Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 36

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Toni parkte seinen großen Geländewagen vor dem Pfarrhaus. Pfarrer Zandler schaute aus dem Fenster.

»Grüß Gott, Toni!«

»Grüß Gott, Pfarrer Zandler! Nirgends gibt es einen Parkplatz. Kann ich hier einen Augenblick stehenbleiben? Es dauert auch net lange. Ich hab’ meiner Mutter versprochen, dass ich des neue Grabkreuz aufs Familiengrab der Baumbergers setze.«

»Sicher kannst hier parken, Toni! Wir sehen uns gleich! Ich komme!«

Toni öffnete die Hecktür des Wagens und holte das Kreuz heraus. Es war ein schönes Holzkreuz mit einem Dach darauf, wie es seit Jahrhunderten in den Bergen üblich war. Sicherlich gab es in neuerer Zeit auch Grabsteine, aber jede Familie, die in Waldkogel etwas auf sich hielt, hatte Kreuze auf den Gräbern.

Toni schulterte das Kreuz und ging auf den Friedhof hinter der Kirche.

Er war schon bei der Arbeit am Grab, als Pfarrer Zandler dazukam.

»Kann ich dir helfen?«, fragte er.

»Danke, Herr Pfarrer! Es geht schon! Ich hoffe, es bleibt stehen.«

Pfarrer Zandler rüttelte etwas an dem neuen Kreuz.

»Das steht fest für die nächsten Jahrzehnte!«

»So ist des auch gedacht!«, bemerkte Toni.

Er stellte die Vase mit den Blumen vor das Kreuz.

»Schaut gut aus! Ist ein ganz klein wenig anders als die anderen Kreuze.«

»Des stimmt! Des alte Kreuz, des die Eltern entfernen mussten, weil es morsch war, des hatte der Urgroßvater noch angefertigt. Er war Holzschnitzer und ein richtiger Künstler, erzählt mein Vater oft.«

»Das stimmt, Toni. Er hat viele Marterln in der Umgebung angefertigt. Er hatte einen ganz eigenen Stil. Ich sage immer, er hat in seine Arbeit viel Seele und Glauben reingelegt.«

Toni nickte.

»Ja, so war es, und deshalb haben die Eltern lange gesucht, bis sie jemanden fanden, der bereit war, des alte Kreuz genau zu duplizieren. Schön ist es geworden, denke ich. Wenn der Urgroßvater vom Himmel herabschaut und es sieht, hoffe ich, dass es ihm gefällt.«

»Das wird es bestimmt«, sagte Pfarrer Zandler.

Der Geistliche faltete die Hände und sprach ein Gebet. Dann segnete er das Kreuz.

Toni und Pfarrer Zandler gingen gemeinsam den Hauptweg durch den Friedhof zurück.

»Von wegen ›Duplizieren‹, Herr Pfarrer. Hat man schon etwas in der Sache mit dem Wappen von Waldkogel gehört?«

Pfarrer Zandler erzählte, dass sich die Anspannung von Bürgermeister Fellbacher etwas gelegt hatte. Das anwaltliche Schreiben an das Schutzamt für Markenrechte war unterwegs. Jetzt hieß es warten. Toni erfuhr, dass der Bürgermeister heimlich noch immer im Archiv des Rathauses nach den Originalunterlagen des Waldkogeler Wappens suchte. Pfarrer Zandler war sich sicher, dass sie irgendwann gefunden würden.

*

Die kleine Franziska stand auf der Terrasse der Berghütte neben einem der Tische und schaute zu, wie eine junge Frau Bergblumen und Kräuter nebeneinander auf den Tisch legte.

»Warum machst du das? Die vertrocknen doch alle! Soll ich dir eine Vase mit Wasser holen?«

»Grüß Gott, wer bist du?«

»Ich bin die Franziska! Gerufen werde ich Franzi.«

»Guten Tag, Franzi! Ich heiße Margit, und gerufen werde ich Maja!«

Franziska lachte laut.

»Wie die Biene Maja aus dem Buch!«

»Genau, liebe Franzi! Das ist doch ein schöner Spitzname oder nicht?«

»Mm, die Biene Maja ist eigentlich ganz nett. Warum hat man dir den Spitznamen gegeben?«

Margit lächelte.

»Das ist schon lange her. Damals war ich noch jünger, als du jetzt bist. Ich spielte immer auf der Wiese und sammelte Blumen. Da gab mir mein Bruder den Namen.«

»Du magst immer noch Blumen. Soll ich dir jetzt eine Vase mit Wasser holen?«

»Nein, danke! Ich werde diese Blüten und Gräser trocknen!«

»Warum?«

»Ich bin Biologin! Ich sammle seltene Pflanzen.«

»Was machst du damit?«, fragte Franziska.

»Wenn sie trocken sind, dann verwahre ich sie in dicken Ordnern. Ich sortiere sie. Es gibt drei große Abteilungen, Wildpflanzen, die reine Zierpflanzen sind, dann gibt es Giftpflanzen und Heilpflanzen.«

Margit schaute einen Augenblick von ihrer Pflanzenpresse auf.

»Ich suche nach seltenen Pflanzen. Vielleicht finde ich einmal eine Pflanze, von der man dachte, sie sei ausgestorben.«

»Dann darfst du die aber nicht pressen, Maja. Dabei sterben die Pflanzen doch«, warf Franzsika ein.

Margit lächelte.

»Du bist ein kluges Mädchen, Franzi. Wenn ich eine solche Pflanze einmal finden würde, dann gibt es sie sicherlich nicht nur ein einziges Mal. Ich notiere mir genau, wo ich jede Pflanze gefunden habe. Und falls ich dann daheim in meinen Unterlagen feststellen sollte, dass ich eine Pflanze gefunden habe, von der geschrieben steht, dass sie ausgestorben ist, dann gehe ich wieder zu der Stelle, an der ich sie gefunden habe, und schaue, ob es davon noch mehrere gibt.

Ich versuche sie dann zu züchten über Samen oder Knollen. Verstehst du?«

Die kleine Franziska nickte eifrig. Sie schob sich die blonden Locken aus der Stirn.

»Die Ella sagt, es gibt keine Giftpflanzen, nur Heilpflanzen.«

»Damit hat die Ella nicht unrecht. Wer ist die Ella?«

»Ella ist eine alte Frau, viel älter als Großmutter Meta, uralt ist sie! Ella lebt im Wald in einem kleinen Haus.«

»Wie im Märchen?«, schmunzelte Margit.

»Nein, aber so ähnlich. Sie ist keine Hexe, keine richtige Hexe. Dabei weiß ich nicht, ob es überhaupt Hexen gibt. Die Ella, zu der sagen wir auch Kräuterhexe, weil sie Kräuter sammelt, genau wie du. Aber sie presst sie nicht. Wenn sie sie trocknet, dann macht sie des, weil sie Tee da­raus machen will. Aber meistens macht sie Tinkturen oder Balsam da­raus. Es hilft gut.«

»Dann hast du es schon ausprobiert?«

»Ja, das hat jeder hier in Waldkogel! Sogar der Martin sagt, dass des Zeugs gut ist. Dabei ist der Martin unser Doktor.«

»Oh, den würde ich gerne kennenlernen und wenn es möglich ist, auch diese Ella.«

»Mit dem Martin ist des einfach! Der Martin ist ein guter Freund von meinen Papa, vom Toni! Wenn du willst, dann redet er mit Martin. Dann kannst du ihn gern mal besuchen.«

»Das wäre sehr schön! Und wie und wo kann ich die Ella treffen?«

»Des ist etwas komplizierter. Da musst du in den Wald gehen. Die Ella Waldner, die kommt selten ins Dorf. Aber wenn du magst, dann male ich dir auf, wie du gehen musst. Du kannst des kleine Häusl im Wald nur zu Fuß erreichen. Da gibt es keine Straße hin.«

»Dann scheint es ein richtiges Hexenhaus zu sein, wie?«

»Na, kein Hexenhaus!« Franziska kicherte. »Das ist einfach ein Waldhaus in einem großen Garten, mitten im Wald.«

Franziska lief davon. Sie holte Papier und einen Stift und zeichnete Margit auf, wie sie gehen müsste, um im Forst von Waldkogel die Ella Waldner zu finden.

*

Henk saß daheim vor seinem Computer und arbeitete einige Gutachten aus. Es läutete an der Haustür. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war schon spät. Wer wollte ihn um diese Zeit noch besuchen?

Henk ging zur Haustür und öffnete.

»Überraschung! Guten Abend!«, rief ihm sein Freund zu.

Bernd hielt eine große Flasche französischen Rotwein in der einen Hand, mit der anderen hielt er San­dra, seine langjährige Freundin.

Henk begrüßte sie und bat sie he­rein.

Er rieb sich die Stirn.

»Hab’ ich etwas verpasst, einen Geburtstag oder etwas Ähnliches?«

»Nein, mein Lieber!«

Die Gäste setzten sich auf die Terrasse. Henk holte Gläser.

»Nun sagt schon! Was ist los, Bernd? Für so einen teuren Wein gibt es doch bestimmt auch einen besonderen Anlass!«

»Ja, den gibt es«, sagte Bernd und warf Sandra einen Blick zu. »Aber langsam, alles schön der Reihe nach!«

Bernd öffnete die Flasche und schenkte ein. Für Sandra bat er um ein Glas Wasser. Henk wunderte sich, sagte aber nichts. Er hatte Sandra schon immer etwas exzentrisch gefunden. Aber sein Freund verstand sich mit ihr gut. Sie prosteten sich zu und tranken.

»Also, dann wollen wir dich nicht länger hinhalten, Henk. Sandra und ich haben beschlossen, unser jahrelanges Lotterleben zu beenden und unserer Gemeinsamkeit eine solide, bürgerliche Basis zu geben. Kurz gesagt, wir wollen heiraten!«

Henk schaute die beiden überrascht an. Sandra rückte auf der Rat­tanliege dichter an Bernd heran. Dieser legte seinen Arm um die dunkelhaarige Schönheit. Sie küssten sich flüchtig.

»Jetzt sage etwas dazu, Henk!«, forderte ihn Bernd auf.

Henk räusperte sich.

»Also, erst einmal herzlichen Glückwunsch! Dass ich überrascht von eurem Entschluss bin, das kann ich nicht verbergen. Ihr habt immer gesagt, dass für eure Liebe ein Trauschein nicht nötig sei. Ihr habt abgewehrt, so oft ihr auch darauf angesprochen wurdet. Was hat diesen radikalen Sinneswandel bewirkt?«

»Wir wollen Kinder«, sagte San­dra. »Kinder sollen in ordentlichen Verhältnissen aufwachsen. Das ist die Idee dahinter. Wir werden älter, und die biologische Uhr tickt. Wir haben zur gleichen Zeit unseren Kinderwunsch entdeckt und waren uns einig. Wir wollten im Herbst heiraten. Doch die Natur hat uns überlistet, anders können wir es nicht sagen. Kurz, ich bin schwanger!«

»Wow!«, entfuhr es Henk. »Glückwunsch! Deshalb also der Verzicht auf diesen edlen Tropfen.«

Sandra nickte und kuschelte sich an Bernd.

»Ja, also heiraten wir jetzt im Sommer. Du sollst unser Trauzeuge sein!«

»Den Gefallen tue ich euch gerne und fühle mich geehrt! Ihr seht richtig glücklich aus!«

»Das sind wir auch«, sagte Bernd. »Die Elternschaft verleiht Flügel und macht beschwingt. Wir freuen uns riesig auf das Baby! Hier, schau mal!«

Voller Stolz öffnete Bernd seine Brieftasche und zeigte Henk das Ultraschallbild.

»Und Patenonkel wirst du natürlich auch!«

»Danke, danke! Zu viel der Ehre! Trauzeuge mache ich gerne, aber Patenonkel, das überlege ich mir noch. Ich bin Junggeselle. Ich weiß nicht, ob ich die Rolle eines Patenonkels gut ausfülle.«

»Was redest du für einen Unsinn, Henk!«, warf Sandra ein. »Außerdem wirst du auch einmal heiraten.«

Henk schmunzelte.

»Da gehören zwei dazu. So viel Glück wie Bernd habe ich nicht!«

Bernd zog die Stirn in Falten.

»Ist sie in festen Händen? Hast du mit ihr gesprochen?«

»Nein!«

»Die Antwort ist eine Antwort auf welche meiner Fragen?«

»Auf beide«, sagte Henk leise.

»Himmel, Bernd! So schlimm kann es doch nicht sein, mit ihr in Kontakt zu kommen. Weißt du inzwischen wenigstens etwas mehr über sie?«

Henk schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nur, dass sie Wiesen liebt und einen kleinen Jeep fährt. Sie wohnt in einem der Hochhäuser.«

»Das hast du schon im letzten Herbst gewusst. Jetzt haben wir Sommer. Wann gehst du in die Offensive?«

Sandra lauschte. Da gab es offensichtlich etwas, von dem sie nichts wusste. Sie fragte nach. Mit knappen Worten schilderte ihr Bernd, dass Henk sich im letzten Herbst in eine junge blonde Frau verliebt hatte. Sie wohnte in dem Hochhaus am Ende der Straße, auf das Henk von seinem Haus einen guten Blick hatte. Er beobachtete sie seither. Abends trieb sie sich auf den Brachwiesen am Ende der Siedlung herum. Aber Henk hatte es bisher nicht geschafft, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Er bewunderte sie aus der Ferne. Oft stand er oben in seinem Haus am Fenster und beobachtete den großen Parkplatz neben dem Hochhaus, in der Hoffnung sie zu sehen.

»Ich komme mir schon seltsam vor«, sagte Henk leise. »Es ist nicht leicht, mit ihr in Kontakt zu kommen. Ich kann ihr nicht einmal Blumen schicken, ich weiß nicht, wie sie heißt.«

»Hast du ihr denn keine Einladung zum Abendessen hinter den Scheibenwischer geklemmt, wie wir es beredet hatten?«

»Das habe ich getan, Bernd! Doch – Fehlanzeige! Sie hat sich nicht gemeldet!«

»Dann gehst du eben auch mal Blumen pflücken, Henk«, schlug Sandra vor. »Oder leih dir einen Hund aus und führe ihn Gassi. Irgendwie musst du ihr doch näher kommen.«

Henk stand auf und ging hinein. Nach einer Weile kam er mit einem Foto in einem Bilderrahmen und reichte es Sandra.

»Das ist sie, meine schöne Unbekannte! Aber erzählt bitte niemand, dass ich heimlich Fotos mache. Man hält mich vielleicht für irre! Ich gebe auch zu, dass es vielleicht nicht ganz normal ist.«

»Bitte, unternimm endlich etwas, Henk!«, ermunterte ihn Sandra. »Warum tust du nichts? Hast du Angst vor einer Enttäuschung?«

»Nein, aber ich habe immer gedacht, dass es anders läuft, wenn ich einmal eine Frau finde, die mir gefällt.«

»Und wie?«

»Nun irgendwie anders, Sandra, vielleicht ein Aufeinandertreffen im Supermarkt oder etwas Ähnliches. Eben nicht, dass sie täglich am Haus vorbeifährt. Ich stand schon auf der Straße, aber sie hat mich keines Blickes gewürdigt. Ich habe mich schon neben die große Klingelanlage am Hochhaus gestellt und gewartet, bis sie kam. Ich hatte Hoffnung, dass sie fragt, ob ich mit hineingehen will. Doch sie kam, schloss die große Glas­tür auf und ging weiter. Sie nahm nicht den Aufzug, sondern ging die Treppe hoch. Also konnte ich nicht einmal herausfinden, in welchem Stockwerk der Aufzug stoppte. Das Hochhaus hat achtzehn Stockwerke mit jeweils zwanzig Ein- und Zweizimmerwohnungen. Das ist, als suchte ich eine Stecknadel im Heuhaufen«, seufzte Henk.

»Dann beauftrage einen Detektiv«, sagte Bernd. »Oder du vergisst sie!«

»Ich kann sie nicht vergessen, Bernd! Wechseln wir das Thema. Reden wir lieber von euch beiden. Wann soll die Hochzeit sein?«

Bernd und Henk nannten den Termin. Henk erklärte sich auch bereit, ihnen bei den kurzfristigen Vorbereitungen zu helfen. Sie saßen noch zwei Stunden zusammen und tranken die Flasche Wein aus, während Sandra als verantwortungsvolle angehende Mutter diszipliniert bei Wasser blieb.

Dann verabschiedeten sich die beiden. Henk brachte sie zur Tür. Als die beiden abgefahren waren, überkam Henk ein Gefühl der Wehmut, gepaart mit etwas Neid. Er beneidete seinen besten Freund schon, dass er die Frau des Lebens gefunden hatte und bald eine eigene Familie hatte. Henk betrachte noch lange das Foto der Unbekannten, das er gemacht hatte. Es war kein besonders gutes Bild. Doch sein Herz schlug schneller, wenn er die junge Frau da­rauf ansah. Ihre blonden Locken umspielten lieblich die weichen Gesichtszüge. Sie trug enge Jeans, Stiefel und ein weites Hemd. Sie stand auf der Wiese und betrachtete die gepflückten Blumen in ihrer Hand.

Bernd und Sandra haben recht, dachte Henk. Entweder ich vergesse sie oder ich beauftrage einen Detektiv oder ich lege mir einen Hund zu. Es muss etwas geschehen, nahm er sich vor. Die Idee mit dem Hund gefiel ihm am besten. Als Kind hatte er sich schon immer einen Hund gewünscht, einen großen zotteligen Hund. Henk nahm seinen Terminkalender hervor. Er sah sich die Termine für seine nächsten Aufträge an. Henk arbeitete als freier Ingenieur und Sachverständiger für Grund- und Bodengutachten.

Er blätterte in seinem Terminkalender und dachte weiter nach. Wenn ich den Auftrag in Waldkogel erledigt habe, dann könnte ich eine Weile Urlaub machen.

Das wäre gut, wenn ich mir einen Welpen hole. Ich habe dann genug Zeit, mich seiner Erziehung zu widmen. Er muss folgen lernen, weil ich ihn überallhin mit zur Arbeit nehmen muss.

Henk stellte sich vor, wie er mit dem Welpen auf der Wiese tollte. Er war sich sicher, dass er auf diese Weise mit der schönen jungen Frau, für die sein Herz schlug, ins Gespräch kommen würde. Denn kleine Hunde erobern jedes Herz, dachte er. Und wenn der Welpe erst einmal ihre Herzenstür geöffnet hat, dann kann ich vielleicht auch hineinhuschen.

Henk setzte sich an den Computer und durchstöberte die Homepages von Hundezüchtern. Er druckte sich einige Adressen aus und heftete sie in seinem Arbeitszimmer an die Pinnwand über seinem Schreibtisch.

