgott, des ist ja ein richtiger Rachenputzer. Ist des ein Schwarzgebrannter?«
»Des ist der Spezialschnaps vom alten Alois von der Berghütte. Er hatte mir einige Tage nach meinem runden Geburtstag durch den Toni eine Flasche runtergeschickt.«
»Der ist wirklich gut! Der kann Tote aufwecken!«
Sie lachten.
»Siehst, jetzt hast zumindest etwas Farbe in den Wangen. Grüble net so viel, Alban. Du bist net weggelaufen, sondern des Madl. So soll es auch wieder zu dir kommen. Und wenn es net kommt, ja mei, dann musst eben noch mal nachdenken. Du verstehst?«
»Ja! Es ist nicht leicht für mich! Sie lehnt alles ab, was mit Waldkogel zu tun hat. Wie soll des werden, wenn ich später einmal genug vom Schiffbau habe und mich dann um den Hof kümmern will? Ihr werdet auch net jünger.«
Lore und Adam warfen sich Blicke zu. Ihnen wurde bei so viel Sorge ganz warm ums Herz.
»Warte erst mal ab. Wut und Zorn sind noch nie gute Ratgeber gewesen. Jetzt bist hier und genießt deine Heimat. Des gibt dir Kraft und Ruhe und die Einsicht, die du brauchst.«
Adam warf einen Blick auf die Wanduhr, deren Pendel gleichmäßig hin und her schwangen. Die Uhr war sehr alt. An den Ketten, die zum Aufziehen dienten, hingen schwere Gewichte in Form von Tannenzapfen aus Messing.
»Wenn du magst, kannst noch hier sitzen bleiben, Bub. Wir sind rechtschaffen müd’ nach dem Tag auf der Alm und gehen zu Bett.«
»Ich lege mich auch hin. Ich habe die letzte Nacht schlecht geschlafen.«
»Des verstehen wir!«
Sie standen auf. Lore machte als Letzte das Licht über dem Tisch aus, dann gingen sie die Stiege hinauf. Vor seinem Zimmer nahm Alban seine Tante und seinen Onkel in den Arm.
»Danke für alles! Ihr seid immer wie liebende Eltern gewesen!«
»Du bist auch ein sehr braver Sohn gewesen, Alban. Ich denke, ich kann des auch im Namen von der Lore sagen. Es bricht uns das Herz, dich so unglücklich zu sehen.«
Alban brachte kein Wort heraus. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Seine Tante hielt sein Zimmer immer sauber und ordentlich, so als würde Alban noch daheim wohnen. Es standen sogar Blumen aus dem Garten auf dem Tisch.
Dann fiel ihm auf, dass ein Buch auf dem Nachtisch lag.
Gesammelte Geschichten vom ›Engelssteig‹ und ›Höllentor‹.
Es war ein mitteldickes Buch, ein Verlag für Heimatliteratur hatte es herausgegeben. Albans Augen wurden feucht, als er darin blätterte.
Wie lieb von der Tante, mir das Buch hierherzulegen, dachte er.
Alban ging ins Bad. Er nahm eine kalte Dusche und zog eines der langen Herrennachthemden an, die er immer trug, wenn er daheim war. Er setzte sich ins Bett und verbrachte die nächsten Stunden mit Lesen. Erst als er auf der letzten Seite angekommen war, löschte er das Licht und schlief gleich ein. Draußen kündigte sich bereits der Morgen an.
*
Die Woche verging, ohne dass Alban etwas von Alina hörte. Ihre Eltern riefen ihn einige Male auf seinem Handy an. Jedes Mal klopfte sein Herz, in der Hoffnung es sei seine Braut. Aber es waren nur ihre Eltern, die sehr unglücklich waren. Alina nahm zwar wieder an den häuslichen Mahlzeiten teil, aber sie ließ nicht mit sich reden. Sie schaltete auf stur. Es sah nicht gut aus. Obwohl Albans Hoffnung langsam schwand, tat er nichts anderes, als auf Alinas Anruf zu warten. Er saß im Garten in der Gartenlaube und starrte sein Handy an. Wenn er seinem Onkel und seiner Tante bei der Arbeit half, dann war das Handy immer in der Nähe. Die Klingel des Festnetzanschlusses hatte Alban bis zum Anschlag gedreht, dass man sie unmöglich überhören konnte, wo auch immer man sich auf dem großen Grummer Hof aufhielt. Er hielt es zwar für unwahrscheinlich, dass ihn Alina auf dem Festnetz anrufen würde, aber er wollte auch auf diese Möglichkeit vorbereitet sein.
Seine Tante und sein Onkel sahen, wie er von Tag zu Tag stiller wurde, dabei war Alban an sich schon ein ruhiger Bursche.
Die Woche verging. Alina hatte nicht angerufen. Albans Tante Lore und sein Onkel Adam schmerzte es sehr, Alban so zu sehen.
»Der Bub braucht eine Aufgabe, Lore! Hast keine Idee, wie wir ihn wenigsten für einige Stunden vom Hof bekommen. Hast net in Kirchwalden etwas zu besorgen? Vielleicht kommt er dort auf andere Gedanken. Es ist wirklich grausig, den Bub so zu sehen. Er starrt sein Handy an wie das Kaninchen die Schlange – mei, noch schlimmer.«
Lore Grummer überlegte kurz.
»Morgen ist Samstag! Da ist Markt in Kirchwalden. Ich mache eine Liste und schicke den Burschen zum Einkaufen.«
»Wir brauchen doch nix vom Markt, Lore!«
»Mei, Adam, sei net so fantasielos! Mir wird schon etwas einfallen!«
Am Samstagmorgen beim Frühstück bat Lore ihren Neffen zum Markt nach Kirchwalden zu fahren und dort am Marktstand spezielle Pflanzen abzuholen, die sie in der Gärtnerei bestellt hatte.
»Weißt, ich habe mir gedacht, dass ich das Grab deiner Eltern neu bepflanzen tue.«
Da es sich um Pflanzen für das Grab seiner Eltern handelte, konnte Alban nicht ablehnen. Er nahm den Zettel, prüfte, ob sein Handy für die nächsten Stunden geladen war und machte sich gleich auf den Weg. Er beeilte sich.
Es war noch früh am Morgen, Alban fand einen guten Parkplatz unweit des Marktes. Er musste mehrmals zwischen dem Marktstand und seinem Auto hin und her laufen, um die Kisten mit den Setzlingen einzuladen. Ihm war warm. Er war durstig. Alban überlegte kurz, dann beschloss er, sich in ein Eiscafé zu setzen. Er bestellte einen Eisbecher und eine Zitronenlimonade. Er saß alleine am Tisch und hatte keine Augen für die vorbeigehenden Leute oder die Gäste an den anderen Tischen, wo durchaus einige fesche Madln saßen. Sie versuchten mit dem gut aussehenden Alban in Augenkontakt zu kommen. Aber Alban war in Gedanken und schaute nur auf sein Handy. Er erinnerte sich an den vergangenen Samstag, als er mit Alina durch die Läden gezogen war, weil sie nach passender Kleidung für die Flitterwochen gesucht hatte. Sie wollten eine Kreuzfahrt machen, weil Alban das Meer doch so liebte. So verging die nächste Stunde. Dann zahlte Alban und schlug den Weg zu seinem Auto ein. Die Straßen um den Markt herum waren jetzt voller Menschen. Es herrschte dichtes Gedränge.
»Aua! Können Sie nicht aufpassen? Sie, Bauer, Sie! Schauen Sie, was Sie gemacht haben!«, drang eine weibliche Stimme an sein Ohr.
Er drehte sich um.
»Ja, Sie! Sie meine ich!«
Die junge Frau in dem schicken seidenen Sommerkleid lehnte sich an die Hauswand. Sie balancierte auf einem Bein. Mit der freien Hand zog sie einen der hochhackigen Schuhe aus. Sie warf ihn auf die Erde und rieb sich den Knöchel.
Alban ging auf sie zu.
»Sie haben mich einfach umgerannt!«, fauchte sie ihn an und ihre Augen funkelten.
»Entschuldigen Sie bitte, ich war in Gedanken!«
»So, so! Eine bessere Ausrede fällt Ihnen nicht ein. Ihre Ausrede ist etwas billig, finde ich! Typen wie Sie, die gehen als die Herren der Schöpfung durch das Leben und hinterlassen eine Spur von Kolateralschäden.«
»Mei, du hast es aber drauf!« Alban verfiel in den Dialekt seiner Heimat.
»Jetzt werden Sie auch noch unverschämt und duzen mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann und wo wir zusammen im Sandkasten gespielt haben.«
Alban sah nur ihre Augen. Sie waren so voller Leben und Ehrlichkeit. Sein Herz fing an zu klopfen. Er spürte, wie ihm urplötzlich heiß wurde. Nur mühsam konnte er dem sich ihm bemächtigenden Gefühl widerstehen, sie einfach in die Arme zu schließen.
»Alban! Ich heiße Alban Grummer! Es ist keine faule Ausrede. Ich war wirklich in Gedanken und habe nicht mitbekommen, dass ich Sie angerempelt habe.«
»Judith Jäger! Ich bin zwar noch nicht ganz von der Ausrede überzeugt, aber lassen wir sie einmal gelten.«
»Hören Sie! Oder du! Ich werde die Schuhe ersetzen. Ich kann Sie – dich – auch zu einem Arzt bringen. Schmerzt der Fuß noch sehr?«
»Nein! Danke der Nachfrage!«
Sie zog einfach den anderen Schuh aus und steckte beide in die Tasche. Sie lächelte ihn an.
»Verraten Sie«, Alban war unsicher und siezte die junge Frau wieder. »Verraten Sie mir ihre Schuhgröße und Ihre Adresse?«
»Nein!«
Er rieb sich das Kinn.
»Sie sind nicht aus der Gegend?«
»Erkennt man das?«
»Ja!«
»Stimmt! Ich wohne in Frankfurt. Ich bin hier nur in Urlaub.«
Alban deutete auf die Schuhe.
»Also solche Treter sind in den Bergen etwas fehl am Platz.«
»Unnötige Bemerkung! Ich brauche keine Belehrung. Das weiß ich selbst. Ich war auf dem Weg, mir ein Paar Wanderschuhe zu kaufen.«
»Das ist vernünftig! In der Altstadt von Kirchwalden gibt es einen Laden, den ich nur empfehlen kann. Darf ich mitkommen?«
»Nein!«
»Wie soll ich dann Wiedergutmachung leisten? Wenn Sie hier Urlaub machen, dann nennen Sie mir die Pension oder das Hotel. Dann kann ich dort etwas für Sie hinterlassen, und Sie sehen mich nie wieder.«
Alban kam es vor, als schreckte die junge Dame etwas zusammen, als huschte ein Bedauern über ihre lieblichen Gesichtszüge. War es meine Ankündigung, dass sie mich nie wiedersieht? Das schoss Alban durch den Kopf.
Sie lächelte.
»Also gut! Ich wohne in Waldkogel im Hotel ›Zum Ochsen‹.«
»Das trifft sich gut! Ich bin aus Waldkogel. Ich bin dort groß geworden. Jetzt verbringe ich dort meinen Urlaub.«
»Sie scheinen es nötig zu haben!« provozierte sie ihn.
»Ja, das habe ich wirklich.«
»Dann erholen Sie sich gut!«
»Danke! Und hören Sie! Gegenüber vom Hotel ›Zum Ochsen‹ gibt es den Andenken- und Trachtenladen Boller. Er hat auch gute Schuhe. Er hat eigentlich alles. Ich meine, nicht nur Andenken und Trachten. Es ist
unser Gemischtwarenladen.«
Alban schaute auf Judiths nackte Füße.
»Sie wollen barfuß gehen?«
»Ja! Ich habe kein zweites Paar Schuhe dabei! Danke für die Fürsorge, und jetzt gehen Sie bitte! Auf Wiedersehen!«
»Pfüat di, sagen wir hier!«
»Wenn ich Sie dadurch loswerde, dann wünsche ich Ihnen auch ›Pfüat di‹!«
Sie drehte sich um und ging davon. Bald war sie in der Menge verschwunden, und Alban konnte sie nicht mehr sehen. Er blieb noch eine Weile unschlüssig stehen, dann ging er zu seinem Auto und fuhr zurück nach Waldkogel.
Zum ersten Mal seit dem verhängnisvollen Mittagessen dachte er nicht mehr an Alina. Er beschäftigte sich gedanklich mit Judith.
In Waldkogel hielt er auf dem Marktplatz an. Er ging in den Laden der Bollers.
»Grüß dich, Alban! Seit wann bist du hier?«
»Schon einige Tage.«
»Suchst du ein besonderes Geschenk, vielleicht für deine Braut?«, frage Veronika Boller.
»Bist immer noch so neugierig. Woher willst du wissen, dass ich eine Braut habe?«
»Deine Tante Lore hat so eine Andeutung gemacht.«
»So, hat sie des?«
»Ja, das hat sie! Dann muss ja etwas dran sein.«
»Musst schon abwarten, Veronika! Sag’, kannst du mir einen Gutschein über zweihundert Euro schreiben?«
»Zweihundert Euro? Mei, du bist ein großzügiger Bursche!«
Alban, der genau wusste, wie er Veronika Boller zu nehmen hatte, wurde doch etwas ärgerlich. Denn jede ihrer Fragen erinnerte ihn an Alina, und die allerletzte Person, an die er erinnert werden wollte, war Alina.
Er atmete durch.
»Bekomme ich jetzt den Gutschein, oder muss ich nach Kirchwalden fahren?«
»Was bist so garstig geworden, Alban! Bist so ein lieber Bub gewesen!«
Veronikas Mann, hatte im Hinterzimmer des Ladens die Unterhaltung mit angehört. Er rief in den Laden:
»Die Gutscheine sind hier, Veronika! Komm her!«
Veronika eilte nach hinten. Alban hörte Getuschel. Statt Veronika kam Herr Boller und gab Alban den Gutschein mit dem passenden Umschlag. Dieser zahlte, nahm den Umschlag und ging.
Die Bollers beobachteten vom Laden aus, wie Alban direkt zum Hotel ›Zum Ochsen‹ ging.
»Ob des was mit dem Gutschein zu tun hat? Was denkst, Franz?«
»Ich kann net hellsehen!«, antwortete er und ging wieder nach hinten.
Veronika Boller konnte ihre Neugierde nicht unterdrücken. Sie wartete, bis Alban aus dem Hotel kam und zu seinem Auto ging. Des ist merkwürdig, dachte sie. Wem macht der Bursche so ein Geschenk? Des kann doch nur für seine Braut sein. Aber warum nächtigt des Madl nicht auf dem Grummer Hof, sondern im Hotel? Und warum sieht man den Alban nicht mit seiner Braut? Warum hat er so empfindlich reagiert, als ich ihn gefragt habe?
Veronika nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Lore Grummer etwas auszufragen.
Alban erreichte den Grummer Hof.
»Da bist du ja, Bub!«, rief Lore Grummer aus dem Küchenfenster. »Ich bin hier drin!«
Alban ging hinein.
»Ja, ich bin wieder da! Hast sicherlich auf mich gewartet. Ich war in Kirchwalden noch in einer Eisdiele. Die Pflanzen habe ich im Kofferraum. Wann willst du auf den Friedhof? Ich komme mit und fahre dir die Sachen hin.«
»Irgendwann heute Nachmittag! Aber es ist besser, du tust die Pflanzen ausladen und in den Schatten stellen. Im Auto wird es zu warm werden. Und gib ihnen auch ein bisserl Wasser.«
»Ich stelle sie in den Schuppen!«
Alban ging sofort hinaus.
Adam Grummer kam in die Küche.
»Was macht der Bub?«
»Ich weiß net! Jedenfalls hat er nicht sofort gefragt, ob die Alina angerufen hat. Des ist schon einmal ein Fortschritt. Mei, was ist des Madl auch so stur. Adam, mich würde net wundern, wenn der Alban des Interesse an dem Madl verliert.«
»Lore, des muss der Bub selbst entscheiden.«
»Des stimmt, Alban! Des ist eine Herzensangelegenheit, da können wir wenig tun. ›Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen‹, so heißt es.«
Sie nickten sich zu. Das Gespräch brach ab. Alban kam in die Küche. Er wusch sich die Hände am Spülstein und setzte sich an den Tisch und las die Zeitung.
*
Am nächsten Tag stand Alban mit seiner Tante und seinem Onkel nach der Sonntagsmesse vor der Kirche. Sie unterhielten sich mit Nachbarn.
»Des müsst ihr euch anschauen! Dort drüben vor dem Hotel«, sagte Adam Grummer.
Alle drehten sich um. Vor dem Hoteleingang stand eine junge Frau in einer Bergwanderer-Ausstattung, die völlig neu aussah. Jemand vom Hotel hatte einen kleinen Sportwagen vorgefahren. Der Mann in der Livree hielt die Wagentür auf. Die junge Frau mit den hellen lockigen Haaren verstaute ihren Rucksack und eine Einkaufstüte im Kofferraum.
»Des ist ein lustiges Bild. Ein Madl wie aus einem Katalog für Wandermoden ausstaffiert und der elegante dunkelblaue Sportwagen. Des passt irgendwie net. Wo will sie denn mit dem Auto hin? So tief wie der gelegt ist, tut sie net weit kommen. Sie sollte sich besser einen Jeep leihen.«
»Da stößt bei ihr auf Granit! Die lässt sich nix sagen. Die hat Haare auf den Zähnen«, bemerkte Alban.
»Du kennst des Madl?«, staunte seine Tante.
»Mei, kennen? Des ist zu viel gesagt. Wir sind gestern in Kirchwalden aneinandergeraten. Sie heißt Judith Jäger und kommt aus Frankfurt. Immerhin läuft sie nimmer auf Schuhen mit hohen Absätzen herum. Ich hab’ ihr gesagt, dass solche Treter schlecht für die Berge sind.«
Es war schlecht zu sagen, was die jungen Burschen mehr anzog, die junge Frau oder der Sportwagen. Jedenfalls gingen sofort einige der ledigen Burschen von Waldkogel auf sie zu. Das zog andere Burschen nach und bald war Judiths Auto belagert. Alban spürte einen Stich, als er das sah. Ohne lange nachzudenken, schritt er über die Straße. Die Burschen versuchten, mit Judith ins Gespräch zu kommen. Sie lehnten am Wagen und hinderten sie abzufahren.
»Schert euch fort! Lasst des Madl in Ruh’!«, rief er.
»He, des ist ja der Alban Grummer, der Herr Schiffsbauingenieur. Ist des dein Madl? Hast du da was zu sagen?«, setzte einer der Burschen entgegen.
»Ich kenne sie, und die Antwort muss euch genügen«, sagte Alban laut und deutlich.
