Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 24

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Toni betrat den Laden des Goldschmieds. Ferdinand Unterholzer war allein im Geschäft. Er stand vor einem Regal und zog Wecker auf.

»Grüß Gott, Baumberger! Ich wollte dich anrufen, sobald ich mit der Arbeit fertig bin. Jetzt bist hier, des ist schön!«

»Grüß Gott, Unterholzer! So viele Wecker und alle zum Aufziehen, das ist ja wie in meiner Kindheit.«

»Ja, diese Wecker mit richtigem Uhrwerk, die erleben eine Renaissance. Des macht des neue Umweltbewusstsein. Die Leute wollen immer weniger Wecker und Tischuhren mit Batterien. Des ist eine gute Entwicklung, net nur für mich als Uhrmacher und Goldschmied, sondern auch für die Natur. Wenn alle mehr mit der Hand machen würden, da könnte man viel Strom sparen.«

»Des stimmt, Unterholzer. Wir auf der Berghütte brauchen nur Elektrizität an den Tagen, an denen die Anna die Waschmaschine benutzt. Dafür haben wir einen Generator im Schuppen hinter der Berghütte. Ich speichere einen Teil der Elektrizität, falls ich oder ein Hüttengast sein Handy aufladen muss. Sonst leben wir ein bisserl altmodisch, sagen manche. Aber unseren Stammgästen gefällt es, dass die Zeit in vielen Dingen bei uns stehengeblieben ist. Sie genießen des unkomplizierte Leben bei uns auf der Berghütte.«

»Des ist schön! Ich besuche euch sicherlich«, sagte der alte Mann.

»Besuch, des ist das Stichwort, Unterholzer.«

Toni griff in die Innentasche seines Lodenjankers. Er holte zwei Umschläge heraus.

Ferdinand Unterholzer war mit dem Aufziehen der Wecker fertig. Er schloss die Ladentür ab und drehte das Schild mit der Aufschrift ›Bin gleich zurück‹ um.

Dann lud er Toni ein, mit ihm nach hinten in die Werkstatt zu gehen. Sie setzten sich, und Unterholzer schenkte Kaffee ein.

»Weswegen wolltest du mich anrufen?«, fragte Toni.

»Weil er heute Morgen hier gewesen ist, der Bursche mit den Anhängern.«

»Was net sagst! Und hat er wieder etwas gekauft?«

»Ja, er hatte einen kleinen goldenen Mond ausgesucht. Ich habe ihn in ein Gespräch verwickelt und ihm einen kleinen goldenen Stern empfohlen. Ein Mond ohne Sterne, das würde net passen, sagte ich. Er kaufte dann noch einen weiteren Stern dazu. Wir kamen ins Plaudern. Jedenfalls habe ich herausgefunden, wie er heißt.«

»Des ist gut!«

»Ja! Es ist der Bernhard Steiniger, gerufen wird er Berni. Er ist Elektriker.«

»Dann ist er am Ende mit dem Steininger von dem Elektro- und Lampengeschäft verwandt? Ist der Berni der Bub vom alten Steininger?«

»Naa, der Steininger Adam hat keine Kinder. Der Berni ist der Bub von seinem Bruder Emil. Erinnerst du dich, der ist vor langer Zeit zusammen mit seiner jungen Frau bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen.«

»Stimmt, aber des ist schon lange her.«

»Richtig, der Berni war damals noch ein kleiner Bub, der gerade in den Kindergarten kam. Er wuchs dann bei seinem Onkel Adam und dessen Frau Gunhild wie ein eigenes Kind auf. So wie ich des beurteile, hat es ihm an nichts gefehlt, nix, was des Materielle betrifft.«

»Die meisten halten Berni wohl für deren wirkliches Kind.«

»Ja, wer es net weiß, denkt des bestimmt. Aber der Berni ist nur äußerlich so glücklich. Dass er die Eltern verloren hat, des hat doch Narben auf seiner Kinderseele hinterlassen, die niemals verschwinden. Er ist eher ein ruhiger Typ, weißt, kein so ein Draufgänger wie andere Burschen in seinem Alter. Er ist ein feiner Bursche, aber eher ein bisserl scheu und zurückhaltend.«

»Vielleicht erklärt des, warum er auf die Briefe keinen Absender geschrieben hat.«

Ferdinand Unterholzer schüttelte den Kopf.

»Naa oder nur bedingt! Ich glaube, da steckt was anderes dahinter. Weißt, Baumberger, hier in Kirchwalden wird auch getratscht. Die Tochter vom Bäcker an der Ecke und der Berni, die sind mal eine Zeitlang zusammen gegangen. Des Madl kenne ich gut, den Berni hab’ ich net gekannt. Nur die Geschichte ihrer Trennung hat sich herumgesprochen. Es war schlimm für des Madl. Wochen blieb sie in ihrem Zimmer und hat nimmer in der Bäckerei geholfen.«

»Dann muss es schwerer Liebeskummer gewesen sein«, warf Toni ein.

»Ja, des kann man so sagen. Nach allem, was die Leut’ damals so erzählten, lag es net an dem Madl und auch net am Berni. Es war Bernis Tante Gunhild, die die beiden auseinandergebracht hatte. Des Madl war ihr net gut genug. Sie hat des Madl hinausgeekelt und Berni wohl unter Druck gesetzt. Und der muss sich wohl dem Druck gebeugt und sich von dem Madl getrennt haben.«

»Der Bursche war sein ganzes Leben von seinem Onkel und seiner Tante abhängig. Vielleicht hat er gedacht, dass er nachgeben muss, aus Dankbarkeit womöglich.«

»Genau des denke ich auch, Baumberger.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Des erklärt, warum er keinen Absender auf die Briefe geschrieben hat. Er will net, dass er Post bekommt oder des Madl sonst Kontakt aufnimmt. Er hat Sorge, dass seine Tante des erfährt und sich gleich wieder einmischt.«

»Des denke ich auch. Er ist sehr verliebt in des Madl. Er kann sich net erklären, dass sie sich net meldet. Er hat mir sein Herz ausgeschüttet.«

»Hast ihm etwas angedeutet?«

»Naa, des hab’ ich net. Ich hab’ ihm nur gesagt, dass ich gute Freunde in Waldkogel habe und ich mich für ihn umhören würde. Da hat er leuchtende Augen bekommen.«

»Des glaube ich gerne. Wann will er wiederkommen?«

»Des hat er nicht gesagt. Ich habe ihm angeboten, dass er mich jederzeit besuchen kann, wann immer er will und er jemandem zum Reden braucht. Des hat er dankbar angenommen. Er hat Vertrauen zu mir.«

»Mei, Unterholzer, des ist ja mal eine gute Neuigkeit. Und ich habe hier die Briefe. Der hier, den hat die Franziska an den Berni geschrieben und diesen hier, der ist von Anna und mir und enthält unsere Einladung für ein Wochenende bei uns auf der Berghütte.«

»Des ist gut! Ich werde mit ihm reden und ihm die Briefe geben.«

»Kannst ihm erzählen, dass die Anna und ich ihn gesucht haben.«

»Des mache ich! Ich hoffe, er nimmt die Einladung auf die Berghütte bald an.«

»Ja, dann werden die Anna und ich ausführlich mit ihm reden. Es muss doch einen Weg geben, des Madl zu finden! Denkst net auch, Unterholzer?«

»›Wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg‹, des sage ich mir in allen Dingen. Manchmal muss man Umwege beschreiten, um ans Ziel zu kommen. Oft wird man vom Schicksal zu Umwegen gezwungen. Des kann man dann net verstehen, so zum Anfang. Dass des gut gewesen ist, wird einem oft erst nach vielen Jahren klar.«

»Des stimmt«, schmunzelte Toni. »Davon kann ich ein Lied singen.«

»Ah, da hast auch diese Erfahrung gemacht?«

»Ja, und die Anna auch. Ich muss­te einen Umweg über Norwegen machen, um mein Madl zu finden, und sie wurde von ihrer Freundin in Frankfurt fast gegen ihren Willen nach Waldkogel gebracht.«

»Mei, Himmel, des waren wirklich Umwege!«

»Ja, ich hatte mir einen jungen Neufundländer zugelegt. Weißt, ich plante damals, die Berghütte zu übernehmen. Es führte keine Straße hinauf, und ich wusste, dass Neufundländer kräftige Arbeitshunde sind. Ich dachte mir, Bello, so nannte ich ihn, er kann mir helfen, die Lebensmittel und andere Sachen auf die Berghütte zu transportieren. Ich hatte aber mit dem Abrichten von Hunden keine Erfahrung. So sagte ich mir, ich besuche Freunde, die in Norwegen leben und Schlittenhunde haben. Ich fuhr hin. Ich fliege nicht gerne. So nahm ich die Eisenbahn und das Schiff. Auf dem Rückweg sah ich im Zug meine jetzige Frau. Ich habe mich sofort in sie verliebt. Es ist eine ziemlich verrückte Geschichte, wie sie nach Waldkogel kam und auf die Berghütte. Es hört sich an, als hätte ich es erfunden. Anna war mit Neufundländer-Hunden aufgewachsen. Ihre Großeltern züchten diese Hunderasse. Sie bot mir ihre Hilfe an.«

Toni lachte laut.

»Manchmal sage ich scherzhaft, ohne Bello hätte ich weniger Chancen gehabt. Wenn ich sie ärgern will, sage ich, dass sie Bello vor mir in ihr Herz gelassen hat. Aber jetzt sind wir ein Paar und mit unseren beiden Adoptivkindern Franziska und Sebastian eine richtige Familie.«

»Da hast wirklich einen weiten Umweg gemacht.«

»Aber dieser Umweg führte dann direkt auf die Berghütte und in den Hafen der Ehe. Wenn du uns auf der Berghütte besuchst, dann erzählen wir dir mal die ganze Geschichte, wie wir uns gefunden haben.«

»Ich liebe Geschichten, die das Leben schreibt, besonders wenn sie glücklich enden. Ich hoffe, Berni findet seine Franzi.«

»Ja, das hoffe ich auch. Wir werden ihm helfen.«

»Das werden wir!«

»Unterholzer, ich will unserer kleinen Franzi ein Geschenk mitbringen. Sie war so vernünftig und hat einen lieben Brief an den Berni geschrieben. Ich will ein kleines Armband für die Franziska kaufen mit Anhängern.«

»Des ist eine gute Idee! Dann schauen wir mal, was ich dir zeigen kann.«

Sie gingen in den Verkaufsraum. Toni sah sich zuerst die Armbänder an. Er wählte ein robusteres Armband aus, da musste er keine Angst haben, dass es beim Spiel reißen würde und Franzi es so verlieren könnte. Dann wählte er kleine Anhänger in Tierform aus, denn Franzi liebte Tiere über alles. So suchte er einen kleinen Hund aus, einen Hasen, einen Vogel, eine Katze, einen Bär und einen Fisch.

Unterholzer befestigte die Anhänger an dem Armband und packte alles zusammen in eine kleine Schachtel.

»Da wird sich die Franzi freuen.«

Der Goldschmied schaute Toni an.

»Bringst du Sebastian auch etwas mit?«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich weiß nicht, was ich ihm schenken könnte. Er ist ein Bub.«

Unterholzer holte eine Schachtel hervor.

»Da hab’ ich einiges, was deinem Buben gefallen könnte.«

Er zeigte Toni verschiedene goldene und silberne Anstecker. Es waren Anstecker, die man am Revers einer Lodenjacke tragen konnte oder am Hut.

»Mei, sind die schön! Als Kind hatte ich auch eine ganze Sammlung davon, erinnere ich mich jetzt. Mei, da muss ich mal meine Mutter fragen, wo die hingekommen sind.«

»Siehst, da habe ich dich auf eine gute Idee gebracht. Da musst keinen kaufen, sondern kannst deinem Buben deine eigenen vererben.«

»Des stimmt schon, Unterholzer. Des ist zwar eine ehrliche Antwort, aber geschäftstüchtig ist des net von dir.«

Ferdinand Unterholzer lächelte.

»Des stimmt schon, aber Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit bringt einen auch im Geschäft weiter. Die Kunden kommen wieder. Und ehrlich gesagt, Buben fühlen sich besonders geehrt, wenn sie vom Vater was bekommen, was der als Kind schon hatte.«

»Des stimmt, Unterholzer, aber ich nehme doch so einen Anstecker mit. Hier, des silberne Edelweiß, des kannst mir einpacken.«

Ferdinand Unterholzer packte alles zusammen. Toni zahlte. Unterholzer lächelte ihn an. Dann sagte er:

»Baumberger, gib mir mal deinen Hut.«

»Was willst damit?«

»Des wirst gleich sehen!«

Ferdinand Unterholzer verschwand mit Tonis Hut im Hinterzimmer. Es dauerte einen Augenblick, dann kam er wieder. Lächelnd sagte er: »Hier, ich habe dir an deinen Hut auch einen Anstecker angebracht. Du kümmerst dich mit so viel Hingabe um die Liebe der anderen, und des soll belohnt werden.«

»Mei, des kannst doch net machen!«, sagte Toni verwundert. »Des ist doch ganz normal, denke ich.«

»Naa, normal ist des net, dass sich jemand so viel Arbeit macht. Andere hätten gesagt, die Briefe sind nicht für unsere Franzi und hätten nichts unternommen, um das Rätsel aufzuklären.«

Toni besah sich den Anstecker. Es waren zwei verschlungene Herzen.

»Schön ist der! Dann kann ich wohl nur noch Danke sagen!«

Toni reichte Unterholzer die Hand.

»Vergelt’s Gott!«, sagte er.

»Schon gut, Toni!«, wehrte dieser ab.

Toni setzte seinen Hut auf und betrachtete sich im Spiegel. Er war zufrieden.

»Rufst mich an, wenn der Berni hier gewesen ist.«

»Des mache ich, und grüße mir deine Anna und die ganze Familie.«

Toni ging hinaus. Er hatte sein Auto direkt vor dem Laden geparkt und fuhr davon.

*

Voller Liebe schaute Lotti Kirchner auf den Säugling, dem sie die Flasche gab. In der anderen Ecke des Säuglingszimmers im Krankenhaus von Kirchwalden flüsterte der Chefarzt mit dem Oberarzt. Sie sprachen leise, damit die Säuglinge nicht gestört wurden. Es war einer der seltenen Augenblicke im Säuglingszimmer der Wochenstation, dass kein Kind weinte.

Lotti sah kurz auf. Die beiden Ärzte lächelten ihr zu. Ihre ältere Kollegin Traudel kam auf Lotti zu.

»Sie haben gerade über dich geredet.«

»So?«

»Ja, sie meinten, du hättest großes Talent. In deinen Händen fühlten sich die Kindlein besonders geborgen und würden ruhiger. Sie sagten, es sei ein schönes Bild, dir zuzusehen, wie du die Kleinen fütterst«, raunte die ältere Kollegin. »Du weißt ja, ich gehe bald in Pension. Dann muss eine neue Leiterin her. Du hast gute Chancen. Ich unterstütze dich.«

Lotti lächelte. Der kleine Bub, dessen Mutter nicht genug Muttermilch hatte und deshalb nachgefüttert werden musste, hatte das Fläschchen ausgetrunken. Lotti legte ihn über die Schulter und massierte ihm sanft den Rücken, damit er sein Bäuerchen machte.

»Freust du dich nicht über die Möglichkeit?«

»Wir reden gleich darüber, in der Pause«, flüsterte Lotti.

Der kleine Bub rülpste.

»Des hast gut gemacht. Bist ein Prachtbursche! Jetzt darfst wieder schlafen.«

Lotti legte den Kleinen in das Bettchen, deckte ihn zu und streichelte ihm nochmals zart über die Wange.

»Schlaf gut, Bübchen, und träume süß!«, sagte sie leise.

Ihre Kollegin stand neben ihr.

»Komm, wir gehen!«

Lotti nickte. Sie gingen zusammen in den Vorraum und legten die Schutzkleidung ab, die alle Säuglingsschwestern in der Neugeboreneneinheit trugen.

Kurz darauf saß Lotti mit ihrer älteren Kollegin, die auch ihre unmittelbare Vorgesetzte war, auf einer Bank im Park des Krankenhauses. Sie hatten sich in der Kantine etwas zu Essen geholt und verbanden die Pause mit einem Personalgespräch über Lottis Zukunft.

»Und, Lotti, wie ist es? Willst du in meine Fußstapfen treten?«

»Klingt schon verlockend, Traudel«, sagte Lotti leise.

Die ältere Kollegin musterte sie.

»Scheinst von den Aufstiegsmöglichkeiten nicht gerade begeistert zu sein. In deiner Antwort höre ich das Wort ›Aber‹ unterschwellig mitklingen.«

Lotti errötete etwas. Sie fühlte sich ertappt.

»Welche Bedenken hast du? Du zweifelst doch hoffentlich nicht an dir? Du bist die Beste. Ich gehe in einem halben Jahr in Rente. Im nächsten Monat beginnt ein Kurs für Leitungsaufgaben. Er dauert drei Monate. Der hohe Chef will von mir wissen, ob du Interesse hast. Er hat schon alles mit der Oberschwester beredet. Sie hält dich auch für talentiert. Meine Beurteilungen über dich sind entsprechend ausgefallen. Wir wundern uns alle, dass du dich nie zu deinen Karriereplänen geäußert hast.«

»Ich habe keine Karrierepläne!«

»Aber warum nicht? Du bist so gut! Du kannst es weit bringen!« Und mit ernstem Blick fügte sie hinzu: »Wenn du nur willst! Sei nicht so bescheiden.«

Lotti biss ein Stück vom Kuchen ab und kaute betont langsam, um Zeit zum Nachdenken zu haben.

»Ich habe nie daran gedacht, Karriere zu machen. Ich bin gern Säuglingsschwester. Ich habe den Beruf gewählt, weil ich Kinder über alles liebe. Ich hoffte, eines Tages selbst Kinder zu haben. Bis dorthin wollte ich arbeiten gehen und mich danach ganz der Familie und meinen eigenen Kindern widmen. Doch für eigene Kinder brauche ich einen Vater, und der ist nicht in Sicht.«

Lotti seufzte.

»Vielleicht sollte ich meine Lebensziele, Mann, Familie, Kinder aufgeben. Soll ich mich stattdessen ganz dem Beruf verschreiben? Macht eine berufliche Karriere glücklich? Gibt sie mir das Gefühl, das ich mir von einem Mann, von einer Familie, von eigenen Kinder erhofft hatte?«

»Lotti, die Fragen kannst du dir nur selbst beantworten. Mich darfst du nicht fragen. Ich will dich darin nicht beeinflussen.«

»Viele Krankenschwestern, die Karriere gemacht haben, sind ledig, die Oberschwester, die Hebammen und viele der Stationsschwestern hier im Krankenhaus sind ungebunden.«

»Das kann Zufall sein, Lotti! Es war doch nicht so, denke ich mir, dass sie sich gegen einen Mann entschieden haben. Sie haben einfach nicht den Richtigen getroffen. Das ist Schicksal. Aber ich denke, du sieht das aus einem falschen Blickwinkel. Auch wenn du Familie hast, kannst du Karriere machen. Dass eine Frau heute berufstätig ist, wird doch akzeptiert und ist oft auf notwendig für den Unterhalt der Familie. Es heißt doch nicht mehr, entweder Familie oder Beruf, sondern Familie und Beruf. Du bist tüchtig. Du schaffst beides. Überlege es dir, Lotti. Ich würde dich gerne als meine Nachfolgerin sehen.«

»Traudel, bis wann muss ich mich entscheiden?«

»Je schneller, desto besser. So will ich es mal sagen. Das Gespräch, das wir hier führen, ist vertraulich. Der Chefarzt und die Oberin baten mich«, sie lächelte Lotti an. »Sie baten mich, dich dazu zu bringen, dass du nächste Woche deine Papiere, deine Bewerbung für den Posten, offiziell abgibst. Du verstehst?«

»Ja, ich begreife das schon. Es ist eine wunderbare Chance. Aber ich bin im Augenblick nur überwältigt von dem Vertrauen, das man mir entgegenbringt. Es kommt überraschend für mich.«

»Dann denke darüber nach und wäge ab. Du hast übrigens noch so viele Überstunden abzubummeln. Wir haben im Augenblick Vollbesetzung. Niemand ist krank. Nimm dir den Rest der Woche frei. Dann hast du Ruhe, um über dich selbst, deine Lebensziele und das Angebot nachzudenken.«

Sie schaute auf die Uhr. Die Pause ging zu Ende.

»Gut, dann bummele ich meine Überstunden ab. Das passt gut. Ich habe im Augenblick die Schweine auf unserem Hof zu versorgen. Mein Vater begleitet meine Mutter für einige Tage. Ihrem Vater geht es gesundheitlich nicht gut. Alle sind sehr besorgt. Außerdem ist es ein weiter Weg, fast dreihundert Kilometer, bis zu ihrem Elternhaus, für meine Mutter. Das ist schlecht, jeden Tag zu fahren, besonders wenn Stau ist. Deshalb hat sich meine Mutter mit ihren Geschwistern geeinigt. Sie wechseln sich ab. Meine Mutter hat vier Brüder. Die fünf schauen wochenweise nach den Eltern und helfen bei der Pflege des Vaters. Ich hoffe, es geht ihm bald besser.«

»Was hat er?«

»Oh, er ist einfach alt und schwach und ein Sturkopf dazu, der seine Medikamente nicht nehmen will.«

»Warum hast du nicht früher mit mir darüber gesprochen, Lotti? Ich hätte den Dienstplan umgestellt und du hättest deine Überstunden genommen.«

»Ach, das wollte ich nicht.«

Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen zurück ins Gebäude.

*

Nach dem Dienst im Kirchwaldener Krankenhaus fuhr Lotti direkt heim auf den Hof. Sie zog ihre alten Jeans, ein T-Shirt und Gummistiefel an. Sie steckte ihre schulterlangen dunklen Haare auf und band ein Kopftuch um. So ging sie in den Stall. Der Schweinestall war vor zehn Jahren gebaut worden. Lottis Vater hatte damals auf Schweinezucht und Schweinemast umgestellt, als die Milchpreise in den Keller gesackt waren. Der Stall war sehr modern und hatte eine computergesteuerte Fütterungsanlage. Lottis Vater Hartmut war auf seinen Stall sehr stolz. Er hielt die Technik immer auf den neusten Stand.

Lotti schritt alle Stallabschnitte ab und schaute nach, ob kein Tier einen kranken Eindruck machte. Im Technikraum überprüfte sie an den Anzeigen die Menge der Futtermittel. Ihr Vater hatte ihr für die Tage seiner Abwesenheit eine Liste geschrieben. Wie eine Pilotin, die vor jedem Flug die Checkliste durchging, arbeitete Lotti gewissenhaft jeden Punkt ab. Der Rundgang dauerte zwei Stunden.

Lotti war damit fertig. Sie ging über den Hof und streichelte die buntgemusterte Hauskatze, die in der Sonne mit ihren Jungen spielte. Ein Auto, es war ein größerer Kombi, fuhr auf den Hof und hielt. Ein Mann stieg aus.

Lotti fiel sofort auf, dass der Wagen ein ausländisches Nummernschild hatte. Da hat sich mal wieder jemand verfahren, dachte sie. Ein Mann mittleren Alters stieg aus und sah in ihre Richtung. Dann schaute er zum Haus hinüber.

Lotti ging auf ihn zu. Er nickte.

»Grüß Gott!«, sagte sie.

»Guten Tag! Ist der Bauer hier? Ich suche Herrn Kirchner.«

»Das ist mein Vater, Hartmut Kirchner. Ich bin Lotti, seine Tochter. Mein Vater ist nicht hier!«

Der Mann schaute auf die Uhr.