Henk lächelte und trat zurück. Er war jetzt gelöster. Ja, so würde er es machen. Er würde sich einen Hund zulegen, den er immer schon haben wollte. Dann wäre der Kontakt zu der blonden jungen Frau vielleicht nicht ganz so schwer.

Mit diesen neuen Plänen und der Hoffnung auf Erfolg ging Henk zu Bett. Und wieder träumte er von der geheimnisvollen Frau, die sein Herz gefangen hielt.

*

Einige Tage später kam Margit schon am frühen Nachmittag wieder auf die Berghütte. Es hatte in der Nacht und am Vormittag geregnet. Es waren wenige Hüttengäste auf der Berghütte. Toni, Anna und der alte Alois saßen im großen Wirtsraum zusammen und tranken einen Kaffee.

Margit grüßte im Vorbeigehen und wollte in ihre Kammer.

Toni schaute zur Wanduhr.

»Mei, Margit, bist schon früh zurück. Ich dachte, du wolltest den ganzen Tag bei der alten Ella im Wald bleiben.«

»Es war wohl besser, dass ich nicht geblieben bin«, sagte Margit leise.

Toni runzelte die Stirn.

»Was willst damit sagen? Bist nicht willkommen gewesen? Des würde mich aber sehr wundern. Also, gestern, als ich Ella bei meinen Eltern traf, hat sie mir gesagt, dass sie sich auf deinen Besuch freut.«

»Sicher hat sie sich gefreut. Aber es war schon besser, dass ich sie dann doch bald in Ruhe gelassen habe.«

»Also, ich verstehe nix, Margit. Was war denn los?«

Toni schob einen Stuhl etwas vom Tisch und sagte:

»Komm, setz dich her, Margit! Trinke einen Kaffee mit uns!«

Margit zögerte einen Augenblick. Dann setzte sie sich. Anna holte noch einen großen Becher und schenkte ihr ein.

»Also, was ist mit der Ella und dir? Mei, Margit, ich kann dir des an der Nasenspitze ansehen, dass du traurig bist.«

Margit rührte ihren Kaffee um und trank einen Schluck.

»Es ist nichts zwischen mir und der Ella. Dass sie herzensgut ist, das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ach, es geht mir eben besonders nahe, wenn man so einen lieben alten Menschen, der niemandem etwas tut – eher im Gegenteil … Wenn man so mit einem alten Menschen umgeht, dann trifft mich des! Es war schlimm anzusehen, wie sie mit den Tränen kämpfte.«

Toni, Anna und Alois warfen sich fragende Blicke zu.

»Die Ella war den Tränen nah? Ja, mei, hat sie dir den Grund genannt?«

Margit nickte.

»Sie hat zwar nur Andeutungen gemacht, sie kennt mich ja nicht. Aber es hat sie tief getroffen, dass ihr der Zutritt zu den Wiesen untersagt wurde. Mehr weiß ich nicht.«

»Zu welchen Wiesen? Wer hat ihr den Zutritt versagt?«

Auf Tonis Stirn stand eine steile Falte.

»Anna, kannst du dir darauf einen Reim machen oder du, Alois?«

Anna zuckte mit den Schultern. Sie schaute Alois fragend an.

»Mei, Toni, darauf kann ich mir auch keinen Reim machen. Die Ella sammelte ihre Kräuter überall im Wald und auf den Wiesen. Niemand hatte etwas dagegen. Des war schon immer so, Toni. Des weißt du auch. Hat sie dir nicht gesagt, auf welchen Wiesen sie keine Kräuter mehr pflücken darf, Margit?«, fragte Alois.

»Nein! Sie war traurig und verschlossen. Wie ich schon sagte, sie kämpfte mit den Tränen.«

»Anna! Alois! Da muss etwas geschehen«, sagte Toni energisch. »Des können wir net einfach so hinnehmen. Na, na! Da würden wir uns ja zu Mittätern machen. Wir würden der guten alten Ella in den Rücken fallen. Na, da muss sofort etwas geschehen.«

»Toni, da stimme ich dir zu«, sagte Anna. »Wir müssen herausfinden, wer der guten Ella so übel mitspielt!«

Toni stand auf. Er stemmte die Arme in die Seite.

»Wer kann des nur sein? Also, eines verspreche ich hier! Ich schwöre euch, dass der Mistkerl sich warm anziehen muss, des gebe ich euch gern schriftlich.«

»Toni, ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich einer der Bauern ihr den Zutritt zu seinen Wiesen verwehrt. Was ist schon dabei, wenn sie einige Kräuter pflückt? Außerdem hat jeder in Waldkogel den Nutzen von Ella Waldners Tinkturen und Tees und ihrem Kräuterbalsam. Jeder würde es schmerzlich zu spüren bekommen, wenn sie ihre Sachen nicht mehr herstellen könnte. Also, ich kann mir darauf keinen Reim machen. Es kann nur ein Fremder sein.«

Toni dachte einen Augenblick nach.

»Es gibt aber in Waldkogel keine Fremden, die Wiesen besitzen. Alle Wiesen sind in Privatbesitz oder gehören der Gemeinde.«

»Vielleicht solltest du mal mit dem Fellbacher reden, Toni«, schlug Anna vor.

Toni schüttelte den Kopf.

»Des kann ich mir schenken, Anna. Der Fellbacher hat bestimmt nix dagegen, dass sich die Ella ein paar Kräuter von den Gemeindewiesen holt. Na, na! Ich muss schon direkt mit der Ella reden. Sie muss mir sagen, wer ihr so zusetzt.«

Toni wandte sich wieder an Margit.

»Hat die Ella eine Andeutung gemacht, wann des geschehen ist?«

»Nein, das hat sie nicht! Aber ich vermute, es kann noch nicht lange her sein. Sie sagte nur, dass sie es sehr getroffen hat und sie erst einmal darüber schlafen will.«

»Aha«, bemerkte Toni. »Dann könnte des sogar heute gewesen sein.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Anna, ich gehe sofort zu ihr. Bist damit einverstanden?«

»Sicher! Es ist ja sehr ruhig heute! Und bei dem kühlen Wetter wird es auch so bleiben. Nimm eine leere Flasche aus der Abstellkammer mit. Kannst ja so tun, als wolltest du neue Kräutertinktur bei ihr holen.«

»Des ist ein gute Idee! Dann mache ich mich gleich auf den Weg.«

Toni zog seine Lodenjacke über und setzte den Hut mit dem Gamsbart auf. Im Rucksack trug er einige leere Gefäße und einen Hefezopf, den Anna gebacken hatte, ein Geschenk für Ella.

*

Toni fuhr zuerst durch die Felder, dann den Waldweg entlang. Er parkte seinen Geländewagen auf einer Lichtung und schlug den schmalen Waldpfad ein, der zu Ella Waldners Kate führte.

Ella werkelte im Garten.

»Grüß Gott, Ella! Was für einen schönen Garten du hast. Bist am Hacken?«

»Grüß Gott, Toni! Des ist ja eine Überraschung! Ja, nach dem Regen ist die Erde schön weich. Da lässt es sich gut im Garten arbeiten. Was führt dich zu mir? Suchst die Margit?«

»Hat dich des Madl schon besucht?«

»Ja, des Madl war heute Morgen bei mir! Aber mir ging es net so gut. Ich glaub’, des hat des Madl bemerkt. Deshalb ist es bald wieder gegangen. Des ist mir ein bissel peinlich.«

»Bist krank, Ella?«, fragte Toni.

»Ich? Ich soll krank sein?«, lachte die alte Ella.

»Na, krank bin ich net! Ich war nur traurig, weil …, ach, lassen wir des, Toni! Wenn du die Maja net suchst, was führt dich zu mir?«

Ella legte ihre Hacke zur Seite. Sie gingen zusammen zum Haus. Toni ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten. Er packte aus.

»Hier ist ein frischer Hefezopf, den soll ich dir von der Anna geben und dir viele schöne, liebe Grüße sagen.«

»Mei, des ist aber lieb von der Anna! Deswegen bist extra gekommen? So einen weiten Weg hast auf dich genommen!«

Toni stellte drei leere Glasflaschen auf den Tisch.

»Wir brauchen dringend Kräutertinktur. Wir haben viele Hüttengäste in letzter Zeit, die neu in den Bergen sind. Blutige Anfänger sind des, denen drücken die Schuhe, und sie haben Blasen. Sie haben Sonnenbrand, weil sie sich auf der Terrasse der Berghütte ungeschützt in die Sonne legen. Die lassen sich nix sagen, und am Abend sind sie rot wie Krebse. Dann müssen die Anna und ich sie verarzten.«

»Ja, ja! Die müssen ihre Erfahrungen mit den Bergen erst noch machen«, schmunzelte Ella.

»Genau! Aber deswegen haben wir viel von deiner Kräutertinktur gebraucht. Jetzt hat Anna nur noch einen kleinen Rest. Da dachte ich mir, ich komme vorbei und holte einige Flaschen.«

Die alte Ella Waldner schaute Toni ernst in die Augen.

»Toni, ich kann dir nur zwei kleine oder eine große Flasche geben. Ich hab’ nimmer viel davon.«

»Damit wäre uns aber schon geholfen. Wenn du wieder neue Kräutertinktur fertig hast, dann kannst meiner Mutter einige Flaschen hinstellen. Die nehme ich dann mit

hinauf auf die Berghütte.«

Ella Waldner schüttelte den Kopf.

»Was ist?«, fragte Toni unschuldig, als wüsste er nichts. »Warum schüttelst du den Kopf?«

»Ich weiß net, wann ich wieder Kräutertinktur mache. Vielleicht mache ich überhaupt keine mehr.«

Toni gab sich überrascht.

»Du machst Witze, Ella? Des hört sich so an, als wolltest du dich zur Ruhe setzen.«

»Ich? Ich mich zur Ruhe setzen? Na, des net, Toni!«

»Aber einen Grund musst du doch haben, oder?«

»Sicher«, sagte Ella Waldner leise und schaute Toni dabei nicht an.

Ella ließ Toni stehen und ging

hinein. Nach einer Weile kam sie mit einem Tablett heraus.

»Setz dich, Toni! Musst net stehen! Trinkst einen Tee mit mir?«

»Vielen Dank! Des mache ich gerne!«

Ella deckte den Tisch und schenkte Toni Tee ein. Sie schnitt den Hefezopf an und gab Toni ein Stück auf seinen Teller. Sie aßen.

Toni wartete eine Weile, dann fragte er vorsichtig:

»Ella, warum ist des zukünftig ungewiss mit der Kräutertinktur?«

»Toni, für die Tinktur brauche ich ganz bestimmte Pflanzen. Bis jetzt hatte ich auch immer genug davon. Aber das hat sich jetzt geändert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich später einmal wieder Kräutertinktur herstelle. Aber zuerst muss ich wieder eine neue Quelle für diese bestimmten Pflanzen finden. Das kann dauern, verstehst?«

»Na, Ella! Ich verstehe nix! Vielleicht liegt es daran, dass ich von der ganzen Kräutersache nix verstehe, aber hier irgendwo müssen sie doch zu finden sein, oder musst du dafür jetzt bis zum ›Höllentor‹?«

Ella Waldner trank einen Schluck Tee und aß einen Bissen vom Hefezopf.

»Weißt, Toni, es stimmt schon, was wir hier seit altersher glauben. Wenn eine schwarze Wolke über dem Gipfel vom ›Höllentor‹ steht, dann geschieht ein Unglück, weil der Satan aus der Hölle rausgekommen ist. Aber mir hat er schon lange keine Angst mehr machen können. Ich beachte den Teufel net. Er wird sich schön ärgern, denke ich mir, dass ich mich net fürchte.«

Ella Waldner schmunzelte.

»Ja, ja! Wütend wird er sein, denke ich mir. Aber ich beachte ihn weiter net. Ich gebe ja zu, dass er mich grade etwas ärgert. Ja, so ist das, Toni. Ich fechte im Augenblick einen Kampf mit ihm aus. Und ich gebe zu, dass er mir im Augenblick das Leben schwer zu machen versucht. Ich sage nur ›versucht‹, Toni. Die Genugtuung, dass er es mir schwer macht, die gebe ich ihm net. Getroffen hat es mich im ersten Augenblick schon. Aber jetzt bin ich fast schon drüber weg. Weißt, Toni, Gartenarbeit hilft. Heute Morgen war ich richtig geknickt. Aber dann hab’ ich meine Blumen gegossen, die Kräuter gepflegt. Ich habe ein bissel gehackt und die Beete gerecht, dann ging es mir schon wieder besser. Na, hab’ ich bei mir gedacht, du kriegst mich net unter!«

Ella schmunzelte.

»Sicher werde ich ein bissel mehr Arbeit haben, sicherlich werde ich weiter laufen müssen. Suchen werde ich müssen. Aber ich hab’ mich schon an die lieben Engel auf dem ›Engelssteig‹ gewandt. Ich hab’ zu ihnen gesagt, weil sie doch von dort oben so eine gute Sicht über unsere schönen Berge und unser Tal haben, sollen sie mal schauen, wo noch so Kräuter wachsen, die ich für meine Kräutertinktur brauche. Ich habe sie gebeten, dass sie oben im Himmel ein gutes Wort für mich und alle Waldkogler einlegen. Mei, ein jeder hier in Waldkogel braucht meine Kräutertinktur. Also hab’ ich mir gedacht, soll der Himmel mich die Kräuter bald finden lassen. Heute noch net. Heute gehe ich noch net suchen. Damit fange ich morgen an.«

Toni aß den letzten Bissen des Kuchens und trank einen Schluck Tee.

»Hast schon eine Idee, wo du suchen willst, Ella?«

»Na, noch net so genau! Ich werde am Bach entlanggehen. Die Kräuter, die ich für die Tinktur brauche, die wachsen nur an Stellen, wo es sehr feucht ist.«

»Und warum suchst du net auf den Feuchtwiesen, hinten am Bergsee?«

»Schmarrn! Deswegen hab’ ich doch jetzt die Sucherei. Da gehe ich nimmer hin!«

»Warum? Wachsen die Kräuter dort net?«

»Und wie die dort wachsen, ganz wunderbar wachsen die Kräuter dort! Dort habe ich sie bisher immer geholt.«

»Aha! Und warum willst des jetzt nimmer machen?«

»Ich darf da nimmer hin!«

»Des verstehe ich net, Ella. Wie meinst des?«

Ella Waldner seufzte leise. Sie trank einen Schluck Tee und seufzte noch einmal.

»Also gut, Toni! Dann muss ich dir wohl die ganze Geschichte erzählen. Eher gibst ja doch keine Ruhe!«

Toni schmunzelte.

»Also, Toni, des war so! Heute Nacht hat es geregnet. Ich dachte, des ist gut, dann hole ich mir bei Sonnenaufgang die frischen Kräuter. Ich bin also zu den Feuchtwiesen. Ich hatte meinen Korb dabei und meine kleine Handsense. Ich hatte meinen Tragekorb schon halb voll mit Kräutern, als sie kamen und mich verjagten.«

»Wer? Wer kam und hat dich verjagt?«, fragte Toni.

»Himmel, Toni, wenn ich das

wüsst’! Aber sie scheinen etwas zu sagen zu haben. Sie kamen in zwei großen Autos. Es waren ein Dutzend Männer in Arbeitskleidung und mit Bauhelmen. Die Bauhelme waren weiß und rot. Sie sind über die Wiesen gegangen und haben die Markierungen gesucht.«

Ella Waldner schenkte sich und Toni noch einmal Tee ein. Sorgfältig stülpte sie die mit Kreuzstichen bestickte Warmhaltehaube wieder über die Teekanne. Dann erzählte Ella weiter:

»Sie waren schon öfter da! Sie haben die Feuchtwiesen wohl vermessen oder so. Jedenfalls stecken Markierungen aus Plastik im Boden. Des war vor einigen Monaten. Jetzt waren sie heute Morgen schon ganz früh gekommen, und sie haben mich fortgejagt. Des wäre Privatgrund, ich hätte da nix zu suchen. Schlimm sind die gewesen. Der eine hat mit Paragraphen um sich geworfen. Ich hab’ des alles net verstanden, Toni. Ich verstehe nix von dem Juristenzeugs. Jedenfalls hat der eine, der Vorarbeiter, meinen Korb mit den Kräutern einfach ausgekippt. Die würden dem Eigentümer gehören. Ich wollte mich wohl doch net des Diebstahls strafbar machen? Er sagte, des nächste Mal würde er mich anzeigen.«

»So ein Saukerl!«, brüllte Toni.

Ella Waldner nickte.

»Ein Saukerl war er schon. Du hättest mal hören müssen, wie der mit mir geredet hat! Angebrüllt hat er mich, als wäre ich eine Verbrecherin. Richtig bedroht hat er mich. Mei, Toni, mir haben die Beine gezittert. In meinem ganzen Leben hat mich noch niemals jemand so angefahren. Ich dachte, ich bekomme einen Herzschlag und falle um. Da bin ich heim, mit letzter Kraft, sage ich dir.«

Ella Waldner seufzte tief. Toni sah, dass sie mit der Fassung kämpfte.

»Toni, seit ich denken kann, hole ich dort die Kräuter. Niemand hatte jemals etwas dagegen. Auf den Feuchtwiesen, da weiden net einmal Kühe.«

»Ich weiß«, sagte Toni leise.

In seinem Kopf arbeitete es. Fragen über Fragen schossen ihm durch den Kopf.

Was waren das für Männer? Was bedeuteten die Markierungen? Wa­rum waren sie so grob gegen Ella Waldner vorgegangen?

Ella Waldner seufzte erneut. Sie nahm ihr Taschentuch, rieb sich die Augen und schnäuzte sich.

»Deshalb muss ich mir jetzt andere Plätze suchen, an denen ich die Kräuter finde. Aber so gut wie dort wird es nimmer sein. Da bin ich mir sicher.«

»Mei, Ella, darauf kann ich mir keinen Reim machen. Ich bin richtig geschockt! Wer kann des nur gewesen sein?«

Ella Waldner zuckte mit den Schultern.