Inzwischen hatte Judith den Motor angelassen. Sie konnte allerdings nicht losfahren, weil die Burschen sie nicht ließen. Alban sah, wie peinlich das Judith war. Er ging um das Auto herum, zog einen der Burschen zur Seite, riss die Tür auf und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Wenn du hier irgendwie loskommen willst, dann solltest du mich als Helfer akzeptieren«, flüsterte er leise.
Er griff ins Lenkrad und hupte. Dann streckte er seinen Arm aus und umfasste Judiths Sitz in dem kleinen Zwischenraum zwischen Rückenlehne und Kopfstütze.
»Mach die Scheiben rauf!«
Judith drückte auf den Knopf des elektrischen Scheibenhebers und die Glasscheiben wurden nach oben geschoben. Judith sah, wie die Burschen zurücktraten. Sie waren verärgert.
»Fahr los!«, raunte Alban.
Judith gab Gas. Der Wagen heulte auf und schoss davon.
»Wohin?«, fragte sie.
»Fahr bis um die Kurve! Dort ist ein Gasthaus. Auf dem Hof kannst du halten. Ich steige wieder aus.«
Es war nicht weit bis zum Wirtshaus und der Pension ›Beim Baumberger‹, die Tonis Eltern gehörten.
»Kannst hier halten! Ich steige aus.«
Judith nahm die Sonnenbrille ab. Sie sah ihn mit ihren großen blaugrünen Augen an.
»Danke!«, sagte sie leise. »Die waren richtig aufdringlich und so plump! Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte.«
»Gern geschehen!«, antwortete Alban.
Er öffnete die Tür und stellte einen Fuß nach draußen.
»Wo wollen Sie eigentlich hinfahren?«
Judith lächelte und streckte ihm die Hand entgegen.
»Sagen wir ›Du‹, wie es hier wohl in den Bergen üblich ist. Ich bin die Judy, so werde ich gerufen.«
»Alban! Einen Rufnamen hab’ ich net. Die Dorfbuben verpassten mir einen Spitznamen, aber den will ich lieber nimmer hören.«
»So schlimm?«
»Net wirklich schlimm, heute sehe ich das anders. Aber damals als junger Bub hab’ ich sehr gelitten darunter. Es war echt ehrverletzend.«
»Wie nannten sie dich?«
»Alf! Wie der Außerirdische aus der Fernsehserie!«
»Das war doch sehr schmeichelhaft. Ich mochte die Figur. Wie kamen sie darauf?«
»Das ist eine lange Geschichte. Da müsste ich dir mein ganzes Leben erzählen. Dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich will dich auch nicht aufhalten. Ich muss heim. Doch du hast mir noch nicht gesagt, wo du hin willst.«
»Rauf zur Berghütte. Kennst du die Anna und ihre Familie?«
»Sicher! Wer kennt die Anna hier net! Sag bloß, du kennst sie auch?«
»Sie ist die Freundin meiner neuen Freundin aus Frankfurt. Susanne heißt sie, Susanne Hack.«
Alban fing an zu lachen.
»Wie klein die Welt ist! Der Susanne verdanken wir, dass wir hier in Waldkogel mit der Anna jetzt so eine tüchtige und freundliche Hüttenwirtin haben. Sie hat die Anna nämlich hierhergebracht. Dabei wollte die Anna niemals in die Berge.«
»Oh, davon hat Susanne mir nichts erzählt!«
»Dann musst die Anna oder die Susanne fragen. Die Kurzfassung der Geschichte geht so: Hätte die Susanne die Anna damals nicht hergebracht zum Toni, dann gäbe es die Berghütte so bestimmt nimmer. Dann stünde dort jetzt ein hässliches, hypermodernes Hotel!«
»Das klingt nach einem Krimi!«
»Das war auch ein Krimi, was der hinterlistige Ruppert Schwarzer da versucht hatte, abzuziehen. Aber zum Glück ging alles gut!«
»Ich habe Geschenke von der Susanne dabei! Ist es weit bis zur Berghütte?«
»Naa! Jedenfalls net für uns Einheimische! Du fährst dort drüben den Weg hinauf. Des ist der Milchpfad. Am Ende des Weges steht die Oberländer Alm. Von dort aus musst du zu Fuß gehen. Es führt keine Straße hinauf zur Berghütte.«
Er lächelte sie an.
»Musst aufpassen, der Milchpfad ist kein Weg für tiefergelegte Sportwagen und die Wiese hinter der Almhütte ist kein ebener geteerter Parkplatz.«
Judith lachte.
»Meine Ausstattung ist wohl in keiner Weise bergtauglich. Aber ich passe mich an so gut es geht! Heute trage ich kein Sommerkleid, sondern Kniebundhosen und Bluse. Und die Wanderschuhe habe ich im Laden am Marktplatz gekauft.«
»Dann hast du den Gutschein eingelöst?«
Judith schoss das Blut in die Wangen.
»Nein! Das ist viel zu viel! Außerdem sind meine Schuhe schon wieder ganz. Den Absatz hat mir ein Schuhmacher befestigen können. Du musst sie mir nicht ersetzen. Ich will dir den Gutschein zurückgeben.«
»Des kommt net in Frage! Deine Schuhe, die kaputt gegangen sind, waren ganz teure Schuhe, ganz exklusive Damenschuhe einer bekannten Nobelmarke.«
»Du kennst dich damit aus?«
Judith war sehr überrascht.
Fast hätte Alban gesagt, dass seine Braut vorzugsweise auch diese Marke trägt. Doch etwas hielt ihn davor zurück. So sagte er nur: »Mei, ein Mann sollte sich da schon etwas auskennen. Die Frauen sind doch ganz verrückt auf Schuhe.«
»Oh ja!«, hauchte Judith und errötete.
Judiths Verlegenheit machte Alban unsicher. »Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein! Ich hatte da nur so einen Gedanken!«
Verlegen errötete Judith noch mehr.
»Ich glaube, es ist besser, wir reden nicht weiter über Schuhe!«
»Ja, dann sage ich mal wieder nur Pfüat di! Vielleicht sieht man sich mal wieder? So groß ist Waldkogel nicht!«
Judith lächelte ihn an.
»Pfüat di«, sagte sie leise.
Er stieg aus. Kaum, dass Alban die Wagentür geschlossen hatte, gab sie Gas, wendete und fuhr den Milchpfad hinauf. Er sah ihr nach. Sein Herz klopfte. Alban steckte die Hände in die Hosentaschen und ging heim.
Sein Onkel saß am Küchentisch und las die Sonntagszeitung. Seine Tante war noch mit dem Kochen beschäftigt. Wortlos ging Alban zum Schrank.
»Wo hast den Obstler vom alten Alois?«
»Der steht im Schrank in der Stube. Warum?«
Alban gab keine Antwort. Er holte die Flasche und schenkte sich ein. Sein Onkel wollte keinen Schnaps.
»So, fühlst du dich jetzt besser?«, fragte er seinen Neffen. »Was war das eben? Du rennst davon, steigst zu dem Madl ins Auto und fort bist? Da könnte man auf die Idee kommen, du hättest entdeckt, dass die Alina net das einzige Madl auf der Welt ist, wie?«
»Also, des Madl mit dem Auto, des ist nur eine Zufallsbekanntschaft aus Kirchwalden. Ich wollte sie nur vor den Burschen retten, wollte nur Kavalier sein. Wir sind doch freundlich zu Fremden, nicht wahr?«
»Sicher sind wir freundlich! Des streite ich net ab. Aber ein bisserl gewundert haben wir uns schon, deine Tante und ich. Du warst wohl sehr freundlich zu ihr. Wenn sie dich hat einfach so ins Auto steigen lassen, dann wird sie keine ganz so Fremde für dich gewesen sein. Ein fesches Madl ist sie. Mei Bub, wir sind eben neugierig! Was weißt über sie?«
»Sie ist eine Freundin einer Freundin von der Anna, der Frau vom Toni!«
»So, des ist eine gute Referenz! Dann ist sie net ganz und gar eine Fremde.«
»Onkel Adam!«, brummte Alban. »Nun gib Ruhe! Mehr weiß ich auch nicht!«
»Aber gefallen tut sie dir schon, oder?«
»Was ist des für eine Frage, des Madl ist schon fesch! Des sieht doch ein Blinder mit einem Krückstock! Du hast doch selbst gesehen, wie sie die Burschen angezogen hat. Die haben sie richtig belagert. Des grenzte schon fast an Nötigung, wie sie die Judith daran gehindert haben, anzufahren.«
»Ja, ja, ich hab’s ja gesehen!«
»Dann ist es ja gut! Jetzt will ich nix mehr darüber hören!«
»Mei, Bub, was bist empfindlich? Aber des hängt alles mit der Alina zusammen. Des lastet auf dir!«
»Über Alina will ich schon gar net reden – oder hat sie angerufen?«
»Naa! Nix!«, rief Lore Grummer durch die Küche.
Sie war damit beschäftigt, Kartoffeln zu zerdrücken. Es gab Kartoffelbrei, Sauerbraten vom Schwein und Salat aus dem Garten.
Alban erinnerte sich, dass er vor der Messe sein Handy ausgeschaltet hatte. Er holte es aus der Hosentasche und schaltete es ein.
»Ist ein Anruf gekommen?«
»Naa, Onkel Adam! Kein Anruf, keine SMS!«
Alban spielte eine Weile mit dem Handy. Dann schaltete er es wieder aus. Er tat es aus einem Impuls heraus. Er wusste selbst nicht genau warum. Wenn sie anruft, kann sie eine Nachricht hinterlassen, dachte er. Ich habe jetzt eine Woche gewartet, jetzt kann sie warten. Nach dieser Entscheidung fühlte er sich besser.
Sie aßen bald. Während Lore Grummer danach die Küche säuberte, saßen Alban und sein Onkel vor dem Haus auf der Bank und plauderten. Zuerst musste Alban von seiner Arbeit auf der Werft erzählen. Adam hörte ihm immer gerne zu. Aus jedem von Albans Worten sprach die Freude und Begeisterung für seine Arbeit. Das war für Adam Grummer die beste Bestätigung, dass sie es richtig gemacht hatten, den Buben in seiner Berufswahl zu unterstützen.
»Sag mal, Alban, willst du deinen ganzen Urlaub hier auf dem Hof verbringen? Net, dass du denkst, wir freuen uns nicht, dass du da bist. Aber du bist doch früher immer so gern gewandert.«
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht! Es ist sinnlos, hier herumzusitzen. Wenn die Alina anruft, kann sie mich überall erreichen.«
»Richtig, Bub, so ist es! Der modernen Technik sei gedankt! Ich hab’s ja net so mit dem neumodischen Kram, aber ich sehe ein, es gibt Situationen, da kann so ein Handy recht nützlich sein.«
Alban schaute hinauf in den wolkenlosen blauen Himmel über Waldkogel. Er dachte nach. Sein Onkel ließ ihm Zeit.
»Es gibt auch einige Leut’, die ich gern mal wieder sehen möchte.«
»So? An wen denkst dabei?«
»Na, zum Beispiel den Lorenz Hofer, den Förster oder auch den Albert Weisgerber vom Sägewerk.«
»Gute Idee, Bub! Als du mit dem Madl im Auto fort bist und wir noch eine Weile vor der Kirche standen, haben wir kurz mit dem Lorenz und seiner Frau geredet. Ich soll dir Grüße bestellen. Sie würden sich freuen, wenn du sie besuchst. Entschuldige, dass ich vergessen habe, dir des zu sagen. Sie haben dich für heute eingeladen. Heute Abend gibt es ein Fest für die Waldarbeiter im Forsthaus. Der Hofer musste eine Bache erlegen, und deshalb gibt es heute Wildsau am Spieß!«
»Des gibt bestimmt ein schönes Fest. Aber bei soviel Leuten kommt man doch net zum Reden.«
»Dann besuche den Lorenz und die Lydia mal im Laufe der Woche. Aber vielleicht würde ein kleiner Waldspaziergang ganz gut tun. Kannst ja mal zum Sägewerk, vielleicht ist der Albert daheim.«
Alban stand auf. Er ging in sein Zimmer. Er zog sich um und tauschte den feinen Lodenanzug, den er immer sonntags in Waldkogel trug, mit seinen Wandersachen. Der Rucksack war schnell gepackt.
»Du nimmst aber viel mit, Alban!«, bemerkte seine Tante.
»Ja, vielleicht will ich in den Bergen biwakieren. Da ist es besser, etwas mehr mitzunehmen.«
Er schulterte den Rucksack, auf den er die Isomatte und einen Schlafsack gebunden hatte und ging los.
»Himmel, was bin ich froh! Net, dass ich den Bub loswerden will, Adam. Aber des Rumsitzen bringt doch nichts!«
»In den Bergen wird er sein seelisches Gleichgewicht wiederfinden und wissen, was er tun muss. Es muss etwas geschehen.«
»Des stimmt, Lore. Es muss etwas geschehen! Wenn die Alina net anruft, dann soll er sie anrufen. Aber da muss er von alleine darauf kommen.«
»Ja, das muss er! Ich kann den Bub schon verstehen. Er hat hier seine Wurzeln. Die Alina scheint des net zu verstehen oder will es nicht verstehen. Ach, ich hab’ dem Buben sein Glück gegönnt und jetzt haben die beiden schon so eine Krise, dabei sind sie noch nicht einmal ein Paar.«
»Wir können da nix machen, Lore! Der Alban ist ein vernünftiger Bursche. Er wird sich schon richtig entscheiden.«
»Ja, das wird er! Er muss sich mit ihr einigen oder sich entscheiden!«
Adam und Lore saßen auf der Bank vor dem Haus und dachten daran, wie es bei ihnen vor der Hochzeit war.
*
Judith war besonders vorsichtig den Milchpfad hinaufgefahren. Sie parkte auf der Wiese hinter der Almhütte. Zuvor war sie ausgestiegen und hatte das Gras niedergetrampelt. Sie hatte Unebenheiten feststellen wollen, die ihr womöglich die schönen Spoiler an ihrem Auto abreißen könnten oder den Autoboden beschädigen. Sie war froh, als ihr Wagen endlich geparkt war.
Mit dem Rucksack auf dem Rücken und der Einkaufstüte in der Hand ging sie an der Almhütte vorbei. Das Bild, das sich ihr bot, wärmte ihr Herz. Ein alter Mann, der Pfeife rauchte, saß neben einer alten Frau. Diese strickte.
Man sieht den beiden das lange, arbeitsreiche Leben an, und doch strahlen die beiden so ein Glück und eine Zufriedenheit aus. Wie ein Gemälde, dachte Judith. Ich würde dem Bild den Titel geben ›Wahre tiefe Liebe‹ oder einfach nur ›Liebe‹.
Während Judith langsam den Bergpfad in Richtung Berghütte hinaufwanderte, kreisten ihre Gedanken immer wieder um das alte Paar, das sie vor der Almhütte gesehen hatte. Sehnsucht nach Liebe, nach wirklicher, wahrer, tiefer, innerer Liebe erfüllte ihr Herz.
»In guten wie in schlechten Tagen«, flüsterte Judith leise vor sich hin.
Sie hatte Freunde gehabt, sie war auch längere Zeit mit Partnern liiert gewesen. Aber bei keinem war in ihr das Gefühl aufgestiegen für ein langes gemeinsames Leben, was immer das Leben auch an Höhen und Tiefen bereithalten würde. Niemals war ihr jemand begegnet, dem sie sich so bedingungslos anvertrauen wollte und bei dem sie wusste, dass er ihr so vertrauen wollte. Ob es das wirklich gibt? Das fragte sich Judith. Und gab sich darauf sofort die Antwort, ja, es gibt es. Dieses alte Ehepaar vor der Almhütte zeigte, dass es so etwas geben muss.
Judith blieb stehen und schaute über das Tal und die Berge. Welch ein Frieden, dachte sie. Vielleicht gibt es die vollkommene Harmonie nur in so einer schönen, friedvollen Landschaft. Hier spürt man den ruhigen und gleichmäßigen Atem der Natur. Es gibt keine Spur von Hektik und dem falschen Antrieb nach immer mehr und immer höher und weiter und noch größer und noch erfolgreicher. Wer hat das größere Auto, das schönere Haus, die exklusivere Eigentumswohnung? Hier fragt dich niemand, wo kaufst du ein? Welche Markenklamotten trägst du?
Judith lächelte vor sich hin. Ihr war bewusst, dass sie sich selbst etwas vormachte. Aber sie war nachsichtig mit sich, auch wenn sie das Leben hier völlig idealisierte. Träumen ist erlaubt, sagte sie den hochkarätigen Managern in ihren Seminaren. Träume bringen weiter. ›Der Wunsch ist der Vater des Gedankens‹ sagt die alte Weisheit, und Judith fügte hinzu ›und der Anfang jeder Tat‹. Nur so wurden Erfindungen gemacht. Planen Sie nicht alles mit dem Verstand, lassen Sie auch Ihr Gefühl zu. Folgen Sie Ihrer inneren Stimme. In Gedanken hielt sie sich selbst den Vortrag, den sie ihren Seminarteilnehmern hielt.
Judith setzte sich auf einen Felsbrocken. Sie ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und holte die Flasche Wasser heraus, die sie aus der Zimmerbar mitgenommen hatte. Sie genoss den Anblick der Landschaft und lauschte in sich hinein.
Sie dachte an Alban. Deutlich erinnerte sie sich an die Gefühle, die sofort in ihr aufgestiegen waren. So etwas hatte sie noch nie vorher erlebt. Es war, als hätte sie etwas gefunden, wonach sie nicht gesucht hatte. Judith lächelte. Erinnerungen aus ihrer Kindheit stiegen in ihr auf. Während eines Urlaubs hatte sie Muscheln gesucht. Alle waren irgendwie ähnlich, sie unterschieden sich kaum. Kiloweise hatte sie sie vom Strand in das Hotelzimmer geschleppt. Judith war mit ihren Eltern im Flugzeug gereist. So war es unmöglich, alle Muscheln mit zurückzunehmen. Ihre Eltern sagten, sie solle einige auswählen. Das fiel ihr sehr schwer. Die perfekte Muschel war einfach nicht dabei. Judith wusste auch nicht genau, wie diese Muschel sein sollte. Am Morgen vor der Abreise ging Judith noch einmal zum Schwimmen an den Strand. In ihrem bereits gepackten Koffer lagen einige Muscheln, für die sie sich entschieden hatte. Judith suchte keine Muscheln mehr. Sie rannte den Strand entlang und stürzte sich in die Wellen. In Gedanken war sie schon auf dem Heimweg. Als sie aus dem Wasser watete, lag am Strand diese eine wunderbare Muschel mit einer Färbung, wie sie Judith noch nie gesehen hatte. Sie ließ sich in den Sand fallen und barg das kostbare Fundstück in den Händen. Judith erinnerte sich, wie ihr Herz damals geklopft hatte. Diese Muschel war so besonders und drückte all da aus, was die kleine Judith als Sehnsucht mit sich getragen hatte. Sie warf die anderen Muscheln fort. Nur diese nahm sie mit heim. Judith sah die Muschel als Geschenk an, das ihr einfach zugefallen war. Sie hatte eine solche Muschel nicht bewusst gesucht, sie hatte nicht einmal gewusst, dass es Muscheln von dieser Form und Farbe gab. Erst als sie sie sah, wusste sie, das ist sie!