»Wann kommt er wieder?«

Lottis Gefühl sagte ihr, dass sie vorsichtig sein sollte. Ihr Gegenüber sprach zwar Deutsch mit nur leichtem Akzent, aber Lotti hatte ein ungutes Gefühl, dass sie sich nicht erklären konnte.

»Es kann noch dauern. Hatten Sie einen Termin, Herr …«

Lotti erwartete, dass er seinen Namen nennen würde. Das tat er aber nicht.

»Schade«, sagte er stattdessen. »Ihr Vater hat mich letzte Woche angerufen. Ich versprach, vorbeizukommen, sobald ich in der Nähe bin. Dann muss ich es morgen noch einmal versuchen. Es ist schade.«

»Wenn ich Ihnen helfen kann? Um was geht es?«

Der Mann zögerte einen Augenblick.

»Es geht um Futtermittel, die ihr Vater bestellt hat. Ich wollte sie ihm bringen.«

»Dann lassen Sie sie hier! Ich gebe sie meinem Vater.«

Der Mann rieb sich das Kinn.

»Ist Ihr Vater über Handy zu erreichen?«

Lotti nickte und gab dem Fremden die Handynummer ihres Vaters. Sie hörte genau zu, was er zu ihrem Vater sagte und wie er mit ihm sprach. Es kam ihr vor, als wären die beiden alte Freunde.

»Ja, dann gebe ich es deiner Tochter. Das Finanzielle machen wir dann beim nächsten Mal, wenn ich in drei Wochen komme. Mach’s gut, Hartmut.«

»So, es ist alles geregelt!«, sagte der Fremde mit einem zufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Lotti sah zu, wie er die Ladefläche öffnete. Er holte einen kleinen brauen Karton heraus. Er war länglich und nicht sehr groß. Er war mit Klebeband verschlossen und hatte ein weißes Etikett, auf dem eine Nummer stand. Er gab Lotti den Karton. Er war nicht sehr schwer. Lotti schätzte ihn auf ein bis zwei Kilo.

»Ist das alles?«, fragte Lotti.

»Ja!«

»Und was ist das für Zeug?«, rutschte es Lotti heraus.

»Das sind Leckerlis für die Schweine. Kinder bekommen Bonbons und Schokolade, die Schweinchen bekommen das hier.«

Lotti wunderte sich. Sie sah dem Fremden zu, wie dieser sofort in den Wagen einstieg und rückwärts vom Hof fuhr. Er wendete mit großem Schwung und fuhr schnell davon.

»Himmel, was war das?«, sagte Lotti vor sich hin.

Sie trug das kleine Paket in den Anbau des Schweinestalls, in dem ihr Vater sein Büro hatte. Sie stellte es auf dem Schreibtisch ab. Lotti war schon an der Tür, als ihre Neugierde doch die Oberhand gewann. Sie ging zurück, nahm eine Schere und durchtrennte das Klebeband. In dem Karton befand sich, in Schaumstoff verpackt, eine gegen Bruch gesicherte Glasflasche mit Plastikschraubverschluss. Das granulierte Pulver war weiß und geruchlos.

»Was ist das für ein Zeug? Es hat kein Etikett. Ich musste keinen Lieferschein unterschreiben. Bezahlen tut der Vater bar, wenn der Typ wiederkommt.«

Lotti redete leise mit sich selbst. Ihr Herz klopfte. Eine dunkle Ahnung bemächtigte sich ihrer. Der Gedanke war so ungeheuerlich, dass ihr fast die Beine versagten.

Lotti ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie riss ihr Kopftuch herunter, löste die Spange aus dem Haar und massierte sich mit beiden Händen den Schädel, als könnte sie damit erreichen, dass sie klarer denken konnte. So saß sie eine Weile da und starrte auf die Flasche, die vor ihr auf dem Tisch stand.

Dieser Typ muss Vater regelmäßig solches Zeug bringen, schloss sie. Vielleicht finde ich noch andere Flaschen. Sie stand auf und begann sys­tematisch den Raum und alle Nebenräume zu durchsuchen. In einem Nebenraum wurde sie fündig. Dort fand sie eine angebrochene Flasche und im Abfallcontainer weitere leere Gefäße derselben Art.

Lotti konnte sich zwar nicht vorstellen, dass ihr Vater heimlich unerlaubte Zusatzstoffe dem Schweinefutter beimengte, aber die Saat des Misstrauens war in ihrem Herzen bereits aufgegangen. Sie wurde von widersprüchlichen Gefühlen geplagt. Auf der einen Seite konnte sie es sich nicht vorstellen, dass ihr Vater so etwas tat. Auf der anderen Seite wusste sie, dass bei Kontrollen immer wieder landwirtschaftliche Betriebe dabei erwischt wurden. Lotti hatte darüber in der Zeitung gelesen und sich jedesmal sehr darüber aufgeregt.

Ihr Vater hatte sie immer beruhigt: Das seien Einzelfälle. Kein Bauer, der etwas auf sich halte, würde das Risiko eingehen. Die Kontrollen würden immer strenger und die Methoden bei der Fleischuntersuchung genauer. Nur jemand, der mit seiner Existenz spielte, würde sich auf so etwas einlassen.

Lottis Handy klingelte. Sie schaute auf das Display. Es war ihr Vater. Sie nahm das Gespräch an.

»Grüß dich, Vater!«

»Hallo, mein Madl! Wie geht es? Alles in Ordnung?«

»Ja, schon! Warum fragst du?«

»Einfach so! Ich wollte wissen, wie es dir geht. Kommst klar?«

»Ja, Vater! Ich mache alles so, wie du es mir aufgeschrieben hast. Außerdem habe ich frei. Ich baue Überstunden ab. Des hat sich kurzfristig ergeben.«

»Des ist schön! Übrigens, dem Großvater geht es wieder besser. Er nimmt endlich seine Arznei. Er läuft schon wieder herum. Wenn es ihm morgen auch so gut geht, dann kommen wir bald heim.«

»Das freut mich, dass es ihm wieder gut geht. Sage ihm liebe Grüße.«

»Das werde ich! Der Jean hat mich angerufen. Er war wohl auf dem Hof und hat zu mir gewollt.«

»Du meinst, den Typen mit dem ausländischen Kennzeichen am Auto, dem ich deine Handynummer gegeben habe?«

»Ja, den meine ich!«

»Des ist vielleicht ein komischer Kerl, wortkarg und verschlossen! Hat sich mir nicht vorgestellt.«

»Ja, der Jean ist ein bisserl sonderbar, aber ein guter Kerl. Wir kennen uns schon lange. Er lebt in Belgien und hat immer viel zu tun. Hat er ein Päckchen für mich dagelassen?«

»Ja, Vater, das hat er! Er sagte etwas von Futtermitteln. Was ist das?«

»Gutes Zeug für die Schweine. Musst dich net drum kümmern. Des mache ich, wenn ich wieder daheim bin. Schließ des Packerl bitte im Schreibtisch ein. Es darf net fortkommen. Des Zeugs ist teuer, sehr teuer!«

»Vater, was ist das für ein Zeugs?«

»Mei, Lotti, was stellst du mir auf einmal für Fragen? Des sind Vitamine. Ich nehme an dem Testprogramm eines großen Futtermittelherstellers teil. Deshalb rede mit niemandem drüber!«

»Heißt des, dass des Zeugs verboten oder nicht zugelassen ist?«

»Lotti, jetzt gehst zu weit! Madl, was denkst du? Willst mich beleidigen?«

»Das net, Vater! Dieser Jean kam mir nur ein bisserl sehr sonderbar vor.«

»Gut, dann will ich es dir mal erklären. Der Futtermittelmarkt ist hart umkämpft. Die Konkurrenz soll net Wind davon bekommen, ver­stehst?«

»So? Deshalb wird des Zeugs so ausgeliefert, und du beziehst des net beim Händler?«

»Genau so, jetzt hast begriffen! Also, dann genieße deine freie Zeit.«

»Des mache ich, Vater! Grüß die Mutter und die Großeltern und Tante und Onkel. Bis dann, Vater! Pfüat di!«

»Pfüat di, Lotti!«

Lotti Kirchner schaltete das Handy aus. Ihr Herz raste. Jetzt war sie noch mehr beunruhigt als zuvor. Sie schloss die Lieferung ein, wie sie es ihrem Vater versprochen hatte. Dann holte sie ein kleines leeres Schraubglas, wie es ihre Mutter zum Einkochen von Marmelade verwendete und füllte aus der gleichaussehenden Flasche eine Probe des weißen Pulvers ab. Dann ging sie zurück ins Haus.

*

Lotti nahm eine Dusche und schlüpfte in frische Kleider. Sie zog grüne Jeans und eine grünrotweiße, karierte Hemdbluse mit kurzen Ärmeln an. Ihre schulterlangen Haare band sie zu einem Pferdeschwanz hoch. Sie betrachtete sich im türgroßen Spiegel ihres Kleiderschrankes. Sie gefiel sich.

Ich sehe ganz gut aus, dachte sie. Weiß der Geier, warum mich die Burschen übersehen!

Lange beschäftigte sich Lotti nicht mit diesen Gedanken. Die Sorgen um das weiße feine Granulat drängten sich ihr wieder in den Sinn.

Lotti holte sich Brot, Wurst und Schinken aus der Speisekammer. Sie ging in die Küche und machte sich etwas zu essen. Unschlüssig betrachtete sie die Lebensmittel. Sie stammten aus der eigenen Hausschlachtung, das wusste Lotti. Wenn das Schwein das Zeugs bekommen hat, dann können Rückstände darin sein. Lotti verging der Appetit. Sie räumte Wurst und Schinken wieder in die Speisekammer. Dann ging sie in den Garten und holte sich Tomaten und Karotten, die sie so aus der Hand aß.

Lotti hatte in ihrer Ausbildung zur Säuglingsschwester gelernt, wie schädlich Zusatzstoffe in Tierfutter sein konnten. Viele Krankheiten konnten dadurch ausgelöst werden, bis hin zu massiven Schädigungen des Ungeborenen. Auch bei Erwachsenen können die Zusatzstoffe Krankheiten auslösen.

Lotti war im Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber ihrem Vater und der Verantwortung, die sie spürte. Die Gesundheit ist das höchste Gut, und jeder Mensch trägt Verantwortung, sie zu erhalten, für sich und für andere, dachte Lotti. Sie überlegte, was sie tun sollte und mit wem sie darüber reden konnte. Jetzt wäre es gut gewesen, wenn sie einen Liebsten gehabt hätte, dem sie hätte wirklich vertrauen können. Aber dem war leider nicht so.

Ich muss ganz alleine damit fertig werden, dachte sie. Sie wusste, dass es eine Pflicht gab, den Einsatz von illegalem Futterzusatz zu melden. Das galt für jedermann, der den Verdacht hatte. Wenn ich es tue und festgestellt wird, es sind keine harmlosen Vitamine, dann gibt es einen Skandal. Dann ist Vater ruiniert, der Hof ist ruiniert. Waldkogel kommt in die Schlagzeilen und die anderen Bauern auch in Verruf. Lotti wagte nicht, sich dies in allen Einzelheiten vorzustellen. Es war zu schrecklich. Aber zu wissen und zu schweigen, machte sie zur Mittäterin, das wuss­te Lotti auch. Sie erschrak bei dem Gedanken, dass ihr Vater bei der Mast der Schweine betrogen haben könnte. Sie überlegte, irgendwie passte es nicht zu ihm. Aber auf der anderen Seite gab es zu viele Fakten und Fragen. Die Erklärung, die sie ihrem Vater entlockt hatte, beruhigte sie nicht wirklich. Eher im Gegenteil. Er hatte sehr ungeduldig und etwas ärgerlich reagiert, was sonst nicht seine Art war. Er musste sich ertappt gefühlt haben.

Lotti überlegte, ob ihre Mutter davon etwas wissen konnte. Sie half im Büro mit der Buchhaltung.

»Büro – Buchhaltung! Das ist es«, sagte Lotti vor sich hin.

Sie ging ins Büro. Nach und nach blätterte sie die Ordner mit den Rechnungen durch. Sie suchte eine Rechnung oder Unterlagen, auf denen etwas stand, zum Beispiel eine Nummer, wie die auf dem Karton. Es war Sommer. Lotti ging alle Ordner durch, rückwärts bis zum Beginn des Jahres. Sie fand nicht den kleinsten Hinweis.

Es wunderte Lotti nicht. Er hatte mich keinen Lieferschein unterschreiben lassen, und abrechnen will er mit Vater demnächst. Lottis Herz klopfte wild, als sie sich noch mehr bewusst wurde, dass ihr Verdacht begründet war. Die Schweine bekamen einen Zusatz, der heimlich gegen Bargeld, ohne Papiere eingekauft wurde. Also, ist es etwas Verbotenes, etwas höchst Illegales, folgerte Lotti.

Sie war sich sicher, dass sie ihren Vater damit konfrontieren musste. Aber um ihn zu überführen, brauchte sie Beweise. Die musste sie sich beschaffen, aber wie?

Die Substanz zur Behörde zu bringen, bedeutete, ihren Vater in den Ruin zu treiben. Außerdem was ist, wenn ich mich geirrt habe? Das fragte sich Lotti. Sie war verzweifelt.

Lotti ging wieder in den Garten und setzte sich auf die Bank, ihren Lieblingsplatz. Sie faltete die Hände, schaute hinauf zum Gipfelkreuz des ›Engelssteigs‹ und schickte ein Stoßgebet hinauf.

»Bitte, bitte, schickt mir einen Einfall! Was soll ich tun?«

Wie alle Waldkogeler glaubte Lotti daran, dass die Engel auf dem ›Engelssteig‹ auf einer für die Menschen unsichtbaren Leiter in den Himmel aufstiegen. Sie trugen die Gebete, Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte hinauf und trugen sie dem Allmächtigen, seinem Sohn Jesus, der heiligen Muttergottes Maria und allen Heiligen vor.

Lotti blickte in die andere Richtung. Auf dieser Seite des Tales ragte der Gipfel des ›Höllentors‹ in den Abendhimmel. Es hing eine kleine schwarze Wolke genau über dem Gipfel. Lotti erschrak zutiefst.

»Wusste ich doch, dass etwas Schlimmes geschieht oder schon geschehen ist!«, sagte Lotti fast tonlos.

Sie wusste seit ihrer frühsten Kindheit, dass eine schwarze Wolke über dem Gipfel des Berges nichts Gutes verhieß. Der Berg wurde ›Höllentor‹ genannt, weil jeder in Waldkogel davon überzeugt war, dass der Satan oben auf dem Gipfel ein Tor zur Hölle hatte. Öffnete der Teufel die Tür und schaute heraus, wurde eine schwarze Wolke sichtbar. Eine schwarze Wolke deuteten die Waldkogler, dass ein Unwetter, ein Unfall oder irgendeine Katastrophe bevorstand.

Doch im gleichen Maß, wie Lotti sich vor dem ›Höllentor‹ fürchtete, vertraute sie auf die Hilfe und den Beistand der Engel hoch oben auf dem ›Engelssteig‹.

Und plötzlich hatte sie eine Idee.

»Danke! Danke, ihr Engel!«, flüsterte Lotti mit dankbarem Blick in Richtung des Engelssteigs.

*

Pfarrer Heiner Zandler saß in seiner Studierstube und las. Endlich kam er mal wieder dazu, sich mit der Geschichte von Waldkogel und der Umgebung zu befassen. Dabei ging es ihm nicht um Geschichtsforschung, sondern mehr um Geschichten. Er war jetzt schon viele Jahre in Waldkogel Geistlicher. Er war sogar in Waldkogel geboren und aufgewachsen, ein echter Bub der Berge. Im Laufe seiner Tätigkeit hatte er festgestellt, dass es viel zu erzählen gab. Wenn er Hausbesuche bei den alten Waldkogelern machte, dann erzählten sie ihm oft Anekdoten und Erlebnisse, schöne und weniger schöne.

Diese Erlebnisse hatten Menschen zusammengebracht, getrennt oder wieder vereint. Pfarrer Zandler hatte irgendwann begonnen, sie aufzuschreiben, so wie er sie erzählt bekommen hatte. Jeder berichtete sie ihm aus seiner ganz eigenen Sicht. So hatte der Geistliche zu einen Ereignis oft ganz verschiedene Darstellungen erzählt bekommen. Wenn er Zeit hatte, verglich er die verschiedenen Blickwinkel und versuchte den Wahrheitsgehalt zu ergründen. Dieses Hobby betrieb der Geistliche im Stillen. Eines Tages wollte er vielleicht einmal ein Buch mit den Geschichten von Waldkogel herausbringen. Aber das würde sicherlich noch dauern.

Auf jeden Fall machte ihm diese Geschichtsforschung über das Alltagsleben viel Freude.

Als das Telefon schrillte, ließ er es erst einmal klingeln. Er hoffte, dass seine Haushälterin an den Hörer ginge. Doch dann fiel ihm ein, dass Helene Träutlein an diesem Abend nicht da war. Sie war bei einer Kollegin eingeladen.

So nahm er den Hörer ab.

»Zandler!«, meldete er sich.

»Grüß Gott! Dem Himmel sei Dank, dass Sie am Telefon sind. Ich brauche Hilfe. Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß wahrscheinlich etwas, was sehr schlimm ist. Sage ich der Behörde etwas, dann ist alles ruiniert und es gibt einen Skandal. Sage ich nichts, dann versündige ich mich gegen das Leben, denke ich. Kommen Sie schnell! Kommen Sie? Können Sie sofort herkommen?«

Pfarrer Zandler lauschte. Ihm war klar, dass da jemand in höchster Gewissensnot war. Er konnte die weibliche Stimme niemandem zuordnen. Wer könnte das sein, dachte er? Durch die Aufregung klang sie schrill und überdreht.

»Ganz ruhig! Jetzt mal schön der Reihe nach. Sicher komme ich.«

»Gleich, sofort? Bitte! Ich warte!«

»Langsam, langsam! Du musst mir erst sagen, wohin ich kommen soll. Du hast mir deinen Namen net gesagt!«

»Ich bin es, die Lotti Kirchner vom Kirchner Hof.«

»Die Lotti, soso! Madl, jetzt mal ganz in Ruhe! Was hast denn?«

»Des kann ich am Telefon net sagen, Herr Pfarrer! Des muss ich Ihnen zeigen und Ihnen auch etwas geben. Ich denke, ich habe etwas Schlimmes gefunden, und des macht mir Angst.«

»Gut, Lotti! Jetzt hörst mir mal zu. Wo bist jetzt?«

»In unserer Küche am Telefon!«

»Fühlst dich bedroht?«

»Naa!«

»Des ist schon mal gut! Wo sind deine Eltern?«

»Ich bin alleine. Die Eltern sind verreist, weil der Großvater so krank ist. Deshalb ist des geschehen, weil ich allein auf dem Hof war, sonst hätte ich des net erfahren.«

Pfarrer Zandler konnte sich keinen Reim darauf machen. Er sagte:

»Also, du setzt dich jetzt ganz ruhig hin und wartest. Ich nehme des Auto und komme.«

»Danke, Herr Pfarrer! Bitte, beeilen Sie sich!«

»Ja, Madl, ja! Ich lege jetzt auf.«

Pfarrer Zandler legte den Hörer auf. Er seufzte. Er blieb einen Augenblick ganz ruhig in seinem Studierzimmer stehen und überdachte das Gespräch. Er kannte die Lotti gut und hatte sie als braves, ruhiges Madl im Gedächtnis, das jeden Sonntag in die Messe kam, wenn sie keinen Dienst im Krankenhaus hatte. Er konnte sich keinen Reim da­rauf machen, was Lotti so aufgeregt hatte. Sie schien verängstigt und verwirrt. Auf jeden Fall hatte sie ihn angerufen und wollte ihn ins Vertrauen ziehen.

Pfarrer Zandler ging in die Pfarrhausküche und steckte die Dose mit den gesammelten Kräutern der Ella Waldner ein. So ein Kräutertee würde die Lotti beruhigen. Wer weiß, ob sie welchen daheim hat, dachte er. Zandler war ein Mensch, der praktisch dachte. Dann ging er zu seinem alten Auto, das neben dem Pfarrhaus stand. Lieber hätte er einen schönen Abendspaziergang zum Kirchner Hof gemacht. Außerdem hatte ihm Doktor Martin Engler ans Herz gelegt, das Auto öfters stehenzulassen und sich mehr zu bewegen. Aber Lottis Anruf war ein Notfall. Da musste er das Auto nehmen, um schnell zu ihr zu kommen. Es war ein richtiger Hilferuf, dachte Pfarrer Zandler.

Er fuhr rückwärts aus der Garage und wendete auf der Hauptstraße. Dann starb der Motor ab. Pfarrer Zandler versuchte immer und immer wieder, den Wagen anzulassen. Aber er sprang nicht an.

Ein Jeep hielt neben ihm.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Will er net? Des klingt, als sei die Batterie leer!«

»Grüß Gott! Sascha, dich schickt der Himmel. Ich muss dringend einen Hausbesuch machen. Kannst mich hinfahren?«

»Sicher, Hochwürden. Steigen Sie ein. Wo müssen Sie hin?«

»Zum Kirchner Hof! Ich hab’s sehr eilig.«

Pfarrer Zandler ließ sein Auto am Straßenrand stehen und stieg zu Sascha ins Auto. Dieser fuhr los.

»Der Kirchner Hof liegt sogar auf dem Weg. Ist was net in Ordnung bei den Kirchners?«

»Ich weiß net, Sascha. Die Lotti hat mich eben angerufen und mich gebeten, sofort zu kommen. Des Madl war ganz verwirrt. Des ist sonst gar net ihre Art.«

»Mei, des hört sich net gut an.«

Sie fuhren die Hauptstraße entlang und bogen in eine Seitenstraße ein, die weit in die Felder führte. Eines der letzten Gehöfte war der Kirchner Hof. Danach kam nur noch Saschas Elternhaus.

Sascha hielt auf der Straße an. Der Geistliche stieg aus.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie an, Herr Pfarrer!«

»Danke, Sascha!«

»Ja und sagen Sie der Lotti einen schönen Gruß von mir!«

»Werde ich, aber ich denke net, dass sie dafür Ohren hat.«

Pfarrer Zandler stieg aus.

Er ging mit großen Schritten auf die Haustür zu. Lotti kam ihm entgegen.

»Grüß Gott! Danke, dass Sie gekommen sind. Ich muss Ihnen am Telefon etwas hysterisch vorgekommen sein.«

»Grüß Gott, Lotti! Vielleicht ein bisserl aufgeregt«, spielte Zandler es herunter.

Er schaute Lotti an und fand, dass das Madl sehr blass war. Er spürte ihr leichtes Zittern, als er ihr die Hand gab.

»Jetzt bin ich da, und du schüttest mir dein Herz aus. Dann sehen wir gemeinsam, was wir machen können. Jetzt gehen wir erst mal ins Haus.«

Sie gingen hinein. Pfarrer Zandler war über Lottis Aussehen sehr besorgt.

»Hier, Madl! Ich habe dir Ellas Kräuterteemischung mitgebracht. Du machst dir jetzt einen schönen Tee. Du brauchst etwas zur Stärkung, so blass und elend, wie du aussehen tust.«

Lotti wollte nicht darauf eingehen. Aber Pfarrer Zandler bestand darauf. So saßen sie bald am Tisch. Lotti trank ihren Tee mit viel Honig und erzählte Pfarrer Zandler, wie sich alles zugetragen hatte, seit dem Augenblick, als dieser Jean auf den Hof gekommen war. Sie berichtete ihm von ihrem Gefühl, dass sie schließlich dazu verführt hatte, neugierig zu sein. Sie sprach davon, dass sie fast zu einhundert Prozent davon überzeugt sei, dass ihr Vater den Schweinen etwas zu fressen gab, das nicht erlaubt war.