»Des kann ich dir net sagen, Toni! Des waren keine Leut’ aus Waldkogel. Und aus Kirchwalden kann der Vorabeiter auch net gewesen sein, denke ich mir. Er sprach net ein bissel Dialekt, verstehst?«

»Da geht etwas vor, Ella!«

»Ja, Toni! Da geht etwas vor. Da muss gewaltig was vorgehen, dass der Kerl sich so aufgeregt hat. Er hat getan, als hätte ich Gold geschürft, verstehst? Der hat sich fast überschlagen. Mei, was war ich fertig. Ich wuss­te überhaupt net, was ich sagen sollte. Ich habe einfach geschwiegen und bin davon. In der Eile hab’ ich sogar meinen Korb vergessen. Ich hab’ es richtig mit der Angst bekommen. Geschrien hat er. Richtig gebrüllt hat er. Die Arme hat er hochgerissen, und getobt hat er. Ich dachte, er haut mir gleich eine über den Schädel. So etwas war mir mein Lebtag noch nicht geschehen. Toni, mir haben die Knie gezittert. Des kannst mir glauben.«

»Ah, deshalb meinst, dass der gewisse Bewohner vom ›Höllentor‹ dahintersteckt?«

»Genau, Toni! Aber ich spiele des Spiel net mit! Ich werde weiterhin meine Kräuter sammeln, auch wenn ich jetzt weiter gehen muss. Und die Engel vom ›Engelssteig‹, die werden mir beistehen. Da bin ich mir sicher, Toni. Denkst net auch, dass sie mir beistehen?«

»Das werden sie bestimmt, Ella!«

Toni trank einen Schluck Tee. Er überlegte kurz.

»Ella, die Engel vom ›Engelssteig‹, die haben dir schon beigestanden, denke ich mir. Ich muss dir nämlich etwas gestehen.«

»So? Was denn?«

»Die Margit, die ist schon oben auf der Berghütte. Des Madl war ziemlich verstört. Margit hatte bemerkt, wie durcheinander du gewesen bist.«

»Ja, des war ich! Ich war ziemlich fertig, Toni!«

»Ja, das hat die Margit erzählt. Deshalb dachte ich mir, ich schaue nach dir. Und Kräutertinktur musst du mir keine mitgeben. Des was wir noch haben, des wird noch eine Weile reichen, wenn wir sparsam sind.«

»Bist ein bissel ein raffinierter Hund, Toni!«, schmunzelte sie.

»Was hätte ich sonst machen sollen, Ella! Du bist doch kein Mensch, der klagt. Du, ich kenne dich! Aber du bist net alleine. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.«

»Wer ist wir?«

»Na, wir! Ich frage mich, was die Fremden dort zu suchen haben? Und wenn ich mich des frage, dann fragen sich des andere Leut’ in Waldkogel auch, verstehst? Ich werde schon dafür sorgen, dass sich des rumsprechen tut, wie die Banausen mit dir umgesprungen sind, diese depperten Hornochsen!«

»Toni, ja! Ja, ich verstehe dich! Ich will aber net, dass du daraus eine große Sache machst. Ich will die net verärgern. Ich lebe hier alleine im Wald und will keine Feinde, ver­stehst?«

Ella Waldner blickte Toni ernst an.

»Ich verstehe dich, Ella! Aber von ›wollen‹ kann keine Rede sein, du hast schon deine Feinde! Und deshalb werden wir dir helfen!«

Toni lächelte Ella an.

»Mache dir keine Sorgen, ich werde ganz diskret vorgehen. Kannst dich auf mich verlassen!«

»Was willst machen, Toni?«

»Nun, ich will herausfinden, was des für sonderbare Markierungen sind. Und was die Männer dort zu suchen haben. Bis ich des herausgefunden habe, bleibst den Wiesen schön fern, Ella!«

»Ich muss aber noch einmal hin und meinen Tragekorb holen!«

Toni schüttelte den Kopf und stand auf.

»Na, Ella, des tust net! Das mache ich für dich! Ich gehe jetzt gleich und hole dir deinen Korb!«

Ella Waldner wollte etwas einwenden. Aber Toni ließ sie nicht zu Wort kommen. Er stand auf, trank noch seine Tasse aus und ging dann davon. Ella sah ihm nach. Er ist ein guter Bursche, dachte sie und lächelte still vor sich hin. Ja, ja, die Engel haben mir den Toni geschickt, dachte sie.

Toni wanderte quer durch den Wald in Richtung Bergsee. Die Sonne stand schon tief, als er dort ankam. Der Wind kräuselte die Wasseroberfläche. Die kleinen Wellen leuchteten rotgolden im Abendsonnenschein. Toni ging am Ufer entlang, bis er zu den Feuchtwiesen kam. Die Radspuren waren im weichen Wiesenboden gut zu sehen. Toni blickte über die große Fläche mit dem hohen Gras. Dann folgte er den Trampelpfaden und kam zu den Markierungen. Es waren runde Plas­tikkappen auf einem langen Dorn, der in die Erde getrieben worden war. Toni zog einen heraus und betrachtete ihn genauer. Er konnte sich darauf keinen Reim machen und steckte ihn zurück.

Dann ging er weiter, bis er Ellas Tragekorb gefunden hatte. Er lag mitten auf der Wiese. Daneben erkannte Toni deutlich den Haufen mit Kräutern, die der Mann ausgeleert hatte. Toni raffte die Kräuter zusammen, die schon etwas welk waren, und legte sie in den Korb zurück. Dann zückte er sein Taschenmesser und schnitt weitere Kräuter ab. Erst als der Tragekorb ganz voll war, hob er ihn auf den Rücken.

Toni wanderte quer durch den Wald zurück zu Ellas Kate. Ella saß vor ihrem Haus und wartete.

»So, hier bin ich wieder, Ella!«

Toni hob den Korb vom Rücken.

»Ich hab’ dir noch einige Kräuter geschnitten. Ich habe diejenigen, die dort auf dem Haufen lagen, unten im Korb. Ich hab’ mir sie genau angesehen und danach frische Kräuter oben aufgehäuft. Ich hoffe, ich habe die richtigen gepflückt!«

Ella Waldner warf einen Blick da­rauf. Dann streichelte sie mit ihrer rauen Hand Tonis Wange.

»Bist ein guter Bub, Toni«, sagte sie leise. »Der Herrgott schütze dich!«

»Wo soll ich den Korb hinstellen?«

»Lass, des mache ich schon! Ich werde gleich mit der Verarbeitung beginnen. Da kannst du mir net dabei helfen. Außerdem wird es bald dunkel. Du musst gehen. Deine Anna wird sich Sorgen machen, wenn du nicht kommst.«

»Ich werde sie von unterwegs aus anrufen, Ella. Zum Glück leben wir im Zeitalter des Handys. Auch wenn die Dinger schon mal nervig sind. Aber für uns auf der Berghütte, wo es keinen Strom und kein Telefon gibt, sind sie doch recht nützlich. Aber hast schon recht. Ich gehe jetzt. Und du, du tust dich von den Feuchtwiesen am Bergsee fernhalten, bis wir herausgefunden haben, wer diese Saukerle sind.«

»Das mache ich, Toni! Nochmals ein herzliches Vergelt’s Gott!«

»Dir auch ein Vergelt’s Gott, Ella, für deine guten und so heilsamen Kräuterprodukte. Pfüat di! Sobald ich etwas weiß, komme ich her!«

»Gut, Toni! So machen wir es!

Und sage der Anna, ihr Hefezopf schmeckt wunderbar!«

»Das werde ich! Da wird sie sich freuen.«

Toni zog den Rucksack auf. Er war etwas schwerer. Toni lächelte.

»Da hast etwas reingetan, Ella, wie?«

»Ja! Jetzt gehst aber, Toni! Pfüat di!«

»Pfüat di, Ella!«

Toni ging davon. Bevor er in den dichten Wald trat, drehte er sich noch einmal um und winkte Ella Waldner zu. Ella schwenkte ein weißes Taschentuch und winkte ihm ebenfalls.

*

Toni eilte mit großen Schritten den Waldpfad entlang zu seinem Auto. Er wendete und fuhr zurück zur Ortsmitte. Er hielt auf dem Marktplatz an. Bevor er ausstieg, rief er übers Handy Anna auf der Berghütte an. Mit kurzen Worten erzählte er ihr, was er von Ella erfahren hatte.

»Was willst du jetzt machen, Toni?«, fragte Anna.

»Erstens will ich herausfinden, wem die Feuchtwiesen am Bergsee gehören. Deshalb will ich mit dem Fellbacher reden. Es schaut aber nimmer so aus, als sei er noch im Rathaus. Alle Fenster sind verschlossen. Na ja, es ist ja auch schon spät. Fell­bacher ist oft noch abends im Rathaus, aber heute wohl nicht.«

»Dann besuche ihn daheim!«, schlug Anna vor.

»Na, Anna! Des ist zu auffällig!«

Toni überlegte einen Augenblick. Dann hatte er einen Einfall. Er wollte Pfarrer Zandler aufsuchen. Zandler war Mitglied des Gemeinderats von Waldkogel und musste ohnehin davon erfahren. Toni beredete es kurz mit Anna. Sie fand auch, dass es eine gute Idee war und wünschte ihm viel Glück.

»Sag den Kindern Gute Nacht von mir, Anna!«

»Das werde ich, Toni! Und du sei vorsichtig, wenn du später in der Dunkelheit raufkommst. Nach dem vielen Regen ist der Pfad glitschig. Oder du schläfst bei deinen Eltern?«

»Schmarrn! Ich schlafe im Bett neben dir! Da hält mich auch kein glitschiger Bergpfad davon ab. Mache dir keine Sorgen! Ich bin vorsichtig. Aber es kann spät werden, bis ich komme. Musst nicht aufbleiben, Anna!«

»Das musst du schon mir überlassen!«

Sie lachten beide und beendeten das Gespräch.

Helene Träutlein öffnete Toni die Tür. Er grüßte sie kurz.

»Ich muss dringend den Herrn Pfarrer sprechen! Ist er daheim?«

»Er ist in seinem Studierzimmer und …«

»Danke, ich kenne den Weg!«, unterbrach sie Toni und stürmte an ihr vorbei.

Die Tür war nur angelehnt. Toni drückte sie auf.

»Grüß Gott! Die Ella Waldner ist bedroht worden! Wem gehören die Feuchtwiesen hinten am Bergsee?«

Pfarrer Zandler ließ das Brevier sinken, in das er sich vertieft hatte. Er kam nicht dazu, Toni zu grüßen, denn der ließ sich nicht unterbrechen und erzählte ohne Punkt und Komma, was er wusste.

Pfarrer Zandler überlegte einen Augenblick. Dann sagte er:

»Wem die Feuchtwiesen gehören, das kann nur der Fellbacher wissen oder er muss im Grundbuch nachsehen. Aber mir fällt dazu etwas ein. Ich habe ein gutes Gedächtnis und bin ja fast schon so lange im Gemeinderat, wie ich Pfarrer in Waldkogel bin. Da war einmal etwas mit den Feuchtwiesen am Bergsee. Des ist schon viele Jahre her. Das war noch, bevor die Gemeinde das Neubaugebiet ausgewiesen hat auf der anderen Seite von Waldkogel, in Richtung Marktwasen. Des war zu der Zeit, als die Gebietsreform durchgeführt wurde. Damals wurde im Gemeinderat auch mal darüber diskutiert, was wäre, wenn noch mehr Neubauflächen gebraucht würden. Dabei wurde auch über die Feuchtwiesen geredet. Aber die Erschließung wäre zu teuer geworden. Also hat man es gelassen. Außerdem hätte ein Neubaugebiet dort die ganze schöne Landschaft um den Bergsee verschandelt. Aber der Fritz weiß bestimmt mehr.«

Pfarrer Zandler griff zum Telefon und rief den Bürgermeister daheim an.

»Fritz, da ist eine Schweinerei im Gang. Wem gehören die Feuchtwiesen?«

»Mei, Heiner, was nimmst du für ein schweinisches Wort in den Mund«, lachte der Bürgermeister. »Da muss dich ja etwas ganz schön geärgert haben.«

»Wem gehören die Feuchtwiesen hinten am Bergsee? Du, es ist ernst, die Ella Waldner hat dort Kräuter gesammelt und wurde bedroht!«

»Himmel, des ist wirklich eine Schweinerei, Heiner. Die Feuchtwiesen haben früher einmal dem Moosbauer gehört, dann sind sie verkauft worden. Die haben in den letzten Jahren öfters den Besitzer gewechselt. Deppen, die so etwas kaufen, gibt es wohl immer wieder, die träumen von Renditen und sind dann froh, wenn sie den Grund wieder los sind.«

Pfarrer Zandler erinnerte den Bürgermeister an die damalige Diskus­sion im Gemeinderat über die Wiesen und berichtete, was Toni ihm erzählt hatte.

»Da muss sofort etwas unternommen werden!

Wir treffen uns in ein paar Minuten im Rathaus!«

Der Bürgermeister legte auf.

Toni und Pfarrer Zandler gingen hinüber zum Rathaus. Es dauerte nicht lange, dann kam der Bürgermeister. Kurz drauf steckten die drei Männer die Köpfe über dem Grundbuch der Gemeinde Waldkogel zusammen.

»Die Feuchtwiesen sind öfter verkauft worden, als ein Senn ein Hemd wechselt!«, sinnierte der Bürgermeister. »Da ist sicherlich eine mordsmäßige Schweinerei im Gange. Des denke ich mir auch. Aber da spielt die Gemeinde Waldkogel nicht mit. Da werden wir sofort etwas unternehmen.«

Bürgermeister Fellbacher machte Kopien aus dem Grundbuch mit den Eintragungen über die Entwicklung der Besitzverhältnisse und kopierte und vergrößerte den Teil der Gemarkungskarte.

»So, jetzt geht es los«, sagte der Bürgermeister.

Zuerst rief er Albert Weisgerber an. Der Sägewerkbesitzer war auch Mitglied im Gemeinderat. Sein Sägewerk lag in unmittelbarer Nähe des Bergsees. Dann rief er auf dem Waldschlösschen an. Graf Tassilo von Teufen-Thurmann war selbst am Telefon. Fellbacher erklärte kurz den Grund seines Anrufes und seinen Plan.

»Also, da ist eine Schweinerei in Gange, ganz bei dir in der Nähe, Tassilo! Da könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Der Weißgerber hat seine Hilfe auch schon zugesagt und kommt mit seinen Leut’.«

Der alte Graf, dessen Vorfahren seit vielen Generationen in Waldkogel beheimatet waren, bot sofort seine Hilfe an.

»Tassilo, ich bin mit dem Zandler im Rathaus, und der Baumberger Toni ist auch hier. Wir treffen uns jetzt gleich mit dem Weisgerber Albert bei den Feuchtwiesen hinten am Bergsee. Kannst auch hinkommen?«

»Sicher kann ich kommen! Doch was willst du mitten in der Nacht dort?«

»Das wirst dann schon sehen. Bringe einige starke Lampen mit, wenn du welche hast! Wir fahren jetzt gleich los!«

Bürgermeister Fellbacher verabschiedete seinen Gesprächspartner schnell und legte auf. Er rieb sich die Hände und wandte sich Pfarrer Zandler und Toni zu.

»Also, ich habe folgenden Plan. Des Grundstück vom Tassilo grenzt an den Bergsee. Des Sägewerk vom Weisgerber ist net weit davon entfernt. Die beiden sind näher dran. Es ist net auffällig, wenn die da ein bissel spionieren. Sie sind ja eigentlich vor Ort, versteht ihr?«

»Aber was willst jetzt mitten in der Dunkelheit auf den Feuchtwiesen, Fellbacher?«, fragte Toni.

»Ich will mir die Markierungen genau ansehen und hier auf dem Plan eintragen. Vielleicht gibt die Art und Weise der Anordnung einen Sinn!«

Bürgermeister Fellbacher griff nach den Kopien der Gemarkungskarten. Dann gingen die Männer zu Tonis Geländewagen und fuhren los.

Bei den Feuchtwiesen wartete schon Albert Weisgerber. Er hatte die ganze Spätschicht seines Sägewerkes mitgebracht, das waren zehn Männer. Graf Tassilo von Teufen-Thurmann kam mit seinem Adoptivsohn.

Bürgermeister Fellbacher erklärte allen, was er vorhatte. Er wollte alle Markierungen finden und in den Gemarkungsplan einzeichnen. Fellbacher hatte die Hoffnung, dass man daraus etwas erkennen konnte.

Die nächsten Stunden gingen die Männer in Reihen die Feuchtwiesen ab und trugen jede Markierung ein. Bald stellte sich ein Muster heraus. Aber darauf konnte sich keiner von ihnen einen Reim machen.

»Leut’, ich danke euch«, sagte Fritz Fellbacher. »Und wie ich euch gesagt habe, sprecht niemanden an, beobachtet nur aus der Ferne. Vielleicht könnt ihr euch die Autonummern merken und aufschreiben. Aber das Wichtigste ist, dass ihr net drüber redet. Es darf net zum Getratsche im Dorf kommen. Also zu niemandem ein Wort. Erst müssen wir herausfinden, was hier los ist. Die Burschen sollen net gewarnt werden. Ist des klar?«

Sie waren sich alle einig. Weisgerber ging mit seinen Männern zurück zum Sägewerk und Tassilo mit seinem Sohn zum Schloss.

Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fellbacher fuhren mit Toni zurück ins Dorf. Toni bat um eine Kopie des Gemarkungsplanes mit den eingetragenen Markierungen. Bürgermeister Fellbacher machte im Rathaus schnell eine Kopie für ihn.

Dann fuhr Toni hinauf auf die Oberländer Alm und eilte den Bergpfad hinauf zur Berghütte.

Anna und Margit waren noch wach, als Toni kam. Sie saßen am Kamin und warteten.

»Da bist du ja, Toni!«

Anna ging auf Toni zu und gähnte. Toni nahm sie in den Arm und küsste sie.

»Es ist leider viel später geworden. Fellbacher hat den Grafen und den Weisgerber zusammengetrommelt. Wir sind die Feuchtwiesen abgegangen und haben nach den Markierungen gesucht.«

»Welche Markierungen?«, fragte Anna.

Toni reichte ihr die Kopie.

»Ich trinke noch einen Kaffee. Wollt ihr auch einen?«, fragte Toni.

Margit und Anna stimmten zu. Toni holte drei Becher Kaffee. Dann saßen sie am Kamin. Sie legten neues Holz auf, und Toni erzählte.

Anna und Margit waren erschüttert, als sie hörten, wie unverschämt die Männer auf den Feuchtwiesen die alte Ella Waldner behandelt hatten.

»Also, da ist etwas im Gange. Das steht fest! Aber was da vor sich geht, darauf kann sich niemand einen Reim machen«, sagte Toni.

Margit besah sich den Gemarkungsplan mit den Markierungen.

»Warte, das haben wir gleich, Toni«, sagte sie leise.

Margit eilte in die Küche der Berghütte und holte einen Bleistift. Sie legte den Plan auf einen der Tische und zeichnete dünne Linien zwischen den einzelnen Markierungspunkten ein. Toni stand mit Anna im Arm dabei.

»Was denkst, Margit?«

»Das sieht mir nach einer Fischanlage aus! Vielleicht will hier jemand eine Forellenzucht aufziehen oder etwas Ähnliches. Grundwasser ist genug da. Sauber ist das Wasser auch. Hier, das könnten die Weiher sein und hier diese Linien, die könnten für Gebäude stehen.«

Toni schaute Margit an. Er war überrascht.