Judith trank wieder einen Schluck Wasser.
Sie dachte nach. Nie mehr seit dem Fund dieser Muschel hatte sie solch ein Gefühl verspürt, bis sie Alban angesehen hatte. Doch sie war kein Kind mehr, sondern eine erwachsene, erfolgreiche junge Frau. Sie hatte ihre Verwirrung mit großer Schroffheit überdeckt. Jetzt tat es ihr leid.
Judith gestand sich ein, dass er ihr gefiel. Ich würde ihn sofort nehmen, dachte sie. Dabei war sie selbst von ihrer Entschlusskraft überrascht. Ihr war klar, dass das eine rein emotionale Entscheidung war. Sie wusste nur seinen Namen. Wusste nur, dass er hier in Waldkogel lebte und offenbar hier zur Schule gegangen war. Aber tief im Herzen spürte sie es einfach. Da war die unumstößliche Gewissheit – er ist es.
Plötzlich erschrak Judith. Sie zuckte richtig zusammen. Er ist bestimmt nicht mehr zu haben, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Herz setzte fast aus. Sie rang nach Atem, setzte die Flasche an die Lippen und trank sie aus.
Dann griff sie zu ihrem Handy und wählte Susannes Nummer in Frankfurt. Es dauerte eine Weile, bis Sven sich meldete:
»Hallo, Sven, ich bin’s, Judy! Ich habe eine dringende Frage an Susanne. Ist sie da? Ach, entschuldige. Ich bin so durch den Wind. Also nochmals ›Hallo‹ und einen schönen Sonntag. Was macht ihr?«
»Wir sind mit Peter im Garten und spielen! Was machst du?«
»Ich bin auf einem Bergpfad und kann nicht mehr klar denken!«
»So hoch liegt Waldkogel doch nicht! Die Höhenkrankheit kannst du nicht haben. Außerdem bist du schon eine Woche dort. Du müsstest dich an die etwas dünnere Luft gewöhnt haben.«
»Das hat nicht mit der Höhe zu tun, ich meine mit der geographischen Höhe. Die Meter über dem Meeresspiegel sind mir egal. Ich schwebte irgendwo im Universum des Glücks. Plötzlich tauchte ein Gedanke auf – und jetzt habe ich jetzt das Gefühl, als verliere ich den Boden unter den Füßen. Wobei ich zugebe, dass es im Universum keinen Boden gibt.«
»Aha! Dir scheint wirklich nicht gut zu sein. Sag’, was kann ich für dich tun? Oder warte, ich hole dir Sue!«
Er rief nach seiner Frau. Sie kam. Judy hörte, wie die beiden tuschelten.
Dann meldete sich Susanne.
»Hallo! Schön, dass du anrufst. Einen schönen Sonntag wünsche ich dir. Den Katzen geht es gut, die Pflanzen wachsen und gedeihen. Wie geht es dir?«
»Freut mich, dass daheim alles gut ist. Mir geht es dagegen nicht so gut. Du kennst doch bestimmt einige Leute in Waldkogel. Du hast erzählt, dass du schon öfters dort gewesen bist, richtig?«, kam Judith gleich zur Sache.
»Ja, aber warum …«
Judith ließ Susanne nicht ausreden.
»Sagt dir der Name Grummer etwas? Alban Grummer! Groß, dunkelhaarig, große braune Augen, Wangengrübchen und gelegentlich sehr in Gedanken, aber auch sehr zupackend, wenn es nötig ist.«
Susanne lachte laut.
»Das hört sich nach einem Idealmann an! Hast du dich am Ende verliebt?«
Statt einer Antwort aus Worten, hörte Susanne erst einmal einen langen und sehr tiefen Seufzer.
»Ja, dieses Gefühlschaos nennt man wohl so. Also kennst du diesen Alban? So ein Mann kann doch nicht Single sein. Daran musste ich plötzlich denken. Bevor ich mich da in etwas verstricke, wollte ich Genaueres wissen.«
»Judy, ich erinnere mich an niemanden, der Alban Grummer heißt. Ich bin eine verheiratete Frau. Aber ein solcher Supermann, wie du ihn beschreibst, der wäre mir bestimmt nicht entgangen. Der wäre mir aufgefallen und im Gedächtnis geblieben. Hast du Anna gefragt?«
»Nein, ich bin gerade auf dem Weg zur Berghütte.«
»Gut! Dann sage ich dir etwas! Heute ist Sonntag, da ist viel Trubel auf der Berghütte. Bleibe doch über Nacht oben. Morgen Früh findest du bestimmt einen stillen Moment, um in Ruhe mit Anna zu reden. Anna kann dir da bestimmt Auskunft geben oder Toni. Und wenn Toni und Anna nichts wissen, dann finden sie es für dich heraus.«
»Er ist so wunderbar! Ich wäre zu allem fähig! Ich würde ihn auf der Stelle heiraten!«
»Du bist verrückt!«
»Nein, nur verliebt. Es dauerte einen Tag, aber dann erkannte ich, was mit mir geschehen ist.«
»Nun mal ganz langsam und in aller Ruhe! Tief durchatmen!«
Judith atmete durch.
»Und jetzt?«
»Jetzt gehst du langsam weiter und bist vorsichtig, damit du nicht abstürzt. Es gibt einige Stellen, die gefährlich sind. Grüße mir Anna. Ich denke an dich! Wir telefonieren morgen! Gut so? Rufe mich morgen früh an, dann ist Sven im Büro und Peter im Kindergarten. Du musst mir alles über diesen Supertypen erzählen. Er scheint ein wirklicher Supermann zu sein, wenn er dich so aus der Fassung gebracht hat.«
»Ja, Susanne! Danke, dass du mir zugehört hast!«
Susanne legte auf. Sie schmunzelte. Judith scheint es mächtig erwischt zu haben, dachte sie.
Judith steckte ihr Handy ein. Sie packte die leere Wasserflasche in den Rucksack und schulterte ihn. Mit der Tüte voller Geschenke wanderte sie weiter den Pfad hinauf zur Berghütte. Ihre Gedanken kreisten dabei immer nur um Alban Grummer.
*
Die Berghütte kam in Sicht. Die Terrasse war voller Hüttengäste. Auf dem Geröllfeld spielten ein Junge und ein Mädchen mit einem Hund. Sie warfen mit kleinen Bällen und Stöckchen, die der Hund versuchte, schon in der Luft zu fangen. Das müssen Anna, und Tonis Kinder sein, die Adoptivkinder Franziska und Sebastian, die mit dem Neufundländerrüden spielen, dachte Judith. Sie ging auf sie zu.
»Guten Tag! Seid ihr Franzi und Basti?«
»Grüß Gott! Ja, die sind wir. Ich bin der Basti und des ist meine Schwester Franzi.«
Judith reichte den Kindern die Hand.
»Ich bin die Judy!«
Die Kinder lächelten Judith an.
»Dann bist du die Frau aus Frankfurt, die Freundin von der Susanne.«
»Ja, die bin ich. Und ich habe etwas für euch!«
Judith holte zwei Päckchen aus der Einkaufstüte und reichte sie den Kindern. Auf dem Geschenkpapier standen die Namen.
»Danke fürs Herbringen!«, sagte Franzi.
Übermütig riss sie Papier und Schleife ab.
»Mei, Bücher! Zwei Stück!«
Franziska strahlte. Sie liebte Mädchenbücher, in denen es um Pferde ging sehr. Sie warf Judith noch einen Blick zu und rannte dann davon.
»Die sehen wir so schnell nimmer! Die Franzi wird sich in ihrem Zimmer einsperren und die Bücher auslesen. Sie ist ganz narrisch nach diesen Pferdebüchern.«
»Machst du dein Geschenk auch auf, Sebastian?«
Sebastian löste die Schleife und packte aus. Auch er bekam zwei Bücher. Es waren Abenteuerbücher, die davon handelten, wie mutige Männer im achtzehnten Jahrhundert aufbrachen, um unbekannte Gebiete in Übersee zu entdecken.
»Danke!«
»Musst mir nicht danken! Ich war nur die Postbotin. Ich habe hier noch eine Dose mit Hundekeksen und eine Dose mit Katzendrops.«
»Des ist fein, dass die Susanne auch an Bello und Max gedacht hat«, sagte Basti.
Er nahm Judith die Sachen ab. Sie gingen gemeinsam auf die Berghütte zu. Toni kam ihnen entgegen.
»Grüß Gott, du musst die Judith sein! Ich bin der Toni. Die Anna ist in der Küche. Wir haben dich schon erwartet. Gehe nur rein!«
»Guten Tag, Toni, oder wie man hier in den Bergen sagt ›Grüß Gott‹!«
»Komm, ich bring dich!« Basti nahm Judith bei der Hand und zog sie fort.
»Anna, die Judith ist da!«, rief er laut durch die Berghütte.
»Ich weiß, die Franzi hat es mir schon gesagt! Komm mit ihr in die Küche!«
Sebastian nahm Judith den Rucksack ab und stellte ihn in eine Ecke hinter den Tresen. Sie betraten die Küche.
»Grüß Gott, Judy! Willkommen auf der Berghütte! Setz dich! Ich bin gleich so weit! Sonntags ist immer sehr viel los.«
»Guten Tag, Anna! Mach dir wegen mir keinen weiteren Stress.«
Anna lachte.
»Das Wort ›Stress‹ habe ich seit langem aus meinem Wortschatz gestrichen.«
Anna wendete die Bratwürstchen in der großen Pfanne. Sie schob ein Holzscheit in den alten Küchenherd. Judith sah ihr zu. Sie hat viel Arbeit, dachte sie. Doch sie sieht so glücklich und entspannt aus.
Endlich waren die Bratwürstchen schön braun gebrutzelt. Anna schob sie auf die eine Seite der Pfanne. In die andere Hälfte gab sie Bratkartoffeln und streute Kräuter darüber. Toni kam und holte die Pfanne.
Anna wischte sich die Hände ab.
»So, jetzt habe ich einen Augenblick! Es ist Mittagszeit und Sonntag. Sonntag bedeutet Familienwandertag, dann kommen viele Familien zum Mittagessen auf die Berghütte. Aber jetzt sind alle erst mal verköstigt. Nochmal, willkommen auf der Berghütte!«
Sie reichten sich die Hand. Anna bot Judith etwas zu essen an. Aber Judith nahm nur erst einmal einen Kaffee. Sie packte die restlichen Geschenke aus.
»Das ist für dich Anna! Dies ist das Geschenk für Toni und hier das soll ich dem alten Alois geben! Wo ist er? Ich lege sein Geschenk hierher!«
»Er ist draußen auf der Terrasse mit einer Gruppe junger Bergsteiger und erzählt ihnen, wie es damals in seiner Jugend mit dem Bergsteigen war. Geschichten aus seiner Jugend am Berg zu erzählen, das ist eine seiner liebsten Beschäftigungen. Ich habe den Eindruck, als wirke es wie ein Jungbrunnen auf ihn. Er wird später bestimmt hereinkommen. Dann will ich doch mal sehen, was mir Sue ausgesucht hat.« Anna packte aus.
Es war ein Fotoalbum. Auf dem Deckel klebte ein Bild der Berghütte. Auf der zweiten Seite stand:
Kulinarisches von der Berghütte
Anna erinnerte sich, dass ihre Freundin mit Leidenschaft Bilder von der Berghütte gemacht hatte, besonders vom Essen. Diese Bilder von Annas Brot und Wecken, von ihren verschiedenen Sorten Kuchen hatte Sue auf die linke Seite der Doppelseiten geklebt. Es gab Bilder von Tonis köstlichen Pfannengerichten und von Alois schon bald weltberühmten Eintöpfen.
Anna blätterte Seite für Seite durch.
»Mit wie viel Liebe Sue das gemacht hat!«
»Ja, das hat sie! Sie hat es mir gezeigt, bevor sie es einpackte. Ich soll dir etwas sagen. Hinten sind freie Seiten. Sue weiß, dass die Plätzchen, die Franzi gebacken hatte, einen Preis gewonnen haben.«
»Ja, das sind ›Franzis Waldkogeler Bergspitzen‹!«
»Richtig! Susanne hatte davon kein Foto. Sie ließ deshalb Platz. Außerdem gibt es noch leere Seite, wenn sich auch Basti als Koch versucht.«
»Basti, der ist nicht so der Typ für Kochen am Herd. Er liebt das Grillen und mixt verschiedene Senfsoßen.« Anna lachte. »Ich warne dich, niemals von ihnen zu probieren. Sie sind sehr scharf. Basti meint, dann trinken die Leut’ mehr.«
»Tüchtiger und cleverer Junge!«
»Ja, das ist er! Wir lassen ihm auch die Freude. Auch wenn die Soßen oft so scharf sind, dass es schon einer Körperverletzung nahe kommt. Aber die jungen Burschen aus Waldkogel, die zu unseren Hüttenabenden heraufkommen, die mögen Bastis Senfsoßen gern. Sie wetteifern, wer mehr davon essen kann.«
»Es gehört wohl dazu, dass Männer immer in Wettbewerb treten.«
»Ja, jeder will der Platzhirsch sein«, lachte Anna.
Toni kam mit schmutzigem Geschirr herein.
»Sue schickt dir auch ein Geschenk!«
»Mei, des ist ja eine Überraschung!«
Toni wischte sich die Hände ab und packte das flache, rechteckige Geschenk aus. Es kam ein grauer flacher Pappkarton zum Vorschein. Er öffnete ihn.
»Mei, Anna, schau! Des ist ein gerahmter Stich vom Frankfurter Bahnhof. Er ist wunderschön. Und weckt Erinnerungen.«
Toni schaute Judith an.
»In der Lebensgeschichte von der Anna und mir, da nimmt der Frankfurter Bahnhof eine besondere Stellung ein. Hat dir Sue erzählt, wie die Anna und ich uns kennen gelernt haben?«
»Sie hat es angedeutet!«
»Nur angedeutet, dann werden wir es dir in einem ruhigen Augenblick erzählen. Es ist ein Wunder, dass wir beide uns begegnet sind. Bleibst du länger auf der Berghütte?«, fragte Toni. »Wir halten dich einige Tage hier fest!«, gab er sich gleich die Antwort. »Das haben wir Susanne versprochen. Und Versprechen muss man halten, das weißt du doch, oder?«
»Dann muss ich wohl zustimmen!«
»Ja, das musst du! Morgen ist es nimmer so voll. Viele Hüttengäste reisen am Nachmittag ab. Die neuen Gruppen, die länger Quartier beziehen, kommen meistens erst gegen Montagabend. So ist der Montag ein bisserl ruhiger. Da setzen wir uns morgen schon zusammen und reden.«
»Ja, es ist wirklich sehr voll. Da ist nicht viel mit der Ruhe der Berge. Ich habe den Weg von der Oberländer Alm hier herauf genossen. Ich habe ein altes Ehepaar vor der Almhütte sitzen sehen, ein Paar wie aus einem Bilderbuch.«
»Das sind Wenzel Oberländer und seine Frau Hildegard, die Hilda gerufen wird. Statt sich aufs Altenteil zurückzuziehen, wählten sie ihre Alm. Die beiden sind dort sehr glücklich. Sie sind schon über fünfzig Jahre verheiratet. Sie sind fast das ganze Jahr hier oben. Im Herbst werden die Kühe ins Tal gebracht. Aber Hilda und Wenzel bleiben mit den Ziegen auf der Alm. Nur wenn der Winter gar zu kalt und frostig ist, dann werden die beiden mit dem Schneepflug nach unten gebracht, zusammen mit den Ziegen. Aber die beiden mögen das nicht. Sie wollen auch im Winter auf der Alm bleiben. Und ganz so einsam ist es nicht. Es kommen immer wieder Langlaufskifahrer vorbei. Es hat sich in der Szene herumgesprochen, dass die beiden im Winter auf der Alm sind und es bei ihnen immer ein warmes Plätzchen am Ofen gibt. Die Skifahrer, meistens Burschen aus Waldkogel und Umgebung, bringen ihnen Sachen aus dem Dorf mit herauf.«
»Das hört sich alles sehr gut an! Es scheint in Waldkogel eine gute Dorfgemeinschaft zu geben, eine traumhafte Idylle.«
Toni schmunzelte.
»Ja, wir kommen hier gut miteinander aus. Weißt, es gibt auch mal Streit. Aber des wird dann schon irgendwie geregelt. Die Waldkogeler sind im Grund freundliche Leut’. Sicher gibt es auch ein paar, die net so gut miteinander können, net so dicke befreundet sind, aber wenn es darauf ankommt, dann halten wir zusammen.«
»Es muss schön sein, hier zu leben!«
»Das ist es, Judy! Ich hatte es mir auch nicht vorstellen können, bis ich mich in Toni verliebte!«, sagte Anna mit leuchtenden Augen, aus denen so viel Liebe sprach.
Judy trank ihren Kaffee aus.
»Welche schönen Plätze gibt hier in der näheren Umgebung? Sie müssen einfach zu erreichen sein. Ich bin keine erfahrene Bergwanderin. Ich würde gern noch heute eine kleine Wanderung machen.«
»Dann gehst am besten zum ›Erkerchen‹! Des ist net weit! Von dort hast eine herrliche Aussicht, und tagsüber bist du ungestört. Nachts kannst dort schon mal auf Liebespaare treffen. Die Anna richtet dir Proviant! Ich rede mit dem Sebastian und der Franziska! Sie werden dir den Weg zeigen und dich hinbringen.«
»Danke, Toni, danke für die gute Absicht! Die beiden sind bestimmt am Lesen. Da möchte ich sie nicht stören. Ich werde dieses ›Erkerchen‹ schon finden, wenn du mir den Weg genau beschreibst.«
Judith holte ihren Rucksack.
»Wo kann ich meine Sachen hintun?«
»Im Augenblick haben wir keine Kammer frei, das wird noch bis zum späten Nachmittag dauern. Wenn du abends zurück bist, dann kannst du die erste Kammer hier unten haben. Bis dorthin kannst du deine Sache bei uns ins Wohnzimmer legen.«
Anna ging mit, weil Toni zu den Hüttengästen auf die Terrasse musste. Es wurde nach ihm gerufen. Es war ein warmer Tag, und die Gäste genossen das kalte Bier.
Bald darauf war Susanne unterwegs. Nach Tonis und Annas Wegbeschreibung war es für sie leicht, das ›Erkerchen‹ zu finden. Sie zog ihren Rucksack ab und setzte sich auf die Bank. Judith ließ ihren Blick schweifen. Sie lächelte still vor sich hin. Sie dachte daran, wie wütend sie war, als sie den Überredungskünsten ihres Chefs erlegen war. In Judith reifte ein Plan.