»Genaues weiß ich erst, wenn das Zeug untersucht ist. Unsere Tierärztin hat ein gutes Labor in ihrer Praxis. Aber ich kann ihr die Probe nicht bringen. Wenn es wirklich ein verbotenes Mastmittel ist, dann muss sie es der Behörde in Kirchwalden melden. Und sie wird wissen wollen, woher ich des Zeugs habe. Das kann ich doch net machen, Herr Pfarrer. Aber nix tun, wäre genau so schlimm. Ich bin Säuglingsschwester und habe gelernt, wie gefährlich diese Mastmittel für die Gesundheit sein können. Sie können die Kinder schädigen und die Gesundheit von Erwachsenen auch. Wenn Sie mir nicht glauben, dann können Sie des im Internet nachlesen. Ich übertreibe nicht. Deshalb ist das Zeug verboten. Und jetzt habe ich den Verdacht, dass der Vater heimlich unsere Säue damit füttert, es in die Futtermaschine mischt.«

»Des ist ein schwerwiegender Verdacht. Wenn so etwas bei einer Kontrolle herauskommt, dann steht ihr vor dem Nichts!«

»Des ist es doch, Pfarrer Zandler! Mit einem Schlag wäre der Hof zerstört. Obwohl ich net viel Hoffnung habe, dass es nur harmloses Vitaminpulver ist, will ich es genau wissen. Deshalb habe ich mir gedacht, dass Sie die Probe zur Tierärztin bringen könnten und Sie Beate bitten, diese in ihrem Labor zu untersuchen. Wenn unsere Viehdoktorin herausfindet, dass es wirklich schlimmes Zeug ist, dann muss ich mit dem Vater reden, dass er sofort damit aufhört.«

»Ich verstehe. Du denkst, dass die Beate von mir als Geistlichen net fordern kann, dass ich sage, woher ich die Probe habe.«

»Genau!«

»Bist ein schlaues Madl, Lotti. Des hast dir fein ausgedacht.«

Lotti trank einen Schluck Tee. Sie schüttelte den Kopf.

»Dabei haben mir die Engel vom ›Engelssteig‹ geholfen. Ich habe mit denen geredet.«

»Des hast gut gemacht. Die Engel beschützen uns.«

»Haben Sie gesehen, dass heute Abend eine kleine Wolke über dem Gipfel des ›Höllentor‹ zu sehen war?«

»Ja, ich habe sie auch gesehen.«

Pfarrer Zandler betrachtete die kleine Probe in dem Marmeladenglas.

»Ich werde die Beate bitten, das zu untersuchen. Vielleicht macht sie es sofort, vielleicht erst morgen. Bis dorthin sagst du zu niemandem ein Wort!«

»Der Vater will bald mit der Mutter wiederkommen. Dem Großvater soll es besser gehen. Ich wäre froh, wenn die Beate es schnell machen würde.«

»Ja, nun hab’ Geduld.«

Er überlegte. Dann stand er auf und ging zum Telefon.

Er rief die Tierärztin an und sprach mit ihr. Lotti lauschte. Zandler legte auf.

»Also, die Beate hat gesagt, ich kann die Substanz vorbeibringen. Es wird aber einige Stunden dauern. Einen Schnelltest kann sie nur mit Tierausscheidungen machen. Wie ist es? Kannst du etwas abfüllen?«

»Des ist zu machen.«

Sie gingen zusammen in den Stall. »Lotti, packe dir einige Sachen zusammen. Ich nehme dich mit ins Pfarrhaus. Du kannst heute Nacht dort nächtigen. Ich bleibe bei der Beate, bis sie alles untersucht hat.«

Lotti packte schnell ihre Sachen zusammen. Dann fuhren sie mit Lottis Auto zurück ins Dorf. Pfarrer Zandler brachte Lotti ins Pfarrhaus. Helene Träutlein war von ihrem Besuch in Kirchwalden zurück. Sie stellte keine Fragen und gab Lotti eines der Gästezimmer.

»Du versuchst zu schlafen, Lotti! Wenn du dir vor lauter Sorgen die Gesundheit ruinierst, dann hat niemand etwas davon.«

»Ich will es versuchen«, versprach Lotti.

Pfarrer Zandler ließ sie alleine und ging die wenigen Schritte zur Tierarztpraxis zu Fuß.

*

Die Tierärztin von Waldkogel, Doktor Beate Brand, machte sich sofort an die Arbeit. Pfarrer Zandler saß im Labor dabei. Sie unterhielten sich, während die Viehdoktorin, wie sie liebevoll genannt wurde, die Proben untersuchte.

»Des schaut nicht gut aus, Herr Pfarrer. Die Untersuchung des Pulvers dauert zwei Stunden. Wollen Sie warten?«

»Ja!«, sagte er mit fester Stimme.

»Und was machen Sie, wenn wir es genau herausgefunden haben?«

»Ich werde alles tun, damit der Bauer damit aufhört, Beate.«

Beate lächelte.

»Warum schmunzelst, Beate? Glaubst net, dass mir des gelingt?«

Während Beate auf die chemische Reaktion wartete, was einige Zeit dauern würde, gingen sie ins Wohnzimmer.

»Wissen Sie, Herr Pfarrer, das ist nicht so einfach mit dem Aufhören. Die Leute, die das verkaufen, die gehören hinter Schloss und Riegel. Sie verkaufen nicht nur illegale Substanzen. Sie erpressen auch die Bauern. Hat einmal einer etwas gekauft, dann haben sie ihn in der Hand. Er kann nicht aufhören, zu kaufen. Sie könnten ihn anonym anzeigen. Damit drohen die Gangster. Das sind üble Burschen, die zu einer großen Organisation gehören. In einem tierärztlichen Fachblatt stand neulich, dass man annimmt, im Jahr werden damit allein in Europa vier Milliarden Euros gemacht.«

»Himmel!«

»Ja, das Zeug ist ja auch nicht billig. Eine Flasche kostet mehrere tausend Euro. Sie kassieren bar. Das Geld wird durch verschiedene Kanäle der Geldwäsche geschleust.«

»Und wie ist des mit den Kontrollen, Fleischkontrollen und so weiter?«

»Unsere Kontrollen sind gut. Es werden immer wieder Stichproben gemacht. Die veterinärmedizinischen Untersuchungsämter machen gute und erfolgreiche Arbeit. Aber …«, sie brach ab.

»Willst sagen, dass es schwarze Schafe gibt und Mittel und Wege, um durchzukommen?«

Beate warf ihm einen Blick zu.

»Die Sache hat immer zwei Seiten. Die Verbraucher wollen immer mehr und immer billigeres Fleisch und preisgünstige Wurst. Da wird eine Lawine losgetreten. Die Mastbetriebe bekommen immer weniger für ein Kilo Fleisch und müssen auf der anderen Seite viel in moderne Betriebe investieren. Oft geht es um die Existenz. Bevor sie untergehen, greifen sie bei den ›Autobahndocs‹ zu.«

»Was sind ›Autobahndocs‹?«, fragte der Pfarrer.

»So nennt man die Händler, die auf Rastplätzen das Zeug aus dem Auto heraus verkaufen. Da werden auch andere Substanzen verkauft, Hormone zum Spritzen und Beruhigungsmittel.«

»Sei still, Beate, ich will nix mehr hören, sonst werde ich auf der Stelle zum Vegetarier.«

Die Tierärztin lachte laut.

»Das ist doch Unsinn. Ich frage Sie nicht, wer Ihnen das Zeug zugespielt hat. Aber das Fleisch und die Wurst, die wir essen, sind sicher. Die Kontrollen sind gut. Es werden alle gefunden und entdeckt. Ich nehme an, dass Sie wissen, wer das Zeug verfüttert. Reden Sie ihm ins Gewissen. Er soll aufhören, bevor es zu spät ist, bevor es zum Skandal in Waldkogel kommt.«

Beate ging ins Labor, um nach den chemischen Reaktionen zu sehen. Sie kam mit einem Zettel zurück.

»Wie ich es mir dachte, es ist eine verbotene Substanz!«

»Himmel, des ist schrecklich!«

»Ja, es ist schlimm. Eigentlich muss ich so etwas melden. Aber ich gebe demjenigen eine Frist. Ich warte eine Woche mit der Anzeige. Ich werde nicht sagen, woher ich den Tipp habe. Ich habe anonym einen Hinweis bekommen. Die Behörde wird dann in Waldkogel und Umgebung Untersuchungen anstellen. Das wird dann einen richtigen Skandal geben. Jeder landwirtschaftliche Betrieb wird dann untersucht und bis zum Vorliegen der Ergebnisse gesperrt. Der Bauer soll damit aufhören und zu mir kommen! Ich untersuche alle seine Tiere. Ich nehme ihnen Blut ab und teste es. Dann sehen wir weiter. Ich will niemanden zu Grunde richten und bin bereit, zu helfen, wo ich kann. Wenn er von seinem Lieferanten unter Druck gesetzt wird, dann finden wir auch einen Weg. Ich habe auch darin Erfahrung. Hauptsache, die Tiere kommen wieder in Ordnung.«

»Ist des möglich, Beate?«

»Ja, es ist wie beim Doping im Sport, Herr Pfarrer. Wenn die Sportler rechtzeitig vor Wettkämpfen damit aufhören, haben sie nichts mehr im Blut oder im Urin. Das Zeug ist wieder aus dem Körper heraus. Es wurde ausgeschieden. Es ist nicht mehr nachweisbar, und es gibt keine messbaren Rückstände mehr.«

»Ah, ich verstehe, soweit ich das als Laie verstehen kann. Was macht das Zeug bei den Tieren, Beate?«

»Sie bekommen mehr Muskeln und weniger Speck, wachsen schneller. Sie verhalten sich ruhiger, was bei der Mastviehhaltung vorteilhaft ist.«

»Beate, sei still, ich will nix mehr hören!«

»Ich bin gleich still. Nur noch eine Vermutung zum Schluss. Es gibt wenig schwarze Schafe bei uns, vermute ich. Vielleicht ist es nur dieser. Das bekommen wir in den Griff. Wissen Sie, irgendwie habe ich Mitleid mit dem Bauern. Ich komme täglich auf die Höfe und sehe, wie sich manche plagen. Die Menschen sind net schlecht, sie sind nur oft verzweifelt, und dann entscheiden sie sich für den falschen Weg. Dann reitet sie der Teufel.«

»Das hast schön gesagt, Beate. Als Seelsorger könnte ich des net besser gesagt haben.«

Pfarrer Zandler schaute auf die Uhr. Es war nach Mitternacht.

»Beate, es wird Zeit, zu gehen. Danke für deine Hilfe. Vergelt’s dir Gott!«

»Ihnen viel Erfolg, bei dieser speziellen seelsorgerischen Arbeit, Herr Pfarrer! Sollten Sie Unterstützung brauchen, dann sagen Sie mir Bescheid.«

»Das werde ich, Beate! Wir halten doch zusammen hier in Waldkogel.«

»Ja, das tun wir. Deshalb bin ich so gern Tierärztin hier.«

»Und ich Seelsorger!«

Beate brachte den Geistlichen zur Tür. Sie sah ihm nach. Das war nicht einfach für unseren guten Pfarrer, dachte Beate. Er hat Einblicke bekommen, die auch er erst einmal verarbeiten muss.

Aber nicht nur Pfarrer Zandler war aufgewühlt. Auch die Tierärztin Doktor Beate Brand lag noch etwas wach. Sie dachte nach und ging in Gedanken alle Höfe durch, die Mastvieh hatten. Es waren nicht viele in Waldkogel. Beate hatte einen Verdacht. Doch sie wollte erst einmal abwarten.

*

Pfarrer Zandler hatte Lotti in der Nacht schlafen lassen und erst am nächsten Morgen mit ihr geredet. Lotti besuchte an diesem Tag die Frühmesse und bat um himmlischen Beistand. Sie zündete vor dem Heiligenbild der Mutter Gottes eine große Kerze an, bevor sie heim auf den Hof fuhr. Ihr Herz war schwer. Ich werde mir die Worte genau überlegen müssen, die ich zu Vater sage. Auch muss ich entscheiden, ob ich mit ihm alleine rede oder zusammen mit Mutter. Doch erst muss ich herausfinden, ob Mutter etwas davon weiß. Auf dem Weg zum Kirchner Hof tröstete sich Lotti mit dem Gedanken, dass sie sich den Tag über alles in Ruhe überlegen konnte. Außerdem hatte Pfarrer Zandler ihr seine Unterstützung zugesagt. Ich kann ihn jederzeit anrufen. Er kommt sofort auf den Hof, um mich zu unterstützen. Durch diese Zusage fühlte sich Lotti gestärkt.

Sie schaute hinauf zum Gipfel des ›Höllentor‹. Mit Entsetzen sah sie, dass die kleine schwarze Wolke noch immer über dem Gipfel stand.

»Das gefällt mir nicht, nein, das gefällt mir nicht«, sagte sie laut vor sich hin.

Sie fuhr weiter die Straße entlang und sah von weitem zwei Männer auf der Höhe des Kirchnerhofes stehen. Als sie näherkam, sah sie, dass es Sascha Schweiger und ein Bauer aus dem Dorf waren. Sascha trug Wanderkleidung und hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Er winkte Lotti freundlich zu, als sie langsam im Auto an ihm vorbeifuhr.

Auf dem Kirchner Hof stand der Geländewagen ihrer Eltern. Lotti erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie schon daheim waren.

Ihr Vater kam aus dem Haus. Er hatte einen hochroten Kopf. Ohne Lotti zu grüßen, fuhr es sie an:

»Wo kommst du her? Wo hast du dich heute Nacht herumgetrieben? Brauchst gar nicht zu leugnen! Dein Bett war unberührt, und im Stall bist auch noch nicht gewesen. Wo kommst du also her? Ich bin sehr enttäuscht! Bist wohl jetzt eine Herumtreiberin geworden. Deine Mutter ist fast umgekommen vor Sorge. Wir wollten schon die Polizei verständigen«, brüllte er.

Lotti war so baff, das sie wortlos ihre kleine Reisetasche nahm und an ihm vorbei ins Haus ging.

Er folgte ihr und knallte die Haustür zu.

»Da bist du ja, Madl!«, seufzte ihre Mutter. »Wo bist du gewesen?«

Lotti sah das ehrlich besorgte Gesicht ihrer Mutter. Sie ging zu ihr und gab ihr einen Kuss.

»Schön, dass du wieder da bist, Mutter!«

Ihr Vater stand mitten in der Wohnküche und stemmte die Hände in die Seite.

»Nun red’ schon, Lotti! Wie lange soll ich noch auf eine Antwort warten? Solange du noch daheim wohnst, bist du uns eine Erklärung schuldig.«

»Lothar, nun mal langsam! Du lässt des Madl doch gar net zu Wort kommen«, warf Burgl Kirchner ein.

»So lange die Lotti noch ihre Füße unter unseren Tisch streckt, solange hat sie sich hier einzuordnen. Des war schon immer so, des wird auch so bleiben. Da lasse ich nicht mit mir reden«, donnerte er.

Lotti kannte den alten Spruch, den ihr Vater gerade zitiert hatte. Sie war wütend. Trotzdem beherrschte sie sich noch im Beisein ihrer Mutter. Lotti seufzte.

»Ich komme von der Frühmesse!«

»Schmarrn, jetzt lügst auch noch! Du willst mitten in der Woche in der Frühmesse gewesen sein? Schmarrn! Eine dümmere Ausrede gibt es net! Aber darauf falle ich net rein.«

»Ach, denke doch, was du willst! Ich bin alt genug. Deinen Ärger brauchst du nicht an mir auszulassen.«

»Ich lasse nix an dir aus! Ich will nur net, dass man mich belügt. Du hast versprochen, morgens und abends nach dem Vieh zu sehen. Ich komme vorzeitig heim, und du bist net da, nennst des Verantwortung?«

Jetzt war es mit Lottis Geduld und Zurückhaltung vorbei.

»Verantwortung, des ist genau des Stichwort, Vater. Ich sage nur noch ein Wort, einen Namen – Jean! Was hast du mit diesem Gauner zu schaffen? Des ist ein Grund, mit dir über Verantwortung zu reden!«

»Du lenkst ab, Lotti!«, brüllte er. »Jean geht dich nix an. Des ist meine Sache.«

»Um was geht es hier?«, fragte Burgl. »Ich verstehe nix. Um was streitet ihr?«

»Halte dich da heraus, Burgl! Und zu dir, Lotti. Du kümmerst dich besser um deine eigene Angelegenheit. Ich will net zum Gespött der Leut’ werden. Ich will mir beim Stammtisch net sagen lassen müssen, unser Madl wäre eine Herumtreiberin.«

In Lotti kochte es. Ihr Herz raste. Kleine Schweißperlen standen auf der Stirn. Sie war fest entschlossen gewesen, in Ruhe mit ihrem Vater zu reden. Aber jetzt waren alle guten Vorsätze dahin. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ihre Mutter dabei war und ohne dass sie wusste, ob ihre Mutter von den illegalen Machenschaften Kenntnis hatte, brach es aus Lotti heraus.

»Ganz wie du willst, Vater! Ich kenne auch Sprichwörter! ›Wie es in den Wald ruft, so schallt es heraus‹. Ich lasse mich net länger von dir beschimpfen und verdächtigen. Du hast keinen Grund, mich so herunterzuputzen, du bestimmt nicht! Ich dagegen, ich hätte allen Grund, dich zur Rede zu stellen. Was glaubst du denn, wie ich mich fühle? Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als ich die Bestätigung der Laboruntersuchung in Händen hatte. Bis zum letzten Augenblick hatte ich gehofft, dass ich mich geirrt hätte. In meiner Verzweiflung habe ich mich gestern an Pfarrer Zandler gewendet. Er kam auch gleich. Er hat mir beigestanden und des Zeugs anonym untersuchen lassen, heute Nacht bei der Beate. Ich war völlig fertig und habe im Pfarrhaus übernachtet, und ob du es glaubst oder nicht – es ist mir gleich – ich war heute Morgen in der Frühmesse.«

»Lotti, ich verstehe dich net. Was ist, Madl? Warum hast den Pfarrer Zandler um Hilfe gebeten?«, fragte ihre Mutter.

Lotti seufzte. Sie atmete mehrmals durch und schaute ihre Mutter ernst an. Burgl Kirchner ahnte nichts Gutes.

Sie sank auf die Eckbank und starrte abwechselnd ihre Tochter und ihren Ehemann an.

Langsam verlor auch sie die Geduld.

»Ich will jetzt wissen, um was es hier geht. Einer von euch beiden redet jetzt. Ich sehe doch, dass es etwas gibt, von dem ich nix weiß.«

»Es gibt nix, Burgl!«, behauptete der Bauer.

Er drehte sich um und wollte die Küche verlassen. Lotti reagierte blitzschnell. Es war mehr eine Affekthandlung, als dass sie überlegt war. Sie sprang an ihrem Vater vorbei, schlug die Küchentür zu, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein.

»Nix da! Du bleibst hier! Es gibt etwas, worüber du hier und jetzt Rede und Antwort stehst!«

»Burgl, die Lotti muss den Verstand verloren haben. Die hat abgesperrt. Gib den Schlüssel her! Sofort!«

»Naa! Rede, Vater! Sag, was ist des für ein Zeug, das dir der Jean bringt? Wenn du es net sagst, dann kläre ich die Mutter auf.«

»Des sind Vitamine und so was. Ich habe es dir doch gestern schon am Telefon erklärt. Außerdem hat dich des net zu kümmern!«

»Doch, Vater, das hat mich zu kümmern. Jeden hat des zu kümmern, der hinter so eine Schweinerei kommt. Ich bin Säuglingsschwester und liebe meinen Beruf. Die Gesundheit und des Wohlergehen von Kindern und auch von Erwachsenen ist mir ein Herzensanliegen. Ich kann da net wegschauen!«

»Lotti, du hast dich da in was hineingesteigert. Du schaust zu viele Krimis im Fernsehen. Dann bildest du dir Dinge ein, die mit der Wirklichkeit nix zu tun haben.«

Lotti schlug wütend mit der flachen Hand auf den Küchentisch.

»Ja, Himmelherrgottsakrament, glaubst du denn, du lebst in einer anderen Welt, in einem Paralleluniversum, in dem du machen kannst was du magst, ohne Verantwortung und ohne Folgen fürchten zu müssen? Wenn des rauskommt, dann ist der Skandal perfekt. Dann ist unser guter Name – Kirchner – ruiniert. Dann kommt Waldkogel in die Schlagzeilen. Von der menschenverachteten Haltung deines Tuns will ich erst gar net reden. Des, was du machst, ist so abscheulich, so bodenlos unanständig, dass ich mich schäme, Kirchner zu heißen. Du hörst sofort damit auf! Du setzt dich mit der Beate in Verbindung. Die hat dem Pfarrer versprochen, dass sie dir hilft. Verdient hast du es nicht. Kannst von Glück sagen, dass unserer Tierärztin unser schönes Waldkogel so am Herzen liegt. Sie will net, dass es als Skandalort bekannt wird. Du müsstest der Beate auf Knien danken, dass sie es net gleich dem Veterinäramt in Kirchwalden meldet. Sie weiß auch net, dass es sich dabei um unsere Mast handelt. Pfarrer Zandler hat ihr keinen Namen genannt. Die Beate wartet eine Woche. Wenn du bis dahin nicht mit ihr geredet hast, dann sagt sie, die Proben seien ihr anonym überstellt worden. Dann werden alle Höfe untersucht und erst einmal gesperrt. Dann musst nimmer zum Stammtisch gehen. Dann geht es am Stammtisch net um mich, sondern um dich und deine kriminellen Machenschaften!«

Lotti holte tief Luft.

Sie wandte sich um und sah ihre Mutter an:

»Mutter, es tut mir unendlich leid, dass ich dir des sagen muss. Ich nehme nach deiner Reaktion an, dass du nix weißt. Der Vater füttert den Schweinen illegales Zeugs, ein Pulver, das verboten ist. Es ist ein Art Dopingmittel für das Vieh. Er kauft es bei diesem Jean.«

»Des sind doch gute Vitamine, Hartmut … oder? Des hast doch immer gesagt. Deshalb gedeihen unsere Schweine so gut, und deshalb läuft es so gut mit dem Hof. Du hast mir gesagt, dass du des Zeug beim Jean kaufst, weil es bei ihm billiger ist.«

Lottis Vater wurde rot im Gesicht.

»Genauso ist es! Es sind reine Vitamine, sonst nix!«

»Ach, Vater, lüge dir doch net selbst in die Tasche und belüge Mutter und mich net. Du zahlst für eine Flasche von dem Zeug ein paar tausend Euro. So viel Geld nur für Vitamine? Schmarrn! Des wäre zum Lachen, wenn es net so traurig wäre. Du kannst dich net herausreden. Du weißt es und hast es immer gewusst. Du hast es bewusst verfüttert, des Zeugs.«

Hartmut Kirchner unternahm einen letzten kläglichen Versuch der Verteidigung.

»Ich bin genauso überrascht wie du, Lotti!«

»Ach, sei still!« Lotti winkte mit der Hand ab.

Sie atmete tief durch.