»Mei, des gibt einen Sinn«, sagte Toni leise. »Aber die Gebäude sind klein.«

Er fuhr mit dem Finger die Linien nach.

»Braucht man dafür keine Genehmigung?«

Toni stellte die Frage in den Raum. Anna zuckte mit den Schultern.

»Das wäre zu prüfen, Toni«, sagte Margit.

Anna gähnte. Sie umschlang Toni mit ihren Armen.

»Toni, morgen ist auch noch ein Tag! Und die Nacht ist kurz!«

»Ja, Anna! Lass uns schlafen gehen!«

Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen zu Bett.

*

Toni, Anna und Margit verschliefen am nächsten Morgen. Der alte Alois hatte die Regie in der Berghütte übernommen. Er strahlte, als Anna und Toni verschlafen in die Küche der Berghütte kamen.

»Mei, Alois, wir haben so fest geschlafen und nix gehört. Warum hast uns nicht geweckt?«

»Des fragst noch, Toni?«, lachte Alois. »Muss ich dir darauf eine Antwort geben?«

»Na, des musst du nicht!« Toni grinste. »Dann danke ich dir nur schön.«

»Schmarrn! Ich hab’ zu danken! Mei, war des schön, mal wieder Hüttenwirt zu sein!«

Der alte Alois, von dem Toni und Anna die Berghütte übernommen hatten, strahlte über das ganze Gesicht.

»Ja, schön war es, Toni! Aber jeden Tag möchte ich des nimmer machen.«

»So?«, sagte Toni und spielte den Verwunderten.

»Jeden Tag, des ist mir doch ein bissel zu viel, aber Freud’ hat es gemacht. Doch nix zu tun, gefällt mir besser. Mei, hab’ ich es gut, dass ich hier meinen Lebensabend verbringen kann.«

Anna legte dem alten Alois den Arm um die Schultern.

»Wir sind auch froh, dass du bei uns bist!«

»Mei, Madl! Des musst net sagen, Anna! Das weiß ich doch! Ich setze mich jetzt auf die Terrasse und lese die Zeitung.«

»Schlafen die Kinder noch?«, fragte Toni.

»Na, Toni! Die waren schon früh wach. Sie haben sich alleine fertig gemacht und sind runter zur Oberländer Alm. Der Sebastian hat dem Bello die Packtaschen angelegt. Der Hund kam dann später rauf und hat frische Sahne, Milch und Butter gebracht.«

»Mei, Anna, da müssen wir aufpassen, dass wir hier net überflüssig werden«, lachte Toni.

»Ja, der Basti, der entwickelt sich gut, Toni. Der trägt auch schon ein bissel die Leidenschaft in sich, ein guter Hüttenwirt zu sein«, sagte der alte Alois. »Heute Morgen hat er mich sehr an dich erinnert, wie du gewesen bist, als du als kleiner Bub tagelang bei mir auf der Berghütte gewesen bist.«

Toni lächelte glücklich.

»Ich war gern hier, Alois!«

»Das weiß ich! Und du bist mir ans Herz gewachsen, als wärst mein eigner Bub. Des ist bei mir genauso wie bei dir und Basti, auch wenn ich dich net adoptiert habe, Toni. Aber ich habe euch die Berghütte in treue Hände gegeben, wie ich sie gern einem meiner eigenen Buben gegeben hätte.«

Ein Schatten huschte über Alois’ Gesicht. Er seufzte.

»Aber es hat net sollen sein! Es bringt auch nix, wenn ich damit hadere. Ich sage mir immer, meine Buben sind glücklich in ihren Berufen. Damit muss ich mich abfinden, auch wenn es mir schwerfällt.«

Anna streichelte dem alten Alois die Wange.

»Sei net traurig! Vielleicht solltest du dich doch mal mit den beiden aussprechen?«

»Red net davon, Anna«, sagte der alte Alois.

Er wand sich aus Annas Arm und ging hinaus auf die Terrasse.

»Ja, ja!«, stöhnte Toni. »Der Alois und seine Buben, daran soll man net rühren. Ich hoffe nur, dass er es in seinem Leben noch schafft, wirklich Frieden mit ihnen zu machen.«

»Ja, das wünsche ich ihm auch, Toni!«

Anna band sich die Küchenschürze um, und sie gingen an die Arbeit.

Zwei Stunden später läutete Tonis Handy. Es war der Bürgermeister Fellbacher, der ihn anrief. Er war ganz aufgeregt. Er hatte einiges

herausgefunden. Toni ging mit dem Handy am Ohr vor der Berghütte auf und ab und hörte zu.

Anna und Margit, die inzwischen auch aufgestanden waren, beobachteten Toni. Sie versuchten zu erraten, was Bürgermeister Fellbacher Toni sagte. Das war natürlich unmöglich, aber es lag eine Spannung in der Luft. Endlich war Toni mit dem Telefonat zu Ende. Er steckte das Handy in die Hosentasche und ging mit großen Schritten zurück in den Wirtsraum. Hinter dem Tresen schenkte er sich erst einmal einen Obstler ein. Er trank ihn aus.

»So, des stärkt! Mei, des ist ja vielleicht etwas!«

Er sah Anna, Alois und Margit an, die um den Tresen standen.

»Achtung, jetzt hört euch des mal an! Da gibt es eine Holdinggesellschaft, die heißt RS AG. Und die hat Unterfirmen mit verschiedenen Eigentümern. Aber ich denke mir, dass des in Wirklichkeit keine echten Eigentümer sind. Die tun nur so. Die sind nur vorgeschickt. Anna, Alois! Du, Margit, kannst des net wissen! Also, jetzt dürft ihr raten. Für welchen Namen stehen die Buchstaben ›R‹ und ›S‹?«

»Mei, Toni, da muss ich net lange nachdenken! Die Buchstaben können doch nur für Ruppert Schwarzer stehen, stimmt es?«

»Genau, Alois! Du hast es erraten!«

»Mei, schon wieder dieser Ganner! Toni, gib mir auch einen Obstler!«

Toni schenkte Alois und sich selbst ein Glas voll. Sie tranken.

»Alois! Dein Selbstgebrannter ist ein richtiger Rachenputzer«, sagte Toni.

»Ja, des ist er! Ein richtiger Schnaps, der wieder Ordnung schafft im Leib, wenn man es braucht, wie zum Beispiel nach so einer Nachricht! Wie geht es jetzt weiter?«

»Also, eine der Firmen ist mit der Planung von Projekten beschäftigt, wie Supermärkten, Schwimmbädern, Freizeitanlagen …«

»… oder Fischteichen, aus denen man später dann etwas anderes machen kann«, warf Margit ein.

»Genauso ist es! Der Trick ist nämlich, dass niemand verhindern kann, wenn irgendjemand auf seinem Grund Teiche anlegt, weil er ganz vernarrt in Fische ist. Und der Fell­bacher hat herausgefunden, dass die Feuchtwiesen am Bergsee vor mehr als fünfzig Jahren mal eine Umnutzung erfahren hatten, weil der Moosbauer dort damals schon eine Fischzucht machen wollte.«

»Das muss doch irgendwie zu verhindern sein«, sagte Anna.

Toni zuckte mit den Achseln.

»Dieses Schlitzohr von Ruppert Schwarzer, der muss davon gewusst haben.«

»Des hat ihm bestimmt sein Bazi gesteckt. Es ist eben ein Elend für Waldkogel, dass der Franz Huber im Gemeinderat sitzt«, sagte der alte Alois. »Der Huber Franz wird die Sache ausgegraben haben. Der Saukerl hat dem Schwarzer wieder mal als Handlanger gedient wie schon so oft.«

Margit stand dabei und verstand nur wenig, warum sich die drei so aufregten. Toni erklärte es ihr. Nach und nach erfuhr Margit, dass es eine wirkliche Feindschaft zwischen allen Waldkogelern und diesem Ruppert Schwarzer gab. Schwarzer war ein Baulöwe übelster Sorte, der ohne Rücksicht auf die schöne Natur jeden Berghang, jede Wiese, der er sich bemächtigen konnte, mit hässlichen Bettenburgen zumauerte. Auf diese Weise hatten schon viele Dörfer ihren Liebreiz verloren. Jeder in Waldkogel war darauf bedacht, Ruppert Schwarzer hier keinen Fuß an Boden gewinnen zu lassen. Doch der gab nie auf. Ihm war es gelungen, Franz Huber, einen seiner Angestellten, in den Gemeinderat von Waldkogel zu bringen. Franz Huber war die schwarze Spinne im Netz, die Ruppert Schwarzer alles hinterbrachte und ihm jeden Vorteil in die Hände spielte.

Toni erzählte Margit, wie Ruppert Schwarzer damals versucht hatte, die Berghütte zu bekommen.

»Der wollte sie abreißen, Margit. Hier sollte ein großes Hotel hingebaut werden. Er wollte eine breite Straße heraufbauen. Dazu hatte er einen Lift und einen Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach des Hotels vorgesehen.«

»Die schöne Landschaft!«, stöhnte Margit auf.

»Du sagst es, Margit!«

»Und jetzt will er sich über Dritte die Feuchtwiesen sichern und bauen, was er auch immer dort vorhat. Durch die alte Nutzungsänderung, an die niemand mehr gedacht hatte, ist er im Recht.«

»Richtig, Margit, so ist es.«

»Was wollt ihr jetzt machen?«, fragte Margit.

»Einen Plan haben wir noch nicht. Bürgermeister Fellbacher will sich mit Pfarrer Zandler treffen. Sie werden überlegen, was man tun kann. Das Dumme daran ist, dass wir nur die Markierungen gefunden haben. Wir haben keine wirkliche Informa­tion, was dahintersteht. Alles ist nur Vermutung!«

»Das muss sich doch herausfinden lassen, Toni«, warf Margit ein.

»Des sagt sich so leicht! Ich bin mir sicher, dass Ruppert Schwarzer alle geimpft hat, keinem aus Waldkogel etwas zu sagen.«

Margit grinste.

»Ich bin nicht aus Waldkogel«, sagte sie, mit einem verwegenen Lächeln im Gesicht.

»Richtig! Du bist net aus Waldkogel. Ja, würdest du dich denn mal auf den Feuchtwiesen herumtreiben? Vielleicht gelingt es dir ja, mit einem der Männer ein bissel zu flirten, wie man in der Stadt sagt. Ein fesches Madl bist du ja!«

Toni stieg die Röte in die Wangen.

»Margit, ich schäme mich für den Gedanken. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass du einem der Männer, die sich dort herumtreiben, den Kopf ein bissel verdrehen könntest. Und ein schönes Madl hat schon manchem Burschen ein Geheimnis entlockt, denke ich mir. Ich weiß, dass des eine ganz fiese Sache ist. Aber es könnte gehen!«

Margit lachte.

»Toni, mache dir da mal keine Gedanken! Ich bin auf eurer Seite. Ich habe die Tränen in den Augen der alten Ella gesehen. Das hat mich mitten ins Herz getroffen. Das hat mich zu einer Waldkoglerin gemacht. Ich bin dabei! Ihr könnt auf mich zählen!«

»Des ist schön, Margit!«, strahlte Toni.

Die nächste halbe Stunde überlegten Toni, Anna, der alte Alois und Margit, wie man am besten vorgehen konnte. Sie einigten sich, dass Margit zu Tonis Eltern in das Wirtshaus mit der Pension ziehen sollte. Dann wäre sie im Dorf und könnte ausgedehnte Spaziergänge machen, am Bergsee entlang und wenn es notwendig war, Blumen auf den Feuchtwiesen pflü­cken.

Margit packte ihre Sachen. Toni ging mit ihr hinunter zur Oberländer Alm und brachte sie von dort aus mit seinem Geländewagen zu seinen Eltern nach Waldkogel. Dort quartierte sie Tonis Mutter in dem Zimmer unter dem Dach ein, das Anna damals bezogen hatte, als sie von Susanne nach Waldkogel gebracht worden war.

»Danke, Frau Baumberger«, sagte Margit. »Das ist ein schönes Zimmer! So gemütlich!«

»Des freut mich, Madl! Aber sag net Frau Baumberger! Kannst Meta zu mir sagen und mein Mann, des ist der Xaver.«

»Danke, das ist ja fast wie Familie!«, lachte Margit. »Schon auf der Berghütte hatte ich bereits nach wenigen Stunden das Gefühl, ich würde Toni und Anna, den Alois und die Kinder schon immer kennen. Da war ein Funke! Verrückt, nicht wahr?«

Meta Baumberger schmunzelte.

»Na, Madl, des is net sonderbar! Des gibt es schon. Weißt, es gibt zwischen Menschen eine Herzensverbundenheit, die man net so mit dem Verstand erfassen kann. Aber des habe ich schon oft erlebt. Da trifft man Leut’, die eigentlich fremd sind, und dann redet man einige Takte miteinander und hat im Herzen des Gefühl, man würde sich schon ewig kennen. Da soll man dann net lange drüber grübeln, sondern sein Herz einfach öffnen.«

Margit lächelte.

»Ja, das soll man! Und es wird schon alles seinen Sinn haben!«

»Genauso ist es!«

Meta Baumberger ging hinunter. Margit packte ihren Rucksack aus. Sie machte sich frisch.

*

Es war sehr früh am nächsten Morgen, als Margits Wecker sie aus dem Land der Träume holte. Die Uhr zeigte kurz vor vier Uhr in der Frühe. Draußen dämmerte der Morgen. Durch das offene Fenster hörte sie das Zwitschern der Vögel. Für einen Augenblick war Margit ärgerlich auf sich selbst, dass sie sich darauf eingelassen hatte, sich als Spionin zu betätigen. Sie war einfach keine Frühaufsteherin. Margit gehörte eher zu den Eulen, dem Typ Menschen, der eher abends munter wird, dem es nichts ausmacht, spät schlafen zu gehen. Morgens fand sie dafür nur schwer aus dem Bett. Im Urlaub sollte man eigentlich so lange schlafen können, wie man will, dachte sie. Sie setzte sich auf den Bettrand und gähnte.

»Maja, reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich selbst. »Du überwindest jetzt den inneren Schweinehund und stehst auf. Du hast es Toni und Anna versprochen, dass du dich ganz früh auf den Weg machst.«

Wie im Halbschlaf machte sich Margit fertig.

Um die anderen Gäste nicht zu wecken, lief sie auf Strümpfen die Stiege hinunter.

»Guten Morgen, Maja! Hast gut geschlafen?«, begrüßte sie Meta Baumberger in der Küche.

Margits Antwort ging erst einmal in einem herzhaften Gähnen unter. Meta schmunzelte.

»Setz dich, Madl! Ich habe dir schon starken Kaffee gemacht. Die Eier mit Speck sind gleich fertig!«

»Danke, Meta! Bitte keine Eier! Mein Magen schläft noch! So früh kann ich nichts essen!«

»Nun, dann trinkst du jetzt einen schönen starken Kaffee, dann wirst munterer! Ich verstehe ja wirklich net, warum du so früh fort willst. Vor sechs Uhr wirst du bestimmt niemanden finden.«

»Möglich, Meta!«

Margit musste schon wieder gähnen. »Aber wenn ich mir etwas vorgenommen habe, dann ziehe ich es auch durch.«

Tonis Mutter schmunzelte erneut. Sie schenkte Margit den großen Becher voll, reichte ihr Zucker und Sahne.

»Wenn du nix essen willst, soll ich dir dann eine Brotzeit einpacken?«

»Meta, mache dir bitte keine Umstände wegen mir! Sag’, stehst du immer so früh auf? Oder bist du nur wegen mir mitten in der Nacht aus dem Bett gekrochen?«

»Da mach du dir jetzt mal keine Gedanken darüber, Margit!«

Margit trank ihren Kaffee. Langsam wurde sie munterer.

»Morgen früh musst du wegen mir nicht so früh aufstehen, Meta. Wenn du mir Pulverkaffee hinstellst, dann kann ich mir selbst einen Kaffee machen.«

»Schmarrn! Pulverkaffee, so ein Zeugs gibt es bei uns net! Und du kannst net verhindern, dass ich dich ein bissel umsorg’, solange du hier bist. Des hab’ ich dem Toni versprochen. Schließlich musst du dich wohlfühlen, bei der schwierigen Aufgabe, die du übernommen hast. Mei, des ist ja auch ein Ding mit den Feuchtwiesen!«

»Ich bin auch gespannt, ob ich etwas herausbekomme!«

Meta Baumberger füllte eine Thermoskanne mit süßem Milchkaffee. Sie verpackte mehrere Brote mit Wurst und Käse.

»So, des nimmst mit! Da hast eine gute Brotzeit, Kaffee, Brote, zwei Äpfel und Schokolade.«

Meta reichte Margit die Umhängetasche. Sie bedankte sich. Margit trank ihren Kaffee aus, dann verabschiedete sie sich und ging davon.

Die Straßen von Waldkogel lagen ruhig in der Morgenfrische. Es war wenig Verkehr. Gelegentlich hörte Margit einen Hahn krähen. Hundegebell drang an ihr Ohr.

Bald erreichte Margit den Bergsee. Sie ging am Ufer entlang und setzte sich auf einen Baumstamm, der halb im Wasser und halb auf dem Ufer lag. Sie ließ ihre Augen schweifen. Die Morgensonne stieg im Osten hinter den Bergen auf. Der Himmel leuchtete in einem blassen Blau. Es wehte ein leichter Wind, der die Wellen des Bergsees kräuselte und den Duft von Tannen und Heu mit sich trug. Hoch oben kreisten zwei Vögel über dem Tal. Die Wellen des Bergsees plätscherten leise, als sie auf das Ufer trafen. Auf den Gläsern glänzten die Tautropfen wie kleine glitzernde Perlen.

Wie wunderschön es hier ist, dachte Margit. Sie holte ihr Fernglas aus dem Köcher und schaute hindurch. Gezielt nahm sie die Feuchtwiesen am Ende des Bergsees ins Visier.

»Oh!«, entfuhr es ihr laut. »Da ist ja jemand!«

Sie drückte das Fernglas dichter vor ihre Augen, als könnte sie dadurch besser sehen. Auf den Feuchtwiesen lief ein Mann herum. Zuerst sah Margit ihn nur von hinten. Dann drehte er sich um. Jetzt sah sie sein Gesicht.

Margit spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Sie wagte kaum zu atmen und starrte nur durch den Feldstecher. Der Mann sah unheimlich gut aus. Er war groß, hatte dunkle Haare und dunkle Augen. Margit schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig. Sein Gesicht war gebräunt, als käme er aus dem Urlaub oder arbeite viel an der frischen Luft.