Sie wollte mit ihrem Chef reden. Sie wäre bereit, alle Seminare zu leiten, die in Waldkogel stattfinden. Die Teilnehmer waren von dem Hotel begeistert gewesen und genossen die wunderbare Atmosphäre des Ortes. Auf diese Weise komme ich vielleicht noch öfters nach Waldkogel, überlegte sie. In Gedanken legte sie sich schon die Worte zurecht, wie sie ihren Chef überzeugen wollte, die Seminare zukünftig in Waldkogel statt in Kirchwalden abzuhalten. Hier in dem schönen Ort mit dieser herrlichen Umgebung könnte man auch Entspannungsseminare für gestresste Führungskräfte anbieten. Ich werde die kommende freie Woche nutzen und die ganze Gegend erkunden. Ich werde Wanderrouten zusammenstellen und meinen Chef mit einem ausgefeilten Konzept überraschen.
Judith kramte aus ihrem Rucksack ihren Planer hervor und begann, sich sofort Notizen zu machen.
Mittendrin hörte sie auf. Ihr kam noch einen besseren Einfall. Ich könnte nach Waldkogel umziehen und mich hier mit diesem Konzept selbständig machen. Ich biete meine Dienstleistungen den großen Seminaranbietern an.
Sie machte sich weitere Notizen. Der Gedanke gefiel ihr immer besser und besser. Sie nahm sich vor, ihr Konzept mit Anna zu bereden. Sie war als Exbankerin eine gute Ansprechpartnerin für Judiths Pläne. Außerdem konnten Toni und Anna ihr bestimmt helfen, eine preiswerte Wohnung zu finden. Zwei Zimmer genügen mir zu Anfang, einen Raum zum Wohnen und einen Raum für das Büro. Vielleicht finde ich eine leerstehende Almhütte. Das wäre genial, träumte Judith so vor sich hin.
Ich muss mich auch noch einmal mit Alban treffen und ihm den Gutschein zurückgeben. Ich werde ihn auch fragen, nahm sie sich vor. Er will sein Missgeschick wiedergutmachen, das kann er, indem er mir auf diese Weise hilft.
Judy füllte Seite und Seite in ihrem Notizbuch. Zwischendrin stärkte sie sich mit Tee und dem Proviant, den Anna ihr eingepackt hatte. Sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich sehr gut, so gut wie schon seit langem nicht mehr.
Die Sonne stand schon tief über den Bergen im Westen, als Judy mit ihren ersten Notizen fertig war. Sie legte sie zur Seite, lehnte sich zurück, schloss die Augen und träumte still vor sich hin. Und in ihren Träumen kam auch Alban vor.
*
Alinas Eltern saßen im Garten.
»Wir werden wohl noch einmal mit Alina reden müssen«, sagte ihr Vater.
»Du kennst sie, je mehr Druck man ihr macht, desto mehr mauert sie, Lothar! Ich hoffte, sie kommt im Laufe der Woche zur Vernunft und ruft Alban an oder fährt zu ihm nach Waldkogel. Ich habe das Thema bei ihr nicht mehr angesprochen. Aber sie läuft mit einer richtigen Leichenbittermine durch das Haus.«
»Mitleid kann ich mit ihr nicht haben, Elvira. Sie sagt, sie liebt Alban. Sie muss wissen, wie viel ihm die Heimat bedeutet. Seine Eltern sind neben der Kirche beerdigt. Alban möchte in der Nähe ihrer Gräber seine Braut zum Altar führen. Ich halte das für eine sehr liebevolle und rührende Geste.«
»Ja, das ist es! Alban ist als Waise aufgewachsen, und Heimat bedeutet ihm alles. Er ist ein guter Mensch. Einen besseren Schwiegersohn hätten wir uns nicht wünschen können, Lothar.«
»Ja, das stimmt, Elvira. Aber noch ist er nicht unser Schwiegersohn. Alban ist mir richtig ans Herz gewachsen, ich habe das Gefühl, dass wir mit ihm wirklich einen Sohn gewinnen, wenn denn …« Er brach den Satz ab und seufzte. »Aber ich sehe unsere Chancen sinken, dass Alban jemals zu unserer Familie gehören wird. Er hat sich offenbar auch nicht bei Alina gemeldet. Doch irgendwie kann ich es verstehen. Ein Mann wünscht sich, dass seine Familie seine Braut akzeptiert und sie sich gut einfügt, zumindest, dass sie sich darum bemüht. Außer seiner Tante und seinem Onkel hat Alban niemanden. Er hängt vielleicht deshalb besonders an Waldkogel und wünscht sich, dort zum Altar zu gehen. Ich kann ihn verstehen. Ich habe erwartet, dass Alina mehr auf ihn eingeht, da er ihr sonst jeden Wunsch von den Augen abliest. Ihr Verhalten muss ihn sehr getroffen haben.«
»Das hat es bestimmt. Vielleicht meldet er sich nicht, weil er Alina Zeit zum Nachdenken geben will.«
»Elvira! Alina hatte jetzt wirklich genug Zeit zum Nachdenken!«
»Ja, das hatte sie, Lothar. Ich habe viel über Alina nachgedacht. Sie ist zwar nicht mehr so jung, sie ist dreißig. Trotzdem ist sie für eine dauerhafte Verbindung – das Wort ›Ehe‹ scheue ich fast in diesem Zusammenhang in den Mund zu nehmen, vielleicht ist sie noch unreif für eine dauerhafte Beziehung. Eine gute Ehe beruht auf Geben und Nehmen. Sie scheint das nicht begriffen zu haben. Meine Überlegungen gehen so weit, dass ich mich schon bei dem Gedanken ertappe, dass es besser wäre, die beiden würden noch warten. Wir leben in modernen Zeiten. Vielleicht sollten sie einfach erst einmal zusammenziehen und eine Art Probeehe leben. Mir kommen Zweifel, dass sie – und dabei denke ich mehr an Alina, – dass sie den Alltag meistern.«
Die Eltern schauten sich an und seufzten.
»Elvira, ich dachte, wir waren Alina ein gutes Vorbild?«
»Sicher waren wir das! Doch sie ist erwachsen und muss jetzt selbst ihr Leben gestalten. Wir haben ihr viele Ärgernisse und Hindernisse aus dem Weg geräumt. Das war vielleicht nicht so gut. Unbewusst meint sie vielleicht, alle Menschen müssten ihr alles auf dem Silbertablett servieren, ganz nach den Wünschen der Prinzessin.«
»Stimmt! Sie ist auch über uns ärgerlich, dass wir nicht eindeutig Position für sie bezogen haben. Das hatte sie erwartet.«
»Sicher hatte sie das! Doch wir sagten ihr, sie müsse sich mit Alban einigen.«
»Sie hat es in ihrem Sinn ausgelegt! Ich weiß.«
Elvira schenkte Limonade ein. Es war ein heißer Tag. Sie tranken.
»Dann sollten wir ihr sagen, dass wir auf Albans Seite sind und sie nicht auf uns zählen kann. Vielleicht bringt sie das zum Nachdenken.«
Elvira lächelte ihren Mann an.
»Wie heißt es? Dein Wunsch in Gottes Gehörgang!«
Alina kam in den Garten. Sie setzte sich zu den Eltern.
»Du hast telefoniert? Mit wem hast du geredet?«, fragte sie ihre Mutter.
»Eine Freundin hat angerufen. Sie hat mich eingeladen. Ihr Bruder gibt ein Fest.«
»Ach, so! Wir hatten die Hoffnung, dass du mit Alban telefoniert hast«, bemerkte ihr Vater.
»Nein, das habe ich nicht!«
»Das solltest du aber! Wenn ich an seiner Stelle wäre, würden deine Chancen bei mir sinken.«
»Seine Chancen sinken auch!« Alina schrie es fast heraus.
»So? Und wie sollen wir das verstehen?«, fragte ihr Vater.
»Traditionell ist es doch so, dass die Eltern der Braut die Hochzeit ausrichten. So war es jedenfalls früher einmal. Also wurde am Wohnort der Braut gefeiert. Er hält doch so viel auf Tradition, dann soll er sich unterordnen!«
»Du verdrehst die Tatsachen, Alina!«
»Ich? Ich soll Tatsachen verdrehen? Wie kannst du nur so etwas sagen, Vater!«
»Ja, du siehst die Dinge nur in einem dir angenehmen Licht. Auch wenn es früher so war, dass die Eltern der Braut die Hochzeit ausrichteten, so war damit nicht automatisch festgelegt, dass die Hochzeit am Wohnort der Braut stattfand.«
»Dein Vater hat Recht! Außerdem findet die Hochzeit doch hier statt. Nach dem Gesetz ist die standesamtliche Trauung die maßgebende Zeremonie. Sie findet hier statt und danach feiern wir. Was ist dabei, wenn du eine Woche darauf mit Alban in Waldkogel in die Kirche gehst?«
Alinas Augen verengten sich. Sie schaute zwischen ihren Eltern hin und her. »Jetzt wird mir einiges klar! Ihr seid auf Albans Seite!«
»Ja, das sind wir! Das hast du klar erkannt.«
»Wie könnt ihr mir so in den Rücken fallen? Dann habt ihr ihm noch Mut gemacht, wie?«, schrie Alina.
»Nein, das haben wir nicht, du ziehst einen falschen Schluss. Ich sage dir etwas, Alina. Ich und deine Mutter haben lange über dich gesprochen, fast jeden Abend in diesen vergangenen Tagen. Du benimmst dich kindisch. Wir schämen uns für dich. Alban ist so ein wunderbarer Mann und Mensch! Du solltest dich glücklich schätzen.«
Lothar Fischer schaute seiner Tochter in die Augen. »Alina, deine Mutter und ich wollen dich warnen. Du spielst mit dem Feuer. Wenn du ihn behalten willst, dann solltest du handeln und zwar schnell!«
»Vater, damit meinst du doch, ich soll zu Kreuze kriechen. Nein, das werde ich nicht tun! Niemals! Ich weiß, dass Alban sehr religiös ist. Aber Kirche ist Kirche und damit Schluss.«
Alinas Eltern schauten sich an.
»Gut, Alina! Das ist dein Standpunkt. Den hast du ganz alleine zu verantworten. Wir haben mit dir geredet. Es ist dein Verlobter, deine Hochzeit, dein Leben. Wir möchten nichts mehr davon hören. Wenn er dir den Laufpass gibt, dann komme nicht zu uns und jammere wie ein Kleinkind. In meinen und in den Augen deiner Mutter bist du für eine Ehe zu unreif. Unser letzter Rat an dich ist, vielleicht solltet ihr mit der Hochzeit noch warten.«
Alina wurde blass. An die Möglichkeit, dass Alban sich von ihr abwenden könnte, hatte sie bisher nicht gedacht. Sie fühlte sich seiner ganz sicher. Sie dachte kurz nach.
»Ach, auf diese Angstspielchen falle ich nicht herein. Ich bekomme ihn schon dorthin, wo ich ihn haben will. Das war immer so, und so wird es auch in diesem Fall sein. Alban ist eben unter der Oberfläche ein sturer Bauer, das gewöhne ich ihm schon ab. Er muss sich dringend gefühlsmäßig von Waldkogel lösen. Er muss neue Bindungen eingehen, mit meiner Heimat. Wir werden hier leben und nicht in diesem Bergdorf Waldkogel. Außerdem halte ich sein ganzes Getue für ziemlich überzogen. Er redet immer von Heimat. Warum ist er dann nicht dort geblieben und ist Landwirt geworden?«
Elviras Mutter unternahm einen letzten Versuch. »Fahre zu ihm! Überrasche ihn! Höre dir alles in Ruhe an, schaue dir die Kirche an. Lass dir alles von ihm erklären, wie er es sich gedacht hat. Aber gehe nicht gleich auf Opposition. Bleibe ruhig. Dann denkst du noch einmal in Ruhe darüber nach und ihr redet. Lege ihm – falls du immer noch dagegen bist – ganz ruhig deine Einwände dar. Wir können auch alle deine Freunde eine Woche später zur Feier nach Waldkogel einladen. In Waldkogel gibt es ein großes Hotel, ›Zum Ochsen‹ heißt es. Ich habe mich im Internet informiert. Alina, du bist unser einziges Kind. Wir reisen mit allen Gästen an. Wir mieten einen ganzen Flur in dem Hotel.«
Alina ging auf den Vorschlag ihrer Eltern nicht ein. Stattdessen beharrte sie:
»Nein, ich fahre keinesfalls nach Waldkogel! Dann beginnt das Tauziehen von vorne. Das ist unnötig! Ich warte ab. Seine Tante und sein Onkel reden ihm vielleicht gut zu. Er kann ja nicht ewig Urlaub machen. Wenn er nicht anruft, dann sehen wir uns, wenn er wieder hier ist. Vielleicht ist diese Funkstille auch ganz gut. Dann erlebt und fühlt er, wie es ohne mich ist.«
Ihre Eltern warfen sich Blicke zu.
»Alina, wir hoffen für dich, dass sich alles regelt«, sagt Lothar leise.
Die Eltern wussten nicht mehr, was sie sagen sollten. Es entstand eine peinliche Stille am Tisch. Alina trank ihren Saft aus. Sie stand auf.
»Ich nehme jetzt ein schönes Bad und mache mich hübsch für heute Abend. Ich bin froh, unter Menschen zu kommen. Glaubt ihr vielleicht, ich bin glücklich mit der Situation? Wenn ihr das denkt, dann irrt ihr euch gewaltig.«
Alina stand auf und lief ins Haus.
Ihre Eltern seufzten tief. Es bedurfte keiner Worte. Sie waren sich einig, dass ihre Tochter ihr Lebensglück aufs Spiel setzte.
*
Alban wanderte quer über die Wiesen hinter dem Grummer Hof, durch den sich anschließenden Wald, wie er es als Kind so gerne getan hatte. Schöne Erinnerungen stiegen in ihm auf. Es war ursprünglich seine Absicht gewesen, Alina das Revier seiner Kindheit zu zeigen. Plötzlich erkannte er, dass es eine unnötige Bemühung gewesen wäre. Alina war nicht fähig, seine tiefen inneren Gefühle zu verstehen, die er für seine Heimat und die Tradition empfand.
Er ging weiter. Seine Enttäuschung über Alinas Verhalten wich langsam einer neuen Erkenntnis. Alina würde nie mit ihm die Freude über diese Landschaft teilen können. Mit ihr wäre es unmöglich, einfach nur am Berghang zu sitzen und zu warten, bis die Sonne ganz hinter den Bergen versank. Das wäre Alina zu langweilig, weil sie kein Empfinden dafür aufbringen konnte. Die Schönheit der Natur berührte ihr Herz wenig, das erkannte Alban. Alina hatte sich zwar für seine Arbeit interessiert, und durch ihre Tätigkeit bei den Messen hatten sie auch immer wieder Gesprächsstoff gehabt. Sie liebte auch den Wassersport, fuhr Wasserski und surfte. Sie war mit ihm tauchen gewesen. Alle diese Gemeinsamkeiten hatten Alinas Einstellung zu den Bergen und zu Waldkogel verdeckt. Oder ich habe es nicht gesehen, überlegte Alban. Weil wir uns in vielen anderen Dingen einig waren, ging ich auch davon aus, dass sie meine Liebe zu meiner Heimat teilte oder wenigstens Verständnis dafür aufbrachte. Alina ist eine clevere junge Frau, dachte Alban. Das schätze ich. Genauso gut ist es möglich, dass sie mich getäuscht hat, ganz bewusst. Sie hat mich umgarnt und vielleicht gedacht, mich im Laufe der Zeit mehr und mehr in ihrem Sinn zu beeinflussen.
Alban blieb stehen. Er schaute durch die Wipfel der Berge hinauf in den strahlendblauen Himmel. Er seufzte tief. Ihm wurde plötzlich klar, wie ernst es Alina war. Es war nicht nur eine Laune. Die Hochzeitsplanung hatte eine tiefe Kluft zwischen ihnen aufgetan.
Alban ging weiter. Er trat aus dem Wald und hatte einen freien Blick auf den Gipfel des ›Engelssteig‹. Er schaute hinauf und schickte alle die Fragen in seinem Herzen hinauf.
Er stand lange an einen Baum gelehnt und dachte an die Geschichten von den Engeln und dem ›Engelssteig‹. Während er so dastand, fielen ihm plötzlich einige Zeilen aus einem Gedicht ein. Es war ›Das Lied von der Glocke‹ von Friedrich Schiller.
»Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich Herz zu Herzen findet. Der Wahn ist kurz, die Reue ist lang«,
flüsterte Alban leise vor sich hin.
Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Und es war ihm plötzlich klar, dass er noch einmal prüfen wollte, prüfen musste. Ich liebe Alina, oder soll ich bereits sagen, ich liebte Alina, fragte er sich. Jedenfalls wusste er, dass er keinen Teil von sich aufgeben könnte. Es ist ein Maßstab, den das Schicksal mir an die Hand gegeben hat. Ich werde mir Zeit lassen. In diesem Augenblick sagte ihm sein Herz, dass Alina Vergangenheit war. Nein, er würde sie nicht heiraten.
Ich war ein Narr, habe mich von Anfang an zu sehr angepasst. Ich wollte sie haben. Gut, in gewisser Weise habe ich sie bekommen. Ich kann sie auch für ein ganzes Leben haben, aber der Preis dafür ist mir zu hoch. Ich werde die Verlobung lösen, dachte er. Es ist besser so. Es schmerzt, aber ein Leben mit ihr wäre noch schmerzlicher. Wenn ich mich je wieder verliebe, dann nur in ein Madl, das meine Bindung zur Tradition und meiner Heimat versteht. Das werde ich als Erstes testen und sie nach Waldkogel bringen.
»Judith!«, brach es laut aus ihm hervor.
Er erschrak vor seiner eigenen Stimme. Dann lächelte er. Ja, Judith. Jetzt müsste sie auf der Berghütte sein. Sein Herz schlug schneller. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch genug Zeit. Alban stärkte sich aus dem Rucksack und wanderte zügig los querfeldein, bis er auf den Pilgerpfad stieß. Es waren an diesem Sonntag ganze Wandergruppen unterwegs. Er grüßte nur und ging schnell weiter. Er hatte nur ein Ziel, so schnell wie möglich zur Berghütte zu kommen. Hoffentlich ist Judith noch dort. Aber es war noch nicht so spät. Außerdem würde Anna die Freundin ihrer Freundin nicht so schnell gehen lassen.
Ich muss herausfinden, ob Judith in festen Händen ist. Wundern würde es mich nicht. Aber ich bin mir fast sicher, dass sie nicht in festen Händen ist, so wie sie mich angesehen hat, sagte er sich. Mit klopfendem Herzen erinnerte sich Alban an Judiths große blaugrüne Augen.
Er setzte seinen Weg fort.