»So, und jetzt rede ich! Ich bin nicht bereit, meine Füße unter den Tisch des Kirchnerhofes zu strecken, solange die Sache nicht geklärt ist. Ich würde mich mitschuldig machen. Des kann niemand von mir verlangen! Ich habe eine Woche frei. Die verbringe ich in den Bergen. In der Zeit kannst mit der Beate reden und den Saustall hier auf dem Hof säubern. Wenn du mit jemandem reden willst, wende dich an Pfarrer Zandler. Aber zieh dich warm an, der Zandler ist auch ziemlich sauer auf dich. Bevor du den Mist hier net in Ordnung gebracht hast, fällt es ihm sehr schwer, dich in der Kirche zu sehen, sagte er. Für Heuchler, Lügner und Betrüger hat er wenig Verständnis. Beichte ist heute vor der Abendmesse. Du solltest hingehen, Vater!«

Lotti seufzte.

»Mutter, wenn etwas ist, kannst du mir auf mein Handy eine SMS schicken. Ich lieb’ dich, Mutter. Tut mir leid, aber ich konnte die Augen nicht verschließen.«

Lotti ging zu ihrer Mutter. Sie umarmten sich.

»Ich hab’ wirklich gedacht, dass des nur Vitamine sind«, flüsterte Burgl ihrer Tochter ins Ohr.

»Ich glaube dir, Mutter! Jetzt muss ich gehen, des musst du verstehen.«

Burgl Kirchner strich Lotti übers Haar. Sie sahen sich in die Augen.

»Geh, Madl! Es ist im Augenblick das Beste für dich!«

Sie umarmten sich noch einmal. Dann ging Lotti an ihrem Vater vorbei, dem sie einen verächtlichen Blick zuwarf. Sie schloss die Tür auf und rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Nachdem Lotti gegangen war, fragte Burgl ihren Mann:

»Hast du wirklich keine Ahnung davon gehabt?«

»Himmel, Burgl, stellst du Fragen! Bin ich ein Chemiker? Kann ich die Zusammensetzung wissen? Wenn du wissen willst, aus was des Zeugs besteht, dann musst Jean fragen, aber der ist nur Zwischenhändler und auch kein Chemiker!«

»Das ist keine Antwort, Hartmut, und das weißt du! Damit redest du dich bei mir nicht heraus, Hartmut. Ich packe jetzt meine Sachen und ziehe zur Meta. Ich nehme mir in der Pension ›Beim Baumberger‹ ein Zimmer, bis du hier den Saustall aufgeräumt hast, wie es unser Madl so treffend beschrieben hat.«

»Burgl, des kannst net machen! Was sagen die Leut’, wenn sich des rumspricht?«

»Des … des ist mir gleich! Auf mich fällt es net zurück! Da kannst du sicher sein.«

»Burgl, sei vernünftig! Wie schaut des aus? Mei, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht.«

»Aha, des ist interessant! Endlich gibst du es zu!«

»Ich gebe nix zu, höchstens, dass ich zu leichtgläubig dem Jean gegenüber war. Dem werde ich die Leviten lesen, wenn er kommt. Des sage ich dir!«

»Ach, Hartmut, lass es gut sein! Auf so billige Erklärungen falle ich net rein. Ich suche mir außerhalb von Waldkogel ein Zimmer. Kannst mir eine SMS schicken, wenn die Sache glimpflich ausgegangen ist. Im anderen Fall kann ich in der Zeitung von den Skandalen in Waldkogel lesen. Pfüat di, Hartmut.«

»Burgl! Bitte, bleibe hier! Lass uns reden!«

Er stellte sich seiner Frau in den Weg.

»Es gibt nix, über das ich im Augenblick mit dir reden möchte. Geh zur Seite, versperre mir nicht den Weg, sonst verliere ich noch den winzigen Rest an Verständnis, den ich… vielleicht noch für dich mit Not aufbringen kann.«

Hartmut zuckte hilflos mit den Schultern und trat zur Seite.

Burgl griff nach ihrem gepackten Koffer, der noch von dem Besuch bei ihren Eltern im Flur stand. Sie trug ihn zum Geländewagen und stieg ein. Hartmut braucht den Wagen nicht. Er hat hier genug zu tun, dachte sie und fuhr davon. Hartmut setzte sich auf die Eckbank und stützte den Kopf in die Hände. So sah ihn Lotti, als sie kurz darauf an der Küchentür vorbeiging.

Sie trug ihre Wandersachen und hatte einen großen Rucksack auf dem Rücken. Hartmut hörte, wie Lotti ihr Auto anließ und vom Hof fuhr.

Eine Welt brach für ihn zusammen.

*

Lotti fuhr zum Pfarrhaus. Sie stellte ihr Auto ab. Dann ging sie mit ihrem Rucksack in die Kirche. Sie wollte noch eine Kerze anzünden. Dort traf sie auf Pfarrer Zandler. Ein Blick genügte dem erfahrenen Geistlichen, um zu wissen, dass Lotti schon mit ihrem Vater geredet hatte.

»Grüß Gott, Lotti! Gibt es dicke Luft daheim? Willst in die Berge?«

»Ja, es ist nicht nur dicke Luft. Sie ist vergiftet. Ich will ein Stück den ›Pilgerpfad‹ wandern, es ist ein heiliger Weg. Das wird mir gut tun.«

Lotti griff in ihre Hosentasche.

»Hier nehmen Sie. Das sind meine Autoschlüssel. Ich habe das Auto vor dem Pfarrhaus abgestellt. Ihr Wagen muss doch zur Reparatur nach Marktwasen. Das wird bestimmt einige Tage dauern. Ich brauche mein Auto erst wieder nächste Woche. Nehmen Sie das Vehikel, wenn Sie es brauchen. Daheim wollte ich ihn net lassen.«

»Danke, damit hilfst du mir sehr!«

»Übrigens, meine Mutter ist stinksauer auf den Vater. Sie ist in Urlaub gefahren, alleine – so will ich es mal ausdrücken.«

»Oh, oh, oh! Des hört sich net gut an. Wo ist sie hin? Hat sie eine Andeutung gemacht?«

»Entweder zu einer Schulfreundin nach Kirchwalden oder sie ist wieder auf dem Weg zu ihren Eltern.«

Lotti schaute Pfarrer Zandler trotz allem besorgt an.

»Können Sie ein Auge auf dem Sturkopf haben?«

Er lächelte Lotti an.

»Ich werde nach deinem Vater sehen. Ich werde dem verirrten Schäfchen schon helfen, den richtigen Weg zu finden. Du kannst auf mich zählen, Lotti. Jetzt mache dir keine Sorgen mehr. Du hast das Richtige getan. Jetzt denke an dich. In den Bergen findest du Ruhe und dein Gleichgewicht wieder.«

»Ja, das hoffe ich auch. Es kommt immer alles zusammen. Ich wollte mir eigentlich die Tage Zeit nehmen, um in Ruhe über etwas anderes nachzudenken. Warum kommen alle Sorgen immer auf einmal?«

Pfarrer Zandler zuckte mit den Achseln.

»Endgültig habe ich darauf auch keine schlüssige Antwort, Lotti. Ich weiß nur, dass immer noch die schwarze Wolke über dem Gipfel des ›Höllentor‹ steht.«

»Ja, sie ist immer noch dort, des ist gruselig, ganz schlimm gruselig ist das. Ich habe richtig Angst, was noch geschehen könnte!«

»Musst keine Angst haben. Schau einfach net hin. Musst nur zum ›Engelssteig‹ aufsehen. Das ist besser!«

»Stimmt, Pfarrer Zandler!«

»Über was hast du die Tage nachdenken wollen, Lotti?«

»Ich könnte Karriere im Krankenhaus machen. Mir wurde die Stelle der Leiterin der Säuglingsstation und der Frühgeborenenstation angeboten.«

»Mei, des ist ja wunderbar! Du bist für diese Aufgabe genau die Richtige.«

»So, meinen Sie des auch?«

»Was hast dagegen einzuwenden?«

»Nix, ich habe nur nie daran gedacht. Ich dachte, ich arbeite einige Jahre, dann finde ich einen feschen Burschen, wir heiraten, bekommen Kinder und ich bin daheim bei unseren eigenen Kleinen. Aber dieses Glück scheint mir net zugedacht zu sein. Die Burschen wollen nix von mir wissen.«

Pfarrer Zandler schmunzelte.

»So ist des net ganz! Da kenne ich einen, der macht sich Sorgen um dich. Der war sogar heute Morgen bei mir im Pfarrhaus und hat gefragt, ob es dir gut geht.«

»Das kann doch nicht wahr sein?«

»Doch!«

»Wer ist das?«

»Der Sascha Schweiger hat mich gestern doch zu euch gefahren, weil mein Auto mal wieder den Geist aufgegeben hatte. Da sagte ich ihm, dass du mich angerufen hattest und es mir scheint, dir ginge es net so gut.«

»Und dann ist er heute Morgen zu Ihnen ins Pfarrhaus gekommen, nur um nach mir zu fragen?«

»Ja, das ist er! Du scheinst ihm net einerlei zu sein.«

Lotti zuckte mit den Schultern. Sie konnte nicht verhindern, dass sie tief errötete. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen.

»Der Sascha ist ein fescher Bursche. Er wohnt net weit vom Kirchner Hof. Es kann auch nur nachbarschaftliches Interesse gewesen sein«, sagte Lotti leise.

»Mei, Madl, des denke ich net! Der Sascha ist ein bisserl ein Schüchterner. Wenn du ihn des nächste Mal sehen tust, dann musst ihn eben ein bisserl ermutigen, wenn du ihn magst. Und wenn mich meine Wahrnehmung nicht allzu sehr täuscht, dann gefällt er dir. Ist es so?«

»Sie wollen uns verkuppeln, Herr Pfarrer?«

»Lotti! Was für ein hässliches Wort und dazu noch hier in der Kirche. Ich, als Vertreter der Kirche, ich verkupple nicht, ich stifte vielleicht mit kleinen Hinweisen glückliche Ehen, verstehst? Des ist ein Unterschied.«

Pfarrer Zandler lächelte Lotti an.

»So und jetzt gehst mit dem Segen des Herrn und überlässt alles ihm – und mir!«

»Danke für Ihre Hilfe! Pfüat Gott, Herr Pfarrer!«

»Pfüat di, Lotti!«

Lotti ging davon. Sie dachte nicht mehr an die Vorkommnisse. Sie dachte nicht mehr an die Chance, die man ihr im Krankenhaus bot. Sie musste nur noch an Sascha denken. Ihr Herz schlug schneller. Er gefiel ihr seit langem. Sascha Schweiger stand ganz oben auf Lottis Liste der Burschen, die sie angeblich übersahen und mit denen sie gern näheren Kontakt gehabt hätte.

Mit vielen schönen Gedanken und Träumen schlug Lotti den Weg in Richtung Forsthaus ein. Von dort führte ein schmaler Pfad durch den Wald hinauf zum ›Pilgerpfad‹, der am Hang die Berge hinaufführte.

Mit jedem Schritt auf dem Pilgerpfad wurde es Lotti leichter ums Herz. Ganz in der Tradition der Pilger betete sie den Rosenkranz. Das half ihr sehr.

Ja, die Berge sind schön, dachte Lotti. Sie sind seit Ewigkeit hier. Was ist ein Menschenleben dagegen? Wie viel haben die Berge gesehen und erlebt? Wie schlimm wir Menschen unser Leben auch immer empfinden, wir nehmen es viel zu wichtig.

Langsam entspannte sie sich. Sie hatte alles getan, was sie tun konnte. Jetzt wollte sie sich der Schönheit der Berge widmen. Die Berge gaben Ruhe in ihr Herz. In der Natur ist alles wohlgeordnet nach einem höheren Plan. Es gibt Jahreszeiten, Sonne und Regen, Schnee und Eis, es hat alles seinen Sinn. Kein Mensch kann wirklich eingreifen, ohne am Ende an seinem eigenen Tun zu scheitern. Die Natur ist stärker, viel stärker als alles, was Menschen je hervorbrachten und noch hervorbringen würden. Das war für Lotti ein großer Trost. Hoffnung breitete sich in ihrem Herzen aus. Die Zeit, in der Menschen wie ihr Vater versuchten, in den gottgewollten Kreislauf der Natur einzugreifen, die würde auch einmal zu Ende gehen. Vielleicht sind dazu noch einige bittere Erfahrungen notwendig, aber am Ende werden die Ehrfurcht und die Achtung vor der Schöpfung siegen. Lotti dachte an die kleinen Säuglinge, die sie im Krankenhaus in den Armen hielt. Sie sind von einem starken Lebenswillen durchdrungen. Sie kämpfen und schreien, wenn sie etwas wollen. Sie werden größer werden, und dazu müssen sie an sich glauben. Sie müssen glauben, dass es keine Grenzen für sie gibt. Nur so können sie wachsen an Geist, Körper und Seele. Irgendwann muss dann der Punkt kommen, an dem sie erwachsen sind und einsehen, dass es auch sinnvoll ist, Verzicht zu üben, bescheiden und genügsam zu sein. Sie müssen und werden hoffentlich lernen, dass Zufriedenheit ein schöneres Gefühl ist als die ständige Gier nach noch mehr und noch mehr Erfolg, einem dickeren Bankkonto, einem größeren Auto, einer Fernreise. Sie werden erfahren, dass sie durch bewussten Verzicht und Bescheidenheit eine viel größere Zufriedenheit und ein wirkliches inneres Glück erreichen.

Lotti war sich sicher, dass die Gier nach noch mehr ihren Vater zum Einsatz der verbotenen Substanz getrieben hatte. Die Schweinemast lief gut. Ohne diese sogenannten Vitamine würde es sicherlich auch gehen.

Lotti bedauerte, dass es ihr nicht möglich war, in Ruhe mit ihrem Vater zu reden. Sie hatte so eine laut­starke und verletzende Auseinandersetzung nicht gewollt. Doch es war nicht anders möglich gewesen. Lotti bedauerte es sehr.

Sie schob die Gedanken über ihren Vater zur Seite. Sie dachte wieder an Sascha, der sie so freundlich gegrüßt und sich bei Pfarrer Zandler nach ihr erkundigt hatte. Vielleicht interessiert er sich wirklich für mich, überlegte sie. Vielleicht ist er tatsächlich nur schüchtern. Das könnte schon sein, dachte sie. Sascha galt als ausgesprochen ruhiger Bursche. Er trank nicht viel und spielte sich bei den Dorffesten in Waldkogel nicht so auf wie die anderen Burschen.

Lotti überdachte den Ratschlag, den ihr Pfarrer Zandler gegeben hatte. Sie sollte Sascha ermutigen. Das war leicht gesagt, aber wie sollte sie das tun? Ich kann mich ihm doch nicht einfach an den Hals werfen, dachte sie.

Lotti überlegte, ob sie vielleicht auch schüchtern auf Burschen wirkte. Wahrscheinlich nicht denn, wenn ein Madl schüchtern war, dann reizte es normalerweise die Burschen noch mehr. Doch wie ist es bei mir?

Welche Signale sende ich aus?

Wie wirke ich auf die Burschen?

Warum bemühte sich bisher keiner um mich?

Lotti fand darauf keine Antwort. Vielleicht sollte ich mit Traudel mal darüber reden, dachte sie. Sie hat mehr Lebenserfahrung als ich. Dann dachte sie daran, dass sie sich vielleicht auch irren konnte. Irgendetwas an mir zieht Sascha vielleicht doch an. Sonst wäre er nicht so besorgt um mich. Lotti nahm sich vor, das zu ergründen.

Sie kam bald auf dem Pilgerweg an einer Schutzhütte vorbei. Sie war leer. Lotti ging hinein. Sie ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten und sank auf das Lager. Sie hatte die letzte Nacht nur wenig geschlafen und war müde. Dazu kamen die Aufregung und der Ärger. Beides hatte an Lottis Kräften gezehrt, und sie war sehr müde. Lotti wollte sich etwas ausruhen, bevor sie weiterwandern wollte.

Sie schloss die Augen. Sie dachte an Sascha und schlief ein. Saschas Bild und die Sehnsucht nach ihm in ihrem Herzen nahmen sie mit hinüber ins Land der Träume.

*

Sascha war zur Berghütte gewandert. Er saß auf der Terrasse an einem Tisch. Toni kam mit zwei Gläsern und setzte sich neben ihn.

»Prost, Sascha!«

»Prosit, Toni!«

Sie tranken und wischten sich den Bierschaum von der Oberlippe.

Toni schmunzelte.

»Was gibt es zu grinsen?«, fragte Sascha.

Toni lachte erneut.

»Weißt, du bist zwar ein Bursche aus Waldkogel, aber du benimmst dich wie einer dieser Managertypen, die auf Urlaub zu uns auf die Berghütte kommen. Sie nehmen sich vor, abzuschalten und sich einige Tage eine Auszeit zu gönnen, um neue Kräfte zu schöpfen. Aber dann sitzen sie die ersten Tage genau wie du da und starren ihr Handy auf dem Tisch an. Mei, da könnte ich dir Geschichten erzählen! Einmal war ich mit einer Seilschaft auf dem Weg hinauf zum Gipfel des ›Engelssteigs‹. Wir hatten den Aufstieg mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad gewählt. Wir hingen in der Wand. Da bimmelte des Handy von so einem Typen. Er hing also in der Wand und redete dann mit irgendjemanden in Übersee über irgendwelche Finanzgeschäfte. Des musst dir mal vorstellen! Des war irre! Ich dachte, ich träume. Er hörte gar nimmer auf zu reden. Du, des waren richtige Verhandlungen. Später erzählte er mir, dass es eine Telefonkonferenz war. Jedenfalls bestehe ich seither da­rauf, dass alle Handys ausgeschaltet werden. Deshalb habe ich geschmunzelt.«

Sascha grinste und warf Toni einen Blick zu.

»Des verstehe ich. Aber bei mir geht es um ein Madl.«

»Ah, den Grund kann ich akzeptieren. Will sie auch kommen, dein Madl?«

»Mein Madl, des klingt gut, Toni. Ich muss sie noch erobern. Sie hat Kummer. Des weiß ich. Da erwacht mein Beschützerinstinkt. Ich frage mich, wie ich ihr beistehen kann.«

»Wer ist es? Ist sie aus Waldkogel?«

»Ja, des ist sie! Ein Madl aus unserer Nachbarschaft! Aber behalte es für dich, Toni! Ich will net zum Gespött werden, wenn es schiefgeht. Noch werbe ich um sie.«

Toni überlegte.

»Du kannst nur von der Lotti Kirchner reden, oder? Sonst gibt es kein Madl in deiner Nachbarschaft. Ist es die Lotti?«

Sascha errötete.

»Ja, es ist die Lotti! Wir kennen uns seit der Kindheit. Seit wir damals hergezogen sind und meine Eltern das kleine alte Haus mit dem Waldgrundstück gekauft haben. Ich war damals vier Jahre, als mein Vater die Stelle als Musiklehrer am Gymnasium in Kirchwalden bekommen hat. Als Kinder haben wir fast täglich zusammen gespielt und sind dann einige Jahre sogar in die gleiche Klasse gegangen. Dann trennten sich unsere Wege. Sicher sieht man sich, so als Nachbar. Man redet einige Worte, so dies und das, ver­stehst?«

Toni nickte. Sascha seufzte.

»Aber die Lotti ist sehr brav, so will ich es mal sagen, und sehr zurückhaltend. Sie ist ein ernster Typ. Seit sie im Krankenhaus in Kirchwalden arbeitet, sehe ich sie kaum. Außerdem bin ich auch beruflich sehr eingespannt. Meistens komme ich erst heim, wenn es schon dunkel ist.«

»Was machst du genau?«

»Ich habe Tierpfleger gelernt und habe die Leitung des Tierheims in Kirchwalden, seit fast einem Jahr.«

»Dann hast du richtig Kariere gemacht, meinen Glückwunsch!«

»Danke, Toni! Es ist eine schöne Aufgabe. Nebenbei mache ich noch einen Fernkurs zum Tierheilpraktiker. Ich mache in einigen Wochen meine Prüfung.«

»Himmel, wann schläfst du? Du musst ja vierundzwanzig Stunden arbeiten und lernen.«

»So schlimm ist es nicht, Toni. Ich wohne noch daheim und kann die Füße unter Mutters Tisch strecken. Sie nimmt mir viel ab. Um die täglichen Angelegenheiten muss ich mich nicht kümmern. Ich kann mich ganz auf meine Zukunft konzentrieren.«

»Dir bleibt dann auch wenig Zeit, um der Lotti hinterherzusteigen.«

»Toni, wie du des sagst? Mei, mei! Aber so ist es nicht. Ich sehe sie am Sonntag in der Kirch’. Dann gehen wir zusammen heim. Sie erzählt von den Säuglingen und ihrer Arbeit und ich vom Tierheim.«

»Des ist ja alles schön und gut. Aber ihr solltet über die Liebe reden.«

»Des ist net so einfach, Toni. Ich kann sie doch net überfallen, sie bedrängen. Ich hab’ sie schon ein paarmal eingeladen, mich im Tierheim zu besuchen. Aber sie will wohl net. Sie ist nie gekommen.«

»Sie wird auch wenig Zeit haben und viel arbeiten.«

»Es kann aber auch sein, dass sie kein Interesse an mir hat.«

Toni deutete auf das Handy.

»Trotzdem erwartest du, dass sie dich anruft? Also, mich verwundert des schon.«

»Ich erwarte keinen Anruf von der Lotti. Des net! Ich erwarte einen Anruf von jemand, der genau weiß, wie es der Lotti geht. Er hat mir hoch und heilig versprochen, mich zu informieren und mir zu sagen, wenn er etwas weiß. Verstehst?«

»Naa! Du wartest auf einen Anruf von einem anderen Burschen? Mei, hast keine Angst, dass sich dieser selbst um die Lotti bemüht? Des wird er wohl, woher sollte er sonst genaue Einzelheiten über ihr Wohlbefinden herhaben.«

Sascha brach in lautes Lachen aus.

Toni sah ihn überrascht an.

»Toni, ich hab’ mich vielleicht eben ein bisserl ungeschickt ausgedrückt. Ich erwarte einen Anruf von Pfarrer Zandler. Ich bin heute schon bei ihm gewesen und hab’ mich nach der Lotti erkundigt. Er hat mir da eine Geschichte angedeutet, die es in sich hat. Die Lotti hat in ihrer Verzweiflung sich gestern Abend an den Zandler gewandt und ihn auf den Hof gerufen. Und Hochwürdens Auto hatte mal wieder den Geist aufgegeben. Ich war zufällig früher auf dem Heimweg. So hab’ ich den Zandler aufgelesen und beim Kirchner Hof abgesetzt.«

»Ah, so wird ein Schuh daraus.«

»Ja, so wird ein Schuh daraus. Der Zandler hat mir versprochen, mich anzurufen, wenn er etwas Neues weiß. Er kümmert sich um die Sache, hat er gesagt. Aber er meint auch, dass es der Lotti gut tun würde, einen Freund an ihrer Seite zu haben. Er weiß ja, dass wir als Kinder viel zusammen waren.«

Sascha lächelte still vor sich hin.

»Es sind schöne Erinnerungen. Noch heute denke ich gern daran zurück.«

Sascha fing an zu erzählen. Er wusste, dass er Toni vertrauen konnte.

»Wir spielten meistens in den Feldern zwischen unseren Höfen oder im Mischwald dahinter. Im Wald hatten wir uns aus Steinen und Zweigen einen Unterstand gebaut. Das war unser Haus. Lotti übernahm die Rolle der Hausfrau und Mutter und ich war der Mann und Vater. Lotti brachte ihre Puppen mit und ich meine Kaninchen und unseren Hund, das waren unsere Kinder. Wir machten sogar oft heimlich ein kleines Feuer und kochten Suppe aus Beeren oder Pilzen, die wir gesammelt hatten. Es war ja streng verboten, Feuer zu machen. Wir vergruben anschließend die Asche. Ich schleppte immer mehrere Kanister und Eimer mit Wasser vom Bergsee heran, damit wir im Notfall löschen konnten.«

Toni trank einen Schluck Bier.