Das muss einer der Männer sein, dachte Margit. Während sie mit der einen Hand das Fernglas hielt, fasste sie sich mit der anderen Hand an die Brust, als wollte sie ihr Herz festhalten.

»Nimm dich zusammen, Margit!«, schimpfte sie mit sich.

Er ist weit weg, sieht dich bestimmt nicht und kann dir nichts tun. Dass er einer der Männer sein konnte, die Ella fortgejagt hatten, machte ihr etwas Angst. Wenn die wirklich so große Heimlichkeiten haben, dann hat der Kerl bestimmt etwas dagegen, dass ich ihn beobachte. Schnell ließ Margit das Fernglas sinken. Ihr Herz raste immer noch. Es wollte sich nicht beruhigen.

Der Drang, ihn wieder durch das Fernglas zu betrachten, wurde stärker und stärker. Gleichzeitig schämte sich Margit. Irgendwie kam sie sich wie eine Spannerin vor. Sie kauerte sich hinter den Baumstamm, setzte das Fernglas auf die raue Rinde und schaute durch.

Jetzt ging der Mann über die Feuchtwiesen auf das Ufer des Berg­sees zu.

»Was macht er da?«, entfuhr es Margit.

Sie sah, wie der Mann sich entkleidete, bis er nur noch eine Ba­­de­hose trug. Sein Anblick ließ Mar­gits Herz noch schneller klopfen. Der Anblick seines gebräunten Kör­­pers raubte ihr fast den Atem. Sie beobachtete, wie er ins Wasser stieg und mit kräftigen, gleichmäßigen Schwimmbewegungen in die Mitte des Sees strebte.

Margit stand auf. Sie kramte in der Umhängetasche nach einem Apfel und aß ihn im Stehen. Dabei ließ sie den Mann im Wasser nicht aus den Augen. Plötzlich wurden seine Schwimmbewegungen unkoordiniert. Es war so, als schlage er um sich. Er sank mit dem Kopf einige Male unter Wasser und kam dann wieder hoch. Immer wieder schlug er um sich.

»Himmel! Der wird doch nicht…«, sagte Margit vor sich hin.

Sie warf den Rest des Apfels auf den Boden. Schnell zog sie ihre Schuhe von den Füßen, schlüpfte aus ihrer Jacke, riss sich den Pulli vom Oberkörper, riss ihre Hosen hinunter und sprang in ihrer Unterwäsche ins Wasser. Das Wasser war sehr kalt. Die Kälte nahm Margit fast den Atem. Aber den immer noch wild um sich schlagenden Mann im Blick, kraulte Margit durch den See. In diesem Augenblick schuldete sie ihrem Trainer im Schwimmclub großen Dank, der sie damals für die Jugendschwimmmeisterschaften im Freistil mit ziemlicher Härte zu Höchstleis­tungen gebracht hatte.

So dauerte es nicht lange, bis sie bei dem Schwimmer war.

»Ruhig! Sie müssen ruhig werden! Hören Sie auf, um sich zu schlagen!«

Margit schwamm hinter ihn und nahm ihn, wie sie es in der Ausbildung zum Rettungsschwimmerabzeichen gelernt hatte, unter dem Kinn.

»Tief atmen und ganz ruhig! Nicht bewegen! Ich bringe Sie ans Ufer!«

»Ich habe einen Krampf in den Beinen!«, stöhnte der Mann.

Er presste die Augen und biss die Zähne zusammen. Er muss wirklich große Schmerzen haben, dachte Margit.

»Ruhig, ganz ruhig! Vertrauen Sie mir!«

Margit spürte, wie er sich in sein Schicksal fügte. Er hörte auf, wild um sich zu schlagen und überließ sich Margits Rettungsversuch.

Margit, die sich schräg unter seinen Körper geschoben hatte, strebte mit kräftigen Beinschlägen dem Ufer zu. Dabei redete sie in Abständen leise auf ihn ein.

»Ganz ruhig! Es ist nicht mehr weit! Sie müssen keine Angst haben! Wir schaffen das schon! Versuchen Sie sich zu entspannen. Nicht verkrampfen. Ruhig atmen! Einfach auf dem Wasser liegen – toten Mann spielen, auch wenn das jetzt makaber klingt. Wir haben es gleich geschafft. Sie machen das wunderbar. Sie müssen keine Angst haben. Ich lasse Sie nicht untergehen!«

Margit spürte, wie er ruhiger wurde. Sie redete mit ruhiger, fester Stimme und trotzdem behutsam und tröstlich auf ihn ein. Er sollte sich auf ihre Stimme konzentrieren und ihr Vertrauen. Sein dunkles Haar war ganz nahe vor ihrem Gesicht. Margit hätte am liebsten ihre Wange fest dagegen gepresst. Doch sie ließ davon ab.

Nach ein oder zwei Minuten sagte er: »Der Krampf in meinen Beinen hat nachgelassen! Danke, ich glaube, jetzt schaffe ich es alleine!«

»Sind Sie sicher?«

Der Mann griff nach Margits Hand und löste sie von seinem Kinn. Er drehte sich um und ihre Blicke trafen sich.

Margit sah, wie er bei ihrem Anblick die Augen aufriss. Er wurde tief rot im Gesicht.

»Sie?«, stieß er hervor.

Er vergaß, zu atmen, sich über Wasser zu halten und tauchte unter. Margit hielt ihn mit einer schnellen Bewegung am Schopf fest und zog ihn nach oben. Er hustete.

»Alles okay? Sie sind doch noch nicht so stabil. Es ist besser, Sie vertrauen sich mir weiter an.«

»Danke, es geht schon! Ich war nur so … Es war der Schreck«, sagte er leise und hustete noch einmal.

Dabei sah er sie an. Margit sah in seinen Augen keine Angst, keinen Schrecken. Sie blickte in Augen voller Wärme und Freude, wie sie es noch niemals gesehen hatte. Sein Blick traf sie mitten ins Herz. Hätte Margit festen Boden unter ihren Füßen gehabt und wäre sie nicht im Bergsee geschwommen, dann hätten ihr die Beine versagt. So tauchte sie nur kurz unter. Schnell kam sie wieder an die Oberfläche.

»Muss ich Sie jetzt retten?«

»Nein!«, hauchte Margit.

Sie konnte sich nicht von seinem Blick lösen. Ihr Herz raste, ihr Puls flatterte. Sie konnte sich an seinem Anblick nicht satt sehen. Er hatte wunderschöne braune Augen, die von langen dunklen Wimpern umrahmt waren, wie sie es noch nie bei einem Mann gesehen hatte.

»Schwimmen wir langsam zum Ufer zurück. Können Sie?«, fragte Margit.

Er nickte.

»Gut, probieren wir es! Es ist ja nicht mehr weit bis zum Ufer! Schwimmen Sie ganz langsam! Langsame, gleichmäßige Bewegungen!«, ermahnte ihn Margit. »Sie dürfen sich nicht verkrampfen. Ganz locker! Machen Sie besonders mit den Beinen langsame Bewegungen. Arbeiten Sie kräftiger mit den Armen. Ich bleibe neben Ihnen!«

Sie schwammen los. Margit musste ihn im Auge behalten, aber gleichzeitig wollte sie vermeiden, ihn anzusehen. Also schwamm sie etwas versetzt schräg hinter ihm. So konnte sie nach ihm sehen, ohne dass ihre Blicke sich trafen.

Gleichzeitig stürmten Gefühle und Gedanken auf Margit ein. Fast verzweifelt versuchte sie, Klarheit zu erlangen. War es sein Blick, der mich so aus der Fassung gebracht hat, fragte sie sich. Oder war es das gute Gefühl, einen Menschen vor dem Ertrinken bewahrt zu haben. Hat dieses schöne Gefühl, jemandem so helfen zu können, mich so aus der Fassung gebracht? Margit tauchte, während sie weiter schwamm, ihr Gesicht kurz ins kalte Wasser, als könnte sie dadurch die Gedanken und Gefühle abspülen, gegen die sie sich so wehrte. Sie erkannte, dass er ihr mehr als gefiel. Es hatte sie einfach getroffen. Ich muss mich dagegen wappnen, sagte sie sich. Es ist normal, dass es zu einer engen Beziehung zwischen Gerettetem und Retter kommt, erinnerte sich Margit an ihre Ausbildung. Doch im nächsten Bruchteil einer Sekunde, war ihr klar, dass es das nicht nur alleine sein konnte. Es war mehr, viel mehr, das flüsterte ihr Unterbewusstsein ihr zu.

Bald erreichten sie Grund und wateten ans Ufer. Sie ließen sich beide ins hohe Gras fallen und rangen erst einmal um Atem. Dann setzte sich der Mann auf. Er streckte Margit die Hand hin.

»Danke! Danke für die Rettung! Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen! Ich bin Henk!«

Zögernd nahm Margit seine Hand.

»Margit! Gerufen werde ich Maja!«

»Also, nochmals Danke, Maja! Ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte«, sagte er.

»Das Wasser im Bergsee ist sehr kalt!«

»Du bist eine geübte Schwimmerin!«

»War ich! Bis zum Abitur war ich aktive Schwimmerin und habe viele Preise abgeräumt!«

»Dann hatte ich ja richtig Glück im Unglück!«

»Glück in der Dummheit«, sagte Margit streng.

»Ist es hier nicht verboten zu schwimmen?«

»Keine Ahnung! Auf jeden Fall schwimmt man hier auf eigene Gefahr. Das gebe ich zu!«

»Beim Schwimmen in einem unbekannten Gewässer sollte man nie allein sein! Das besagen die Regeln!«

»Ja! Aber ich mag Regeln nicht sonderlich! Außerdem bin ich heute nicht zum ersten Mal hier geschwommen! Ich verstehe nicht, wie es geschehen konnte.«

»Nun, ich war zum ersten Mal im Bergsee und trotz meiner Leidenschaft zum Wasser muss ich sagen, dass der Bergsee sehr kalt ist.«

»Er ist nicht immer so kalt! Vielleicht kam das durch das Regenwetter der letzten Tage!«

»Das ist nicht anzunehmen«, bemerkte Margit. »Ich vermute, dass der Regen das Wasser eher etwas wärmer gemacht hat. Es ist einfach zu früh am Morgen. Die Sonne hat die Wasseroberfläche noch nicht erwärmt.«

»Ich will dir nicht widersprechen. Wenn du so viele Preise gewonnen hast, bist du bestimmt eine Expertin.«

»Bist du schon länger hier?«, fragte Maja.

»Ja, ich bin schon etwas länger in Waldkogel, und du? Machst du Urlaub?«

Margit war nicht entgangen, dass er ihre Fragen nicht genau beantwortet hatte. Er hatte nicht gesagt, dass er Urlaub macht. Er muss etwas mit den Feuchtwiesen zu tun haben, dachte Margit. Sie überlegte, ob es sinnvoll war, ihn sofort darauf anzusprechen, sah aber dann davon ab. Stattdessen antwortete sie:

»Ja! Ich war einige Tage oben auf der Berghütte. Jetzt wollte ich eine Woche hier im Tal verbringen.«

Margit stand auf. Sie hielt ihre Arme vor den Körper.

»Ich glaube, ich gehe mich mal wieder anziehen! Und eine Tasse heißer Kaffee würde mir auch gut tun!«

»Ich habe Kaffee in meinem Auto, Maja! Darf ich dich zu einer Tasse einladen? Mein Auto steht dahinten im Wald.«

Margit zögerte mit der Antwort. Es war eine seltsame Situation. Sie stand vor ihm in nasser Unterwäsche, auch wenn diese auf den ersten Blick sich kaum von einem bunten Bikini unterschied, und sie hatte ihm gerade das Leben gerettet. Und ihr Herz klopfte, wenn sie in seine Augen sah.

»Also, du sagst ja? Dann gehe ich vor. Du kommst nach, sobald du dich angezogen hast«, sagte er.

Seine Augen glitten an ihr hinab. Margit errötete und rannte davon. Er sah ihr nach und lächelte. Dann ging er am Ufer entlang in Richtung der Feuchtwiesen.

Henk konnte es nicht fassen. Entweder war diese Margit die perfekte Doppelgängerin seiner Traumfrau oder sie war seine Traumfrau.

Gibt es so einen Zufall? Ist es möglich, dass wir so nahe beieinander wohnen und uns hier näher kommen?

Sie ist es wirklich, dachte er.

Oder hat sie vielleicht eine Zwillingsschwester?

Es muss eine eineiige Zwillingsschwester sein, anders kann es nicht sein, oder?

Der Schock über den schweren Wadenkrampf im Wasser und dass er vielleicht einem nassen Schicksal entkommen war, beschäftigte Henk nicht mehr. Dass er ihr begegnet war, das war viel wichtiger. Sie hatte ihn gerettet! Welch eine unglaubliche

Kapriole des Schicksals, dachte Henk. Ich werde behutsam mit ihr reden, überlegte er. Ich werde schon herausfinden, wo sie wohnt und so weiter. Es muss Margit sein, oder ich habe im kalten Wasser jede Urteilskraft eingebüßt.

Henk erreichte die Stelle am Ufer, an der er seine Kleider abgelegt hatte. Er trocknete sich ab und zog sich an. Dann ging er zu seinem Auto zurück und holte einige Sachen. Mit klopfendem Herzen strebte er zu der Stelle, an der er mit Margit aus dem Wasser gestiegen war. Das Gras war hoch, und er konnte sie nicht sehen.

Wo ist sie?

Sie wird am Ende doch nicht davongelaufen sein?

Zu dumm auch, dass ich mein Erstaunen nicht unterdrücken konnte.

Vielleicht hat sie etwas bemerkt?

Henk beschleunigte seine Schritte.

*

Margit ließ sich Zeit. Als sie bei ihren Sachen ankam, ließ sie sich erst einmal ins hohe Gras fallen. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Morgensonne, die jetzt höher stand.

Henk heißt er! Henk – Henk – Henk! So flüsterte ihr Herz mit jedem Schlag. In Margits Herz tobte ein Kampf. Sie fühlte sich angezogen, ja, magisch von ihm angezogen. Aber gleichzeitig fürchtete sie sich. Ein neues Gefühl bemächtigte sich ihres Herzens, ein Gefühl, das sie vorher noch nie gespürt hatte. Es war ihr, als würde alles in ihrem Leben, das ihr bisher etwas bedeutet hatte, in den Hintergrund gedrängt und alle ihre Gedanken galten nur noch Henk.

»Henk!«, flüsterte Margit fast tonlos vor sich hin.

Sie gab sich Träumen hin, von denen sie zuvor nicht gewusst hatte, dass sie fähig war, solche Tagträume zu haben. Sie erlebte noch einmal die Berührung seiner Haut, als sie ihn rettete.

Jetzt hatte sie Zeit und Muße, dieses unsagbar schöne Gefühl, das durch ihren Körper geströmt war, im Nachhinein wirklich zu empfinden, und sie genoss die Erinnerung daran. Gleichzeitig erfüllte eine vorher nie gekannte Sehnsucht jede Zelle ihres Körpers. Sie sehnte sich nach mehr, nach weiteren Berührungen, nach seiner Nähe. Fast bedauerte sie, dass er sich im Wasser so schnell erholt hatte und sich aus ihrem Rettungsgriff gelöst hatte.

Während Margit mit geschlossenen Augen in der Morgensonne lag, verglich sie Henk mit den anderen jungen Männern, die ihr in ihrem Leben begegnet waren. Bald stand für sie fest, er war wie keiner von ihnen. Henk war ganz anders. Er hatte etwas an sich, das sie anzog, etwas, was sie völlig überwältigte, das all ihre Gedanken band. Sie konnte an nichts anderes mehr denken, als an ihn.

»Was für ein Mann«, flüsterte sie leise vor sich hin. »Und ich habe ihn aus dem Wasser gezogen. Ich habe ihn mir geangelt.«

Margit verglich Henk mit einem schönen Fisch. Wenn er ein Fisch wäre, dann würde ich ihn nicht ins Wasser zurückwerfen, dachte sie. Ich würde ihn mit heimnehmen. Ich würde ihm ein schönes großes Aquarium besorgen. Da würde ich ihn hineintun, und er wäre bei mir.

Margit musste über ihre Gedanken lächeln.

Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Regungslos stand Henk neben ihr und schaute sie an. Er wagte kaum zu atmen. Sein Herz hämmerte, und er wurde sich immer sicherer, dass es sich bei Margit nur um seine Traumfrau handeln konnte. Er überlegte, was er sagen sollte. Sie schien zu schlafen, oder stellte sie sich nur schlafend?

»Du siehst wunderbar aus, wenn du lächelst!«, drang eine Stimme an ihr Ohr.

Margit erkannte die Stimme sofort. Sie riss die Augen auf, errötete und sprang auf die Füße. Dabei stolperte sie. Henk fing sie mit seinen starken Armen auf. Er hielt sie fest. Sein Gesicht war ihrem Gesicht ganz nah. Er sah ihr in die Augen.

»Jetzt sind wir quitt! Du hast mich vor dem Ertrinken bewahrt und ich dich vor einem Sturz! Und hier habe ich dir ein Handtuch mitgebracht!«

Henk legte ihr das Handtuch um die Schultern und hielt sie weiter fest. Margit versuchte, sich aus seinem Griff zu winden.

»Danke, aber das ist wohl beides übertrieben! Wo kommst du her?«

Er ließ sie los.

»Ich habe gewartet! Du bist nicht gekommen, da dachte ich mir, ich suche dich!«

»Ich musste erst meine Sachen trocknen«, sagte Margit leise.

Sie wandte sich ab und ging zum Baumstamm, auf dem ihre Kleidung lag. Sie drehte ihm den Rücken zu, als sie die Hosen und den Pulli überstreifte. Dann setzte sie sich auf den Baumstamm und zog die Schuhe an.

Sie frottierte mit dem Handtuch ihre Haare. Dann breitete sie das Tuch auf dem Baumstamm zum Trocknen aus. Sie wuschelte sich mit den Fingerspitzen durch die Haare.

»So ist es besser«, sagte sie mehr zu sich selbst.

Henk musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann zog er einen Kamm aus seiner Gesäßtasche.

»Leider nur ein kleiner Herrenkamm! Darf ich ihn dir trotzdem anbieten?«

»Danke«, sagte Margit und nahm den Kamm.

Dabei berührte sie kurz seine Finger. Es war als würden tausende, hundertausende Volt durch ihren Körper strömen. Sie spürte, wie ihr heiß wurde und fühlte, wie das Blut in die Wangen stieg. Sie drehte sich um. Mit einer Hand löste sie das Gummiband, mit dem sie ihre langen blonden Haare am Hinterkopf zusammengebunden hatte und fuhr sich mit dem Kamm einige Male durch das Haar. Sie gab ihm den Kamm zurück. Dabei achtete sie da­rauf, dass sie nicht noch einmal mit seiner Hand in Berührung kam. Sie fasste den kleinen Herrenkamm mit spitzen Fingern am äußersten Ende an. Henk steckte ihn in die hintere Hosentasche.