*
Die Sonne war schon zur Hälfte hinter den Bergen im Westen versunken. Judith stand am Geländer und sah über das Tal und die Berge. Sie wollte sich alles tief einprägen.
»Es ist so wunderschön hier«, flüsterte sie vor sich hin.
Judith gab sich ganz ihren Träumen und Gefühlen hin.
»Hallo, Judith! Grüß dich! Des ist aber ein Zufall, jetzt laufen wir uns heute schon zum zweiten Mal über den Weg. Das muss etwas zu bedeuten haben, meinst net auch?«
Judith zuckte zusammen. Sie erschrak heftig und wandte sich um. Ihr Herz raste. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie ihn sah. Die Beine wurden ihr weich, und sie versagten ihr schließlich den Dienst. Judith wehrte sich verzweifelt gegen den über sie hereinbrechenden Schwindel. Vergeblich! Es wurde ihr schwarz vor den Augen, dann sank sie zu Boden.
Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass jemand wie aus weiter Ferne ihren Namen rief. Die Stimme wurde lauter. Dann spürte sie, wie jemand ihr die Wangen tätschelte.
»Judith! Hallo, Judith, aufwachen! Judith, hörst du mich?«
»Was ist?«
Sie blinzelte. Als sie Albans Gesicht dicht über sich sah, schloss sie wieder die Augen. Danach spürte sie, wie er ihr sanft die Wange streichelte.
»Judith, aufwachen! Sieh mich an! Hierbleiben!«
»Mmm! Geht schon!«
Mit geschlossenen Augen schob sie ihn von sich und setzte sich auf. Alban kniete sich neben sie und legte den Arm um sie.
»Du bist plötzlich in Ohnmacht gesunken. Geht es dir wieder gut?«
Alban griff nach ihrem Handgelenk und fühlte den Puls.
»Lege dich wieder hin! Und dann die Beine hoch!«
Judith, der es immer noch ziemlich schummerig war, gab sich willenlos in seine Hände. Er bettete Judith auf seine Jacke und hob ihr die Beine an.
»Jetzt lässt die Blutleere in deinem Kopf gleich nach!«
Alban lächelte sie an.
»Ja, jetzt bekommst du langsam wieder rosige Wangen!«
»Danke für deine Fürsorge und Hilfe! Aber lass jetzt meine Füße los. Es geht schon wieder!«
Alban legte ihre Beine sanft ab. Er griff sie um die Taille und zog sie hoch. Ihre Gesichter waren sich dabei ganz nah. In Judiths Kopf begann sich schon wieder alles zu drehen.
»Oh! Nicht schon wieder!«, stöhnte sie.
»Halte dich an mir fest! Lege deine Arme um meinen Hals!«
Ohne weiter nachzudenken, klammerte sich Judith an ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er hielt sie fest und streichelte ihr blondes Haar.
»Bleibe einfach ganz ruhig! Ich halte dich fest!«
»Das ist mir so peinlich!«
Alban sprach leise auf sie ein.
»Das muss dir nicht peinlich sein. Wir haben hier in den Bergen ein besonderes Klima, das bist du nicht gewöhnt. Das hat schon starke Männer umgehauen!«, versuchte er sie zu trösten. »Das muss dir nicht peinlich sein, deswegen musst du dich nicht schämen.«
Judith hob den Kopf und schaute in seine braunen Augen. Wieder drehte sich alles. »Was macht man dagegen?
»Alles was den Kreislauf anregt!«
»Was regt den Kreislauf an?«
»Hast du genug getrunken?«
»Ja! Ich denke schon!«
»Hast du genügend gegessen?«
»Ja!«
»Kannst du zur Bank gehen, oder soll dich tragen?«
»Ich brauche noch einen Augenblick Zeit, dann wird es schon gehen.«
Er hielt sie fest.
»Gleich geht es mir besser. Ich war nur so in Gedanken und bin erschrocken, als du mich ansprachst.«
»Das habe ich bemerkt! Das wollte ich nicht. Nicht, dass du denkst, ich würde dich mit Absicht anrempeln oder dich erschrecken.«
»Das denke ich nicht! Dazu bist du nicht der Typ.«
Er lächelte sie an. Sie schauten sich in die Augen.
»Was denkst du?«, fragte sie.
»Das möchte ich besser für mich behalten.«
»Dann ist es etwas Schlimmes, oder?«
»Das kommt darauf an! Ich frage dich nicht auch nicht, wo du mit deinen Gedanken warst, als ich dich ansprach. Du hast mich angestarrt, als würdest du einen Geist sehen, bevor du zu Boden gesunken bist.«
»Ja, ich war erschrocken. Denn ich habe an dich gedacht, an heute Morgen bei der Kirche und im Auto und …«
Er schaute ihr in die Augen und lächelte sie an.
»Dann war ich plötzlich hier, und du bist in Ohnmacht gefallen! Das ist eine Liebeserklärung!«
»Eine Lie… eine Liebes … eine …«, stotterte Judith. »Alban Grummer, wie kommst du darauf, das so zu deuten? Lass mich sofort wieder los, mir geht es wieder gut!«
Judith drückte ihre Hände gegen seine Schultern, um sich von ihm wegzudrücken. Doch Alban lächelte sie weiter an. Er hielt sie fest. Langsam kamen seine Lippen näher.
»Alban, was geschieht mit uns?«
»Ich denke, das ist das Wunder der Liebe!«
Seine Lippen berührten zärtlich die ihren. Er spürte, wie sie ein wenig zitterte. Sie schlang die Arme wieder um seinen Hals. Ihre Hände wühlten in seinem vollen schwarzen Haar, als sich ihre Lippen zu tiefen und langen innigen Küssen fanden. Die Welt um sie herum versank in Unbedeutsamkeit. Es gab nur sie beide und die Liebe, die ihre Herzen füllte und eine Sehnsucht stillte, derer sie sich vorher in dieser Dimension nicht bewusst gewesen waren. Für Alban gab es nur Judith und für sie nur ihn.
Es dauerte lange, bis sie sich aus den ersten Zärtlichkeiten lösten. Sie lächelten sich an und sahen sich in die Augen. Ihre Hände fanden sich für die wenigen gemeinsamen Schritte bis zur Bank. Sie setzten sich. Alban begann, seinen Rucksack auszuräumen.
»Was hast du denn alles noch da drin? Das gibt ja ein richtiges Festessen, Alban.«
»Dann greife zu! Es sind lauter Sachen von unserem Hof, Käse, Wurst und Schinken, Obst aus dem Gemüsegarten. Der Saft ist auch selbstgemacht. Nur beim Brot habe ich vergessen, zu fragen. Früher wurde auf unserem Hof das Brot selbst gebacken.«
Alban schnitt mit seinem Taschenmesser eine Scheibe ab und reichte sie Judith.
»Was willst du dazu essen?«
»Ich möchte alles probieren! Dann bist du auf einem richtigen Bauernhof daheim.«
»Ja, aber ich lebe nicht ständig dort. Ich bin im Augenblick nur zu Besuch. Ich mache Urlaub hier, genau wie du.«
»Das kannst du nicht so sagen. Du machst keinen Urlaub wie ich. Du bist heimgefahren, hast deine Heimat besucht.«
Alban strahlte. Er schnitt ihr Wurst, Schinken und Käse ab und legte ihr es hin. Dann schnitt er sich ein Stück Käse ab und aß es aus der Hand ohne Brot.
»Das hast du schön gesagt, Judith. Ich hänge sehr an Waldkogel. Irgendwann werde ich auch wieder heimkommen, für immer. Ich komme so oft zu Besuch, wie es mir möglich ist.«
»Das verstehe ich! Waldkogel ist ein wunderschöner Ort. Es kommt mir vor, als hätte es mich ins Paradies verschlagen.«
»Wieso verschlagen?«
»Das ist schnell erklärt. Ich bin Seminarleiterin und Trainerin gewesen. Da ist man viel unterwegs. Irgendwann war mir das unstete Leben nur noch lästig. Ich suchte mir in Frankfurt bei einer anderen Firma einen Job in einer Leitungsfunktion im Innendienst. Für die vergangene Woche und die nächste Woche waren Seminare in Kirchwalden geplant, die dann kurzfristig nach Waldkogel verlegt werden mussten.«
»Ins Hotel ›Zum Ochsen‹?«
»Richtig! Der vorgesehene Trainer sagte kurzfristig ab. Also musste ich einspringen. Ich war sehr verärgert. Aber jetzt sehe sich es als Glücksfall an. Ich bin fasziniert von Waldkogel. Dieser Ort hat eine gute Atmosphäre.«
»Was hast du schon alles gesehen? Wo bist du schon gewesen? Was kennst du? Bergsee, die Kate der alten Ella Waldner im Wald, das Waldschößchen der Grafen, unsere schöne Barockkirche?«, zählte Alban auf.
»Halt! Langsam! Ich kenne nur das Hotel und einige der Straßen, die Oberländer Alm, aber nur flüchtig. Ich war kurz auf der Berghütte, aber dort war heute sehr viel los. Ich suchte mehr nach Ruhe. Toni hat mir geraten, hierher zu gehen.«
»Und dann sind wir uns hier wieder begegnet!«
»Ja, das sind wir! Und es war ein höchst dramatisches Zusammentreffen!«
Judith lachte.
»Siehst du, jetzt lachst du wieder! Ohne deine kleine Unpässlichkeit hätten wir uns mit Sicherheit nicht so schnell geküsst.«
Sie sahen sich an. In ihren Blicken lag so viel Sympathie, Zuneigung und Liebe.
»Wenn du noch nichts von Waldkogel gesehen hast, dann zeige ich dir meine Heimat.«
»Ich nehme dich gern als Fremdenführer!«
»Ich fühle mich geehrt. Dann komme ich abends zum Hotel und hole dich ab!«
»Ich habe diese Woche frei und wollte einige Tage auf der Berghütte verbringen. Wie lange hast du Urlaub?«
»Länger!« Alban zögerte. »Ja … Ich wollte dieses Mal länger bleiben. Doch ich kann den Urlaub nicht am Stück nehmen. Ich muss für einige Tage unterbrechen.«
»Was sein muss, muss sein! Also, ich bin bis Ende nächster Woche hier!«
Alban überlegte.
»Ich könnte gleich morgen fahren und wäre am Mittwoch zurück. Ich habe vor meiner Abreise die genaue Stellungnahme zu einem Problem vor mir hergeschoben. Hier in der Ruhe der Berge wurde mir klar, dass ich das schnellstens regeln muss, damit ich den Kopf frei bekomme.«
»›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‹, sagt man. Also bringe es schnell hinter dich!«
»Richtig! Aber heute erledige ich nichts. Heute will ich nur bei dir sein!«
Er griff nach ihrer Hand und führte sie zu seinen Lippen. Sie schaute ihn zärtlich an.
»Ich will dich nicht von deinen Aufgaben abhalten. Du kommst ja wieder.«
»Reden wir nicht davon! Sage mir lieber, was du zuerst gezeigt haben willst?«
»Mache einen Vorschlag!«
»Fangen wir in der Dorfmitte an! Da gibt es die herrliche Barockkirche.«
»Sie hat wunderschöne Glocken. Ich höre gern, wenn sie läuten.«
»Ja, sie haben einen herrlichen Klang. Freut mich, wenn dir der Klang gefällt. Die Orgel ist auch sehr alt. Die musst du dir anhören.«
»Sehr gern, ich liebe Orgelmusik. Eigentlich wollte ich heute Morgen zum Gottesdienst, aber ich habe verschlafen!«
Alban lächelte still. Er sah sehr glücklich aus.
»Einen Cent für deine Gedanken!«
»Ich dachte gerade, dass ich daheim erzählen muss, dass ich jemanden getroffen habe, dem die Kirche gefällt.«
»Warum?«
»Nun, weil in Waldkogel zur Zeit etwas getratscht wird. Es geht da eine Geschichte von Mund zu Mund, die die Waldkogeler fast beleidigt. Sie sind nämlich alle sehr stolz auf ihre Kirche.«
»Das können Sie auch! Willst du mir die Geschichte erzählen? Ich habe nichts gegen ein wenig Tratsch. Außerdem lerne ich den Ort dann noch besser kennen.«
»Gut! Also höre! Ein Bursche, Namen nenne ich aber nicht«, erklärte Alban.
Judith nickte verständnisvoll.
»Also, der Bursche war mit einem Madl verlobt, die nicht aus Waldkogel war. Es stand die Hochzeit an und es musste geklärt werden, wo diese gefeiert werden soll. Der Bursche schlug vor, die standesamtliche Trauung sollte am Wohnort des Madls stattfinden, später würde man in der schönen Barockkirche von Waldkogel heiraten. Doch das Madl wollte nicht im Heimatort des Burschen zur Kirche gehen. Das war ihr zu ländlich, zu schlicht, zu spießig. Sie weigerte sich. Die beiden redeten nicht mehr miteinander. Schließlich kam es zum Bruch, und sie trennten sich.«
»Sie muss eine richtige Närrin gewesen sein! Der Bursche soll froh sein, dass er sie los ist. Das kannst du ihm von mir sagen, auch wenn ich ihn und das Madl nicht kenne. Was gibt es Romantischeres als eine ländliche Trauung? Mit der Kutsche in die Kirche fahren, ihr folgen die Hochzeitsgäste und eine Blaskapelle. Dann all die alten traditionellen Bräuche, das Baumstammsägen nach der Trauung und was es sonst noch für lustige Bräuche gibt! Da kennst du dich bestimmt besser aus.«
»Ich werde es dem Burschen sagen. Er wird sich sehr freuen.«
Alban schenkte Saft ein. Sie tranken.
»Wenn du nicht gerade Urlaub machst, was machst du dann, Alban?«
»Bitte lache nicht. Ich arbeite auf einer Werft in der Planung und baue Schiffe. Ich bin Ingenieur für Schiffbau!«
»Ich gebe zu, das ist ein ungewöhnlicher Beruf für jemanden aus den Bergen. Aber es gibt hier einen Bergsee. Dort hast du als Kind bestimmt gespielt und Flöße gebaut.«
Albans Augen strahlten.
»Ja, das habe ich! Ich hatte eine ganze Flotte. Es gibt Bilder davon. Ich werde sie heraussuchen, wenn es dich interessiert.«
»Absolut!«
»Das freut mich! Weißt du, als junger Bub nannten sie mich Alf, nach dem Außerirdischen, weil ich diesen Beruf ergreife wollte. Das war damals bestimmt noch exotischer als heute. Buben wollten Fremdenführer, Bergsteiger werden, zur Bergwacht gehen, im Winter als Skilehrer arbeiten oder einfach nur Bauer werden. Sie bildeten mit vierzehn und fünfzehn Jahren ihre ersten Seilschaften und kletterten auf den ›Engelssteig‹. Ich schloss mich ihnen damals nie an. Ich war am Bergsee oder hockte über Büchern, in denen es um Schiffe ging.«
Sie lächelte ihn an.
»Alban, ich will dir jetzt auch etwas erzählen, was ich noch niemandem erzählt habe. Kennst du den amerikanischen Film ›Hausboot‹ mit Sophia Loren?«
»Sicher!«
»Also, dann höre zu! Ich habe mich in das Boot verliebt. Ich träume davon, dass ich es mir irgendwann im Leben nachbauen lassen könnte. Auch wenn ich nicht am Wasser wohnen würde, will ich es haben! Dann würde ich im Garten feinen Kies aufschütten lassen und es darauf stellen als maritimes Gartenhaus. Oder ich pflanze ein riesiges Beet mit lauter blauen Blumen. Dabei dachte ich an ein Meer von Vergissmeinnicht.«
Judith las in Albans Augen, dass er ihren Traum verstand. Er lachte sie nicht aus.
» Das ist eine wunderbare Idee. Ich kann es mir sehr gut vorstellen. Es wird sehr schön aussehen, das weiße Hausboot inmitten einem Beet aus lauter Vergissmeinnicht. Es würde noch schöner aussehen, als läge es im Wasser. Der Bootssteg müsste dann über das Blumenbeet zum Rasen führen. Die Blumen stellen das Wasser dar.«
»Genauso habe ich es mir vorgestellt, Alban!«
»Ich werde dir die Pläne zeichnen! Ich habe daheim in meiner Wohnung den Film auf Video.«
»Oh, Alban! Kannst du ihn mitbringen?«
»Das mache ich gerne! Ich stehe ja immer noch in der Kreide bei dir wegen deines Absatzes. Den Gutschein hast du ja nicht eingelöst.«
»Die Schuhe sind repariert. Damit wäre es unehrlich, wenn ich den Gutschein annehmen würde. Ich denke, man sollte immer ehrlich sein.«
»Sicher sollte man ehrlich sein! Bist du noch hungrig?«
»Nein! Danke, es war mehr als köstlich!«
Alban packte den Rest des Proviants ein. Jetzt war der Platz zwischen ihnen frei. Er rückte dichter an sie heran. Er legte seine Arm um sie. Er wollte sie küssen, sie wich aus.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, Alban!«
Sie streichelte ihm die Wange.
»Wir wollen ehrlich sein! Es hat uns vorhin einfach überwältigt, und es war wunderbar. Es war das, was ich wollte. Du hast mir bereits im ersten Augenblick gefallen, in Kirchwalden. Wow, was für ein Mann!, dachte ich.«
»Bursche, sagt man in den Bergen!«
»Gut, also was für ein Bursche, dachte ich. Dann fragte ich mich, ob dein Herz frei ist. Ich will kein Abenteuer, keinen Urlaubsflirt.«
»Judith! Es war bei mir Liebe auf den ersten Blick! Ich dachte den ganzen Tag darüber nach, ob du noch zu haben bist. Deshalb wollte ich zur Berghütte. Ich wollte es herausfinden. Ich war sogar bereit, Anna oder Toni zum Spionieren zu bringen.«
»Alban, ich bin frei! Ich hatte in der Vergangenheit Beziehungen. Aber nie habe ich während den Küssen das empfunden, was ich bei dir gefühlt habe.«
»Ich habe gespürt, dass dein Herz frei ist. Es hat auf mich gewartet. Und mein Herz ist auch frei, das heißt, jetzt ist es nicht mehr frei. Jetzt wohnt die Liebe zu dir darin. Die Liebe hat mächtig in die Trickkiste gegriffen, damit wir uns so schnell nahe kommen konnten.«
»Ja, so ist es wohl. Als du plötzlich vor mir, neben mir standest, schwanden mir vor lauter Glück die Sinne.«
»Das ist Liebe!«
»Ja, Alban, das ist Liebe!«
Sie küssten sich lange und innig.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie bemerkten, dass die Sonne schon untergegangen war. Am westlichen Himmel war nur noch ein schmaler heller Streifen zu sehen.
»Wir sollten aufbrechen! Ich bringe dich zurück zur Berghütte.«
Sie schulterten die Rucksäcke und gingen Hand in Hand den schmalen Pfad zurück, der oben am Berg am Ende des Geröllfeldes endete, auf dem die Berghütte stand. Dort blieben sie stehen und küssten sich noch einmal zärtlich.