»Und jetzt träumst du davon, dass aus dem Spiel der Kindheit Wirklichkeit werden könnte?«

Sascha lächelte verlegen und trank ein Schluck Bier.

»Musst dich für deine Träume und Sehnsüchte nicht schämen, Sascha. Bist eben verliebt in des Madl.«

»Ja, das bin ich. Aber warum ist sie bis jetzt keiner meiner Einladungen gefolgt?«

»Die Frage kann dir nur die Lotti beantworten. Frage sie einfach!«

»Ist des net zu forsch?«

»Sascha, mei, mach es doch net zu kompliziert! Du hast sie eingeladen, und sie kommt net. Also tust sie fragen. Des ist doch völlig normal. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Erstens, sie hat keine Zeit. Zweitens, sie hat kein Interesse an einer Besichtigung des Tierheimes.«

»Des nehme ich net an. Lotti mag Tiere. Des weiß ich! Es kann auch einen anderen Grund geben. Sie will nicht, weil sie einen anderen Burschen hat.«

»Hat die Lotti sich über deine Einladung gefreut?«

»Ja, ich denke schon. Sie interessierte sich für meine Arbeit und stellte Fragen. Es kann auch nur höfliches Interesse gewesen sein.«

»Sascha, ich will dir jetzt mal ehrlich sagen, was ich denke.«

Toni schaute ihn ernst an.

»Du darfst mir die offenen Worte aber net verübeln.«

»Red’ schon, Toni!«

»Ich denke, dass du Angst hast, bei der Lotti abzublitzen. Du hast Angst, dass sie dich net will. Deshalb bist so zurückhaltend und machst dir zu viele Gedanken. Stattdessen solltest du offen mit ihr reden. Mei, so schwer ist des doch net! Du hast doch einen guten Anknüpfungspunkt, eure gemeinsamen Erinnerungen, die Spiele eurer Kindheit. Des ist doch eine wunderbare Vorlage für ein Gespräch. Sage ihr, dass du oft daran denkst. Sage ihr, dass du damals schon davon träumtest, dass ihr diese Spiele Wirklichkeit werden lassen könntet. Sage es ihr!

Frage sie direkt und schaue ihr dabei in die Augen, ob sie auch solche Gedanken hat. Dann wirst du sehen, wie sie reagiert. Mei, Sascha, mehr als eine Absage kannst dir net holen. Und selbst wenn sie net so will wie du, dann kannst du um sie werben. Lade sie zum Essen ein. Führe sie in Kirchwalden zum Tanz. Stehe nach ihrem Dienstschluss vor dem Krankenhaus und hole sie ab. Sie muss spüren, was du ihr bedeutest. Ihr muss ganz klar werden, dass du mehr als Freundschaft willst und mehr für sie empfindest. Sie muss wissen, dass es auf deiner Seite Liebe ist. Ich weiß, dass es kompliziert sein kann, wenn sich aus einer Freundschaft zwischen einem Burschen und einem Madl Liebe entwickelt.«

Toni seufzte. Er hatte Mitleid mit Sascha.

»Hast gar keine Phantasie, wie du des Madl umgarnen könntest?«

»Toni, so einfach ist des net. Wir kennen uns gut. Lotti ist keine Romantikerin, der man Blumen schickt.«

»Bist deppert? Jedes Madl freut sich darüber. Du kennst sie von früher, als ihr Kinder gewesen seid. Des ist lange her. Jetzt bist du ein Bursche und sie ein Madl. Da ist alles anders. Ihr seid älter, und es gibt andere Spielregeln. Sei ein bisserl mutiger! Wenn ihr euch früher so gut verstanden habt, dann sprich doch einfach offen mit ihr. Des ist in meinen Augen der einfachste Weg.«

»Ich werde darüber nachdenken, Toni. Weißt, es wäre leichter, wenn ich eine kleine Andeutung hätte, dass sie mir net ablehnend gegenübersteht. Du musst mich verstehen, ich hab’ eben Angst, dass sie mich net mögen könnte. Aber ich kenne auch niemand, der die Lotti ein bisserl aushorchen könnte. Des würde mir dir Sache erleichtern.«

Toni grinste. Er rief Anna herbei und redete mit ihr. Anna schmunzelte.

»Ich sehe die Lotti selten. Aber deine Mutter, Toni, sie könnte so eine Person sein, die des Madl ausfragen könnte. Die Meta hat eine nette Art. Außerdem wird am Stammtisch viel geredet. Sie kann sich darauf berufen. Sie kann einfach sagen, dass sie gehört habe, der Sascha Schweiger wäre in Lotti verliebt. Dann sieht sie die Reaktion bei der Lotti.

Entweder bekommt sie leuchtende Augen oder sie bricht in lautes Lachen über das Gerede aus oder sie wird ärgerlich. Eine Reak­tion gibt es bestimmt. Wenn ich die Woche unten bei deiner Mutter bin, dann rede ich mit ihr, Toni. Das wird schon. Deine Mutter hat auch ein großes Herz für Verliebte.«

Sascha lächelte.

»Danke, Anna«, sagte er leise.

Toni stand auf.

»So, jetzt lasse ich dich alleine. Kannst weiteren Träumen über die Lotti nachhängen. Ich muss was arbeiten.«

Toni schmunzelte.

»Ich habe da irgendwann mal eine schlaue Redewendung gehört. Der Urheber ist mir nicht bekannt. Sie lautet: Träume sind der Anfang der Wirklichkeit. Also stelle es dir vor, wie es sein wird, wenn du mit der Lotti zusammen bist. Ich glaube fest daran, dass es dann auch so kommt.«

Toni legte den Arm um seine Anna.

»Bei uns war des doch auch so, net wahr, meine geliebte Flachland­indianerin!«

Flachlandindianerin nannte Toni seine Anna, weil diese aus Hamburg kam.

»Ja, Toni! So war es!«

Sie nahmen sich in den Arm und küssten sich. Dann gingen sie in die Küche der Berghütte und widmeten sich der anstehenden Arbeit.

*

Nach einer Stunde kam Sascha zu Toni, das leere Bierglas in der Hand.

»Magst noch ein Bier?«

»Naa, danke! Könntest mir aber Proviant geben. Ich will mir ein bisserl die Beine vertreten.«

Sascha grinste.

»Mein Handy kann überall bimmeln.«

Toni lachte.

»Ja, des kann es. Manchmal ist es ein Segen und gelegentlich ein Fluch. So ein Handy kann die intims­ten Situationen mit seiner Klingelei stören. Es ist dann, als würde ein Eimer eiskaltes Wasser ausgeschüttet. Also, wenn du bei deiner Lotti sein solltest, irgendwann, hoffentlich bald, des würde ich dir gönnen, dann schalte diese Höllenmaschine ab.«

»Mit solchen Störungen habe ich noch keine Erfahrung, Toni. Aber wenn ich die Handynummer von der Lotti hätte, dann könnte ich ihr eine SMS schicken. Ich würde ihr schreiben, dass ich vom Pfarrer Zandler weiß, dass es ihr net so gut geht und ich gern für sie da bin, wenn sie will.«

»Die Handynummer der Lotti brauchst? Dann rufe daheim bei ihr an. Frage ihre Mutter oder ihren Vater.«

Sascha schüttelte den Kopf.

»Naa, nach den Andeutungen von Pfarrer Zandler ist des keine gute Idee. Schade, dass ich niemand aus dem Krankenhaus in Kirchwalden kenne. Ich gehe davon aus, dass ihre Kolleginnen die Nummer haben.«

Toni grinste.

»Dann rufe dort an!«

»Naa, des ist mir peinlich. Toni, die kennen mich net und geben mir Fremden bestimmt net die Handynummer von der Lotti.«

»Da muss ich Sascha zustimmen. Es hat auch wenig Zweck, dass du oder ich dort anrufen. Aber der Leo, der könnte anrufen. Er ist dort bekannt, und man vertraut ihm.«

Toni gab Anna einen Kuss auf die Wange.

»Bist ein Genie, Anna!«

Toni zückte sein Handy. Er rief Leonhard Gasser in Kirchwalden an. Leo, wie er gerufen wurde, war der Leiter der Bergwacht in Kirchwalden. Er war sicherlich im Krankenhaus allen bekannt. Es würde nicht schwierig für ihn sein, Lottis Handynummer in Erfahrung zu bringen. Außerdem war Leo aus Waldkogel, und Waldkogeler hielten zusammen.

»Grüß dich, Leo, Toni hier!«

»Hallo, Toni! Ist dir des Bier ausgegangen? Ich weiß, dass du auf mich wartest. Aber wir hatten in den letzten Tagen besonders viele Rettungseinsätze. Da bin ich net dazu gekommen, meinen Übungsflug zu machen. Die Ladung Bier kommt heute Mittag. Die Fässer stehen schon auf dem Hof.«

»Danke, Leo! Aber deswegen rufe ich dich net an. Ich wollte dich um einen anderen Freundschaftsdienst bitten. Rufe im Krankenhaus an, lass dich mit dem Säuglingszimmer verbinden. Dort arbeitet die Lotti Kirchner.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich brauche dringend Lottis Handynummer. Kannst des für mich machen? Du bekommst sie sicherlich. Dich kennt man im Krankenhaus, dir vertraut man.«

»Ja, sicher kann ich es machen. Ich schicke dir die Nummer gleich auf dein Handy. Was ist mit der Lotti? Wird sie in den Bergen vermisst?«

Toni schmunzelte.

»Vermisst wird sie schon, aber es ist mehr eine Liebesangelegenheit.«

Leo lachte herzlich.

»Toni, Toni! Manchmal denke ich, du hast deinen Beruf verfehlt.«

»Wie soll ich des verstehen? Was willst du damit sagen? Ich bin mit Leib und Seele Hüttenwirt, und des weißt du auch!«

»Toni, ich dachte nur, du würdest dich auch gut dafür eignen, ein Eheanbahnungsinstitut oder eine Partnerschaftsagentur zu leiten. Vielleicht solltest du auf der Berghütte so eine Firma aufmachen.«

»Jetzt tust spinnen, Leo!«, rief Toni hart.

»Mei, man wird doch noch einen Scherz machen dürfen oder? Also, ich kümmere mich gleich darum.«

»Danke, Leo!«

»Schon gut, nix zu danken und grüße mir die Anna! Pfüat di, Toni.«

»Mache ich. Pfüat di, Leo!«

Toni steckte sein Handy ein.

»Du hast es gehört, Sascha.«

»Danke, Toni!«

Anna richtete Proviant. Sie war noch nicht damit fertig, als Leos SMS mit der Handynummer von Lotti ankam.

»Hier, Sascha! Jetzt hast keine Ausrede mehr!«

Sascha lächelte und tippte die Nummer in den Speicher seines Handys ein. Er verstaute den Proviant in seinem Rucksack.

»Bis zum Abend, Toni! Dir auch einen schönen Tag, Anna, und net so viel Arbeit.«

»Es wird schon, und die Arbeit ist schön, Sascha!«

Sascha schulterte seinen Rucksack und ging fort.

Toni und Anna unterhielten sich über Leonhards Vorschlag, zusätzlich ein Ehevermittlungsbüro auf der Berghütte zu eröffnen. Sie lachten und witzelten.

»Also, der erste Bursche, den ich unter die Haube bringen würde, wäre der Leo selbst. Der sucht doch schon seit Jahren ein Madl und hat kein Glück.«

»Vielleicht gelingt es dir einmal, deinem Freund zur Liebe zu verhelfen. Du könntest im Wirtsraum ein Schwarzes Brett anbringen. Dort hängst einen Zettel auf, Toni. Der Text könnte lauten: Zuverlässiger, gut aussehender Bursche, echter Naturtyp, mit Hubschrauberpilotenschein, möchte fesches Madl dauerhaft aus der Einsamkeit retten! Wie klingt das, Toni?«

Sie lachten.

»Ich werde dem Leo vorschlagen, dass er den Text als Anzeige in die Zeitung setzt. Des wird einen Spaß geben! Bin gespannt, was da für Briefe kommen.«

Sie lachten und unterhielten sich noch weiter, wer von Tonis Freunden immer noch des Madl fürs Leben suchte. Doktor Martin Engler, einer von Tonis Jugendfreunden, hatte kürzlich geheiratet. Er hatte die Liebe seines Lebens gefunden.

»Anna, wir sollten eine Liste aller ledigen Madln in Waldkogel aufstellen und sie zum nächsten Hüttenabend einladen.«

»Die kommen doch ohnehin alle, Toni. Aber wir könnten im Herbst, wenn es auf der Berghütte leerer wird, spezielle Hüttenabende für einsame, alleinstehende Herzen anbieten. Wir könnten in der Zeitung in Kirchwalden inserieren. Das wird bestimmt lustig.«

»Mei, Anna, bist im Grunde deines Herzens doch noch ein bisserl die sehr geschäftstüchtige Bankerin. Lässt nix aus, den Umsatz der Berghütte zu steigern.«

Toni nahm Anna in den Arm und küsste sie.

»Exbankerin! So etwas will ich nimmer hören! Es war doch nur ein Witz!«

»Naa, des war eigentlich eine gute Idee! Ich werde ernsthaft darüber nachdenken!«

»Tue das, aber jetzt holst mir Holz. Nun gehe schon!«

Sie lachten.

Toni eilte zum Holzplatz hinter die Berghütte und füllte den Holzkorb mit Scheiten. Er hatte sich schon einige Mal überlegt, einen Herd für die Berghütte zu kaufen, den man mit Propangas betreiben konnte. Aber Anna war strikt dagegen gewesen. Sie wollte es auf keinen Fall. Sie behauptete, dass Kuchen und Brot nicht mehr so gut schmecken würden und das Holzfeuer im alten Herd einfach zur Berghütte gehörte.

So hatte Toni den Gedanken verworfen. Er war nicht betrübt über Annas Ablehnung. Sie betrieben die Berghütte traditionell. Alles Neue würde einer Anpassung an die Moderne gleichkommen, und das wollte Toni nicht. Auf der anderen Seite sah er, wie schwer Anna arbeitete und wollte ihr die Küchenarbeit erleichtern.

*

Die Sonne versank im Westen hinter den Bergen. Die Gipfel, Schneefelder und Gletscher leuchteten in verschiedenen Gelbtönen und Rosa bis Glutrot. Der Himmel war wolkenlos. Es wehte eine kühle Prise.

Lotti hatte mehrere Stunden geschlafen. Sie stand auf und streckte sich.

»Bin ich ein Dussel und leichtsinnig dazu. Ich renne in die Berge ohne Proviant und was noch schlimmer ist, ohne Wasser! Lotti, das war sehr leichtsinnig!«, schimpfte sie mit sich selbst.

Gleichzeitig übte sie Nachsicht mit sich. Wer in meiner Lage hätte das nicht vergessen, sagte sie sich. Der Gedanke, in die Küche zu gehen und sich etwas einzupacken, war in ihrem Gedächtnis ausgelöscht worden, in dem Augenblick, als sie ihren Vater am Küchentisch hatte sitzen sehen.

Lotti hatte Durst und verspürte Hunger. Sie schaute sich den Notfallproviant in der Schutzhütte an. Er war, wie der Name schon sagte, für Notfälle gedacht. Ich bin kein Notfall, beschloss Lotti. Bis zur Berghütte ist es nicht mehr weit. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde könnte sie die Berghütte erreichen, und bis dorthin hielt sie Durst und Hunger aus. Lotti fand in einer der Außentaschen ihres Rucksacks ein Bonbon, ein Überbleibsel ihrer letzten Bergtour, und lutschte es genussvoll. Sie schulterte ihren Rucksack und lief los.

Der Wind blies ihr ins Gesicht. Nach dem heißen Tag verhieß er Abkühlung und vielleicht auch Regen. Bald erreichte Lotti die Abzweigung und bog auf den schmalen Pfad ein, der sich eng zwischen zwei Felswänden hindurchschlängelte.

Plötzlich stand Sascha vor ihr.

»Hoppla!«, rutschte es Lotti heraus.

Sie errötete. Sie errötete noch mehr, als sie seine strahlenden Augen sah.

»Mei, Lotti! Des ist ja ein Überraschung.«

»Ja, das ist es! Da wohnen wir ganz in der Nähe voneinander und sehen uns dort nicht. Jetzt laufen wir uns hier über den Weg.«

»So ganz stimmt des net! Wir haben uns heute Morgen gesehen. Du bist mit dem Auto an mir vorbeigefahren. Hast es ziemlich eilig gehabt!«

Lotti seufzte.

»Ja, und jetzt habe ich es auch eilig. Ich will zur Berghütte. Habe Hunger und Durst!«

»Hast du deinen ganzen Proviant schon aufgezehrt? Man hat in den Bergen immer mehr Appetit.«

Lotti antwortete nicht. Sie fragte stattdessen:

»Wo willst du hin?«

»Ich war wandern und eigentlich auf dem Weg zurück.«

»Du kommst von dorther! Die Berghütte liegt hinter dir und nicht vor dir.«

»Ich weiß. Ich bin unterwegs umgedreht. Es sind noch so viele Tagesgäste auf der Berghütte, ein ziemlicher Trubel. Das mag ich nicht so. Da dachte ich mir, ich laufe noch ein Stück den ›Pilgerpfad‹ hinauf.«

»Trubel mag ich auch nicht so.«

Sascha schaute sie an. Verlegen rieb er sich das Ohrläppchen.

»Das hast du als Kind schon gemacht«, bemerkte Lotti.

»Daran erinnerst du dich?«

»Sicher, ich erinnere mich an alles.«

»Dann erinnerst du dich auch an unsere Kocherei?«

»Die ist mir unvergesslich. So übel hat es nicht geschmeckt!«

Sascha schaute sie an.

»Also zusammen kochen können wir hier nicht. Aber ich habe noch genug Proviant dabei. Darf ich dich einladen?«

»Gern, da sage ich nicht nein!«

»Schutzhütte oder ›Erkerchen‹?«

»Schutzhütte ist gut, ›Erkerchen‹ ist noch besser. Aber nur, wenn es dir nicht peinlich ist.«

»Warum sollte mir das peinlich sein?«

»Du weißt schon«, sagte Lotti leise.

Sascha tat, als hätte er es überhört. Er wusste, dass Lotti darauf anspielte, dass sich dort Verliebte trafen. Er drehte sich um und sie liefen hintereinander den schmalen Pfad bis zum ›Erkerchen‹.

Sascha ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Er reichte Lotti die Wasserflasche.

»Danke!«

Lotti setzte sie an die Lippen und trank.

»Mei, das tat gut!«

»Kannst sie ruhig austrinken!«

»Danke, es reicht, vielen Dank!«

Sascha lächelte. Er packte den Proviant aus.

»Ich habe noch ein Brot mit Wurst, es ist gute Schweinemettwurst und ein Käsebrot.«

Er hielt ihr beide hin.

»Schweinemettwurst!« Lotti muss­te sich schütteln. »Puh! Ich nehme Käse. Vielen Dank!«

Sie setzten sich und aßen. Sie sprachen kein Wort. Nachdem sie mit den Broten fertig waren, aßen sie zwei Äpfel.

Sascha warf Lotti immer wieder liebevolle Blicke zu.

»Was hast du?«, fragte sie.

»Ich finde es sehr schicksalhaft, dass wir uns getroffen haben. Musst wissen, dass ich schon den ganzen Tag an dich denke. Hoffentlich trete ich dir damit nicht zu nahe?«

»Warum solltest du?«

»Du könntest es für aufdringlich halten.«

»Schmarrn, mei, Sascha, wir kennen uns.«

»Sicher! Aber trotzdem bin ich verunsichert. Du hast auf meine SMS nicht geantwortet.«

»Du hast mir eine SMS geschickt? Von wem hast du meine Nummer? Hat dir die der Pfarrer Zandler gegeben? Du hast doch mit ihm über mich geredet. Er hat es mir gesagt.«

Sascha errötete. Es war ihm die Verlegenheit anzusehen.

»Naa, die Nummer habe ich net von ihm. Der Toni hat sie mir besorgt. Genauer gesagt, der Leo hat im Krankenhaus angerufen und deine Kollegin gefragt.«

»So!«

»Ja!«

Sie schauten sich an.

»Was hast du mir geschrieben?«

»Du hast meine Mail net bekommen?«

Lotti zuckte mit den Schultern.

»Ich habe noch net nachgesehen. Mein Handy ist abgeschaltet. Ich wollte meine Ruhe haben.«

Sie schauten sich wieder an.

»Jetzt muss ich net nachsehen, da wir uns getroffen haben. Jetzt kannst du mir sagen, was du geschrieben hast.«

»Mei, nix Besonderes. Der Pfarrer hatte mir angedeutet, dass du Kummer hast. Ich habe mir Sorgen gemacht und dir meine Hilfe angeboten.«

»Das ist schön, sehr schön, danke! Aber mir kann niemand helfen, jedenfalls kein Mensch. Nur der Himmel kann den Sturkopf zur Vernunft bringen. Und ich hoffe, des geschieht bald. Aber wundern tut es mich net, es steht ein schwarze Wolke über dem ›Höllentor‹. Das verheißt nix Gutes!«

»Da ist keine schwarze Wolke über dem ›Höllentor‹.«

Lotti blickte über das Tal zur anderen Seite. Sie stand auf und ging zum Geländer, als würden die wenigen Meter ihre Sicht verbessern.

»Tatsächlich! Die Wolke ist verschwunden. Heute Morgen war sie noch zu sehen.«

Sascha stellte sich neben sie.

»Des ist doch ein gutes Zeichen!«

Lotti seufzte tief.

»Ja, das ist wirklich ein sehr gutes Zeichen. Ich will nicht pessimistisch sein, aber mein Kummer verfliegt net so schnell wie die Wolke.«

»Willst drüber reden? Es bleibt auch unter uns. Du weißt, dass ich diskret bin.«

Lotti nickte. Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie leise:

»Sascha, es geht mir so nah. Es hat mich so getroffen.«

Lotti strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Sascha sah, dass ihre Hand zitterte.

»Ist dir kalt?«, fragte er.

»Nein! Das Zittern kommt von der Wut! Ich bin so sauer, Sascha. Ich bin so enttäuscht. Es hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Wie kann ein Mensch, der einem so nahe steht, einen so enttäuschen?«

»Du sprichst von deinem Burschen?«

Sascha nutzte die Gelegenheit, Lotti auszufragen.

»Schmarrn! Ich habe doch keinen Burschen.«

»Oh, dann habe ich ja noch Chancen?« rutschte es Sascha heraus.

Er errötete dabei. Verlegen schaute er unter sich.

Lotti nahm Saschas Hand.

»Sascha, wenn einer eine Chance hat, dann bist du es.«

»Wirklich?«

Sascha schlang seinen anderen Arm um Lotti und hielt sie fest. Sie klammerte sich an ihn.

»Halte mich fest, Sascha! Meine Welt liegt in Scherben!«

»Ruhig, ganz ruhig, Lotti! Was zerbrochen ist, lässt sich auch wieder kleben.«

Lotti hob den Kopf und sah ihn an.