»So, jetzt machen wir ein Picknick«, sagte Henk.

Er ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten, zog seine Jacke aus und legte sie ins Gras.

»Statt einer Tischdecke oder Decke. Ich bin doch nicht so perfekt ausgestattet, wie ich dachte.«

Er lächelte Margit an. Sie spürte, wie ihr erneut warm wurde.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass mir heute von so einer netten jungen Frau das Leben gerettet würde. Hätte ich es vorausgesehen, dann hätte ich ein weißes Tischtuch und Kerzen eingepackt und bequeme Kissen.«

Margit musste lachen.

»Reden wir nicht mehr davon«, sagte sie. »Es war doch nichts Besonderes. Jeder wäre ins Wasser gesprungen.«

»Davon bin ich nicht überzeugt! Übrigens, ich komme aus Berlin«, sagte Henk und sah Margit dabei nicht an.

Er versuchte seiner Stimme einen normalen Tonfall zu geben, dabei hätte er es am liebsten hinausgeschrien, was ihn in seinem Herzen bewegte.

Er nannte die Straße, in der er wohnte.

Margit fing an zu lachen.

»Es ist kam zu glauben! Wie klein die Welt ist? Wir sind fast Nachbarn.«

Henk sah sie an.

»Deshalb bist du mir so bekannt vorgekommen. Irgendwie müssen wir uns schon begegnet sein, auch wenn wir uns nicht persönlich kannten. Aber jetzt ist das Vergangenheit, nach deiner großartigen Nachbarschaftshilfe.«

Sie lachten. Henks Herz schlug Purzelbäume.

Sie ist es! Sie ist meine Traumfrau, jubelte er innerlich. Welch ein Zufall des Schicksals! Vielleicht hat ein gütiger Himmel meine Sehnsuchtsseufzer erhört, dachte er. Er überlegte, ob es klug war, ihr jetzt sofort und ohne Umschweife von seiner heimlichen Liebe zu erzählen. Henk entschied sich dagegen. Er hatte Angst, Margit könnte ihm sein Fast-Ertrinken als üblen Trick auslegen. Nein, er wollte sie erst noch besser kennenlernen. Sie muss sich so für mich entscheiden, sagte er sich.

Henk packte zwei Becher und eine Thermoskanne mit Kaffee aus.

»Ich kann außer Kaffee nur Müsliriegel anbieten«, sagte er.

»Ich habe Brote!«

Margit leerte ihren Rucksack.

»Perfekt! Du bist wohl immer auf alles vorbereitet?«

»Sieht es so aus?«, lachte sie.

»Ja, wenn ich mir das so ansehe. Zwei Käsebrote, zwei Brote mit Wurst, zwei Sorten Kekse …«

»Aber nur noch einen Apfel. Den anderen habe ich schon gegessen.«

»Dann müsstest du diesen mir jetzt anbieten, falls du keine Angst hast.«

»Wovor sollte ich Angst haben?«, fragte Margit.

»Nun, Eva verführte Adam mit einem Apfel!«

Sie schauten sich an.

»Henk, ich habe es nicht nötig, einen Mann mit einem Apfel zu verführen!«

Margit nahm all ihre Kraft zusammen, um ernst und sicher zu klingen. Dabei würde ich nichts lieber tun, als dich zu verführen, schoss es ihr durch den Kopf.

»Das stimmt! Eins zu Null für dich, Maja! Du angelst dir den Mann auf andere Weise. Du ziehst ihn dir aus dem Wasser ans Ufer!«

»Witzig! Wirklich, sehr witzig! Ich fand das nicht witzig, wie du da im Wasser zappeltest.«

»Maja, es war auch nicht witzig! Verstehst du denn nicht?«

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Was soll ich verstehen?«

»Nun, ich will dir eigentlich etwas ganz anderes sagen, Maja!«

»Dann sage es!«

»Das ist nicht so einfach!«

»Himmel, warum soll es nicht einfach sein? Du sagst einen Satz! Ein Satz besteht aus Wörtern!«

»Richtig! Aber es gibt solche und solche Sätze, Maja!«

»Willst du mir jetzt einen Vortrag über Grammatik halten oder die Bedeutung von Sprache?«

»Nein! Ich will dir sagen, dass … ich meine …, dass …«

»Was ist? Ist es so kompliziert?«

»Männer sollen über weniger Sprachvermögen verfügen als Frauen. Hast du das gewusst? Das soll eine Forschung ergeben haben, Maja! Und weil Männer und Frauen auch in Bezug auf Sprache so unterschiedlich sind, kommt es zu Meinungsverschiedenheiten. Es handelt sich um nichts anderes als um Missverständnisse.«

»Ich betreibe auch Forschung. Doch wenn ich dir zuhöre, dann bin ich glücklich, dass meine Forschungsobjekte nicht reden. Das heißt nicht, das sie nicht auch sprechen können, doch sie tun es auf eine für uns Menschen nicht akustisch wahrnehmbare Art und Weise.«

»So? Was sind deine Forschungsobjekte?«

»Pflanzen!«

»Interessant! Dann lässt du Blumen sprechen. Und was forschst du genau?«

»Nein, ich lasse Blumen nicht sprechen, ich höre ihnen höchstens zu oder versuche es wenigstens. Was ich genau tue, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Ich bin in Urlaub und will nicht über meine Arbeit reden. Du wolltest doch einen Satz bilden. Was wolltest du sagen? Also, lenke nicht ab!«

Henk seufzte leise.

»Das mit dem aus dem Wasser angeln, das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte nur wissen, ob …, ich meine …, ach …, also ich wollte wissen, ob du es auch als glücklichen Zufall ansiehst? Ich wollte nicht so direkt fragen.«

Margit warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Ihr Herz pochte, dass sie jeden Herzschlag deutlich spürte. Dann betrachtete sie den Rest Kaffee in ihrem Becher, als wollte sie in dem Milchkaffee die Weisheit des Universums suchen.

Sie sagte leise:

»Jedenfalls war es schon ein ungewöhnliches Zusammentreffen.«

»Was machen wir jetzt daraus?«

»Was sollen wir daraus machen? Wie meinst du das?«

Er lächelte sie an.

»Nun vielleicht könnten wir uns öfters sehen, solange du noch hier bist … mindestens … Wie denkst du darüber, Maja?«

»Waldkogel ist nicht sehr groß. Sicher werden wir uns sehen!«

»Maja, so meine ich es nicht! Du weißt schon, wie ich das meine, oder?«

»Ist das ein Quiz?«

»Nein! Das ist kein Quiz, Maja! Ich bin nur in Sorge. Es kommt mir vor, als schwämmen wir noch.«

»In Sorge? Vorhin im Wasser, da hättest du in Sorge sein können, doch hier hast du festes Land unter dir.«

»Stimmt! Aber ich meine das mehr im übertragenen Sinn. Ich bin ein Mensch, der besser mit Zahlen, Rechenschieber und Computer umgehen kann. Ich kann mich außerhalb meines Fachgebietes nicht so gewandt ausdrücken. Ich bin in Sorge, ich könnte etwas Falsches sagen.«

»Dieses Risiko geht man im Leben oft ein! Was bist du von Beruf?«

»Ich bin Ingenieur!«

»Davon verstehe ich nichts! Aber ich kann mir vorstellen, dass es dabei nur um Fakten geht.«

»Richtig! Aber nicht immer kann man die Fakten einfach so darlegen. Oft ergibt jede Sache für sich genommen ein anderes Bild, als alle Fakten zusammengenommen.«

»So weit kann ich dir folgen.«

Über Henks Gesicht huschte ein Lächeln.

»Das freut mich, dass du das verstehst, Maja! Also, wenn ich für mich sprechen darf. Ich würde dich gern wiedersehen, nicht nur so zufällig. Ich würde dich gern oft wiedersehen. Ich würde mich gern verabreden mit dir!«

Er schaute sie an und sah, wie eine leichte Röte ihre Wangen färbte.

»Ja, das ist Fakt bei mir, Maja! Aber es kann erst etwas daraus werden, wenn ich weiß, wie du es siehst. Vielleicht geht es dir auch zu schnell? Jedenfalls bin ich etwas unsicher.«

»Dass du unsicher bist, Henk, das verstehe ich. Für dich ist es sicher unangenehm, dass ich – als Frau – dich gerettet habe.«

»So will ich es nicht sagen, Maja! Und ich bin dem Himmel dankbar, dass du geschwommen kamst. Aber ich hätte dich gerne unter anderen Vorzeichen kennengelernt. Gleichzeitig denke ich, dass wir uns dann vielleicht nie begegnet wären.«

»Das werden wir nie herausfinden, Henk! Aber vielleicht wären wir uns doch begegnet. Jedenfalls haben wir beide scheinbar eine Vorliebe für den frühen Morgen.«

»Da ist auch etwas dran! Was gefällt dir am frühen Morgen?«

»Ich bin Biologin und liebe es in der Natur zu sein, wenn sich die Blüten an den Pflanzen öffnen und der Tag langsam erwacht. Und was liebst du am frühen Morgen?«

»Nichts! Eigentlich nichts! Ich bin eigentlich ein Spätaufsteher, ich bin eine Eule, keine Lerche. Ich war nur mit einigen Leuten verabredet. Sie sagten aber ab, haben mich versetzt. Da dachte ich mir, was mache ich mit dem Morgen? Also, wollte ich schwimmen!«

»Ganz so früh bin ich normalerweise auch nicht unterwegs. Es war heute eine Ausnahme, dass ich so früh aufgestanden bin.«

»Glücklicher Zufall oder Schicksal, Maja? Was denkst du?«

»Ich muss nicht für alles eine Erklärung haben, Henk. Es ist so, wie es ist – und so ist es gut und war es gut.«

Sie lächelte ihn an.

»Ich denke für mich, dass sich das frühe Aufstehen gelohnt hat. Ich konnte dich retten, und wir haben uns kennengelernt. Also, ich bin mit dem Tag bisher sehr zufrieden.«

Henk griff spontan nach Margits Hand und drückte sie.

»Das freut mich! Also, was machen wir jetzt? Ich habe den ganzen Tag Zeit.«

Er lächelte sie an.

»Wenn du mich nicht aus dem Wasser gefischt hättest, was hättest du gemacht? Was für Pläne hattest du?«

»Ich wollte Pflanzen sammeln, Wiesenpflanzen, Wiesenkräuter, Waldkräuter. Ich wollte einfach loswandern, erst einmal um den Berg­see herum und danach durch den Wald.«

»Kräuter im Wald? Da gibt es doch nur Bäume.«

»Das denkst du dir so, Henk. Jeder Wald hat Lichtungen. Und auf diesen Lichtungen gibt es die Chance, seltene Kräuter zu finden, weil sie dort vom Menschen ungestört wachsen können.«

»Mm, klingt logisch! Und was machst du dann mit den Kräutern?«

»Ich presse sie! Trockne sie! Ich katalogisiere sie und hoffe, irgendwann mal Pflanzen zu finden, die als ausgestorben gelten. Oder ich hoffe, vielleicht einmal eine neue, unentdeckte Pflanze zu finden, die dann nach mir benannt wird.«

»Maja Blümchen«, sagte Henk.

»Ich dachte eher an ›Hackl-Kraut‹! Ich heiße mit dem Familiennamen nämlich Hackl.«

»›Maja-Blümchen‹ oder ›Maja-Kraut‹ ist besser! Vielleicht heiratest du eines Tages und nimmst den Familiennamen deines Mannes an. Dann wird aus Margit Hackl … vielleicht Margit Gruber.«

»Wie kommst du auf Gruber?«

Henk errötete.

»Nun, ich heiße Gruber! Nicht, dass ich etwas gegen den Namen Hackl hätte, aber Gruber ist ein schöner Name, finde ich. Würde dir ›Margit Gruber‹ nicht gefallen?«

Margit schaute ihn an und schüttelte den Kopf.

»Was du denkst? Scheinst ein Draufgänger zu sein!«

»Ich denke nur voraus!«, verteidigte sich Henk. »Ich lote meine Chancen aus. Du gefällst mir, das hast du doch bemerkt, oder?«

Margit errötete.

»Du denkst, ich bin solo. Wie kannst du annehmen, dass ich niemand habe, zu niemandem gehöre?«

Henks Augen strahlten.

»Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten, Maja! Weil dieser Mann ein Dummkopf wäre, dich alleine in Urlaub fahren zu lassen.«

Maja lächelte.

»Vielleicht hatte er beruflich keine Zeit.«

»Dann müsste er sich welche nehmen! Wenn einem Mann eine Frau wichtig ist, dann nimmt er sich die Zeit. Das kann ich auch beweisen.«

»So? Wie?«

»Nun, ich hätte abfahren können! Ich hätte mich vorher nach deiner Adresse erkundigen und dir einen Blumenstrauß schicken können, um mich in aller Form zu bedanken. Aber ich sage dir, nichts – nichts auf der Welt, hätte mich von hier fortgebracht. Ich wollte dich einfach wiedersehen. Und ich nehme mir die Zeit!«

Maja strahlte ihn an.

»Du scheinst ein besonders schillernder Fisch zu sein! Was habe ich mir da nur geangelt?«, sagte sie leise. »Ich habe keine Erfahrung mit dieser Spezies. Scheinst ein völlig unbekanntes Exemplar zu sein.«

»Ich nehme deine Worte als Kompliment! Ich bin vielleicht so eine unbekannte Pflanze, wie du eine suchst?«

Henk schmunzelte. Margit verstand ihn gut. Sie errötete. Henk stand auf und trat vor sie. Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Füße. Er zog sie an sich und legte die Arme um sie. Maja war irgendwie willenlos und wehrte sich nicht. Er schaute ihr in die blauen Augen.

»Du hast mich im Wasser gerettet, und jetzt rette ich dich aus dem Meer der Gefühle. Da tobt ein Sturm in deinem Herzen mit haushohen Wellen. Ich bin jetzt der Seenotrettungsdienst. Lege deine Arme um meinen Hals.«

Maja seufzte tief.

»Oh, Henk! Das geht alles zu schnell!«, hauchte Margit. »Wohin führt das?«

Trotzdem schlang sie die Arme um ihn. Sie hielten sich fest.

»Was fühlst du? Sag schon! Sei ganz ehrlich, vor allem zu dir selbst!«

Margit schloss für einen Augenblick die Augen und seufzte erneut. Sie führte einen inneren Kampf mit sich selbst aus. Sollte sie ihm sagen, dass ihr Herz für ihn schlägt? Es dauerte eine Weile, bis sie den Mut aufbrachte, ihm zu antworten. Margit hatte sich entschieden. Ich kann nichts verlieren, sagte sie sich.

Sie schaute ihn nicht an, als sie sagte:

»Ich fühle, als hätte ich etwas gefunden, was vor mir noch nie ein Mensch gefunden hat!«

»Gut so!«, flüsterte Henk.

Er griff ihr sanft unter das Kinn und hob ihren Kopf an. Dann beugte er sich zu ihr hinunter. Zärtlich berührten seine Lippen die ihren. Maja schloss die Augen. Sie fühlte, wie sie in einem Meer der Gefühle versank und gleichzeitig, wie von Engeln getragen, in den Himmel aufstieg.

Sie küssten sich lange und innig. Maja schlug die Augen auf. Henk lächelte sie an.

»Alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig.

»Es dreht sich alles in meinen Kopf, Henk!«

Er strich ihr über ihr langes blondes, noch immer etwas feuchtes Haar.

»Ich glaube, das kommt vom Sauerstoff! Das ist bei Mund zu Mund-Beatmung so. Ein neues Leben hat für uns begonnen, Maja«, sagte er leise.

Margit lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie seufzte tief.

»Ja, es ist eine Veränderung geschehen. Ich wollte es nicht. Aber wahrscheinlich kann man so etwas nicht wollen. Es geschieht einfach. Man hofft immer darauf, aber gezielt kann man nach dieser einen seltenen Pflanze nicht suchen. Entweder findet man sie oder man findet sie nicht.«

Henk hielt sie ganz fest.

»Unsere Pflanze ist eine besondere Pflanze. Sie gedeiht im Wasser und auf Land, auf trockenem und auf sumpfigem Boden.«

»Am besten sind Feuchtwiesen, Henk! Dann hat sie alles, was sie braucht, Wasser und guten Boden!«

»Wenn du denkst? Du bist die Expertin für Pflanzen.«

»Ja, die bin ich! Was für ein Experte, was für ein Ingenieur bist du? Was ist dein Fachgebiet?«

»Ich bin bei einer Entwicklungsgesellschaft beschäftigt. Meine Aufgabe ist, den Boden zu untersuchen, damit die Statik der Bauwerke genau berechnet werden kann, zum Beispiel.«

Margit schmiegte sich eng an ihn.

»Das ist gut! Und wie steht es mit dem Baugrund für uns?«

»Ich denke, es sieht gut aus. Es sieht nach meinem ersten Dafürhalten sehr, sehr hoffnungsvoll aus. Wir müssen uns nur noch einigen, wie das Gebäude sein soll, das wir darauf bauen. Ich stelle mir ein großes Haus auf einer Wiese vor. Du legst einen Garten an.«

Margits Herz klopfte.

»Henk«, sagte sie leise. »Ich mag keine Häuser, wenn dafür die schöns­ten Wiesen mit den schönsten Pflanzen plattgewalzt werden müssen. Das tut mir weh!«

»Oh, Maja! Für dich baue ich dann ein Baumhaus. Aber nicht alle Menschen können in Baumhäusern leben. Es wird immer wieder vorkommen, dass Wiesen und Wälder weichen müssen. Seit es Menschen gibt, gibt es den Kampf zwischen Natur und Kultur.«

»Ich weiß, Henk! Ich bin im Konflikt. Ich weiß nicht, ob ich mit jemand zusammen sein kann, der Wiesen und Wälder zerstört.«

Margit spürte, wie Henk erschrak. Er zuckte regelrecht zusammen.