Die Berghütte war noch hell erleuchtet. Es saßen noch Hüttengäste auf der Terrasse. Musik wehte zu ihnen herüber.
»Toni und Anna zelebrieren einen Hüttenabend mit Tanz!«, sagte Alban.
»Tanzen! Ich tanze gerne und du?«
»Ich tanze auch gern, Judith. Aber nicht heute Abend.«
Ein Schatten huschte über Judiths Gesicht.
»Warum?«
Ihr Herz zweifelte plötzlich. Alban zog sie fest in seine Arme.
»Weil ich lieber mit dir allein bin. Ich will nicht das Risiko eingehen, dass dich ein anderer Bursche zum Tanz auffordert.«
»Klingt nach krankhafter Eifersucht!«
»Nein, ich bin heute nur ein bisserl egoistisch! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben.«
Alban nahm Judith wieder in den Arm und küsste sie.
»Gut, dann machen wir es anders, Alban! Ich bringe schnell meinen Rucksack in die Berghütte. Anna und Toni machen sich vielleicht Sorgen, dass ich in den Bergen verlorengegangen bin. Es ist schon dunkel.«
Judith wollte davonlaufen. Alban hielt sie fest.
»Ich habe eine andere Idee! Setzen wir uns!«
»Welche?«
»Lass dich überraschen!«
Alban rief über das Handy zu Hause an. Er bat um die Telefonnummer der Berghütte. Dann wählte er und gab Judith das Handy.
Toni meldete sich. Judith erklärte, dass es ihr gut gehe und sie in besten Händen sei, ganz in der Nähe der Berghütte.
»Es dauert noch eine Weile, bis ich zurückkomme. Ihr müsst euch keine Sorgen machen!«
»Soso, in besten Händen bist du, Judy? Hört sich nach einem feschen Burschen an. Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.«
Judith lachte und warf Alban einen Seitenblick zu.
»Ja, Toni, fesch ist er schon.«
»Willst net kommen? Hier gibt es Tanz.«
»Nein danke! Das Beisammensein mit ihm gefällt mir besser. Ich komme später. Grüße mir Anna!«
Judith legte schnell auf. Sie lachte und gab Alban das Handy zurück.
»Toni kann wohl hellsehen, Alban«, grinste sie.
»Toni hat viel Menschenerfahrung. Jetzt reden wir aber nicht über Toni, sondern nur über dich und mich. Genau genommen müssen wir auch nicht reden. Es gibt eine andere höchst vergnügliche Verwendung von Lippen.«
»Stimmt! Wir können auch schweigen und küssen!«, ergänzte Judith sinngemäß.
»Genau, wobei Küsse sehr viel sagen können!«
»Ja, das können sie. Küsse sagen mehr als Worte.«
*
Es war lange nach Mitternacht, als sich Judith und Alban voneinander verabschiedeten. Hand in Hand gingen sie übers Geröllfeld zur der Stelle, an der der Pfad hinunter zur Oberländer Alm abzweigte. Sie umarmten sich noch einmal innig und tauschten heiße Küsse. Alban versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen. Die Trennung fiel ihnen schwer, aber sie trösteten sich damit, dass sie mehrmals am Tage telefonieren wollten. Alban wartete, bis Judith die Berghütte erreichte. Im Licht, das aus der Berghütte auf die Terrasse fiel, sah er, wie sie ihm zuwinkte und mit beiden Händen ihm Küsse zuwarf. Dann ging sie hinein.
Alban ermahnte sich selbst, langsam den Pfad zur Oberländer Alm hinunterzugehen. In der mondhellen Nacht sah er genug. Außerdem kannte er den Weg gut. Trotzdem wusste er, dass es gefährlich war. Er hatte seine Kindheit in den Bergen verbracht und kannte die Gefahren nur zu gut.
Er war froh, als er die Oberländer Alm erreichte. Er nahm nicht den Milchpfad hinunter nach Waldkogel, sondern den Fußweg quer über die Almen.
Seine Tante und sein Onkel kamen erstaunt aus ihrem Schlafzimmer, als sie ihn hörten.
»Bub, du bist schon wieder da? Wir dachten, du bleibst länger.«
»Ich habe gefunden, was ich suchte, deshalb bin ich wieder da. Aber ich bleibe nicht lange.«
Sie betrachteten ihn. Er strahlte. Solch ein Leuchten hatten sie schon lange nicht mehr in seinen Augen gesehen.
»So, du willst net lange bleiben? Wo willst denn hin?«
Voller Lebensfreude umarmte Alban seine Tante Lore.
»Tantchen, kannst dir schon mal Gedanken über meine Hochzeit machen.«
»Dann hast dich mit der Alina geeinigt?«
»Naa!« Alban grinste über das ganze Gesicht. »Naa! Ich fahre jetzt zu ihr und bringe es hinter mich, wie sich des gehört. Ich sage ihr, dass ich die Verlobung löse. Ich gebe ihr die Geschenke zurück, die ich von ihr bekommen habe. Ich will nichts besitzen, was mich an sie erinnert. Meine Geschenke kann sie behalten oder fortwerfen. Darauf lege ich keinen Wert.«
Lore und Adam Grummer schauten sich verwundert an. Adam zog den Gürtel seines Schlafmantels enger. Lore schloss die oberen Knöpfe ihres Nachtjäckchens.
»Bub, wir verstehen net! Wieso sollen wir uns Gedanken über deine Hochzeit machen, wenn du die Verlobung mit der Alina lösen willst?«
Alban lachte. Sein Lachen klang fröhlich. Es war ein Ausdruck größten Glücks.
»Mei, Tante! Wie heißt es? ›Andere Mütter haben auch schöne Töchter!‹ Und mir haben die Engel vom ›Engelssteig‹ des Madl vor die Füße gelegt.«
So aufgedreht hatten Lore und Adam ihren Buben schon lange nicht mehr gesehen.
»Dann hast ein anderes Madl gesehen?«
»Gesehen? Naa, dabei ist es net geblieben. Wir sind schon beim Küssen. Sie ist es! Sie ist es! Aber ich muss erst die Sache mit der Alina bereinigen. Ich muss net bei Verstand gewesen sein, dass ich mir eingebildet habe, ich könnte mit der Alina glücklich werden! Ich muss vollkommen umnachtet gewesen sein, richtig deppert bin ich gewesen!«
Er ging in sein Zimmer und begann seine Reisetasche zu packen. Er ließ die Tür offen und erzählte von Judith. Es war mehr als ein Erzählen, es war eine einzige Ode an Judith und eine Hymne für die Liebe.
Seine Tante und sein Onkel standen in der offenen Tür, sahen und hörten ihm zu.
»Dann willst wohl sofort fahren, Alban? Willst net erst wenigstens ein paar Stunden schlafen? So eine lange Autofahrt ist anstrengend. Wir möchten net, dass du am Steuer vor Müdigkeit einschlafen tust. Besonders nachts kann das schnell geschehen. Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich mir vorstelle, wie du da gegen Norden braust in der Dunkelheit.«
Alban ging auf seine Tante Lore zu. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich weiß um die Gefahr. Aber ich bin so hellwach, ich bin glockenwach, wie man sagt, als hätte ich ein Aufputschmittel genommen. Glaubst denn wirklich, ich könnte jetzt noch schlafen?«
Seine Tante seufzte leise.
»Kannst du mir etwas Leichtes zu essen machen und eine große Kanne Kaffee? Die Hälfte trinke ich gleich, die andere, die tust mir in eine Thermoskanne. Ich verspreche dir, dass ich alle einhundert Kilometer eine Pause mache.«
»Komm, Adam, machen wir dem Buben was Gutes zu essen! Gehe schon mal vor, ich ziehe mir nur noch etwas anderes über, dann komme ich runter in die Küche.«
»Danke!«, sagte Alban. »In der Zwischenzeit nehme ich eine Dusche und ziehe mich an.«
Er verschwand im angrenzenden Badezimmer.
Es dauerte nicht lange, dann saßen die drei in der großen Wohnküche
des Grummer Hofes. Alban aß mit viel Appetit und trank den Kaffee dazu. Er erzählte zwischen den Bissen ausführlich von Judith, der er so schnell wie möglich sich erklären wollte.
»Mei, des müsst ihr verstehen, dass ich net über die Sache mit der Alina mit ihr reden konnte. Immer erst eine Sache zu Ende bringen, bevor man eine Neue anfangen tut, des habt ihr mir beigebracht und vorgelebt.«
»Bist dir denn wirklich ganz sicher, Alban? Ist die Judith des richtige Madl?«
»Ja!«, antwortete er mit fester Stimme. »Da bin ich mir absolut sicher. Meine Überzeugung ist so fest wie die Berge rund um Waldkogel.«
Er trank einen Schluck Kaffee.
»Ich fahre jetzt heim in meine Wohnung, sammle ihre Geschenke ein und fahre zu Alina. Ich rede mit ihr und löse die Verlobung.«
Er lächelte.
»Dann werde ich hoffentlich einige Stunden schlafen können. Anschließend komme ich zurück. Ich treffe mich mit Judy oben auf der Berghütte. Ich rede mit ihr und mache ihr meinen Antrag.«
»Der Himmel stehe dir bei, Bub!«
»Das wird er, Tante Lore. Die Engel vom ›Engelssteig‹ sind auf meiner Seite, das ist ganz sicher.«
Adam griff über den Tisch nach der Hand seiner Frau.
»Lore, dann geben wir dem Buben auch unseren Segen für sein Vorhaben, meinst net?«
»Doch, den geben wir ihm. Wenn er so davon überzeugt ist, dass die Engel ihn und diese Judith geführt haben, dass sie zusammenkommen.«
Sie wiegte den Kopf.
»Judith, das ist ein Name aus der Bibel. Wenn ich mich recht erinnere, war sie eine fromme und schöne Witwe. Dass deine Judith gottesfürchtig ist und auch schön, des hast ja gesagt. Hoffentlich passiert dir nix, dass sie bald Witwe wird.«
»Tante, nun sei net abergläubig! Da hätten sich die Engel viel unnötige Arbeit gemacht, uns zusammenzubringen, um mich dann im Paradies auf sie warten zu lassen. Naa, naa! Ich werde das Paradies hier auf Erden mit ihr haben. Dazu wird es auf der Wiese hinter dem Haus ein Beet aus Vergissmeinnicht geben. Wenn ihr was für mich tun wollte, dann könnt ihr schon mal anfangen, des Areal vorzubereiten. Wenn ich zurück bin, fange ich gleich mit dem Bau von dem Hausboot an. Ich habe auf dem Weg hierher schon mal so in Gedanken die grobe Planung gemacht. Ich werde morgen dem Albert Weisgerber meine Liste faxen. Der kann dann schon mal damit beginnen, das Holz zu richten.«
Alban griff über den Tisch und streichelte die Wange seiner Tante.
»Freust dich denn gar net?«
»Doch, Bub, ich freue mich! Ich freue mich sehr. So glücklich hast net ausgesehen, als du die Alina hast heiraten wollen. Ich wünsche dir alles, alles Gute und freue mich, wenn du des Madl auf den Hof bringst und uns vorstellen tust.«
»Übermorgen! Übermorgen am Abend bringe ich sie her! Zweimal werdet ihr noch wach, dann ist der Judy-Tag!«, scherzte Alban in Abwandlung des Kinderreims.
Er trank seinen Kaffee aus.
»So, ihr beiden! Dann fahre ich!«
Er stand auf und umarmte seine Tante und seinen Onkel.
*
Alban griff nach seiner Reisetasche und wollte zum Auto gehen, als von draußen ein Motorengeräusch hereindrang.
»Himmelherrgottsakramemt! Sag bloß, des ist die Alina? Ich kenne das Geräusch ihres Autos! Des muss die Alina sein.«
Vor Überraschung ließ Alban die Reisetasche fallen. Er wollte hinausstürzen.
»Bub, ich bin der Bauer hier! Lass mich des machen! Hole dir einen Schnaps. Fahren musst heute Nacht dann nimmer. Des ist ja schon mal ein Vorteil.«
Adam Grummer schaltete die Hängelampe über der Haustür ein. Er trat auf den Hof. Alban hatte sich nicht geirrt. Alina parkte und stieg aus.
»Mei, im Dirndl!«, rief Adam erstaunt aus. »Was für ein ungewohnter Anblick! Dann komm herein!«
»Guten Abend, Herr Grummer!«
»Ja, ja, schon gut! Grüß Gott, Alina!«
»Gefällt Ihnen mein Dirndl? Steht mir gut, wie? Ich wusste gar nicht, wie bequem so ein Kleidungsstück ist. Ich denke, ich werde noch ein richtiges Madl der Berge.«
Adam Grummer schwieg zu dieser Ankündigung. Wortlos führte er Alina in die Küche.
Alban und Alina sahen sich an.
»Grüß Gott, Alban! Schau, da bin ich!« Sie drehte sich im Kreis. »Wie gefalle ich dir im Dirndl? Ich gefalle dir, nicht wahr? Du bist so überrascht, dass du wie angewurzelt dastehst und mich anstarrst. Willst du mich nicht umarmen?«
Alina wollte auf ihn zueilen. Alban hielt abwehrend die Hände nach vorne. Sie blieb stehen.
»Warum bist du hier?«, presste er heraus.
»Weil ich dachte, wir könnten miteinander reden. Ich habe mir deine Vorschläge nie genau angehört. Das tut mir leid. Ich habe mich störrisch benommen. Alban, es tut mir so leid. Verzeihe mir! Sicher können wir auch in Waldkogel heiraten, wenn dir so viel daran liegt.«
Alban schenkte sich das Schnapsglas voll und trank es in einem Zug aus. Er schenkte es sich noch einmal voll und trank es aus.
Seine Tante und sein Onkel setzten sich nebeneinander auf die Eckbank hinter dem Küchentisch und warteten, was weiter geschehen würde. Spannung lag in der Luft. Alina nahm jetzt erst wahr, dass Albans Tante Lore auch im Raum war. Sie lächelte sie an und nickte ihr zu.
Alban räusperte sich. Er zog seine Jacke aus und hing sie über eine Stuhllehne.
»Weißt, an was ich denken muss, Alina? Wenn ich dich so im Dirndl da stehen sehe, erinnere ich mich an unser Gespräch während des Mittagessens bei deinen Eltern.« Alban seufzte hörbar, sprach dann weiter. »Ich denke, dass du perfekt angezogen bist für deinen Büßergang. Als König Heinrich von Speyer nach Canossa zum Papst ging, um von dem Bann erlöst zu werden, den Papst Gregor über ihn verhängt hatte, da trug er ein Büßerhemd. Du hast dir ein Dirndl angezogen. Doch die Verkleidung hilft dir auch nicht mehr.«
Alban holte Luft.
»Es ist vorbei mit uns! Es ist aus und vorbei! Hiermit löse ich unter Zeugen mein Versprechen, dich zu ehelichen. Ich löse unsere Verlobung. Ich wollte gerade losfahren. Dort steht meine Reisetasche. Du hast mir den Weg erspart, Alina. Deine Geschenke bringe ich nach meinem Urlaub zu deinen Eltern. Was ich dir geschenkt habe, das kannst du behalten oder es in der Mülltonne entsorgen. Ich will sie nicht zurück.«
Alban griff in die Hosentasche und legte seinen Verlobungsring auf den Tisch. Er hatte ihn am Nachmittag im Wald vom Finger gestreift.
Es war ganz still in der großen Wohnküche des Grummer Hofes. Außer dem regelmäßigen Ticken der Uhr war nichts zu hören. Alina starrte Alban an. Sie ging einige unsichere Schritte auf den Tisch zu und hielt sich fest.
»Das kannst du nicht so meinen! Ich habe dir doch gesagt, dass ich einverstanden bin. Jetzt sind doch alle Missverständnisse zwischen uns beseitigt.«
»Das waren keine Missverständnisse, Alina. Das waren Missklänge. Das waren solche Misstöne, dass sie mich aufgerüttelt haben. Ich habe viel Zeit gehabt, über dich und uns nachzudenken. Es ist gut, so wie es gekommen ist. Wir passen nicht zusammen!«
»Doch, wir harmonieren gut! Wir kennen uns gut, sind viele Jahre zusammen. Zu unserem Glück fehlen uns nur der Trauschein und Kinder. Du wolltest doch immer Kinder haben, bald wolltest du Kinder haben. Ich bin auch bereit zurückzustecken. Ich kann auch nur Hausfrau und Mutter sein, wenn du es so willst.«
»Alina, du bettelst schon! Hast du nicht mehr Selbstachtung? Ist dir wirklich nicht klar, welche lächerliche Figur du im Augenblick abgibst?«
»Ich verstehe, dass das auf dich alles verwirrend sein muss. Du musst mir glauben. Ich habe dich nur nicht früher angerufen oder bin gekommen, weil ich viel nachgedacht habe – über mich und dich. Jetzt ist alles klar. Ich sehe ein, dass die Schuld bei mir liegt. Jemanden zu lieben, heißt doch auch zu verzeihen oder? Bitte, lass uns weiter zusammen sein. Wir können die Hochzeit gern verschieben. Du wirst sehen, ich habe mich geändert. Wir heiraten, wenn du dir sicher bist, dass ich mich wirklich geändert habe. Alban, ich liebe dich!«
»Du hörst dich gut an! Allein mir fehlt der Glaube! Alina, ich kenne dich. Ich weiß, dass du überzeugt bist von dem, was du sagst. Aber du belügst dich selbst. Und deshalb belügst du auch mich. Es ist nur ein gut ausgedachtes Theater. Alina, es ist vorbei!«
»Alban, ich werde alles tun, dir eine gute Frau zu sein. Sieh mal, ich habe mir am Marktplatz ein Dirndl gekauft.«
»So, heute Nacht?«
»Nein, schon gestern Abend! Wir sind im Hotel ›Zum Ochsen‹. Meine Eltern sind auch in Waldkogel. Aber wir sind mit verschiedenen Autos hier. Sie wollen morgen Abend wieder heimfahren. Ich wollte erst morgen zu dir kommen. Doch ich konnte nicht schlafen. Ich habe dich so vermisst! Hast du mich nicht vermisst?«
»Nein! Ich habe dich nicht vermisst! Für mich bist du Schnee von gestern!«
»Das ist jetzt sehr verletzend, Alban. Aber ich kann verstehen, dass du wütend bist.«
»Himmelkreuzundwolkenbruch!
Begreife es endlich, Alina! Ich habe es dir gesagt! Es ist aus zwischen uns! Ich will dich nicht mehr. Du bist nicht länger meine Verlobte.«
Alina sah, dass sie so nicht weiterkam. Sie überlegte kurz.