»Du hast schon einmal etwas für mich geklebt. Erinnerst du dich?«

»Sicher! Du hattest die alte Porzellanpuppe deiner Mutter mit in unseren Unterstand in den Wald gebracht. Auf dem Weg dorthin bist du gestolpert. Du hast dich sehr verletzt. Mit blutenden Knien und einer Beule am Kopf bist du angekommen. Du wolltest die Puppe nicht loslassen. Doch deine Fürsorge war umsonst. Die Puppe hatte am Hinterkopf ein Loch. Ein Teil ihres Schädels unter dem Haar war zerbrochen.«

»Ja, ich erinnere mich. Du bist zu euch nach Hause gelaufen. Du hast Klebstoff für die Puppe geholt und Verbandszeug für mich.«

»Ich wollte zuerst deine Schrammen und Wunden versorgen, aber du wolltest, dass wir zuerst die Puppe kleben.«

»Darüber hatten wir fast einen ernsthaften Streit.«

»Richtig, Lotti! Weißt du, wie es weiterging?«

»Sascha, das werde ich nie vergessen. Du sagtest, dass ich wertvoller sei als diese alberne Puppe. Ich wurde wütend und wollte fortlaufen. Du hast mich festgehalten und mir einen Kuss auf die Wange gegeben.«

»Ja, so war es! Dann bist du geblieben. Ich habe deine Wunden gesäubert und verbunden.«

»Ja, das hast du – und du hast es sehr gut gemacht. Und anschließend haben wir, das heißt, im Grunde bist du es gewesen, du hast die Puppe geklebt. Ich habe sie nur festgehalten.«

»Hat deine Mutter die Beschädigung bemerkt?«

»Nein, ich glaube, sie hat es bis auf den heutigen Tag nicht bemerkt. Die Bruchstelle ist unter den Haaren. Die Puppe hat eine Spitzenhaube auf dem Kopf.«

»Ich erinnere mich genau. Dann haben wir Hochzeit gespielt. Zwei deiner Puppen waren das Brautpaar. Die Puppe mit dem Porzellankopf und der Spitzenhaube war die Braut.«

Sascha hielt Lotti immer noch fest.

»Es war einer der letzten Tage unbeschwerten Spielens im Unterstand, in unserem Häusel. Du bist dann kaum noch gekommen, und wenn du gekommen bist, dann bist du nicht lange geblieben.«

»Du hattest mich geküsst. Ich hatte Angst, du könntest es wieder tun.«

»War es dir so unangenehm?«

Lotti sah ihm in die Augen.

»Dass es unangenehm war, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber die Gefühle, die es in mir ausgelöst hatte, damit kam ich nicht klar. Heute würde ich sagen, unsere unbeschwerte Kindheit war zu Ende.«

»Ja, das war sie! Es ist eine schwierige Zeit für alle Kinder, denke ich. Die Zeit ist nicht einfach, in der man noch halb Kind ist auf der einen Seite und auf der anderen Seite schon erwachsen oder man geht diesem Zustand zumindest mit großen Schritten entgegen, Lotti.«

Sie schaute ihn an.

»War es sehr schlimm für dich, dass ich mich so rar gemacht habe?«

»Ja, es war sehr, sehr schlimm für mich. Es war eine neue Erfahrung für mich. Ich hatte gehofft, mit dem Kuss … dich zu gewinnen. Stattdessen hatte ich dich verloren. Ich habe gelernt, dass ein Kuss nicht immer die Wirkung zeigt, den ich mir vorgestellt hatte, dass ein Kuss auch das Gegenteil bewirken konnte. Ich dachte, wenn ein Bursche ein Madl küsst, dann küsst das zurück. So hatte ich es im Film gesehen.«

Sie sahen sich in die Augen.

»Sascha, es tut mir leid, dass du damals zu dieser Schlussfolgerung gekommen bist. Hoffentlich … hast du keine bleibenden Schäden für dein Leben genommen, oder? Ich hoffe, dass sich deine nächsten Küsse anders auswirken. Sicherlich hast du inzwischen andere Erfahrungen gemacht.«

Sascha schaute Lotti tief in die Augen. Was für wunderbare tiefdunkelbraune Augen sie hat, dachte er. Was für wunderbare rehbraune Augen er hat, dachte Lotti, Augen voller Wärme und Liebe.

»Lotti, du kannst es glauben. Ich habe keine weiteren Erfahrungen gemacht. Nicht, weil sich mir keine Gelegenheiten boten. Ich wollte es nicht.«

Lotti spürte, wie ihr Herz klopfte. Es hämmerte wild, als sie weiter seiner Stimme lauschte.

»Ich verglich alle Madln, die ich sah, mit dir. Keine war so wie du, keine konnte dir das Wasser reichen. Keine entfachte solche Gefühle in mir wie du.«

Lotti schaute ihn an. Sie brauchte einen Augenblick. Sie musste die Worte erst ganz verstehen. Zur Sicherheit fragte sie:

»Willst du damit sagen, das war damals dein erster und bis zum heutigen Tag dein einziger Kuss, den du einem Madl gegeben hast?«

Sascha nickte.

»Das ist über fünfzehn Jahre her!«

»Ja, das kann hinkommen! Ungewöhnlich, denkst du?«

»Nein!« Lotti errötete. »Ich verstehe dich gut! Ich habe mich immer gefragt, warum sich die Burschen für alle Madln um mich herum interessieren, nur nicht für mich. Jetzt weiß ich es!«

»Du hast auch keine weiteren Erfahrungen gemacht?«

Lotti errötete und schüttelte den Kopf.

»Ich wollte, das wird mir in diesem Augenblick klar, ich wollte mit keinem anderen Burschen Erfahrungen machen. Wahrscheinlich … sandte ich unbewusste Signale aus. Signale die sagten, stopp, komme mir nicht näher.«

»So wird es gewesen sein!«

Sie sahen sich an. Lotti erinnerte sich an Pfarrer Zandlers Rat, Sascha zu ermutigen.

»Du hast von mir noch einen Kuss zu bekommen, Sascha!«, sagte Lotti leise.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. Der Duft seiner Haut raubte Lotti fast die Sinne.

Sie spürte, wie er sie enger an sich zog. Ihre Gesichter kamen sich näher und näher. Lotti las die Vorsicht und Scheu in seinen Augen. Sie schloss die Augen und bot ihm ihre Lippen dar. Sie berührten sich zärtlich, fast unbeholfen, fast rührend kindlich. Doch dann überwältigte sie die Sehnsucht nach Leidenschaft, die jede Liebende in sich trägt, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist. All die aufgestaute, versteckte Sehnsucht brach hervor. Sie tauschten Küsse voller Innigkeit und Hingabe. Es waren Küsse voller Zärtlichkeit, wie sie nur zwei Menschen tauschen können, die wahre Liebe empfinden.

»Lotti Kirchner, ich liebe dich! Ich habe immer nur dich geliebt!«

»Sascha Schweiger, ich habe auch immer nur dich geliebt, auch wenn es mir nicht bewusst war.«

Sie küssten sich erneut.

»Jetzt haben wir uns gefunden, endlich gefunden, Lotti!«

»Ja, das haben wir!«

Sascha führte Lotti zu der Bank zurück. Sie setzten sich. Sascha legte den Arm um Lotti. Ihr Kopf lag an seiner Schulter.

»Lass die Zeit stehenbleiben, Sascha!«

»Sie steht still, liebste Lotti!«

Sie lachte.

»Du bist wunderbar!«

»Ich liebe dich und will dich glücklich machen!«

»Eine schwere Aufgabe!«

»Bist du so anspruchsvoll? Das hätte ich nie von dir angenommen.«

»Ich bin in gewisser Weise anspruchsvoll, Sascha. Aber du erfüllst sicherlich alle Kriterien. Du wirst mich nicht enttäuschen. Da bin ich sicher.«

»Nein, das werde ich nicht. Ich werde dir immer treu sein und dich lieben und ehren, für immer und alle Zeit!«

»Klingt wie …« Lotti brach den Satz ab.

Die Sonne war inzwischen ganz hinter den Bergen verschwunden, und es war fast ganz dunkel. Doch er konnte in ihren Augen lesen.

»Lotti, du wolltest sagen, es klingt wie ein Eheversprechen, ja?«

Lotti schwieg. Er küsste sie auf die Stirn.

»Lotti, wir haben als Kinder das Spiel gespielt, das Vater-Mutter-Kind-Spiel. Alle Kinder spielen es sicherlich irgendwann. Es bereitet sie auf das große Spiel vor, das Leben heißt. Ich will aus diesem Spiel Ernst machen – mit dir. Lass es uns leben als Mann und Frau! Lass uns Mann und Frau sein und dann Vater und Mutter werden! Ja?«

»Das war ein wunderschöner Antrag, Sascha. Das hast du voller Poesie gesagt. Und ich sage: Ja, ich will deine Frau und die Mutter deiner Kinder sein. Wir werden mit unseren Kindern spielen wie einst mit meinen Puppen und deinen Kaninchen.«

»Ja, das werden wir. Es werden glückliche Kinder sein, Lotti. Sie werden glücklich sein, weil wir uns lieben.«

Sascha lächelte.

»Was ist?«

»Ich dachte nur gerade an die Verantwortung, die man als Eltern hat. Wir dürfen nicht versäumen, sie auf die Liebe vorzubereiten, Lotti. Uns hat niemand vorbereitet, deshalb haben wir so viele Jahre verloren.«

»Letztlich zählt, dass wir uns gefunden haben.«

»Ja, nur das ist wichtig. Wir wollen bald heiraten!«

Lotti küsste Sascha.

»Das ist vielleicht keine so schlechte Idee. Wenn der Skandal losbricht, dann wird es schwierig werden. Du wirst es dann schwer haben in Waldkogel.«

»Warum? Ich verstehe nicht. Von welchem Skandal sprichst du?«

Lotti seufzte.

»Es hat etwas mit dem Kummer zu tun, den ich habe.«

»Ich erlaube nicht, dass du Kummer hast.«

»Ich wollte, es gäbe eine Möglichkeit, die Zeit zurückzudrehen.«

»Willst du dich mir nicht anvertrauen? Wir gehören doch jetzt zusammen. Ich bin so glücklich!«

Sascha lachte.

»Meine Eltern werden Augen machen, wenn ich dich ihnen als meine Braut vorstelle. Wundern werden sie sich nicht, denke ich. Sie werden sich freuen, dass wir ein Paar sind. Ich höre meine Mutter schon sagen: Das habe ich kommen sehen, ihr habt als Kinder schon zusammengehangen wie die Kletten.«

Sascha lachte wieder.

»Du, Lotti, ich muss dich vorwarnen. Mutter wird uns mit Fragen überschütten. Wo werdet ihr wohnen? Sicher nimmt sie an, dass ich zu euch auf den Kirchner Hof ziehe.«

»Nein!«, sagte Lotti entschieden.

»Nein? Mei, das wird deinen Eltern nicht recht sein. Sie haben doch nur dich. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass wenn es nur ein Madl gibt, sie den Mann auf den Hof bringt.«

»Beim Kirchner Hof ist nichts normal. Wir ziehen nach Kirchwalden. Du arbeitest dort, ich arbeitete dort!«

»Mm, sicher, wenn du das möchtest. Ich bin jetzt Leiter des Tierheims. Ich habe ein Anrecht auf eine große Dienstwohnung.«

»Das ist wunderbar. Dann heiraten wir, sobald dir die Wohnung zugesagt wurde.«

»Die Wohnung ist in der ersten Etage, über der Verwaltung des Tierheims. Sie steht leer. Sie wartet nur auf uns.«

»Großartig! Das ist ja phantastisch!«

Lotti gab Sascha einen Kuss. Er war verwirrt.

»Du willst wirklich nicht auf dem Kirchner Hof wohnen?«

»Nein – nein und nochmals nein! Ich bin mit meinem Vater verkracht. Wir sind sehr zerstritten. Deshalb werde ich dich ihm auch nicht vorstellen. Mutter ist im Augenblick auch nicht daheim. Sie hat ebenso Streit mit ihm wie ich. Sie ist in einem Hotel in Kirchwalden oder zu ihren Eltern gefahren. So genau weiß ich das nicht. Sie wollte mir eine SMS schicken. Vielleicht sollte ich doch einmal mein Handy checken. Das mache ich später. Jedenfalls musst du dich damit abfinden.«

»Dann hast du wegen dieser Sache Hilfe bei Pfarrer Zandler gesucht?«

»Ja, aber frage nicht nach der Ursache!«

»Bitte, wenn du nicht willst, dann frage ich nicht. Ich liebe dich und will nur eins, du sollst glücklich sein. Sage mir, wie du es haben willst und so wird es gemacht.«

Lotti lächelte ihn an und küsste ihn.

»Dann zähle ich auf, wie ich mir die Reihenfolge denke.«

»Oh, du gehst nach einer Liste vor. Hört, hört! Du wirst dich mit meiner Mutter gut verstehen. Sie plant auch immer alles genau.«

»Also, so weit mir deine Mutter bis jetzt bekannt ist, kann ich mir auch vorstellen, dass ich gut mit ihr auskomme. Sie kann mir ab Punkt drei helfen, falls ich nicht auf meine Mutter zählen kann.«

»Was ist Punkt Drei?«

»Einkaufen des Brautkleides!«

»Das macht sie bestimmt mit Freude. Punkt Vier? Am besten zählst du alles auf!«

»Gut! Vier ist ziemlich umfangreich, Möbel aussuchen, einrichten, Vorhänge nähen, Weibersachen, richtige Frauenarbeit, eben.«

»Was ist mit deiner Mutter? Meinst du, sie kommt nicht zurück?«

»Lass mich nachdenken!«

Lotti schwieg einen Augenblick.

»Wie groß ist die Wohnung?«

»Oh, sehr groß, sechs Zimmer, Küche, Bad, Gäste-WC, Abstellkammer, dann ein großer Speicher und Keller.«

»Das ist ein Palast!«

»Du bist darin meine Königin!«

»Wir könnten zuerst – vielleicht schon morgen – wenn du so schnell die Sache mit der Wohnung regeln kannst …«

»Kann ich! Ich habe den Schlüssel. Es muss nur der Vertrag unterschrieben werden.«

»Gut! Dann könnten wir Möbel für ein Gästezimmer kaufen. Meine Mutter könnte vorläufig zu uns ziehen, bis sie wieder zu Vater zurückgeht oder sie sich scheiden lässt.«

»So ernst ist es?«

»Sehr ernst, Sascha!«

»Himmel, was ist nur geschehen?«

»Nichts, was uns beide betrifft! Ich will nicht daran denken, sonst werde ich so wütend und die Sache nimmt den ersten Platz in meinem Herzen ein. Kann Mutter bei uns wohnen, vorläufig?«

»Sicher!«

»Fein, danke für dein Verständnis. Dann gehen wir morgen schon Möbel für das Gästezimmer kaufen. Ich rufe Mutter an. Sie wird kommen. Es wird auch gut sein für sie, wenn sie eine Aufgabe hat. Wir arbeiten ja. Deine und meine Mutter können Innenarchitektinnen spielen. Das nimmt uns eine Menge Arbeit ab.«

»Wie du meinst! Du scheinst sehr praktische Fähigkeiten zu haben, Lotti, und sehr pragmatisch vorzugehen.«

»Ja, das wird allgemein gesagt von mir!«

»Lotti, das wird etwas geben, wenn deine und meine Mutter zusammen einrichten. Meinst, die vertragen sich?«

»Sicher! Warum sollten sie das nicht? Wir machen ihnen eine Liste, wie wir es haben wollen. Deine Mutter kennt deinen Geschmack und meine den meinigen. Das wird schon werden. Außerdem kommen sie dann leichter darüber weg, dass sie ohne uns leben müssen, denn du und ich, wir sind beide Einzelkinder.«

»Du bist ein sehr kluges Madl!«

»Kluge Leute gelten net als besonders schön.«

»Schmarrn, du bist des fescheste Madl weit und breit!«

Sie küssten sich.

»Was für Möbel willst du kaufen?«

»Möbel fürs Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer und für ein Arbeitszimmer. Das brauche ich.«

»Du meinst so einen Haushaltsraum zum Bügeln und Nähen.«

»So einen Raum können wir auch einrichten. Aber daran habe ich jetzt nicht gedacht. Ich brauche ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Regalen. Ach, da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss. Ich kann Stationsschwester werden. Auch wenn ich später, wenn wir Kinder haben, aufhöre zu arbeiten, möchte ich den Kurs dafür machen. Hast du etwas dagegen?«

»Nein, ich finde es toll, wenn du dich weiterbildest. Ich habe zwar einen guten Job und kann eine Familie ernähren. Aber vielleicht willst du später einmal halbe Tage arbeiten? Und irgendwann sind die Kinder groß. Dann kannst du leichter wieder in deinen Beruf zurück.«

»Großartig, dann sind wir uns darin auch einig. Ich muss nämlich nächste Woche meine Papiere einreichen.«

»Gab es wegen deiner Pläne Streit daheim?«

»Du bist ganz schön hartnäckig, Sascha. Deswegen gab es keinen Streit. Es war etwas anderes. Da­rüber will ich jetzt nicht reden, jetzt in diesem Augenblick nicht.«

»Ganz wie du willst! Wirst du es mir sagen, wenn dir danach ist?«

»Das werde ich!«

Sie küssten sich.

»Lotti, ich kenne die Punkte auf deiner Liste, aber nur ab Punkt Drei. Was sind die Punkte Eins und Zwei?«

»Zwei … Ringe!«

»Lotti, du machst es spannend! Was ist Nummer Eins?«

Lotti kuschelte sich an Sascha. Sie flüsterte es ihm ins Ohr. Seine Antwort war ein langer inniger Kuss.

»So machen wir es. Es ist ein wunderbarer Gedanke! Es ist romantisch. Du bist nicht nur praktisch, sondern auch romantisch, Lotti. Es ist eine wunderbare Idee!«

»Dann lass uns gehen!«

Sascha packte die Sachen in seinen Rucksack. Sie gingen Hand in Hand in Richtung Berghütte. Lotti bat Sascha, dass er alleine zur Berghütte gehen sollte, sie wollte in der Dunkelheit am Ende des Geröllfeldes auf ihn warten.

»Toni und Anna werden enttäuscht sein, wenn du nicht mitkommst.«

»Damit müssen sie leben! Sie werden gleich mit uns Verlobung feiern wollen, aber du kennst meine Pläne für diese Nacht.«

Sascha küsste Lotti.

»Du bist ein großartiges Madl! Ich liebe dich!«

»Ich liebe dich, Sascha! Beeil dich!«

Es dauerte noch viele weitere Küsse, bis sie sich trennten. Sascha eilte zur Berghütte. Lotti ging am Rand des Geröllfeldes entlang, bis zum Pfad, der hinunter auf die Oberländer Alm führte. Dort wartete sie auf Sascha. Er kam bald und trug die von Toni geliehenen Schlafsäcke unter dem Arm.

*

Als Lotti am nächsten Morgen die Augen aufschlug, blickte sie Sascha ins Gesicht. Sie kuschelte sich in dem großen Doppelschlafsack an ihn.

»Wie hast du geschlafen, mein Schatz?«

»Wie im Paradies!«, hauchte Lotti.

Sie lächelte glücklich.

»O ja … wie im Paradies. Eigentlich müsste ich sagen, wie im Paradies, mein lieber Mann.«

Sascha küsste sie.

»Ich habe nix dagegen. Außerdem kann des juristisch auch durchaus zutreffend sein. Ich habe dir und du hast mir das Eheversprechen abgenommen. Die Engel vom ›Engelssteig‹ waren Zeugen und die schönen Berge von Waldkogel. Wir haben unsere erste gemeinsame Nacht verbracht. Somit sind wir Mann und Frau.«

Sie lachten und küssten sich wieder.

»Ich glaube, der Pfarrer Zandler würde des net gutheißen«, lachte Lotti.

»Wieso? Außerdem können wir uns auf eine gewisse, eigentlich eine mehrfache Tradition berufen. Ers­tens gibt es die Zivilehe erst seit der Trennung von Kirche und Staat. Sicher gab es davor die rein kirchliche Ehe, die dann Gültigkeit hatte. Aber ganz früher soll es einfach so gewesen sein, dass zwei Leute unter Zeugen bekundeten, dass sie jetzt Mann und Frau waren. Aber des Wichtigste ist die Tradition des Fensterlns.«

»Wir haben net gefensterlt, Sascha, wir haben gehüttet«, kicherte Lotti. »Sag mal, wann hast du die Hütte hier gebaut?«

»Gefällt sie dir?«

»Ja! Ich bin wirklich überrascht. Als wir heute Nacht hier ankamen, war gar nicht so viel zu sehen. Sie ist wunderschön.«

Sascha strahlte.

»Unser Unterstand aus Zweigen war bald unansehnlich. Auch wenn du nicht mehr kamst, es musste was damit geschehen. Ich riss den Unterstand aus Steinen und Zweigen nieder. Dann baute ich nach und nach diese Hütte aus alten Holzteilen, die ich gesammelt habe. Dabei habe ich immer an dich gedacht. Nie hatte ich damals als junger Bub von fünfzehn oder sechzehn Jahren die Hoffnung aufgeben, dass du mal wieder vorbeischaust. Ich bin oft hier gewesen und habe gelesen. Und ich habe von dir geträumt und mir vorgestellt, du würdest durch das Dickicht kommen.«

»Du bist der Romantiker!«, hauchte Lotti.

»Dann kamen einige Jahre, in denen ich mich weniger um die Hütte gekümmert habe. Vor einiger Zeit, als mir klar wurde, du oder keine, habe ich wieder damit angefangen. Damals habe ich das Fenster eingebaut und die Tür. Meine Eltern haben umgebaut, und es war viel übrig. Ich sollte vielleicht die Wände noch streichen. Was meinst?«

»Lasse die Hütte so, wie sie ist. Sie gefällt mir! Ich war sehr überrascht, als wir heute Nacht hier angekommen sind. Aber ich dachte, darüber können wir heute reden. Ich wollte die kostbare Zeit nicht mit Worten vergeuden, sondern dich lieben und geliebt werden.«

»Das habe ich dir angesehen! Du hast gedacht, wir verbringen die Nacht im Freien, an unserem alten Platz?«

»Ja! Hättest auch etwas sagen können, Sascha! Warum hast mir nichts davon erzählt? Wir haben doch gestern so schön in Erinnerungen geschwelgt.«

»Ich wollte dich überraschen! Bevor du den Vorschlag machtest, hatte ich mir etwas anderes ausgemalt. Ich wollte die Hütte noch ein bisserl besser ausstatten und dich dann herbringen. Dann hätten wir auch kochen können. Aber du bist mir zuvorgekommen. Und weil ich dir keine Bitte abschlagen kann, konnte und wollte ich nicht ablehnen. Ich sehnte mich so nach dir, nach deiner Liebe.«

»Die Überraschung ist dir perfekt gelungen!«

Sascha küsste Lotti.

»Wir sollten jetzt langsam gehen! Was meinst du?«

»Ja, wir haben heute noch einiges vor.«

Sie standen auf und zogen sich an. Dann gingen sie Hand in Hand durch das kleine Wäldchen, das zum Grundstück von Saschas Eltern gehörte.

Lothar und Gretel Schweiger saßen im Garten und waren beim Frühstück.

»Grüß Gott! Mutter, wir brauchen noch zwei Gedecke. Eines für mich und eines für die Lotti! Und du kannst jetzt öfters für die Lotti decken. Sie gehört zu mir!«

»Bub, hast dein Madl endlich? Dem Himmel sei Dank!«

Gretel schlug ihre Hände zusammen und warf einen Blick hinauf zum blassblauen Morgenhimmel.

Saschas Vater lächelte. Er stand auf und ging auf Sascha zu. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Gut, Bub!«, sagte er ergriffen.