»Maja, wenn ich es nicht tue, den Boden auf seine Beschaffenheit, Standfestigkeit und Struktur prüfe, dann tut es jemand anderes. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.«

»Das weiß ich! Ich sehe es auch ein, trotzdem habe ich meine Bedenken, Henk. Das wollte ich dir nur sagen. Außerdem ist es eine Frage der Auslegung, was Menschen als Fortschritt ansehen.«

»Was siehst du als Fortschritt an, Maja?«

»Ich mache selbst im Augenblick eine Wandlung durch. Ich denke über vieles nach. Naturverbunden war ich schon immer. Trotzdem hatte ich mich mit vielem abgefunden. Die Welt ist eben so, wie sie ist, dachte ich. Doch dann kam ich hierher nach Waldkogel. Es war Zufall, dass ich mir diesen Ort ausgesucht habe. Die Beschreibung in der Reisebroschüre hatte mir gefallen. Da stand etwas von ursprünglich und unverdorben. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war. Es reizte mich. Also fuhr ich her und quartierte mich auf der Berghütte ein. Ich war neugierig, wie es sein würde, ohne Autoauffahrt, ohne Skilift, ohne ständigen Strom.«

»Kein Strom? Keine Elektrizität?«, staunte Henk.

»Es gibt einen Generator. Er wird mit Diesel betrieben. Doch Toni, der Hüttenwirt, der nimmt ihn nur in Betrieb, wenn die Waschmaschine Strom benötigt oder die Handys aufgeladen werden müssen. Ansonsten gibt es Kerzen, Öllampen und Petroleumlampen. Die Wirtsstube wird abends größtenteils vom Kaminfeuer erhellt. Gekocht wird auf einem Herd, der mit Holz befeuert wird.«

Henk schaute Margit überrascht an, als könnte er nicht glauben, was sie ihm erzählte.

»Auf jeden Fall war ich auf diese Berghütte sehr neugierig. Ich habe für mich auch eine Erklärung gefunden. Toni und Anna, das ist seine Frau, die beiden Kinder Sebastian und Franziska leben nicht rückständig, im Gegenteil. Sie haben die Berghütte vom alten Alois übernommen und führen sie fast unverändert so weiter. Ich habe für mich herausgefunden, dass sie sehr fortschrittlich sind auf der Berghütte. Sie sind schon viel weiter, als es auf den ers­ten Blick aussieht. Sie sind viel weiter, was die Lebensqualität angeht. Wenn man auf der Berghütte ist, dann wird man von einer Ruhe erfasst, die einfach unbeschreiblich ist. Toni sagt, das machen die Berge. Aber ich sage, das kommt auch daher, dass alles einfach ist. Es ist wirklich edel in der Einfachheit.«

»Deine Augen leuchten, wenn du darüber sprichst.«

»Ja, es ist auch ein ganz besonderer Fleck, die Berghütte. Die Natur mit Tag und Nacht bestimmt den Rhythmus des Tages. Es ist einfach nur schön. Ich habe dabei entdeckt, dass es eine Qualität des Lebens gibt, die mir kein Fortschritt geben kann. Es wird niemals eine Straße hinauf zur Berghütte gebaut werden. Der einzige Hubschrauber, der regelmäßig landen darf, ist der Hubschrauber der Bergwacht aus Kirchwalden.«

Henk schaute hinüber in Richtung des Dorfes.

»Jetzt, wo du von einfachem Leben sprichst, sehe ich, was mir an diesem Dorf irgendwie seltsam vorkam. Es gibt hier keine großen mehrstöckigen Apartmenthäuser, es gibt keine Seilbahn, keinen Sessellift. Es ist ein wenig, als sei die Zeit hier stehengeblieben.«

»Henk, nein! Die Zeit ist hier nicht stehengeblieben! Im Gegenteil, die Waldkogeler sind ihrer Zeit weit voraus. Sie haben die guten Dinge und Bräuche der alten Zeit als neue Tradition schon weit mit in die Zukunft genommen. Es ist schwer in Worte zu fassen. Es ist nicht so, dass sie sich keine Seilbahn leisten könnten oder einen Sessellift. Sie wollen es nicht. Sie gehen zu Fuß auf die Berge. Sie leben im Einklang mit der Natur, und das hat Auswirkungen. Sie bekommen so viel zurück.«

»Was bekommen sie dafür?«

»Henk, sie bekommen Zeit, Ruhe, Frieden, Freundlichkeit, Zusammengehörigkeit, einfach alles, was das Herz warm macht und mit Liebe erfüllt. Es ist einfach ein gutes Gefühl! Spürst du es nicht, Henk?«

Margit machte mit dem Arm eine weite Bewegung.

»Sieh dich um, Henk! Ist der Bergsee nicht wunderschön, wie er so unberührt hier liegt? Keine Bettenburgen verschandeln das Ufer, kein Rummel. Da sind keine Tretboote und Motorboote. Es gibt einige Ruderboote, die drüben auf der anderen Seite im Schilf liegen. Jeder kann sie nutzen.«

Margit lächelte Henk an.

»Ich stelle mir vor, dass es schon seit Jahrhunderten hier so aussieht, und das finde ich tröstlich. Es gibt Kraft und lässt mich den Hauch von Ewigkeit spüren.«

Henk legte den Arm um Margits Schultern.

»Du bist nicht nur eine schöne junge Frau, du bist auch klug, Margit. Du bist sehr naturverbunden.«

»Henk, ich habe dir das alles gesagt, dass du nicht enttäuscht bist, wenn sich unsere Freundschaft vielleicht nicht so entwickelt, wie du es dir erhoffst.«

»Das ist eine deutliche Warnung!«

»Ja, das ist es, Henk. Ich habe in deinen Küssen bemerkt, dass du mir sehr zugetan bist.«

»Du bist mir doch auch sehr zugetan, Maja!«

Sie lächelten sich an.

»Es ist schwierig, Henk. Man kann seinem Herzen wohl nicht vorschreiben, wem es zugetan ist. Aber ich bin sehr anspruchsvoll. Ich kann nur jemanden ...«

»Lieben? Wolltest du ›lieben‹ sagen?«, fragte Henk.

»›Lieben‹ ist ein starkes Wort. Es ging alles so schnell. Ja, ich denke das Wort triff zu.«

Henk nahm sie in die Arme. Er schaute ihr in die Augen.

»Maja, ich habe mich sofort in dich verliebt!«

Maja streichelte Henk die Wange.

»Oh, Henk, was ist da mit uns geschehen? Wird das nicht zum Konflikt führen? Ich, die Biologin, die sich als Bewahrerin der Natur versteht und du, der kühl rechnende Ingenieur, der den Grund für Fundamente prüft. Ich will mir nicht vorstellen, dass dort, wo Gräser blühen, Beton ausgegossen wird.«

Sie schauten sich in die Augen.

»Müssen wir alle Fragen heute lösen, Maja?«

Statt einer Antwort seufzte Maja tief.

»Maja, ich liebe dich«, sagte Henk leise. »Und ich bitte dich, mir zu glauben, dass ich noch niemals zuvor jemals so empfunden habe. Die drei Wörter, der Satz, der mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag und den ich dir sagen wollte, diesen Satz habe ich niemals vorher zu jemandem gesagt. Das musst du mir glauben, Maja!«

Maja schmiegte sich an ihn.

»Ich habe mich auch in dich verliebt. Du, Henk, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe dich durch das Fernglas gesehen, wie du hinten am See auf den Wiesen gewesen bist.«

Sie schauten sich in die Augen. Dann fanden sich ihre Lippen zu einem langen innigen Kuss.

»Maja, ich mache dir einen Vorschlag! Wir packen unsere Sachen zusammen. Dann gehen wir zu meinem Auto. Wir fahren ins Hotel nach Kirchwalden. Dort holen wir einen Teil meines Reisegepäcks. Ich telefoniere noch mit einigen Leuten. Das muss ich machen. Aber dann habe ich einige Tage frei und gehe mit dir auf die Berghütte. Du hast mich neugierig gemacht. Außerdem will ich jede mögliche freie Minute mit dir zusammen sein.«

»Klingt gut«, sagte Margit leise.

Sie packten zusammen und gingen Hand in Hand zum Waldrand. Dort, wo die Feuchtwiesen in den Wald übergingen, stand unter den Bäumen ein großer Kastenwagen. Er war innen wie ein Büro eingerichtet.

Sie stiegen ein und fuhren zurück.

Als sie auf die Hauptstraße einbogen, bat Margit Henk anzuhalten.

»Henk, kann ich dich etwas fragen?«

»Sicher! Was liegt dir auf der Seele? Ich sehe es dir an.«

»Du machst hier keinen Urlaub. Du bist zum Arbeiten hier, stimmt es?«

»Ja!«

»Es hat etwas mit den Wiesen hinten am Bergsee zu tun, stimmt es?«

»Ja! Ich bin beauftragt, ein Gutachten über die Bodenbeschaffenheit hinten am See zu erstellen.«

»Dann soll da wohl etwas gebaut werden, wie?«

»Ich bin nur für die Bodenbeurteilung zuständig, Maja. Ich bin kein Architekt. Was die Eigentümer vorhaben, weiß ich nicht. Einige der Herren wollten sich heute mit mir treffen, aber sie sagten ab. Sie haben irgendwelche Schwierigkeiten auf einer anderen Baustelle. Aber ich werde nach Tagen bezahlt und soll auf sie warten. Es ist also kein Verlust für mich. Wenn du es so sehen willst, dann ist es ein bezahlter Urlaub. Ich werde sicherlich erst nächste Woche gebraucht.«

Henk schaute Margit an. Margits strahlende Augen hatten einen traurigen Schimmer.

»Warum ist das so wichtig für dich? Weißt du etwas, was ich nicht weiß?«

Margit seufzte.

»Es wurde geredet auf der Berghütte und im Wirtshaus, in dem ich hier auch ein Quartier habe. Ich habe da Einiges gehört.«

»Was hast du gehört?«

»Es sind nur Spekulationen! Die einen sagen, da sollen Fischteiche hin, die anderen sprechen von Ferienhäusern und einer Freizeitanlage.«

Henk zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, was sie vorhaben, die Eigentümer. Es hängt auch wohl davon ab, was meine Untersuchungen ergeben. Ich bin wirklich nicht im Bilde, Maja. Das musst du mir glauben.«

Sie sah ihn ernst an.

»Henk, ich konnte deshalb heute Nacht kaum schlafen. Ich habe mein Herz an diese wunderbare Landschaft verloren. Deshalb war ich schon so früh am See. Ich wollte das alles auf mich wirken lassen, diese Schönheit und Unberührtheit der Natur, so lange es noch so ist, wie es ist.

Dann sah ich dich, drüben auf den Wiesen hinter dem Bergsee. Ich dachte, du gehörst zu den Männern, die sich gelegentlich dort herumtreiben und jeden verjagen, der nur in die Nähe kommt.«

»Verjagen? Darauf kann ich mir keinen Reim machen. Also, was soll ich dir darauf sagen, Maja? Ich bin bei der Firma, die ihre Hand darauf hat, nicht angestellt. Ich arbeite auftragsweise für ein Ingenieurbüro. Das Büro hat mich hergeschickt. Ich soll prüfen, wie die Feuchtwiesen sind und wie man sie verwerten kann.«

»Verwerten nennt man das? So-so! Das klingt nicht gut! Dann will also jemand mit den Feuchtwiesen etwas tun, sie bebauen. Was gebaut wird, hängt von deinen Untersuchungen ab?«

»Ja, so kann man es sagen! Wobei ich keinen Einfluss auf die Bebauung habe. Ich stelle nur fest, wie tragbar der Grund ist. Der Rest ist Sache der Architekten und Eigentümer. Ich dachte, ich erfahre heute etwas. Aber dazu kam es nicht.«

Henk lächelte Margit glücklich an.

»Und ich bin darüber sehr froh, dass es so ist. So habe ich dich getroffen. Vielmehr du hast mich aus dem Wasser gefischt! Alle Fragen beantwortet?«

»Ja! Doch ich komme nicht mit dir nach Kirchwalden! Mein Kopf brummt. Es ist so viel geschehen, Henk. Ich wandere jetzt langsam über die Almen hinauf zur Oberländer Alm und von dort weiter auf die Berghütte. Wenn ich spazierengehe, kann ich gut denken.«

»Schade, aber ich kann dich verstehen.«

Henk schaute auf die Uhr.

»Wir sehen uns dann am Nachmittag!«

Er griff nach einem Plan von Waldkogel, der im Handschuhfach des Autos lag und schaute sich an, wie er später fahren musste. Margit erklärte es ihm noch einmal, wie er mit dem Auto zur Oberländer Alm kommen konnte.

Sie küssten sich noch einmal lange und innig. Dann stieg Margit aus. Henk fuhr davon. Margit sah ihm nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war.

Dann ging sie zu Tonis Eltern ins Wirtshaus.

*

Zwei Stunden später war Margit wieder auf der Berghütte. Es war ein warmer Sommertag, und die Berghütte war am Nachmittag voller Hüttengäste. Alois stand hinter dem Tresen und zapfte Bier. Toni bediente die Gäste auf der Terrasse. Margit ging zu Anna in die Küche. Toni kam dazu.

»Mei, lange bist net unten geblieben, Maja!«

»Die nächsten Tage wird nix geschehen! Es gibt Probleme auf einer anderen Baustelle«, sagte Maja.

»Woher weißt des?«, fragte Toni.

»Das hat mir Henk Gruber gesagt.«

Toni schaute Margit überrascht an. Er legte die Stirn in Falten.

»Der ist aber net aus Waldkogel, dieser Henk. Einen Henk Gruber haben wir hier nicht. Wie hast du ihn kennengelernt, und was hat er mit den Feuchtwiesen zu tun?«

Verlegen strich sich Margit ihr langes blondes Haar hinter die Ohren. Sie lächelte verlegen und errötete leicht.

»Ich habe ihm vielleicht das Leben gerettet«, sagte Margit zaghaft.

»Wie bitte?«, fragte Anna erstaunt. »Und wieso vielleicht?«

Alois hatte im Wirtsraum zugehört. Er stellte das halbvolle Bierglas ab und kam auch die wenigen Schritte in die Küche.

»Nun erzähle schon!«, forderte Toni Margit auf.

»Zuerst habe ich ihn auf den Feuchtwiesen gesehen, durch das Fernglas. Dann ist er im Bergsee Schwimmen gegangen. Dabei hat er einen Krampf in die Beine bekommen und ziemlich gezappelt. Also, es sah aus, als würde er ertrinken. Da musste ich ihn retten, oder?«

Anna, Toni und der alte Alois schauten sich an. Alois holte die Schnapsflasche mit seinem selbstgebrannten Obstler. Er schenkte vier Gläser voll.

»Also, darauf müssen wir erst mal trinken! Auf Maja, die Lebensretterin!«

Sie hoben die Gläser, prosteten sich wortlos zu und tranken. Maja verzog das Gesicht.

»Himmel, der ist wirklich hochprozentig!«, stöhnte sie. »Tut aber wirklich gut!«

»Bist ein bissel arg mitgenommen, Madl, wie?«, fragte der alte Alois.

»›Ein bissel‹, wie du das sagst, Alois, das ist die absolute Untertreibung des Jahrtausends! Ich bin da in etwas hineingeschlittert. Der Himmel stehe mir bei!«

»Des klingt net gut«, sagte Toni mit besorgtem Unterton in der Stimme.

Margit stützte für einen Augenblick die Arme auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen.

»Also, es ist wohl das Beste, wenn ich es euch geradeheraus sage. Geplant war, dass ich spioniere und es mir vielleicht gelingt, einem der Männer etwas zu entlocken, sozusagen mit weiblicher List.«

»Genau, mit List gegen Tücke!«, warf Alois ein.

»Das ist gründlich danebengegangen, denke ich. Aber wie man es auch sieht. Ich kann wirklich nichts dafür. Es ist einfach geschehen. Er ist auch so süß!«

Anna, Toni und Alois sahen sich an. Nur mühsam unterdrückten sie ein Schmunzeln.

»Wer ist süß?«

»Henk! Henk Gruber! Es hat einfach gefunkt. Der Blitz ist eingeschlagen. Schon als ich ihn durch das Fernglas betrachtete, dachte ich, was für ein Mann. Da muss er mir schon sehr gefallen haben. Ich hatte Herzklopfen. Dann war er am Ertrinken. Ich dachte nicht nach und stürzte mich ins Wasser.«

»Himmel, wie leichtsinnig! Du hättest selbst ertrinken können!«, stöhnte der alte Alois.

»Nein! ›Fisch‹, war mein Spitzname in der Schule. Ich gewann jährlich beim Schulwettkampf und holte für meine Schule alle Preise über fünfzig, einhundert und zweihundert Meter Freistil. Jede Staffel gewann, in der ich mitschwamm. Ich habe außerdem das Rettungsschwimmerabzeichen.«

»Mei, was d’ net sagst! Dann hatte dieser Bursche, dieser Henk, wirklich Glück, dass du in der Nähe warst. Ist ja noch einmal gut gegangen!«, warf Toni ein.

»Ja, das ist es! Jedenfalls, was seine Rettung anbelangt, war es ein Erfolg. Aber was danach kam, hat mich sehr überrollt. Leute, ich kann nichts dagegen machen. Es kam einfach

so. Er sah mich an. Wir redeten und dann …«

»Ja, was dann?«, fragte Toni.

»Wir haben uns geküsst und ja …, ja, ich gebe es zu, wir sind ineinander verliebt. Er hat große braune Augen und dunkle Haare. Er sieht einfach umwerfend gut aus. Er ist ein richtiger Adonis. Er ist ein Mann, von dem man denkt, dass ihm die Frauen reihenweise zu Füßen liegen.«

»Dann hast dir ja einen richtigen Burschen geangelt, Maja!«, grinste Alois. »Da kann man dir nur gratulieren.«

»So einfach ist des nicht, Alois! Er sagt, er sei bei der Firma nicht angestellt, sondern arbeite als Freier für ein Ingenieurbüro. Aber er soll den Boden dort untersuchen. Er sagt, er wisse nicht, was der Eigentümer vorhat. Er war kurz vor sechs Uhr heute Morgen mit irgendwelchen Leuten verabredet, die etwas zu sagen haben. Doch sie kamen nicht. Sie kommen erst nächste Woche.«

»Und wie geht es jetzt weiter, Maja?«, fragte der alte Alois. »Mei, was machst du hier auf der Berghütte, wenn dieser Henk drunten in Waldkogel ist?«

»Er kommt rauf! Er will die Tage mit mir auf der Berghütte verbringen«, sagte Margit leise und errötete tief.

»Mei, Madl, des ist doch wunderbar!«, warf Toni ein. »Freue dich!«

»Schon, aber … Ach, Toni, ich bin verwirrt!«

»Aber glücklich bist schon, oder?«

Margit lächelte Toni an. Ihre Augen strahlten.

»Ich hatte nicht vor, mich wirklich zu verlieben!«

»Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen, Margit! Du kannst dir nicht aussuchen, wann du dich verlieben willst und in wen du dich verliebst.