»Gut, nehmen wir an, unsere Verlobung ist gelöst, rein theoretisch. Das bedeutet doch nicht, dass wir nicht zusammen sein können. Wir fangen einfach noch einmal von vorne an. Was war, ist vergessen – aus – vorbei – Schlussstrich! Wir waren ja auch eine lange Zeit glücklich ohne Verlobungsring. Ich muss mit dir nicht verlobt sein.«
Alban rieb sich das Kinn. Das ist ganz Alina, wie sie leibt und lebt, dachte er. Sie will immer ihren Kopf durchsetzen. Geht es nicht so, dann versucht sie es eben anders.
»Ich will nicht, Alina. Nein! Nein! Nein! Du musst einsehen, dass es vorbei ist.«
»Liebster Alban! Lass es doch nicht so enden. Es war doch immer so schön mit uns. Denke an die herrlichen Nächte.«
Alban stöhnte auf. Er ging einige Schritte auf und ab.
»Dann muss ich es dir sagen. Es fällt mir nicht leicht. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen. Aber du lässt mir keine andere Wahl.«
Seine Tante und sein Onkel ahnten, was Albin Alina sagen wollte.
»Mei, Bub, sage es ihr! Damit dieses unwürdige Affentheater ein Ende hat!«, rief sein Onkel. »Wir sind müde und wollen noch zwei Stunden schlafen, die Nacht ist schon fast um.«
»Ich bin noch am Überlegen, ob es etwas bringt, Onkel Adam. Vielleicht denkt sie, es ist von mir nur erfunden.«
»Gut, dann sage ich es ihr! Damit will ich dir net vorgreifen, Alban, Aber eine weitere Diskussion wird dadurch hoffentlich im Keim erstickt.«
»Was immer es ist, ich will es von Alban hören!«, rief Alina laut, und ihre Stimme überschlug sich fast.
Jetzt verlor Alban die Geduld.
»So, jetzt reicht mir des scheinheilige Getue von dir. Hast deinen Auftritt gehabt! Jetzt kommt der letzte Akt, und danach gehst du. Dort ist die Tür.«
Er atmete tief durch.
»›Andere Mütter haben auch schöne Töchter‹, Alina. Während ich auf ein Lebenszeichen von dir gewartet habe, habe ich ein anderes Madl kennen gelernt. Jetzt bin ich mit ihr zusammen. So, jetzt weißt du es! Dort ist die Tür. Bis zum Hotel ist es net weit. Den Weg kennst du ja! Grüße mir deine Eltern!«
Alina wurde zuerst blass wie eine frischgekalkte Wand, dann rot vor Zorn. Sie riss den Verlobungsring vom Finger und warf ihn wütend auf den Fußboden, wo er wie ein Ball einige Male auf und ab sprang, bevor er unter den Küchenschrank rollte und dort liegenblieb. Sie drehte sich um und rannte laut schluchzend hinaus.
Alban ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er stützte das Gesicht in die Hände. Draußen auf dem Hof heulte der Motor auf. Alina schoss mit einer viel zu hohen Motordrehzahl vom Hof.
»Es ist vorbei, Bub!«, sagte Adam Grummer und legte Alban tröstend die Hand auf die Schulter.
Alban hob den Kopf.
»Ja, es ist vorbei. Das war Alina, wie sie leibt und lebt! Was muss ich für ein Idiot gewesen sein! Wie habe ich es so lange Jahre mit ihr ausgehalten?«
»Mei, Bub, du hast eben Erfahrung gesammelt. Vorbei ist vorbei! Jetzt gehen wir alle schlafen.«
»Ja, ich bin auch etwas mitgenommen! Möchte mich nur noch hinlegen und alle Viere von mir strecken. Ich bin völlig fertig!«
»Komm, Bub! Ich verstehe dich ja! Jetzt denkst nimmer daran. Denk an deine Judith. Jetzt kannst du sie morgen schon wiedersehen, und du kannst sie schon einen Tag früher auf den Hof bringen. Mei, deine Tante und ich sind sehr neugierig und gespannt auf des Madl. Sie muss wirklich etwas Besonderes sein.«
Adam Grummer schenkte seinem Neffen und sich noch einen Obstler ein. Sie tranken.
»Wenn du auf der Berghütte bist, dann bitte den alten Alois um eine Flasche. Ich zahle sie ihm. Diese hier ist bald leer!«
Adam Grummer verteilte den Rest des guten selbstgebrannten Obstlers auf Albans und sein Glas. Jetzt war die Flasche ganz leer. Sie prosteten sich zu und tranken aus.
»Himmel, war des eine Nacht! Draußen wird es schon langsam hell. Sonst muss man um diese Zeit schon daran denken, dass wir bald aufstehen müssen«, seufzte Lore Grummer und gähnte.
»Lore, du schläfst dich aus! Ich sehe doch, wie dich das mitgenommen hat. Ich stelle mir den Wecker, versorge das Vieh, dann komme ich nochmal zu dir ins Bett. Du kannst dich ausschlafen. Musst dich um nix sorgen. Komm, wir gehen nach oben!«
Zuerst gingen Adam und Lore hinauf. Alban trat noch einen Augenblick vors Haus. Dann stieg er auch die Treppe hinauf und legte sich schlafen. Sein Kopf brummte. Die Ursache war nicht Alois’ starker Obstler, sondern Alinas unwürdiges Schauspiel, das bei ihm einen sehr bitteren Nachgeschmack hinterlassen hatte.
Er versuchte die Bilder zu verdrängen, indem er nur an Judith dachte. Und mit ihrem Bild im Herzen schlief er ein.
*
Toni und Anna waren schon schlafen gegangen, als Judith hereinkam. Auf einem der Tische des Wirtsraums stand eine herzhafte Brotzeit. Daneben lag ein Zettel, darauf stand:
Liebe Judith!
Wir haben dir hier eine Brotzeit gerichtet. Wenn dir zu kühl ist, lege Holz in die Glut im Kamin. Dann wird es schnell warm. Bello liegt davor und schläft. Wir haben die Tür zu deiner Kammer offen gelassen und deine Sachen dort aufs Bett gelegt. Wenn du schlafen gehst, mache die Eingangstür zu. Bello wird dann zu uns reinkommen.
Vergiss bitte nicht, die Lampen zu löschen.
Wir hoffen, Du hattest einen schönen Tag und einen romantischen Abend. Bis Morgen! Schlafe gut und träume schön.
Toni und Anna
PS. Die Kinder haben den ganzen Tag gelesen.
Judith lächelte.
Sie setzte sich und aß. Toni hatte ihr eine Flasche Bier hingestellt. Es war eine Flasche mit einem Bügelverschluss. Judith vermutete, Toni hatte das Bier für sie extra abgefüllt. Der Verschluss gab das vertraute Geräusch von sich, als Judith die Flasche öffnete. Bello schaute auf. Er erhob sich langsam und trottete zu ihr herüber. Er setzte sich neben sie und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Judith gab ihm ein Stück Wurst. Dann schob sie ihn zur Seite, stand auf und schloss die Tür. Der Neufundländerrüde verstand das Signal und ging langsam davon. Er drückte die nur angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf und verschwand. Judith schloss die Tür. Sie setzte sich und aß. Erst jetzt spürte sie, wie hungrig sie war.
Während sie aß, war sie mit ihren Gedanken bei Alban. Sie war ja so verliebt. So setzte sie sich nach dem Essen noch eine Weile an den Kamin und träumte. Es dauerte noch eine gute Stunde, bis sie die Müdigkeit spürte und in ihre Kammer ging.
Bald lag Judith im Bett und hüllte sich fest in die dicke Federdecke. Mit dem Gedanken an Alban und wie schön es wäre, wenn er sie jetzt in seinen Armen halten würde, schlief sie bald ein.
Es war schon später Vormittag, als Judith erwachte. Sie blinzelte verwundert um sich. Dann erinnerte sie sich und lächelte glücklich. Sie stand auf und wusch sich. Das kalte Wasser aus dem Gebirgsbach in dem Krug erfrischte sie. Sie zog sich an und ging hinaus.
Anna und Toni waren in der Küche der Berghütte.
»Guten Morgen! Hast du gut geschlafen, Judith?«, fragte Toni.
Anna stand am Herd und nickte ihr zu.
»Setz dich hier her! Willst du Frühstück oder wartest du auf das Mittagessen?«
»Frühstück!«
»Ich mache dir gleich ein gutes Berghüttenfrühstück!«, sagte Anna. »Nur einen Augenblick!«
Sie nahm einen Teller und gab etwas aus einem Topf darauf. Toni trug es hinaus.
»Wir sind zwar kein Sternerestaurant, Judith. Aber dann und wann erfüllen wir schon mal Sonderwünsche. Es kommt gelegentlich vor, dass wir Gäste haben, die Diät halten müssen, zum Beispiel.«
»Ich muss keine Diät halten! Was ist ein Berghüttenfrühstück?«
»Das besteht aus einer Pfanne mit Eiern und Speck, Brot, Butter, Käse, Wurst, Schinken, Marmelade und süßem Kaffee.«
Judith lachte.
»Mästen musst du mich nicht, Anna! Eier mit Speck und viel süßen Kaffee, das reicht mir.«
Während Anna wartete, bis die Eier mit dem Speck in der Pfanne stockten, goss sie Judith schon mal Kaffee ein.
»Erzähle mir von Susanne! Wie geht es ihr, Sven und dem kleinen Peter?«
»Gut, geht es ihnen, sehr gut! Peter geht jetzt jeden Morgen in den Kindergarten. Ich soll dir sagen, dass sie euch bald mal wieder besuchen kommt.«
»Das ist schön!«
Die Eier waren fertig. Anna stellte die Pfanne auf den Tisch und gab Judith eine Gabel. Sie genoss dieses rustikale Ambiente und aß mit viel Appetit aus der Pfanne. Anna lächelte sie an.
»Soso! Dann scheinst du von der schnellen Truppe zu sein. Bist kaum angekommen und hast in den Bergen schon einen feschen Burschen aufgegabelt.«
Judith kaute den Mund leer und verdrehte dabei träumerisch die Augen.
»Es war Zufall! Ich bin ihm eigentlich am Samstag in Kirchwalden begegnet und dann noch einmal gestern in Waldkogel. Wie heißt es? ›Alle guten Dinge sind drei‹! Zum dritten Mal begegneten wir uns beim Erkerchen.«
Unter viel Gelächter erzählte Judith, wie sie in Ohnmacht gefallen war. Toni stand im Türrahmen und hörte mit zu. Es waren wenige Gäste auf der Berghütte. Es hatte am Morgen länger geregnet. Jetzt noch hingen vereinzelt Regenwolken am Himmel. So hatten Toni und Anna einen Augenblick zum Plaudern. Sie nahmen sich jeder einen Kaffee und setzten sich zu Judith an den Tisch.
»Dich hat’s ja mächtig erwischt, Judy! Dein Herz steht in Flammen!«
»Ja, Toni! So ist es! Ich hätte nie erwartet, dass ich meinen Traumprinzen hier in Waldkogel finde. Dabei war ich sehr ärgerlich, als ich für den verhinderten Kollegen einspringen musste. Jetzt bin ich sicher, dass dahinter ein tieferer Sinn steckte, damit Alban und ich uns begegnen.«
Toni und Anna warfen sich einen Blick zu.
»Der Name Alban ist nicht sehr häufig in Waldkogel. Vom Alter her kann es eigentlich nur der Alban Grummer sein.«
»Genau, das ist er! Er ist Schiffsingenieur. Sicherlich kennst du ihn Toni. Jetzt muss ich nicht mehr viel von ihm erzählen. Entschuldigt, dass ich nicht früher seinen Namen genannt habe. Da labere ich euch die Ohren voll von meinem Supermann, und ihr wisst nicht, dass ich von Alban rede!«
Anna schenkte sich und Toni Kaffee nach. Sie gaben Milch dazu und rührten um. Sie waren still.
»Was habt ihr auf einmal?«, fragte Judith verwundert.
Toni räusperte sich.
»Wir wundern uns!«
»Wundern? Warum? Ich verstehe nur Bahnhof. Redet schon!«
Toni rieb sich das Kinn.
»Ich habe vergangene Woche Adam und Lore Grummer unten im Dorf getroffen. Sie haben mir ziemlich ihr Leid geklagt. Sie haben mich sogar gebeten, mit dem Alban zu reden. Er war einer meiner Schulkameraden, bis er nach Kirchwalden aufs Gymnasium ist.«
»Toni, rede nicht drum herum! Ich ahne, dass etwas nicht stimmt.«
»Ja mei, wie soll ich das sagen, Judy. Du schwebst auf Wolke Sieben – und ich will dich da nicht herunterholen.«
»Toni, wir können Judy auch nicht in ihr Unglück rennen lassen. Sue würde mir dafür das Fell über die Ohren ziehen.«
Judiths Hals fühlte sich trocken an. Sie trank den Kaffee aus. Anna schenkte ihr nach.
»Also, ich sage es am besten so. Der Alban ist schon viele Jahre mit einem Madl zusammen, besser sage ich, mit einer jungen Frau. Sie wohnt in der Stadt, in der Alban arbeitet. Sie haben sich im letzten Jahr verlobt und planten ihre Hochzeit für den Herbst. Bei der Planung haben sie sich gestritten. Jetzt sei der Alban sehr bekümmert und würde nur auf dem Hof herumhängen. Mei, des konnte ich irgendwie verstehen. Ich hätte ein solches Madl schon längst in die Wüste geschickt, wenn des alles stimmt, wie sie der Adam und die Lore beschrieben haben. Aber der Alban scheint sehr an dem Madl zu hängen und leidet wie ein Stück Vieh. Ich hatte noch keine Zeit, den Alban zu besuchen. Ich hatte vor, den Alban diese Woche darauf anzusprechen, so ganz nebenbei. Ich wollte auf den Grummer Hof gehen und ihn auf ein Bier im Wirtshaus meiner Eltern einladen.«
Judith wurde blass. Ihr Herz raste. Sie legte sich die Hand auf die Brust, als wollte sie es festhalten.
»Du denkst, er hat mir etwas vorgemacht, Toni? Er machte mir schöne Augen, obwohl er noch mit der anderen Frau zusammen ist und diese sogar heiraten will, ist es so?«
»Judith, das weiß ich nicht! Ich bin nur ein bisserl verwundert. Immerhin wollten die beiden nach dem Viehabtrieb heiraten. Es soll eigentlich schon alles beredet worden sein.«
Anna schüttelte den Kopf.
»Toni, Judith soll das selbst herausfinden! Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten erst mal abgewartet. Vielleicht ist es doch ein anderer Alban.«
»Schmarrn, Anna! Es gibt nur einen Alban Grummer, der Schiffe baut. Aber es ist mühsam, wenn wir uns jetzt in Spekulationen verlieren. Du musst selbst herausfinden, wie es bei ihm um die Liebe zu dir steht. Vielleicht war des Ganze nur ein harmloser Flirt, und du hast dir Hoffnungen gemacht, hast Liebe herausgehört, wo gar net so viel ist.«
»Ich kann mich doch nicht so irren! Oder doch? Anna, Toni, in meinem Kopf dreht sich alles! Ich glaube, mir wird übel!«
»Da hilft ein doppelter Obstler, ein selbstgebrannter Schnaps vom Alois.«
Schnell schenkte Toni Judith in einen Wasserglas einen großen Obstler ein.
»Runter! Den trinkst jetzt ganz aus!«
Gehorsam setzte Judith das Glas an die Lippen. Sie nippte daran.
»Das Zeug brennt ja wie Feuer!«
»Weißt net? Feuer muss man immer mit Feuer bekämpfen. Austrinken!«, befahl ihr Toni und achtete, dass sie austrank.
»Oh Gott, der weckt Tote auf!«, stöhnte Judith.
»Fühlst dich besser?«
»Übel ist mir nicht mehr! Durcheinander bin ich noch immer. Ich weiß nicht, was mit meinen Gefühlen los ist. Mein Herz sagt: Ja – Nein – Ja – Nein! Immer geht es mit meinen Gefühlen hin und her wie bei einem Uhrenpendel.«
»Dann wartest am besten, bis er wiederkommt, Judith. Dann gehst mit ihm hinter die Berghütte. Dort seid ihr alleine, und du kannst dich mit ihm aussprechen.«
Judith seufzte tief.
»Ich bin wirklich von meiner Wolke Sieben gestürzt.«
Toni lächelte sie an.
»Vielleicht ist alles halb so schlimm, und ein Fallschirm sorgt doch noch für einen sanften Fall. Oder du hängst in einem Paragleiter und wirst wieder hinauf auf die Wolke getragen. Mei, Judith, jetzt mach dich net verrückt.«
»Ich weiß, ich weiß! Trotzdem kann ich mich nicht beruhigen! Und hier herumsitzen und warten, bis der Bursche kommt oder vielleicht nicht mehr kommt, das kann ich auch nicht.«
»Was willst du jetzt machen?«
Judith zuckte mit den Schultern. Anna und Toni sahen, dass ihre Augen feucht wurden. Sie putzte sich die Nase. Sie stand auf und ging in ihre Kammer.
»Mei, Anna, des Madl tut mir leid! Ich verstehe die Sach’ net ganz. Auf der einen Seite halte ich den Alban für einen anständigen Burschen. Auf der anderen Seite hätte seine Tante bestimmt meiner Mutter erzählt, wenn Alban die Verlobung gelöst hätte.«
»Toni, mache dir nicht so viele Gedanken! Es wird sich alles aufklären.«
Sie lächelte ihn an.
»Jetzt tust mir einen Gefallen und hängst das Bild auf, das dir die Sue geschickt hat.«
»Wo soll ich es hinhängen?«
»Hänge es ins Schlafzimmer! Und inzwischen schaue ich nach Judith!«
Während Toni das Bild aufhing, kam ihm die Idee, was er Anna zum Geburtstag schenken könnte. Er würde ihr einen Stich mit der Ansicht des Hamburger Bahnhofs schenken. Das könnte Anna dann an die Wand im Schlafzimmer daneben hängen. In Hamburg war die Anna in den Zug gestiegen, in dem Toni schon saß. Und in Frankfurt hatte das Schicksal ihr Leben in die Hand genommen, um sie auf die Berghütte zu führen.
*
Alban hatte lange geschlafen. Er fuhr, nachdem er etwas gegessen hatte, mit dem Auto nach Kirchwalden. Er suchte nach einem besonderen Geschenk für Judith. Das war nicht einfach. Ringe wollte er mit ihr zusammen kaufen gehen. Außerdem hatten ihm seine Tante und sein Onkel vorgeschlagen, dass er die Ringe seiner Eltern nehmen könnte. Er konnte sich auch nicht entschließen, ein Schmuckstück zu kaufen, er hatte Alina Schmuckstücke geschenkt. Außerdem kannte er Judiths Geschmack nicht. Trug sie lieber Goldschmuck oder Silberschmuck? Unschlüssig wanderte er in Kirchwalden umher. Er setzte sich schließlich in das Eiscafé und dachte nach.