Dann begrüßte er Lotti. Lothar Schweiger machte nicht viele Worte. Er schüttelte Lotti die Hand und sagte leise:

»Schön, dass du da bist! Bist uns willkommen!«

Dann stürzte sich Saschas Mutter auf Lotti und umarmte sie.

»Madl, Lotti, endlich! Du kannst dir ja net vorstellen, wie oft der Sascha von dir gesprochen hat. Wie einen lahmen Gaul habe ich ihm zugeredet, er soll dich drüben mal besuchen. Aber er hat es net gemacht. Stattdessen hat er still vor sich hin gelitten. Wenn ich dir sage, dass er die ganzen Jahre in dich verliebt gewesen war, dann wirst es mir net glauben. Aber ich kann es beweisen.«

»So, Mutter, mit was, durch was willst des beweisen?«

»Des ist einfach! Du hast die Hütte in unserem Wald gebaut. Die musst du sehen, Lotti!«

Lotti lachte und errötete.

»Die habe ich schon gesehen!«

»So, hast du? Was du net sagst.«

Sascha grinste.

»Halt dich zurück, Mutter! Jetzt haben wir Hunger und Durst. Wir müssen uns stärken. Wir haben heute noch viel vor. Machst du uns Eier? Wir gehen duschen!«

»Des sagst du so einfach, Sascha! Vielleicht will die Lotti keine Eier, vielleicht hätte sie gerne ein Wurstbrot.«

»Nein, keine Wurst – und die Eier bitte ohne Speck. Ich habe im Augenblick meine Schwierigkeiten mit allem, was vom Schwein kommt.«

»Krank bist aber net, Madl?«, fragte Saschas Mutter sofort besorgt.

»Naa, ich bin net krank. Ich hab’ nur eine ... entschuldigt bitte alle, aber ich muss meinem Herzen jetzt Luft machen. Ich habe eine saumäßige Wut im Bauch. Bei Wurst und Fleisch muss ich an meinen Vater denken. Wenn ich kein Madl wäre, dann hätte ich mich sicherlich mit ihm geprügelt. Ich hätte ihm eine Abreibung gegeben, die er sein Leben lang net vergessen würde. Mei, ich könnte platzen vor Wut!«

Saschas Eltern schauten verwundert.

»Ja, die Lotti hat Streit mit ihrem Vater. Ich hoffe, des gibt sich wieder«, erklärte Sascha.

»Mei, der Kirchner wird doch nix dagegen haben, dass du die Lotti …«

»Mutter, ziehe keine voreiligen Schlüsse. Er kann nix dagegen haben, weil er es nicht weiß«, unterbrach Sascha seine Mutter.

Und Lotti fügte sofort hinzu:

»Meine Mutter werde ich später anrufen. Sie ist im Augenblick nicht auf dem Hof. Sie hat sich auch geärgert und ist ausgezogen.«

»Aber, Madl, des hört sich nicht gut an!« Saschas Mutter schüttelte betroffen den Kopf.

Sie öffnete den Mund und wollte zum nächsten Satz ansetzen.

»Mutter, kein Wort! Das ist allein Lottis Angelegenheit.«

»Ach, ich dachte doch, dass man vielleicht helfen kann.«

»Mutter, ich will jetzt nix mehr davon hören. Es gibt Schöneres zu bereden. Wir wollen bald heiraten. Du sollst uns helfen, zusammen mit Lottis Mutter, die Dienstwohnung so schnell wie möglich einzurichten.«

»Das mache ich gerne! Dann wollt ihr bald heiraten?«

»Ja, sobald die Wohnung fertig ist, nächste Woche, dachten wir.«

»So schnell?«

»Ja, Mutter, wir wollen schnell heiraten, nachdem wir so lange gebraucht haben, uns zu finden. Und jetzt mache uns die Eier!«

»Wie soll ich die machen, ohne Speck. So schmecken sie nicht!«

»Gretel, jetzt rede nicht so viel. Machst die Rühreier mit viel Butter, dann schmecken sie auch«, sagte Lothar.

Er blinzelte seinem Sohn zu.

»Komm, Lotti!« Sascha zog Lotti ins Haus.

Als sie nach einer Weile zum Frühstückstisch kamen, schnitt Gretel das Thema nicht mehr an. Sie redeten über die Wohnung und verabredeten sich für den Nachmittag zum Einkauf vor dem großen Möbelgeschäft in Kirchwalden. Saschas Vater war Musiklehrer. Er wollte nach dem Unterricht dort mit ihnen zusammentreffen.

*

Pfarrer Zandler und Dr. Brand, die Tierärztin, telefonierten mehrmals an diesem Tag. Beide wollten wissen, ob sich vielleicht Hartmut Kirchner bei dem anderen gemeldet hatte. Aber weder Beate Brand, noch der Pfarrer hatten etwas von ihm gehört. Den ganzen Nachmittag lief Pfarrer Zandler im langen Flur des Pfarrhauses unruhig auf und ab. Helene Träutlein, seine Haushälterin, sah ihm zu und schüttelte mehrmals den Kopf. Als die Sonne langsam unterging und Pfarrer Zandler immer noch hin und her ging, wurde sie ärgerlich.

»Der Teppichläufer hat ja eine gute Qualität. Aber wenn Sie so weitermachen, dann laufen Sie ihn doch noch durch. Sie rennen hier auf und ab wie ein Tier im Käfig. Des ist ja nimmer mit anzusehen! Gehen Sie raus, rennen Sie durch die Wiesen! Dabei tun Sie auch noch was für Ihre Gesundheit – und für meine auch. Des ist nimmer mit anzusehen, ich werde schon ganz irre im Hirn!«, schimpfte Helene Träutlein.

»Mei, Träutlein, ich mach’ mir eben Sorgen um eines der Schäfchen.«

»Dann bringt des Gerenne auch nix. Sie sind doch sonst net so. Dann gehen Sie eben zu Ihrem verlorenen Schaf und nehmen es an die Leine. Wenn Sie so besorgt sind, dann machen Sie etwas!«

»Würde ich gern, Träutlein! Aber es ist besser, wenn der Sturkopf, der Hornochse, der Esel selbst einsieht, dass er so nur in sein Unglück rennt. Er weiß, dass wir ihm helfen wollen und werden, die Beate und ich. Aber er soll den ersten Schritt machen. Er fühlt sich im Recht. Erst soll er mal von seinem hohen Ross heruntersteigen!«

»So hab’ ich Sie noch nie reden gehört, Herr Pfarrer. Der muss Sie ganz schön geärgert haben.«

»Mei, was heißt geärgert? Eine Dummheit hat er gemacht und fühlt sich im Recht. Er hat eben kein Einsehen, noch net. Die Beate gibt ihm eine Woche. Er soll sich bei ihr melden oder bei mir!«

»Ah, dann ist etwas mit dem Viehzeug.«

»Ja, wenn du es genau wissen willst! Ja!«, brummte Pfarrer Zandler.

Helene Träutlein ging zum Mantelständer im Flur neben der Haustür. Sie reichte dem Geistlichen den langen Schirm.

»So, den nehmen S’ jetzt und gehen! Damit können Sie drohen!«

»Ich kann doch keine Drohungen ausstoßen!«

»Schmarrn! Wer net brav und gottesfürchtig ist, der kommt in die Hölle! Ist des vielleicht keine Drohung?«

»Träutlein, aus theologischen Fragen tust dich raushalten!«

»Ich hab’ nix gesagt. Ich hab’ für mich nur laut gedacht. Und Sie gehen jetzt! Wenn am Ende ein Unglück geschieht, weil Sie, statt dort nachzusehen, hier hin und her gelaufen sind, dann will ich Sie net jammern hören. Also raus jetzt! Sie stehen mir im Weg herum. Ich will den Flur putzen und staubsaugen.«

»Jetzt? Jetzt am Abend?«

»Ja, Herrschaftszeiten – jetzt! Sie reden mir net in meine Arbeit und ich net in Ihre. Aber Sie machen jetzt, dass Sie fortkommen!«

Helene Träutlein hielt Pfarrer Zandler die Tür auf. Er gab sich geschlagen. Den Regenschirm stellte er wieder in den Schirmständer. Er warf Helene Träutlein noch einen ungnädigen Blick zu und ging.

»Endlich! Dank dir schön dort oben!«, sagte Helene laut.

Sie ging zum Telefon und rief die Tierärztin Beate Brand an.

»Hallo, Beate, hier, Helene Träutlein! Ich will dir nur sagen, dass der Pfarrer auf dem Weg ist. Wohin? Des wirst du besser wissen als ich. Mir hat er nix gesagt. Aber es ist wegen der Sache, wegen der ihr den ganzen Tag schon so oft miteinander geredet habt.«

»Danke, Helene! Dann werde ich auch hinfahren, sobald ich mit dem Notfall hier fertig bin.«

»Hast einen Notfall?«

»Ja, ein Autofahrer hat mir einen verletzten Hund gebracht, den er auf der Autobahn gefunden hat, auf einem Rastplatz.«

»Ist er schwer verletzt?«

»Nein, den bekomme ich schon wieder hin, und der Finder behält ihn. Seine ganze Familie ist vernarrt in den kleinen Wuschel. Dem wird es für den Rest seines Lebens gut gehen.«

»Freut mich! Des ist ja einmal etwas Schönes. Sonst hört man ja nur von Katastrophen. Endlich mal ein Happy End, wie man sagt. Des tut gut! Pfüat di, Beate.«

»Pfüat di, Helene!«

Nach diesem Telefongespräch fühlte sich Helene Träutlein besser. Sie kochte sich erst einmal einen schönen Tee.

Es war schon dunkel, als Pfarrer Reiner Zandler auf dem Kirchner Hof ankam. Nirgends brannte Licht. Zandler rief mehrmals nach Herbert Kirchner. Er bekam aber keine Antwort.

Zandler drückte die Klinke der Haustür herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Der Pfarrer trat ein, machte Licht, zuerst im Treppenhaus, dann in der Küche. Nach und nach durchsuchte er alle Räume und rief immer wieder nach dem Bauern. Er erhielt keine Antwort.

»Vielleicht ist er im Garten?«, sprach der Geistliche sich selbst Mut zu.

Allmählich machte er sich Sorgen. Er sah im Garten nach, wusste er doch, dass viele sich abends zum Ausklang des Tages auf die Bank vor dem Haus oder in den Garten setzten. Aber er fand den Bauern auch nicht im Garten. Jetzt war Zandler sehr beunruhigt. Er war froh, als Bea­te in ihrem Geländewagen auf dem Kirchner Hof hielt.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Die Helene hat mich angerufen. Sie dachte wahrscheinlich, Sie könnten ein bisserl Unterstützung gebrauchen. Haben Sie schon mit Kirchner geredet?«

»Die Träutlein hatte wohl so eine Ahnung. Naa, ich konnte noch net mit ihm reden. Er ist entweder net da oder er hat sich vor mir versteckt. Im Haus hab’ ich schon nachgeschaut und im Garten auch – nix!«

»Gut, dann gehen wir in den Stall und die anderen Räume! Ich wollte ohnehin nach den jungen Ferkeln sehen.«

Sie gingen los. Beate, die sich in den Ställen gut auskannte, ging voraus, Pfarrer Zandler folgte ihr. Herbert Kirchner war weder im Stall noch im Büro. Sie begannen, die Nebenräume zu durchsuchen.

»Herr Pfarrer, da ist er!«, rief Bea­te laut.

Pfarrer Zandler eilte herbei.

»Der Himmel stehe uns bei!«, sagte er.

Er und Beate blieben erst einmal wie angewurzelt stehen. Es bot sich ihnen ein Anblick des Grauens. Herbert Kirchner lag halb auf Futtersäcken, halb auf der Erde. Um ihn herum waren überall Kisten mit leeren Bierflaschen und leere Obstlerflaschen auf dem Boden verstreut. Es stank nach Bier, Obstler und anderen Gerüchen. Kirchner regte sich nicht.

»Atmet er noch?«, fragte der Geistliche.

Er hatte in seinem Leben schon viel gesehen, aber das war doch ein Schock für ihn.

Die Tierärztin trat näher. Sie betrachtete Kirchner, hob ihm die Augenlieder an. Sie sprach ihn an. Kirchner reagierte nicht.

»Der ist sternhagelvoll!«, sagte Pfarrer Zandler.

»Ja, der hat eine Alkoholvergiftung! Das kann ich sogar als Tierärztin diagnostizieren.«

Beate riss das Handy aus der Gürteltasche und rief Doktor Martin Engler an.

»Hallo, Martin, hier Beate! Wir brauchen hier sofort Hilfe! Pfarrer Zandler und ich sind auf dem Kirchner Hof. Komme sofort mit dem Saniwagen. Akute, lebensgefährliche Alkoholvergiftung, meine vorläufige Diagnose!«

»Bin schon unterwegs!«, war Martins knappe Antwort.

Dann knackte es in der Leitung.

Nicht einmal eine Minute später brauste Doktor Martin Engler im neuen Krankenwagen durch Waldkogel.

Die Sirene schallte weit durch die Berge. Es war eine Erlösung, als sie endlich verstummte.

»Er liegt hinten in einem Lagerraum!« empfing Beate Martin auf dem Hof.

Er fuhr noch ein Stück weiter vor, bis direkt vor das Stallgebäude. Dann brachte er mit Beate die Trage hinein. Sie legten Hartmut Kirchner auf die Trage. Martin Engler prüfte Puls, Blutdruck und Atmung.

»Himmel, des schaut net gut aus! Wollte der sich mit dem Zeugs umbringen? Sonst trinkt der Kirchner doch net!«

Beate und Pfarrer Zandler warfen sich Blicke zu. Sie packten zu dritt an und trugen ihn in den Krankenwagen. Dort gab Martin ihm Sauerstoff und legte ihm eine Infusion. Er pumpte ihm den Magen aus, aber der Alkohol war offensichtlich schon ins Blut übergegangen. Martin schloss weitere Infusionen an und ließ die Flüssigkeit schnell einlaufen, damit das Blut rasch verdünnt wurde.

»Wir bringen ihn zu mir in die Praxis! Kannst du fahren, Beate?«

»Ja, bleib du bei ihm hinten im Auto! Pfarrer Zandler, Sie können meinen Geländewagen nehmen! Der Schlüssel steckt!«

Beate setzte sich hinter das Lenkrad des großen Krankenwagens. Sie wendete und fuhr wieder mit Blaulicht, aber dieses Mal ohne Sirene zur Martins Praxis.

Martin hatte übers Handy seine Frau verständigt. Sie hatte sofort ein Bett in ihrer kleinen Notfallkrankenstation hergerichtet und wartete an der Praxistür. Katja, die zwei Berufe gelernt hatte, Krankenschwester und Physiotherapeutin, packte mit an. Pfarrer Zandler und Beate sahen, welch guteingespieltes Team die beiden waren. Er bekam weitere Infusionen, denen Doktor Martin Engler Medikamente beimischte. Er wurde an ein EKG-Überwachungsgerät angeschlossen.

Es dauerte über zwei Stunden, bis sich Martins Gesichtszüge entspannten.

»Er wird durchkommen«, sagte er leise.

»Martin, ich bleibe bei ihm«, flüsterte Katja. »Ich lasse ihn noch etwas schlafen.«

Martin nickte seiner Frau zu und ging mit Pfarrer Zandler und Beate hinaus.

Sie tranken in der Küche erst mal einen Obstler. Wally, die im Altenteil des Hofes wohnte, kam herüber. Sie hatte dem Doktor und seiner lieben jungen Frau den Hof überschrieben gegen eine kleine Leibrente und dem Versprechen, nie ins Krankenhaus nach Kirchwalden gebracht zu werden.

»Walli, geh und helfe der Katja ein bisserl!«, bat sie Martin.

Sie nickte und ging davon.

»So, kann mir einer sagen, was in den Kirchner gefahren ist? Der hat sich ins Koma gesoffen. Es hätte net viel gefehlt und es wäre zu spät gewesen.«

»Er hat große Sorgen, Martin!«, sagte Pfarrer Zandler.

»Mei, Zandler, net so zugeknöpft! Ich will wissen, was los ist! Wenn er selbstmordgefährdet ist, dann muss ich ihn sofort nach Kirchwalden ins Krankenhaus einliefern lassen. Er hat sich fast umgebracht. Keiner, der bei Verstand ist, säuft so viel! Der Kirchner Hartmut tut so etwas normalerweise net. Also redet!«

Beate erzählte Martin, was sie wusste.

»Himmel! Der ist deppert! Deshalb hat er sich so volllaufen lassen? Ertappt ist er worden, die Lotti ist fort, seine Frau ist auf und davon. Des haut den stärksten Mann um. Aber des ist der falsche Weg gewesen. Der muss dem Himmel dankbar sein, dass ihr ihn gefunden habt. Einige Stunden später, dann hätte er womöglich bleibende Schäden davongetragen oder er wäre nimmer aufgewacht. Ob er bleibende Schäden hat, des kann ich erst sagen, wenn er wieder ganz bei sich ist.«

»Kannst du ihn hier versorgen, Martin, oder musst du ihn nach Kirchwalden verlegen?«, fragte Beate.

»Mei, ich hab’ ja hier eine Mini-Intensivstation, für Notfälle eben. Aber es muss die nächsten Tage, Tag und Nacht, jemand bei ihm sein.«

»Des lässt sich organisieren, Martin«, sagte Pfarrer Zandler. »Ich schicke dir zur Verstärkung die Träutlein vorbei. Wir können des der Lotti net antun, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Die Lotti arbeitet im Krankenhaus in Kirchwalden und steht kurz vor ihrer Beförderung zur Stationsschwester. Des Madl würde sich in Grund und Boden schämen.«

»Es wird schon gehen, wenn wir alle zusammenhalten!«, sagte Martin leise.

»Das tun wir doch immer in Waldkogel«, bestärkte ihn Beate.

Martin ging ins Krankenzimmer und schaute nach dem Patienten. Als er wiederkam, sagte er:

»Wenn ich so jemanden behandeln muss, dann kostet des viel Kraft. Ich bin richtig sauer, wenn jemand so mit seinem Leben spielt. Wie kann man sich nur so zuschütten?«

»Er wollte schlafen, vergessen, nimmer denken müssen, Martin. Er war verzweifelt.«

Sie nickten sich alle zu.

»Ich behalte ihn hier. Kümmerst du dich um die andere Sache, Beate?«

»Ja! Ich muss den Schweinen anderes Futter geben, allen jeden Tag Blut abnehmen, und der ganze Hof muss durchsucht werden. Jede Spur dieses verbotenen Zusatzstoffes muss entfernt werden. Die Pferche müssen gründlich gereinigt werden, damit keinerlei Rückstände mehr bleiben und von irgendwem nachweisbar sind. Alleine schaffe ich das nicht. Ich fahre jetzt aber sofort hin und beginne schon mal damit, das Futter für die Ferkel auszutauschen.«

»Ich schicke dir Hilfe, Beate!«

»Wer soll helfen, Herr Pfarrer? Wir können keinen Außenstehenden um Hilfe bitten. Wenn etwas durchsickert, haben wir einen Skandal, und ich bin die längste Zeit meines Lebens Tierärztin gewesen. Das wissen Sie!«

»Ich rufe Lotti an. Sie kommt mit ihrem Burschen, und der muss seine Familie mitbringen.«

»Die Lotti hat einen Burschen?«, staunte Martin.

»Ja, Lotti hat mich heute angerufen und gesagt, sie und Sascha Schweiger wollten nächste Woche heiraten.«

»Mei, des ist ja eine Überraschung! Wundern tut es mich net. Die beiden waren schon als Kinder befreundet. Aber es war nicht bekannt, dass sie ein Paar sind.«

»Des sind sie auch noch net lange. Sie sind in Kirchwalden und richten die Wohnung ein.«

»Der Sascha ist doch der Leiter des Tierheims in Kirchwalden, Herr Pfarrer. Dann hat er sicherlich im Tierheim noch Kanister mit Desinfektionsmitteln. Er soll sie alle mitbringen. Ich habe sicherlich nicht genug Desinfektionsmittel für einen ganzen Schweinestall in der Praxis«, bat Beate.

Pfarrer Zandler versprach es. Beate fuhr sofort zum Kirchner Hof. Martin schaute wieder nach seinem Patienten und nahm ihm Blut ab, das er sofort untersuchte. Pfarrer Zandler rief Lotti in Kirchwalden an.

*

Lotti hatte sich in eines der noch leeren Zimmer zurückgezogen, damit sie in Ruhe mit Pfarrer Zandler reden konnte. Als sie ins Wohnzimmer der neuen Wohnung kam, war sie blass wie eine frischgekalkte Wand.

Sie fiel erst einmal in einen der neuen Sessel, die sie nach dem Kauf gleich mitgenommen hatten. Sascha, seine Eltern und Lottis Mutter schauten sie besorgt an. Lottis Mutter war am frühen Abend gekommen.

»Was ist los, Madl? Nun rede schon!«, forderte sie ihre Mutter auf.

»Es geht um Vater und den Hof!«

Gretel stieß einen Schrei aus und hielt sich die Hand vor den Mund. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Lotti an.

»Ist alles aufgeflogen? Haben wir jetzt den Skandal?«

Lotti schüttelte den Kopf.

Sascha setzte sich neben Lotti.

»So, Lotti, jetzt will ich dir etwas sagen.«

»Nein, Sascha! Lass mich! Ich sage jetzt, was geschehen ist. Es lässt sich nimmer länger verschweigen. Ich hoffe nur, dass du und deine Eltern mich deswegen net verurteilen. Ich kann nix dafür. Es ist alles Vaters Schuld. Wir sollen alle auf den Hof kommen, sagt Pfarrer Zandler.«

Lotti atmete tief ein und rieb sich die Stirn.

»Sascha, mein Vater hat heimlich einen illegalen, also einen streng verbotenen Zusatzstoff unseren Schweinen gefüttert. Des ist strafbar! Ich habe es entdeckt. Die Mutter wusste davon auch nix!«

»Ja, das stimmt! Hartmut sagte mir, es wären besondere Vitamine. Und ich habe es ihm auch noch geglaubt«, sagte Burgl.

Dann erzählte Lotti von Beates Hilfe und ihrem Arbeitsplan.

»Aufi, Sascha!«, sagte sein Vater. »Jetzt sind wir alle eine große Familie, und wir halten zusammen.«

Sascha nahm Lotti in den Arm und küsste sie.

»Wenn du wieder einmal Kummer hast, dann erzählst du es mir sofort, Lotti. Das musst du mir versprechen! Ich habe doch bemerkt, wie sehr es dich belastet hat. Du bist mit deinen Gedanken oft ganz woanders gewesen. Mit so einem Kummer, einer Wut, einem Groll im Herzen, kann man net restlos lieben. Ich bin eben anspruchsvoll und du sollst nur an mich denken!«, blinzelte er ihr zu.

»Ja, ich weiß, Sascha!«

Sascha und sein Vater packten mehrere Fässer mit Desinfektionsmittel aus dem Lager des Tierheims auf den Lieferwagen.

»Wird des net auffallen, wenn die fort sind?«, fragte sein Vater.

»Nur ich habe einen Schlüssel! Wir werden neue Fässer kaufen und sie morgen Nacht wieder hinstellen.«

Sie nickten sich zu.

Dann fuhren sie alle mit den Autos nach Waldkogel. Lotti fuhr mit Sascha im Lieferwagen des Tierheims. Ihre Mutter steuerte den Kirchnerschen Geländewagen, Gretel Schweiger fuhr Saschas Jeep und ihr Mann seinen Wagen. Sascha, seine Eltern und Lotti fuhren direkt zum Kirchner Hof. Burgl fuhr zu Martins Praxis und sah nach ihrem Mann.

Entsetzt hörte sie Doktor Martin Engler zu, als er ihr erzählte, wie knapp es um Hartmuts Gesundheit gestanden hatte.

»Ich bin schuld! Ich hätte ihn net allein lassen dürfen«, jammerte sie.

»Schmarrn, Burgl!«, donnerte Pfarrer Zandler. »Dich trifft keine Schuld. Du hättest es auch net verhindern können. Er hat den Mist gebaut – in jeder Beziehung. Er kann froh sein, wenn du zu ihm zurückkommst. Des wirst doch machen, Burgl?«

»Schon, egal wie! Ich lieb’ diesen Sturkopf doch, Herr Pfarrer!«

»Aber mache es ihm net zu leicht, Burgl. Ein bisserl Angst soll er schon noch haben, dieser depperte Horn­ochse, dieser Sturkopf.«

»Die Strafe bekommt er noch! Er muss sich damit abfinden, dass die Lotti und der Sascha nicht auf dem Kirchner Hof leben. Des ist erst mal Strafe genug, denke ich«, sagte Burgl.

Sie lächelte Pfarrer Zandler an.

»Mei, des gibt eine stressige Woche. Die Lotti und der Sascha, die wollen schon nächste Woche heiraten.«

»Des trifft sich doch gut! Dann schaut es eben so aus, als würdet ihr deswegen auf dem Hof gründlich saubermachen«, grinste Pfarrer Zandler.

Er schaute Martin an.

»Jeder in Waldkogel hat mitbekommen, dass du mit dem Saniwagen zum Kirchner Hof gefahren bist. Musst ein bisserl aufpassen, was du den Leuten sagst, wenn sie dich fragen, warum du dort gewesen bist. Sie werden dich fragen, Martin. Ganz kannst dich net rausreden, sonst kocht die Gerüchteküche noch höher, und wir haben am Ende doch einen Skandal, der auch noch die anderen Höfe in Waldkogel mit hineinreißt, allein durch die schlechte Presse.«

»Dann berufe ich mich auf die ärztliche Schweigepflicht und deute etwas von einer Lebensmittelvergiftung an oder so …«

»Des ist eine Lüge, doch dafür bekommst du von mir schon mal im Voraus die Absolution. Außerdem ist Alkohol auch ein Lebensmittel«, fiel ihm Pfarrer Zandler ins Wort.

»›Bier ist flüssiges Brot‹, so sagt man doch!«, warf Katja ein, die in die Küche gekommen war.

Das war ein gangbarer Weg, dem alle zustimmten.

Inzwischen war auch Helene Träutlein gekommen. Sie kamen überein, dass Martin und Helene bei dem Patienten blieben. Pfarrer Zandler, Burgl Kirchner, die alte Walli und Katja wollten mit zum Kirchner Hof fahren, um die Putzkolonne zu bilden. Sie machten sich gleich auf den Weg, nachdem Burgl noch einmal nach ihrem Mann gesehen hatte. Dieser bekam von ihrem lieben Besuch nichts mit.

»Mei, bist du vielleicht ein Held!«, flüsterte sie leise an seinem Krankenbett.

*

Als Doktor Martin Engler am nächsten Tag Hausbesuche machte, verbreitete er die Geschichte von der akuten Lebensmittelvergiftung des Bauern. Währenddessen schufteten alle anderen rund um die Uhr in den Ställen und säuberten Zug um Zug alle Anlagen, ersetzten das Futter und durchsuchten alle Räume nach weiteten Vorräten des unerlaubten Zusatzstoffes. Pfarrer Zandler sah die Mitglieder der beiden Familien stolz an.

»Ihr habt alle die kleine schwarze Wolke in dieser Woche über dem ›Höllentor‹ gesehen. Und wieder halten wir zusammen und packen an, genauso als wäre ein Unwetter über unser schönes Waldkogel herein­gebrochen.«

Dann machte er sich wieder auf den Weg zur Arztpraxis. Im Stillen bat der Geistliche seinen Chef hoch oben im Himmel um Verzeihung für die ganze heimliche Aktion. So manche Lüge war deshalb ausgesprochen worden. Zandler nannte es aber nicht Lüge.

»Herr, es ist nur eine kleine Verbrämung und eine winzige Verdrehung der Tatsachen, wie das heute oft in der Werbung gemacht wird. Herr, ich musste so handeln, schon im Interesse der Gemeinde. Ich konnte doch net zulassen, dass es zum Skandal kommt. Aber bei der Sache war net alles schlecht. Die Lotti und der Sascha sind zusammengekommen. Vielleicht hat des sein müssen, damit sich die beiden finden. Des war ein bisserl ein sehr gewaltsamer Umweg, Herr im Himmel. Ich will mich ja net in deinen göttlichen Plan einmischen, aber vielleicht hätte es auch einen anderen Weg gegeben, die Herzen der beiden zusammenzubringen, meinst net auch?«

Pfarrer Zandler zündete eine sehr große Kerze an und machte sich danach auf den Weg zu Doktor Martin Engler.

»Grüß Gott, Pfarrer Zandler! Wollen Sie nach dem Kirchner sehen?«

»Grüß Gott, Martin! Ja, ich will mich mal erkundigen. Wie geht es ihm?«

»Der Hartmut hat eine robuste Gesundheit – zum Glück. Er war immer kerngesund. Deshalb hat er sich schnell erholt. Bleibende Schäden von dem übermäßigen Alkoholgenuss hat er wohl nicht davongetragen, soweit ich das nach meinen Untersuchungen sagen kann. Aber er leidet! Er ist das buchstäblich wandelnde schlechte Gewissen.«

Pfarrer Zandler grinste.

»Des schadet nix! Er kann ruhig auch noch ein bisserl leiden. Wann wirst du ihn entlassen?«

»Morgen Abend, dachte ich oder am Dienstag.«

»Gut, dann hoffe ich, er findet den Weg zu mir.«

»Heißt des, dass Sie ihn jetzt net besuchen wollen?«, staunte Martin.

»Genau, des heißt es! Er soll den Weg zu mir finden. Hätte er des zeitiger gemacht, dann wäre … ach, lassen wir das! Danke, Martin, hast dich seiner gut angenommen.«

»Das ist nur meine Aufgabe als Doktor und als Mensch! Aber das gilt auch für Sie!«

Sie schüttelten sich die Hände. Pfarrer Zandler fuhr mit seinem Auto auf den Kirchner Hof, es rollte wieder.

Pfarrer Zandler traf Beate im Stall.

»Wie geht es den Schweinen?«, flüsterte er leise.

»Alles in Ordnung! Sie haben keine Rückstände mehr im Blut. Mit dem Saubermachen und so weiter werden wir morgen fertig sein. Es wird auch Zeit. Dann blieben Lotti und Sascha noch wenige Tage bis zur Hochzeit. Ganz schön knapp, denke ich!«

»Des wird schon! Alle werden helfen und anpacken. Jetzt wird doch auf dem Kirchner Hof gefeiert. Des ist schön!«

Beate grinste.

»Des wird eine schöne Überraschung geben. Hartmut Kirchner weiß noch nicht, dass sein Madl den Sascha heiratet. Seine Burgl und Lotti haben ihn noch nicht besucht. Niemand hat ihm etwas gesagt.«

»Ja, das war meine Idee! Ein bisserl soll er noch schmoren, der Horn­ochse!«

Beate grinste.

»Beate, mit der kleinen Strafe ist er noch gut dran. Wenn seine Machenschaften aufgedeckt worden wären, dann hätte er mit etwas ganz anderem rechnen müssen. Freunde hätte er dann in Waldkogel keine mehr, wenn er so einen Skandal verursacht hätte.«

»Das stimmt allerdings, Herr Pfarrer!«

Pfarrer Zandler schaute sich um.

»Was ist noch zu tun?«

»Lotti, ihre Mutter und Saschas Mutter sind in der Küche. Sie bereiten einen Imbiss für alle vor. Denen können Sie bestimmt helfen. Die Bierfässer, die der Xaver Baumberger gestiftet hat, müssen aufgestellt und angezapft werden.«

»Des ist eine schöne Aufgabe, der werde ich mich mal annehmen!«

So geschah es dann auch. Am frühen Abend war alle Arbeit getan. Dann feierten sie zusammen.

»Das ist eine Generalprobe für unsere Hochzeit, Lotti!«, sagte Sascha.

»Ja, ich freue mich!«

Sie küssten sich. Dann nahmen sie sich bei den Händen und verschwanden für die Nacht in Richtung der kleinen Waldhütte, die Sascha gebaut hatte.

*

Durch die Ereignisse war Lottis Zeitplan durcheinander gekommen. Sie sollte eigentlich am Montag wieder arbeiten, doch sie nahm sich Urlaub. Ihre Vorgesetzte und die Oberschwester hatten Verständnis dafür. Sie freuten sich, dass Lotti die Fortbildung machen wollte und ihre Papiere einreichte.

Nach dem Personalgespräch im Krankenhaus fuhren sie zum Goldschmied, um ihre Ringe auszusuchen. Dort trafen sie auf Toni.

»Mei, Toni! Grüß Gott! Was suchst du hier?«, grüßte ihn Sascha.

»Ich habe verschiedene Gründe. Ihr wollt euch wohl Ringe kaufen?«

»Ja, das wollen wir!«, sagte Sascha und legte den Arm um seine Lotti.

Toni ließ den beiden den Vortritt. Es dauerte nicht lange, bis sie die Ringe ausgesucht hatten. Sie wählten schmale einfache Goldringe ohne Schnörkel. Sie mussten aber noch angepasst werden. Ferdinand Unterholzer versprach, die Eheringe bis zum Abend zu ändern. Kurz vor Ladenschluss sollten die beiden noch einmal vorbeikommen, dann wären sie fertig. Glücklich verließen die beiden den Laden.

»So, Unterholzer, was gibt es? Hast mit dem Berni geredet?«

»Ja, das habe ich. Er kam am Samstag kurz vor Ladenschluss vorbei. Ich war mit ihm dann bis zum Abend zusammen. Des war so gewesen: Im Biergarten hatten eine ganze Gruppe von Madln und Burschen zusammen am Biertisch gesessen. Die Stimmung muss gut gewesen sein. Berni hatte sich gut mit der Franzi unterhalten und ihr seine Handynummer zugesteckt. Dann hatte er gewartet.«

»Sie hat aber nicht angerufen!«, warf Toni ein.

»Ja, so war es! Zwei Tage später kam ein anderes Madl, die Sophie, zu den Steiningers in den Laden. In einem unbeobachteten Augenblick, sprach Berni die Sophie an. Sie saß am Biertisch neben der Franzi an dem Abend im Biergarten. Daher kannte der Berni sie. Doch die Sophie wollte net so recht reden. Jedenfalls net sofort. Sie wollte sich mit dem Berni verabreden, mit ihm ins Kino gehen.«

»Mir dämmert etwas«, sagte Toni leise.

»Richtig! Des Madl versuchte, den Berni zu umgarnen. Der willigte ein, doch nur, weil er von der Sophie mehr über die Franzi hat erfahren wollen. Doch Sophie wurde dann sauer, weil sie sich selbst in den Berni verliebt hatte. Die Franzi kommt aus Waldkogel, des hat der Berni jedenfalls noch von ihr erfahren.«

»Aber wie kommt die Verbindung zu unserer Franziska zustande?«

»Des war wohl ein Missverständnis. Viele kaufen bei den Steiningers ein. Als Bernis Tante sich mit jemandem aus Waldkogel unterhielt, brachte Berni die ältere Frau zur Tür. Er fragte sie nach einem Madl, das blond ist und Franzi gerufen wird. Sie sagte, sie wisse nur von der Franzi auf der Berghütte. Des war alles, was sie gesagt hat. Berni hat net nach dem Alter gefragt und in seiner Liebesnot, dachte er, er hätte seine Franzi gefunden.«

»Mei, welch eine verzwackte Geschichte! Immerhin sind wir der Sache jetzt schon näher!«

»Ja, das sind wir. Der Berni lässt für die Einladung und deine Mühe danken. Er will bald zu euch auf die Berghütte kommen. Vielleicht komme ich mit.«

»Wunderbar, des ist doch eine gute Idee! Rufe mich an, dann halte ich euch beiden die schönsten Kammern frei! Mei, freut mich des! Sag dem Berni viele Grüße. Ich werde mich schon mal umhören in Waldkogel. So viele Madln, die Sophie gerufen werden, wird es net geben. Im Augenblick fällt mir niemand ein. Aber es sind viele Zugezogene im Neubaugebiet, die man net so kennt. Doch ich werde jede finden, die Sophie heißt!«

»Daran zweifele ich nicht, Toni. Dann wünsche ich dir Weidmannsheil, wie man sagt.«

»Des klingt gut! Weidmannsdank, Unterholzer!«

Sie verabschiedeten sich. Toni ging pfeifend zu seinem Auto.

*

Es war später Montagabend. Hartmut hatte Martin überredet, ihn doch schon am Montagabend zu entlassen. In der Dunkelheit schlich der Kirchner Bauer weit außen herum über die Wiesen und durch die Felder zu seinem Hof.

Er verbarg sich hinter einer Mauer und schaute um die Ecke. Auf dem Hof stand ein großer Lastwagen. Lotti und seine Frau Burgl liefen hin und her. Aber das waren nicht die einzigen. Hartmut erkannte Sascha und seine Eltern. Sie trugen Kartons, Koffer und kleinere Möbelstücke in den Lastwagen.

»Himmel, die Weiber machen ernst!«, flüsterte er leise vor sich hin.

Hartmut lehnte sich an die Wand und musste erst einmal die Augen schließen. Sein Herz klopfte.

Plötzlich fing ein Hund an zu bellen, der im Lastwagen auf dem Sitz saß. Hartmut spähte um die Ecke. Der Hund streckte seinen Kopf aus dem offenen Autofenster.

»Sascha, was hat der Hund?«, hörte Kirchner seine Tochter Lotti rufen.

»Er wird mal müssen oder er verbellt jemanden. Der Hund trägt seinen Namen Kommissar net umsonst. Schließlich ist er ein ausgebildeter Polizeihund, auch wenn er auf Grund seines Alters keinen Dienst mehr macht.«

Sascha hatte den alten Hund zu sich genommen. Er öffnete die Wagentür des Lastwagens.

Der große Schäferhund sprang mit einem Satz heraus und rannte bellend los.

Nur Sekunden später stellte der Hund Hartmut Kirchner auf seinem eigenen Hof. Er saß vor ihm, gab Laut und knurrte Kirchner bei jeder noch so kleinen Bewegung böse an.

»Da muss ein Fremder auf dem Hof sein!«, bemerkte Sascha.

»Mache du weiter, Sascha!«, rief Lotti.

Lotti und ihre Mutter suchten den Hund. Als sie Hartmut mit erhobenen Händen, sich ängstlich an die Wand drückend vorfanden, brachen sie in lautes Gelächter aus. Sie konnten es nicht unterdrücken. Lotti rief den Hund zurück.

»Was ist hier los?«, stieß Kirchner hervor.

»Du bist also wieder hier. Martin hat angerufen und gesagt, dass er dich entlassen hat. Hast lange gebraucht für den Heimweg«, bemerkte Burgl.

»Bin über die Felder gegangen!«

Sogar im Mondlicht erkannten sie, dass Kirchner errötete.

»Ziehst jetzt ganz aus, Burgl? Muss des sein? Mei, bleib doch! Lass uns reden. Es tut mir leid!«

»Ich ziehe net aus. Des sind net meine Sachen!«

»Sind es meine Sachen? Wirfst mich raus, Burgl?«

Mei, hat der eine Angst, dachte Burgl. Sie warf Lotti einen Blick zu.

»Verdient hättest du es, Vater! Wie hast des machen können? Und sich dann fast mit der Sauferei umzubringen, des ist … des ist … dafür fällt mir kein Wort ein!«

An Lottis Stimme war unschwer zu erkennen, wie ärgerlich sie war.

»Ja, Lotti, hast recht! Ich habe eine Dummheit gemacht und des gleich in mehrfacher Weise. Ich werde damit aufhören und alles wiedergutmachen. Ich weiß auch net, wa­rum mich der Teufel so geritten hat. Ich … ich gehe jetzt sofort zur Beate und rede mit ihr. Sie hat mir doch Hilfe angeboten.«

»Des kannst lassen«, sagte Lotti. »Die Sache ist schon behoben. Aber hingehen und dich bedanken, des musst du, beim Pfarrer Zandler auch und bei allen, die geholfen haben.«

»Ich verstehe net!«

»Des glaube ich dir gern! Es ist eine Menge geschehen!«

»Du kannst mir nicht verzeihen, Lotti, wie?«, fragte ihr Vater.

»Mei, ich bin so sauer auf dich gewesen. Aber der Sascha hat mir ins Gewissen geredet. Du kannst dich bei ihm bedanken und auch bei seinen Eltern. Sie wissen es!«

»Mei, des ist ja schlimm! Ich kann denen nimmer unter die Augen treten.«

»Des wirst aber müssen, Vater! Du kannst gleich mit ihnen reden. Sie sind hier!«

Hartmut schaute um die Ecke.

»Ja, sie helfen, Sachen in den Lastwagen laden. Wessen Sachen sind des?«

»Des sind meine Sachen, Vater!«

»Dann ziehst aus!«

Hartmut Kirchners Herz verkrampfte sich. Lotti wollte ausziehen, das schmerzte ihn.

»Ja, ich ziehe nach Kirchwalden.«

Kirchner machte eine hilflose Ges­te.

»Dann bist mir doch böse, wenn du fortgehst.«

Lotti unterdrückte ein Grinsen. Sie schaute unter sich und schwieg eine Weile. Ihre Mutter stand neben ihr und sagte auch nichts. Ein bisserl sollte Hartmut Kirchner noch schmoren.

Dann sahen sie, wie ihm stumm die Tränen die Wangen herunterliefen. Lotti räusperte sich.

»Ich zieh aus, erst mal jedenfalls … weil … nun, es kann sein, dass wir im nächsten Jahr … oder vielleicht ein bisserl später … wieder herkommen … Ich meine, für Kinder ist es besser, auf dem Hof aufzuwachsen.«

Ihr Vater starrte sie sprachlos an. Er begriff nicht, was sie damit sagen wollte. Er war er war total verwirrt.

Lotti konnte sich nicht länger zurückhalten.

»Mei, Vater! Der Sascha und ich, wir haben uns endlich gefunden. Wir heiraten am Samstag! Wir ziehen erst mal für eine Weile in Saschas große Dienstwohnung nach Kirchwalden.«

»Wirklich? Mei, wie kommt des? Ich hab’ net gewusst, dass du und Sascha ... dass ihr ein Liebespaar seid. Ich dachte immer, ihr seid nur Freunde.«

In diesem Augenblick kam Sascha hinzu. Er legte ganz selbstverständlich seinen Arm um Lotti.

»Grüß dich, Kirchner! Was sagst dazu, dass sich Lotti und ich endlich gefunden haben? Und wir wollen dich im nächsten Jahr zum Großvater machen.«

»Wenn es net so schlimm wäre, würde ich sagen, des Zeugs hat dann doch auf die eine oder andere Weise gewirkt. Net so, wie ich es geplant hatte, aber so ist es besser!«

»Es geht ihm wieder gut, Sascha! Vater hat seinen trockenen Humor wiedergefunden. Die Alkoholvergiftung hat keine Schäden hinterlassen.«

Lotti lächelte ihren Vater an.

»Dann wollen wir Frieden schließen. Komm her und lass dich umarmen! Ich bin so glücklich. Ich habe keinen Platz für Groll in meinem Herzen.«

Vater und Tochter lagen sich in den Armen. Dann nahm Hartmut seine Burgl fest in den Arm. Sie schauten sich in die Augen. Sie waren viele Jahre verheiratet. Es bedurfte keiner großen Worte. Sie verstanden auch so, was der andere sagen wollte.

Hartmut hieß Sascha willkommen.

Dann gingen sie nach vorne. Hartmut begrüßte verlegen Saschas Eltern. Doch diese erwähnten mit keinem Wort die schlimme Geschichte. Bevor Hartmut beim Packen half, rief er Pfarrer Zandler und Beate an. Er machte auch da reinen Tisch und bedankte sich für deren Hilfe.

*

Die ganze Woche war vollgepackt mit Hochzeitsvorbereitungen. Der Kirchner Hof wurde geschmückt. An den Balkongeländern, um Fenster und Türen hingen Girlanden aus Tannengrün mit bunten Bändern. Es wurde ein großes Podest aufgebaut. Im hinteren Teil sollten die Musiker sitzen, vorne konnte getanzt werden. Über die gesamte große Hoffläche stellte die Brauerei, die das Bier lieferte, Tische und Bänke auf. Der vordere Tisch, an dem das Brautpaar und die Familien sitzen sollten, stand unter einem weißen offenen Zelt. Selten wurden für ein Hochzeitsfest so große und aufwendige Vorbereitungen getätigt. Doch Hartmut Kirchner war nicht zu bremsen. Er wollte das Beste, das Schönste und das Teuerste für Lottis Hochzeit. Von einer Landschaftsgärtnerei aus Kirchwalden ließ er sogar entlang des Weges, vom Kirchner Hof bis zu Kirche, kleine schmucke Bäumchen in Kübel aufstellen. Dazu gab ihm Bürgermeister Fritz Fellbacher eine Extraerlaubnis.

Dann kam der große Augenblick. Lotti und Sascha fuhren in einer blumengeschmückten weißen Kutsche, die von sechs prächtigen Schimmeln gezogen wurde, vom Kirchner Hof zum Marktplatz.

Im Rathaus nahm Bürgermeister Fritz Fellbacher die standesamtliche Trauung vor. Anschließend schritten Lotti und Sascha, Arm in Arm, durch den Mittelgang der schönen Barockkirche von Waldkogel, die die Bäuerinnen wundervoll mit Blumen geschmückt hatten.

Lotti trug ein weißes Brautkleid aus Seide im Dirndlstil und Sascha einen dunkelblauen Lodenanzug aus feinstem Tuch.

Alle Anwesenden bemerkten, wie gerührt selbst Pfarrer Zandler war, als er den beiden den Segen gab. Nur die beiden Familien wussten, wie dankbar der Geistliche über den schönen Ausgang der schlimmen Geschichte war.

Durch die vielen Sommergäste in Waldkogel wurde diese Hochzeit ein unvergessenes Erlebnis. Noch Jahre später erzählten sie davon, wenn sie wieder einmal Waldkogel besuchten.

»Besser, ihnen bleibt diese besondere Hochzeit in Erinnerung und die Liebe der beiden, als ein Skandal«, sagte Pfarrer Zandler einmal zu Beate Brand.

Einige Wochen später war Jean auf einem Hof im Umland von Waldkogel in eine Falle gegangen und verhaftet worden. Auch die Hintermänner wurden gefasst und zur Rechenschaft gezogen. Hinter der Ergreifung der Verbrecher steckten Pfarrer Zandler und die Tierärztin Beate Brand.

Lotti machte ihre Zusatzausbildung und übernahm bis zur Geburt ihres ersten Kindes die Leitung der Säuglingsstation.

Nach dem Mutterschaftsurlaub siedelte sie mit ihrer kleinen Familie auf den Kirchner Hof. Burgl und Hartmut waren fürsorgliche Großeltern und verwöhnten den kleinen Stammhalter sehr. Sascha und Lotti hatten für ihn den Namen Franz ausgesucht, nach dem Schutzheiligen Franz von Assisi, dem Beschützer aller Tiere.

Im Laufe der folgenden Jahre bekamen Lotti und Sascha noch drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen.

Als sie größer waren, spielten sie im Wäldchen, wie es einst ihre Eltern taten.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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