Nach einer Weile hatte er eine Idee. Dazu benötigte er zwar auch etwas Hilfe, denn er musste etwas über Judith erfahren. Doch dieses Problem löste er auf geschickte Weise. Er telefonierte herum, dann wusste er etwas, was Judy ihm gleich beim ersten Zusammentreffen nicht hatte sagen wollen.
Frohen Sinnes klapperte Alban die Fachgeschäfte in Kirchwalden ab, zum Glück gab es davon nicht viele. Endlich im letzten Laden fand er etwas, was genau seinen Vorstellungen entsprach. Er war glücklich und malte sich in den buntesten Farben aus, wie er Judith damit überraschen würde. Schnell ging er zum Auto und fuhr heimwärts. Er steuerte aber nicht sofort den Grummer Hof an. Er legte zwei Zwischenstopps ein. Erst hielt er beim Friedhof. Dort besuchte er das Grab seiner Eltern und erzählte ihnen in Gedanken ausführlich von Judith. Anschließend lenkte er seinen Wagen zum Sägewerk.
Albert Weisgerber, ein Mann im mittleren Alter, freute sich sehr,
Alban zu sehen. Alban hatte als Schüler und Student während den Ferien oft bei ihm gearbeitet. Die beiden Männer saßen länger in Weißgerbers Büro zusammen und redeten. Alban zeichnete auf einem Stück Papier die grobe Skizze des Hausbootes, wie er es im Gedächtnis hatte.
»Sag bloß, du willst das wirklich nachbauen?«, lachte Weisgerber. »Des ist eine Verrücktheit!«
»Des ist ein Geschenk für Judith!«
Alban gab Weisgerber die Liste, die er im Café geschrieben hatte.
»Bis wann kannst du das Holz liefern?«
»Du hast es eilig, denke ich!«
»Mehr als eilig!«
»Mei, des kann ich verstehen! Es ist ja für Judith! Dann versuche ich dir das Holz bis morgen zu liefern. Hast du nicht zu viel aufgeschrieben?«
»Ich muss erst einen genauen Plan machen, wenn ich mir den Film mit Judith zusammen angesehen habe. Also besser, du lieferst mehr Holz als zu wenig!«
»Zum Stapellauf, wenn es auch nur ein symbolischer ist, werde ich aber eingeladen!«
»Mei, des soll an unserer Hochzeit geschehen. Damit stechen wir in die Flitterwochen, auch wenn des Schiffchen nur in einem Vergissmeinnicht-Beet im Garten schwimmt.«
Die beiden plauderten noch etwas, dann verabschiedete sich Alban. Weißgerber brachte ihm zum Auto und sicherte ihm noch einmal baldige Lieferung zu.
Minuten später erreichte Alban den Grummer Hof. Er stürmte durch das Treppenhaus in sein Zimmer.
»Bub, was ist los? Was rennst du so, als sei der Teufel vom ›Höllentor‹ hinter dir her?«, rief ihm seine Tante nach.
»Mei, ich habe es eilig! Will mich umziehen und zur Berghütte rauf!«
Seine Tante lächelte vor sich hin.
Es dauerte nicht lange, bis Alban aus seinem Zimmer herunterkam. Er trug seinen Sonntagslodenanzug. An der Weste war die silberne Uhrkette seines Vaters zu sehen. Dessen Taschenuhr trug Alban nur an hohen kirchlichen Feiertagen und bei Prozessionen.
»Mei, Bub! Fesch schaust aus!«, sagte sein Onkel, der von draußen hereingekommen war.
Alban warf einen Blick auf die Küchenuhr.
»Ich bin vor dem Abend wieder zurück, mit der Judith. Ob wir es zum Abendläuten schaffen, des weiß ich net.«
»Lauf schon, Bub! Wir warten mit dem Abendessen! Soll ich in der Stube decken?«
»Naa, wir bleiben hier in der schönen Küche. Ich bin sicher, dass sich die Judy hier sehr wohl fühlt.«
»Was hast im Rucksack?«
Alban schmunzelte. »Des sage ich dir net, Onkel! Zuerst bekommt des die Judy zu sehen. Ich hoffe, sie nimmt meinen Antrag an.«
»Dann willst ihr wirklich einen Antrag machen?«
»Sicher, Tante! Was denkst, warum ich mich so feingemacht habe?«
Es klopfte. Sie hatten niemanden kommen gehört und drehten sich um.
»Guten Tag! Ich habe gerufen, aber niemand hörte mich. Weil die Haustür offen stand … dachte ich ...«
»Judy! Meine Judy!«
Alban warf den Rucksack ab, stürzte auf sie zu, riss sie in seine Arme, hob sie hoch und wirbelte sie herum.
»Aufhören! Lass mich runter! Alban!«, schrie Judith.
Er stellte sie wieder auf die Füße und wollte sie küssen.
Sie wich zurück.
»Judy, was soll das?«
Alban schaute in ihre großen blaugrünen Augen, die ihm leicht gerötet schienen. Sofort war er in Sorge.
»Sag schon, Madl, red!«
Er musterte sie von oben bis unten. Judith trug ein blaugrünes Sommerkleid mit einer Jacke. Die Farbe harmonierte perfekt mit der Farbe ihrer Augen.
»Gut schaust du aus, Judy!«
Er stellte sich neben sie.
»Sehen wir beide nicht aus wie das perfekte Paar? Übrigens, Judy, das sind die lieben fürsorglichen Leut’, die mich aufgezogen haben. Ich bin Waise, das habe ich dir noch nicht gesagt. Das ist Tante Lore und ihr Mann, mein Onkel Adam Grummer. Er war der Zwillingsbruder meines Vaters. In dem Grummer Stammbaum sind Zwillinge recht häufig.«
»Guten Tag!«, sagte Judith.
»Ja, willst dich net setzen, Madl? Ich hole dann mal den Obstler, damit wir anstoßen können.«
»Machen Sie sich keine Mühe, ich bleibe nicht lange! Ich wollte nur etwas fragen. Ich bin überrascht, Alban hier zu finden. Ich dachte, du bist fort.«
»Naa, ich bin hier. Ich konnte die Sache von hier aus regeln. Jetzt spanne mich nicht auf die Folter. Ich wollte dich auch etwas fragen. Ich wollte gerade los zur Berghütte zu dir.«
Judith errötete tief. Sie kämpfte mit der Fassung.
»Toni und Anna haben mir gesagt, dass in Waldkogel erzählt wird, dass du eine Braut hast und demnächst heiratest. Ich will klare Verhältnisse.«
»Bist deshalb hergekommen? Wolltest fragen, ob des stimmt? Bist dir meiner Liebe nicht sicher?«
»Es ist unhöflich, eine Frage mit einer Frage zu beantworten. Gibt es eine Braut?«
»Ja!«
Judy schwankte. Alban fing sie auf und setzte sie auf einen Stuhl.
»Dummes Ding! Ich habe gelegentlich einen seltsamen Humor, daran musst du dich gewöhnen. Außerdem hast du mich nicht gefragt ob es eine andere Braut gibt, sondern ob es eine Braut gibt, verstehst?«
Judith starrte ihn an. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe immer weniger!«, seufzte sie.
»Gut, dann werde ich dich einmal aufklären!«
»Ich bitte dringendst darum!«
»Ziehe einen Schuh aus!«
»Wie bitte?«
»Ich habe dich gebeten, einen Schuh auszuziehen. Du kannst wählen, den rechten Schuh oder den linken. Wobei mir der rechte Schuh lieber wäre.«
»Madl, ich würde machen, worum dich der Alban bittet«, bemerkte Adam Grummer. »Keine Angst, ich passe schon auf, dass du net barfuß bleiben wirst. Ich habe da so eine Ahnung.«
»Adam, sei still! Mei, Mann, dass du immer im ungeeignetsten Moment reden musst.«
Völlig verwirrt schlüpfte Judith aus ihrem rechten Schuh.
Alban holte eine Schachtel aus seinem Rucksack. Judith und Albans Tante und Onkel erkannten sofort, dass es sich dabei um einen Schuhkarton handelte.
Alban kniete sich vor Judith auf den Boden. Er nahm einen weißen, sehr eleganten Schuh aus dem Karton.
»Ich war verlobt! Ich war, nicht, ich bin! Ich sagte dir doch, dass ich fort muss, etwas erledigen! Ich wollte die Verlobung lösen. Ich hatte mich schon auf dem Weg zur Berghütte am Sonntag entschlossen, Alina nicht zu heiraten. Sie kam dann vergangene Nacht hierher. Meine Tante und mein Onkel waren Zeugen, wie ich die Verlobung gelöst habe. Ich habe dir doch die Geschichte erzählt von dem Burschen aus Waldkogel und dem Madl, das nicht in der Kirche heiraten wollte.«
»Das bist du!«, hauchte Judith fast tonlos.
»Ja, das bin ich!«
Alban strahlte Judith an.
»Und jetzt bin ich der Prinz, der schauen will, ob dem Madl der Schuh passt, weißt, wie im Märchen. Im Märchen hat der Schuh gepasst und die beiden haben geheiratet!«
Statt einer Antwort streckte Judith ihm ihren Fuß entgegen. Alban zog ihr den Schuh an.
»Passt!«, sagte Judith leise und errötete.
Alban nahm ihre Hand.
»Ich liebe dich! Judith, willst du meine Frau werden?«
Sie schaute ihn an. Sie lächelte. Dann stand sie auf, zog ihn an sich heran und küsste ihn.
»Ist das jetzt ein ›Ja‹?«
»Ja, ja, ja! Ich muss verrückt sein! Ich weiß nur, dass ich dich liebe. Das genügt mir! Ja, ich liebe dich!«
Und wieder küssten sie sich.
»Woher kanntest du meine Schuhgröße?«
»Ich habe Veronika Boller beschwatzt! Bei der hast doch die Wanderschuhe gekauft.«
»Mei, jetzt hole ich aber den Schnaps!«, sagte Adam Grummer.
»Halt, hiergeblieben, Adam! Jetzt tun wir den Kindern erst mal gratulieren!«
Lore trat vor die beiden und nahm deren Hände.
»Ich wünsche euch von ganzem Herzen alles Gute und Gottes Segen!«
Lore streichelte Albans Wange. Sie umarmte zuerst Judith, dann Alban.
»Ja, Bub, so ist es! Spielst jetzt nimmer allein die erste Geige. Jetzt gibt es bald zwei Weiber auf dem Grummer Hof. Ich meine sozusagen, denn leider tut ihr ja net hier wohnen.«
Adam kam mit dem Obstler und schenkte ein. Sie prosteten sich zu.
»Alban, ich wollte dir noch etwas sagen. Ich hatte eine Idee, bevor wir uns beim ›Erkerchen‹ trafen. Ich habe mich total in Waldkogel verliebt und trug mich mit dem Gedanken, mich hier niederzulassen und von hier aus zu arbeiten, entweder für meinen Chef oder als Freiberuflerin. Ich wollte dich sogar fragen, ob du mir helfen könntest, eine Wohnung zu finden.«
Alban hob sie wieder hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Mei, Judy! Ist dir der Grummer Hof groß genug? Wenn er des net ist, dann bauen wir an, nicht wahr, Onkel Adam?«
»Sicher, Bub, tun wir des! Wenn es dein Glück erfordert und der Fellbacher als Bürgermeister uns hilft bei der Baugenehmigung, dann können wir auch ein Hochhaus hierher stellen.«
Sie lachten alle über den Witz.
»Herr Grummer, das wird nicht nötig sein! Ich habe mir den Hof kurz von außen angesehen. Er ist ein Traum.«
Alban nahm seine Braut in die Arme und küsste sie.
»Weißt, Judy, dein Wunsch, in Waldkogel leben zu wollen, überrascht mich nicht. Ich habe mir auch schon Gedanken gemacht, was ich tun könnte, um öfters hier zu sein. Ich bin in der Abteilung für Planung und Konstruktion tätig. Am Computer sitzen kann ich überall. Ich will mit meinem Chef reden. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass ich einen Teil meiner Arbeit hier erledige. Das moderne Kommunikationssystem macht es möglich. Außerdem haben wir ab morgen eine Miniwerft im Garten. Ich habe Holz bestellt für dein Hausboot.«
»Und ich habe schon angefangen, die Wiese dafür vorzubereiten«, rief Adam Grummer.
»Sie sind ein Schatz, Herr Grummer!«
»Madl, des mit dem Herrn Grummer, des lässt jetzt fein bleiben. Wir sind die Tante Lore und der Onkel Adam für dich! Und eines verrate ich dir auch, dem Alban seine Verflossene, für die sind wir net Tante und Onkel gewesen. Wir haben dich gleich tief in unser Herz geschlossen!«
»Danke! Ich habe Sie auch – entschuldigt – euch auch in mein Herz geschlossen.«
Judith umarmte die beiden.
»Mei, ist des ein schönes Gefühl, net nur einen Buben zu haben, sondern auch ein Madl. Und wann heiratet ihr?«
»Bald! Die Judith hat diese Woche frei und muss nächste Woche noch ein Seminar halten. Währenddessen baue ich das Hausboot. Judy, wir fahren morgen nach Kirchwalden. Vielleicht können wir in den Film in einer Videothek ausleihen. Ich war ja jetzt nicht daheim.«
»Ich habe den Film Hausboot auch daheim. Ich rufe Susanne an. Sie muss ohnehin mehrmals am Tag in meine Wohnung und nach den Pflanzen und den Katzen sehen. Sie kann den Film per Eilboten schicken.«
Judith rief sofort bei Susanne an und redete mit ihr. Sie versprach, den Film noch heute Abend aufzugeben.
»Und wie steht es mit dem Supermann? Konnten dir Anna und Toni etwas über ihn sagen?«
»Ja, Susanne, ich habe sehr viel erfahren. Alles nimmt einen glücklichen Verlauf. Ich rufe dich an und erzähle dir mehr. Im Augenblick ist es ungünstig für ein längeres Gespräch. Nur so viel, es sieht so aus, als würde noch eine Freundin von dir nach Waldkogel übersiedeln.«
»Jetzt machst du mich neugierig! Ich werde auf der Berghütte anrufen.«
»Das wirst du nicht, Sue! Anna und Toni wissen nichts! Ich kündige dir die Freundschaft, wenn du dort anrufst. Etwas Geduld musst du schon haben.«
Judith verabschiedete sich.
»So, das wäre erledigt!«, sagte Judith.
»Alban, willst du Judy nicht das Haus und den ganzen Hof zeigen, während ich Abendessen mache.«
Judith legte den Schuh in den Karton zurück und zog ihre alten Slipper an. Dann nahm Alban sie an der Hand und machte einen Rundgang mit ihr.
»Wir können morgen doch nach Kirchwalden fahren, Judith. Wir gehen unsere Ringe kaufen.«
Judith kannte Alban schon recht gut. Sie hörte einen Unterton in seiner Stimme.
»Oder?«, fragte sie.
»Es gibt die Ringe meiner Eltern! Die könnten wir nehmen und unsere Namen hineingravieren lassen. Aber nur, wenn es dir gefällt.«
Judith sah Alban tief in die Augen.
»Gern! Wo sind die Ringe?«
»Die bewahrt meine Tante auf!«
»Dann wollen wir sie holen! Und noch eine Frage? Liegen deine Eltern hier auf dem Friedhof?«
Alban nickte. Judith streichelte ihm die Wange.
»Hole die Ringe! Wir gehen zum Friedhof, und du zeigst mir ihr Grab. Das ist dann so, als würdest du mich ihnen vorstellen.«
Alban bekam feuchte Augen. Er nahm Judith fest in die Arme und
küsste sie.
Ein wenig später spazierte Alban Grummer durch Waldkogel. Er hatte seinen Arm um Judith gelegt und erzählte jedem, dass das fesche Madl seine Braut ist.
»Des ist net die Alina, des ist die Judith, damit ihr es wisst«, sagte er gleich dazu.
Die beiden besuchten das Grab von Albans Eltern. Dort steckten sie sich die Ringe an. Anschließend zündeten sie in der schönen Barockkirche eine Kerze an.
Als sie zurückkamen, hatte Lore das Abendessen fertig, und die Glocken fingen an zu läuten. Alban sprach das Tischgebet. Sie bekreuzigten sich und fingen an zu essen.
Sie saßen an diesem Abend noch lange zusammen. Dann fuhr Alban Judith ins Hotel. Sie räumte ihr Zimmer und nahm Quartier auf dem Grummer Hof.
Ihre erste gemeinsame Nacht brach an.
*
Alban und Judith verbrachten eine herrliche Woche. Sie bauten am Hausboot oder machten lange Spaziergänge. In der Woche darauf hielt Judith das zweite Seminar ab.
Sonntags fuhren sie nach Frankfurt. Judiths Eltern waren aus dem Urlaub zurück. Ihnen gefiel die Wahl ihrer Tochter. Ihre Mutter blieb bei Judith in Frankfurt, bis diese alles mit ihrem Chef geregelt hatte und half ihr bei den Umzugsvorbereitungen. Er war von Judiths Idee begeistert, wieder ganz als Trainerin tätig zu sein. Gegen eine Übersiedlung nach Waldkogel hatte er keine Einwände. Die Seminarteilnehmer waren von der
Tagungsstätte begeistert gewesen. So würden alle Seminare zukünftig in Waldkogel stattfinden.
Alban hatte auch mit seinem Chef geredet. Er konnte die Hälfte seiner Arbeitszeit als Telearbeit erledigen. Dem gemeinsamen Glück stand nichts mehr im Weg.
Vier Wochen später heirateten Alban und Judith in Waldkogel. Sie waren ein wunderbares Brautpaar. Alban trug den traditionellen Lodenanzug mit einem kleinen Blumensträußchen am Revers und am Hut. Judith hatte sich in Kirchwalden ein Brautkleid im Dirndlstil schneidern lassen. Dazu trug sie die weißen Schuhe, mit denen Alban ihr den Antrag gemacht hatte. Nach der Trauung besuchten sie gemeinsam das Grab seiner Eltern. Judith legte dort ihren Brautstrauß aus Vergissmeinnicht ab.
Gefeiert wurde auf der Wiese hinter dem Grummer Hof, in deren Mitte ein Hausboot in einem riesigen Beet aus Vergissmeinnicht stand. Das Boot wurde mit einem Glas von Alois’ Schnaps getauft. Anna und Toni waren mit den Kindern von der Berghütte heruntergekommen. Sue war mit ihrem Mann und dem kleinen Peter aus Frankfurt angereist.
Judy und Alban verbrachten die romantischen Nächte ihrer Flitterwochen auf dem Hausboot. Tagsüber lagen sie auf der Wiese und träumten. Sie schaute hinauf zum Gipfel des ›Engelssteigs‹ und waren sehr glücklich.
Ein Jahr später wurden sie Eltern von Zwillingen. Es waren ein Junge und ein Mädchen. Jetzt war ihr Glück vollkommen.