Die Liebe ist ein Himmelsgeschenk. Du kannst nur annehmen oder ablehnen. Aber wirklich ablehnen kannst du sie nicht. Wenn du und dieser Henk, also wenn die Liebe bestimmt hat, dass ihr zusammengehört, dann kannst nix machen. Dann ist des so, Maja. Dann musst dich damit abfinden!«

»Ich habe ja auch nichts dagegen, Toni! Ich war nur nicht darauf vorbereitet.«

»Auf die Liebe ist man nie vorbereitet. Man kann im Leben vieles selbst bestimmen und planen, aber die Liebe hat ihre eigenen Gesetze und Regeln. Also, jetzt mal Klartext! Wann will dein Henk kommen?«

»Er ist nach Kirchwalden gefahren und holt seine Sachen aus dem Hotel. Dann kommt er.«

»Anna, haben wir noch eine freie Kammer?«

Anna trat zum Plan, der in der Küche an der Wand hing. Anna schüttelte den Kopf.

»Nein, Toni! Heute Nacht sind alle Kammern belegt. Es bleibt nur ein Matratzenlager im Wirtsraum. Der Hüttenboden ist auch voll.«

Der alte Alois grinste.

»Also, wenn die beiden sich lieben, dann kann der Bursche gleich bei der Maja in der Kammer schlafen, denke ich! Dann spart er sich das Fensterln. Außerdem sind die Fenster der Kammer für einen Einstieg net geeignet. Sie sind zu klein. Und wenn Henk so ein stattlicher Bursch ist, dann bleibt er am Ende im kleinen Fensterrahmen stecken!«

Margit verfärbte sich. Sie wurde abwechselnd rot und blass und wieder rot.

»Alois«, rief Margit aus, »Alois, so weit sind wir noch nicht!«

Alois grinste.

»Des wollte ich damit net sagen. Ich meinte, er kann sich bei dir in der Kammer auch auf den Boden legen, wenn du ihn net in dein Bettchen lässt. Wenn du Angst hast, kannst ja die Tür auflassen. Und wenn du dann immer noch Angst hast und es dir net genügt mit der offenen Kammertür, dann kann Bello Wache halten. Ich meine ja nur!«

Alois drehte sich um und ging wieder zum Tresen, um weiter Bier zu zapfen.

Margit saß mit hochrotem Kopf am Tisch.

»Maja, ich sage dir jetzt etwas! Hier auf der Berghütte findest du keine Ruhe. Lauf rüber zum ›Erkerchen‹. Dort bist du alleine. Wenn dein Henk kommt, dann schicken wir ihn zu dir.«

Anna gab Toni ein Zeichen, dass er gehen sollte. Toni verstand den Wink sofort. Anna wollte mit Margit alleine reden, von Frau zu Frau. Er ging hinaus. Es war auch Zeit. Die Hüttengäste auf der Terrasse verlangten nach einem weiteren Bier.

Anna setzte sich zu Margit an den Tisch.

»Was sagt dir dein Herz?«, fragte Anna.

»Oh, frage mich nicht, Anna! Es schlägt Purzelbäume vor lauter Glück. Aber ich habe auch ein wenig Angst.«

»Das ist normal! Wenn die Liebe mit solcher Macht das Füllhorn über dir ausgeschüttet hat, dann ist es nur verständlich, dass du verwirrt bist. Jeder Frau, jedem Madl geht es so. Bei mir war das auch so, glaube mir, Maja! Ich wehrte mich auf der einen Seite sehr und auf der anderen Seite konnte ich es nicht erwarten, bis er mich endlich küsste.«

Anna lachte.

»Toni ließ sich Zeit! Er stellte meine Geduld auf eine harte Probe. Da hast du es leichter! Küsst er gut?«, fragte Anna leise.

Margit rollte verträumt die Augen.

»Anna, wenn er mich küsst, dann fließen Himmel und Erde zusammen, dann scheint nachts die Sonne und Mond und Sterne stehen tagsüber am blauen Himmel. Wenn er küsst, fließt Wasser den Berg hinauf, statt hinunter. Die Zeit steht still! Verstehst du?«

Anna berührte kurz Margits Hand.

»Maja, das ist Liebe«, sagte Anna lächelnd. »Das ist die Liebe, die einzige, die große, die wahre Liebe. Du musst es nur zulassen!«

Anna packte Maja etwas Proviant ein und schickte sie zum »Erkerchen«.

»Setz dich hin, denke an ihn und lausche auf dein Herz!«

Das war Annas Ratschlag für Margit.

Margit saß auf der Bank am »Erkerchen«. Sie gähnte. Es rächte sich, dass sie so früh aufgestanden war. Die Sonne schien warm. Margit zog ihre Jacke aus und knautschte sie zusammen. Sie benutzte sie als Kopfkissen. Margit streckte sich auf der Bank aus. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Bald war sie eingeschlafen. Sie träumte von Henk.

*

Der Mann stand auf der Terrasse der Berghütte und sah sich um.

»Grüß Gott! Ich bin der Toni und bin hier der Hüttenwirt! Willst dich nicht setzen?«

Toni reichte dem Fremden die Hand. Dieser nahm die Sonnenbrille ab.

»Guten Tag oder Grüß Gott, wie man hier in den Bergen sagt. Danke, aber ich will mich noch nicht setzen. Erstens bin ich völlig gefesselt von der Aussicht. Himmel, was für ein Blick!«

Toni strahlte.

»Ja, schön haben wir es hier oben schon. Und heute ist ein besonders schöner Tag. Die Luft ist klar, und man kann sehr weit sehen.«

»Ja, das kann man! Ich habe es mir nicht so vorgestellt. Es ist einfach überwältigend. Die Berge sehen vom Tal aus schon sehr eindrucksvoll aus. Aber der Blick von hier oben ..., diese Weite … einfach … da fehlen mir die Worte. Man wird stumm vor Ehrfurcht. Man fühlt sich der Schöpfung näher.«

»Ah, dann bist zum ersten Mal in den Bergen?«

»Ja, das bin ich! Wenn ich aber ge­wusst …, auch nur geahnt hätte, dass einem so das Herz aufgeht … Es ist einfach wunderbar.«

Toni schmunzelte.

»Des freut mich! Aber die Berge laufen dir nicht weg. Jetzt setz dich hin, und ich bringe dir ein Bier. Mit einem schönen Glas Gerstensaft kannst die Aussicht noch besser genießen.«

»Danke, aber ich habe noch etwas vor!«

»Für eine Bergwanderung ist es schon zu spät. Falls du so etwas vorhattest, dann rate ich dir, damit bis morgen zu warten. Weißt, als Neuling unterschätzt man gern die Anforderungen der Berge. Die Luft ist dünner. Gönne dir heute einen ruhigen Tag, dann wirst du es morgen umso besser genießen können.«

Der Mann lächelte Toni an.

»Darum geht es aber nicht! Ich suche jemanden. Ich bin verabredet. Aber …«, er schaute sich um. »Das ist doch die einzige Berghütte in Waldkogel oder?«

Toni nickte. Er schaute dem Mann zu, wie er einige Schritte auf die offene Tür der Berghütte zuging und in den Wirtsraum sah.

»Da ist niemand drin! Bei dem schönen Wetter sind alle unterwegs oder sitzen hier auf der Terrasse«, sagte Toni.

Der Fremde rieb sich das Kinn.

»Mm, ich suche eine junge Frau, langes blondes Haar, blaue Augen. Sie trägt das Haar vielleicht auch zu einem Pferdeschwanz gebunden oder hochgesteckt.«

»Hier gibt es so ein Madl. Des ist die Margit Hackl.«

Ein Strahlen erfasste die Gesichtszüge des Mannes. Seine Augen leuchteten vor Glück.

»Genau, die suche ich, die Maja!«

»Dann musst du der Henk sein, wie?«

»Ja, der bin ich! Entschuldige, ich habe mich vorhin nicht vorgestellt. Ich war so überwältigt von dem Anblick. Wo ist Maja? Ich kann sie nicht sehen. Sie hatte mir zugesagt, dass sie hier auf mich warten würde. Aber vielleicht hat sie es sich anders überlegt.«

Ein Schatten von Traurigkeit und Enttäuschung huschte über Henks Gesicht.

Toni steckte die Hände in die Taschen seiner Lederhose und fragte:

»Warum soll sich die Maja des anders überlegt haben?«

Henks Wangen färbten sich vor Verlegenheit rötlich.

»Ich kenne die Maja noch nicht lange. Und vielleicht habe ich sie etwas überrumpelt. Zuerst dachte ich, wir verstehen uns. Doch dann war sie plötzlich etwas …«

Henk räusperte sich. Toni bemerkte, wie nahe es Henk ging.

»Toni, dann war sie unvermittelt sehr kühl. Wir wollten zusammen nach Kirchwalden fahren. Aber plötzlich überlegte sie es sich anders und entschloss sich, zur Berghütte zu gehen. Ich bin etwas verwirrt. Ich werde aus ihr nicht schlau. Aber vielleicht ist es für uns Männer ohnehin schwer, die Frauen zu verstehen.«

Toni schmunzelte.

»Dass wir Burschen die Madln net verstehen, das sagen die Madln auch«, lachte Toni. »Aber keine Sorge. Mit der Maja ist alles in Ordnung. Sie war hier. Ich kann dir des vielleicht sogar erklären, was mit dem Madl los ist. Aber jetzt setzt du dich hin, im Stehen redet es sich schlecht! Ich hole uns zwei Bier.«

Toni deutete auf einen freien Tisch am Ende der Terrasse der Berghütte. Henk setzte sich und stellte seinen Rucksack neben sich auf den Stuhl. Es dauerte nicht lange, dann kam Toni. Er brachte zwei Bier und einen Teller mit einer herzhaften Brotzeit für Henk. Toni setzte sich. Sie prosteten sich zu und tranken.

»Also, was kannst du mir über die Maja sagen?«, fragte Henk.

Er errötete leicht und fügte hinzu:

»Also, Toni, ich will zu Anfang etwas klarstellen. Ich schätze die Maja sehr. Ich treibe kein Spiel mit ihr. Es ist kein unbedeutender Urlaubsflirt mit ihr. Das sollst du wissen!«

Toni schmunzelte.

»Dass es dir ernst ist, daran zweifele ich nicht. Und ich denke, dass des der Maja auch bewusst ist. Sie hält es auch nicht für einen Urlaubsflirt. Sie hat uns von dir erzählt. Des Madl war ein bissel durcheinander. Mei, des ist verständlich. Es kann einen schon ein bissel aus der Bahn werfen, wenn die Liebe einschlägt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Da ist nichts so, wie es einmal war. Nur die Liebe kann das Leben eines Menschen von einer Sekunde zur nächsten Sekunde so verändern. Das Leben bekommt eine andere Richtung.«

Toni grinste. Er schaute Henk an, der glücklich lächelte und seufzte.

»Was bin ich glücklich, Toni! Was habe ich mir Gedanken gemacht! Ich konnte Majas plötzliches sonderbares Verhalten nicht einordnen. Wir haben uns geküsst, uns unsere Liebe gestanden und dann ging Maja plötzlich auf Distanz. Es war, als richtete sie plötzlich eine Wand zwischen uns auf. «

»Henk, das musst du verstehen. Die Maja hatte ein Erlebnis, das sie sehr beschäftigt.«

»Du meinst, dass sie mich gerettet hat. Ich bin ihr so dankbar. Ich dachte für einen Moment, jetzt ertrinke ich im kalten Bergsee, das war es, aus – Ende!«

»Daran dachte ich nicht, Henk. Hat Maja dir von der alten Ella Waldner erzählt?«

Henk schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich es tun! Ich muss dazu etwas ausholen!«

Henk nickte und fing an zu essen.

Toni holte etwas aus. Er erzählte von Ruppert Schwarzer und dessen Strohmann im Gemeinderat. Er berichtete, wie oft Ruppert Schwarzer schon versucht hatte, mehr Einfluss in Waldkogel zu bekommen. Toni sprach ausführlich über die Feuchtwiesen hinten am Bergsee und dass die Eigentümer alle zu einer Gesellschaft gehören, die wiederum Teil des Ruppert Schwarzer Imperiums ist.

Als Toni Henk erzählte, wie die Männer mit der alten Ella Waldner umgegangen waren, war dieser sehr empört.

»Ich wusste davon nichts. Ich kenne diesen Ruppert Schwarzer nicht. Ich sollte nur den Grund begutachten. Ich gebe zu, dass solche Gutachten Grundlage für Bauvorhaben sind oder sein können. Und ich verstehe nicht, was ihnen an ein paar Kräutern liegen könnte. Die machen doch niemanden arm. Gras wächst wieder nach. Wenn dort wirklich gebaut werden sollte, dann rücken die Bagger an, und von den Kräutern bleibt nichts mehr übrig. Warum sollten sie der alten Frau also die Kräuter nicht gönnen? Was soll das Theater?«

»Und du hast wirklich keine Ahnung, was hinter der Sache steckt, Henk?«

»Nein! Ich wollte Feuchtigkeitsmessungen machen und die Festigkeit und Bodenbeschaffenheit prüfen und so weiter und so weiter. Alles Sachen, die ganz normal sind, wenn in problematischem Gelände etwas verändert werden soll.«

Toni sah Henk in die Augen. In diesem Augenblick fragte sich Toni, ob ihm Henk die Wahrheit sagte. Als ob dieser Tonis Gedanken erraten konnte, äußerte er sich.

»Du musst mir das einfach glauben, Toni. Ich weiß wirklich nicht, was da vor sich geht. Ich war für heute mit einigen Leuten verabredet, die da etwas zu sagen haben. Doch sie kamen nicht. Dann bin ich schwimmen gegangen, und den Rest der Geschichte kennst du ja.«

»Hast schon etwas herausgefunden, Henk? Ich bin kein Ingenieur, ich bin nur ein Bub der Berge. Ich weiß aber ohne Untersuchung, dass es hirnrissig wäre, dort zu bauen, mal ganz abgesehen, dass die Gemeinde keine Baugenehmigung erteilen würde.«

»Toni, es gibt Bauvorhaben, die bestehen aus kleinen Einheiten. Dazu benötigt niemand eine Baugenehmigung.«

»Ja, wie meinst des jetzt?«

»Ich bin kein Architekt, Toni. Ich weiß nur, dass es Gemeinden gibt, da kann auf Grundstücken gebaut werden, wenn die errichteten Gebäude eine Fläche von vierzig Quadratmetern nicht übersteigen.«

»Kleine Hütten zum Beispiel!«

»Genau, kleine Hütten, zum Beispiel! Das könnte eine Möglichkeit sein, aber Genaues kann man erst sagen, wenn man die Bauvorschriften der Gegend kennt. Aber für möglich halte ich es.«

»Himmel, Henk! Ich bin mir ganz sicher, dass sich dort eine Schweinerei anbahnt. Des muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden. Niemand hier in Waldkogel will ein Hüttenareal, das dem Ruppert Schwarzer gehört. Wir meiden den Gauner wie der Teufel des Weihwasser, wie man sagt. Verstehst? Kannst du da nix machen?«

Hoffnung schwang in Tonis Stimme mit.

»Ich verstehe schon, was du meinst, Toni. Aber ich bin ein vereidigter Gutachter und kann nicht tricksen, jedenfalls nicht über ein bestimmtes Maß hinaus. Privat kann ich dir sagen, dass ich es schade fände, wenn dort gebaut wird. Außerdem wird es sehr teuer werden, bei dem Grund. Aber wenn dieser Ruppert Schwarzer so ein …«

»Lumpenhund!« warf Toni ein.

»… so ein Lupenhund ist, dann geht es ihm wahrscheinlich mehr da­rum, der Gemeinde Waldkogel eins auszuwischen. Menschen wie er können nicht einsehen, dass es auch für sie Grenzen gibt. Sie wollen immer mit dem Kopf durch die Wand. Selbst wenn sie materiell dafür mehr geben müssen, als sie bekommen. Sie zahlen gern drauf. Es geht ihnen um die innere Befriedigung. Das zählt für diese Typen dann mehr.«

»Genauso ein hirnrissiger Ochse ist der Ruppert Schwarzer. Eigentlich ist er ein richtiger Pfennigfuchser. Aber wenn es um gekränkte Eitelkeit geht, dann schießt er über das Ziel hinaus. So denke ich es mir. Dann kennt er keine Grenzen.«

»Nun warten wir mal ab, Toni! Nächste Woche werde ich die Herren kennenlernen, vielleicht finde ich etwas heraus.«

Henk lächelte Toni an.

»Also, wenn es geht, würde ich mich die nächsten Tage gern auf der Berghütte einquartieren.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Wir sind belegt. Kann dir nur noch ein Matratzenlager in der Wirtsstube anbieten«, schmunzelte Toni. »Aber vielleicht gewährt dir Margit Asyl in ihrer Kammer.«

»Das ist ein schöner Gedanke, Toni. Aber ich hoffe erst einmal nicht darauf. Wer sich keine Hoffnungen macht, der kann nicht enttäuscht werden. Es tut dann nicht so weh. Also ein Matratzenlager auf dem Boden der Wirtsstube, damit gebe ich mich erst einmal zufrieden.«

Toni schüttelte den Kopf.

»Des ist die völlig falsche Einstellung, Henk! Hoffnung und Glaube an ein glückliches Ende können Berge versetzen. Und die Liebe, die kommt noch dazu. Sie ist die stärkste Kraft überhaupt, die es gibt. Damit meine ich nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern die Liebe überhaupt. Die Liebe zur Arbeit, zur Natur, einfach alles soll man lieben, Henk. Dann wird es auch. Das ist von mir net nur so dahergeredet. Ich spreche aus Erfahrung.«

»Wenn ich dich so betrachte, dann halte ich es sogar für möglich, dass es so sein kann. Scheinst ein glücklicher Mensch zu sein, Toni.«

»Der bin ich! Weißt, ich habe mich schon als Kind verliebt in die Berghütte und den Beruf des Hüttenwirts. Die Liebe hat schließlich auf die Anna ausgestrahlt. Und die Liebe zur Anna, die ist auch ganz überraschend über mich hereingebrochen. Glaube mir, Henk, wenn mir vorher jemand vorausgesagt hätte, ich würde mich in eine hochstudierte Bankerin verlieben, so eine ganz fesche, mit lackierten Fingernägeln, eine, die nur Zahlen und Gewinne im Kopf hat, dann hätte ich ihn ausgelacht. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass des net möglich ist, dass es so etwas nicht geben kann, dass sich so ein Madl nie in einen einfachen Hüttenwirt verlieben würde. Dabei war ich damals noch nicht einmal Hüttenwirt, ich träumte nur davon. Aber die Liebe, die macht alles möglich.«

Anna ging vorbei.

Toni griff nach ihr und drückte sie kurz an sich.

»Anna, das ist der Bursche von der Maja!«

Anna reichte ihm die Hand.

»Sei gegrüßt, Henk! Maja hat mir von dir erzählt! Hast einen guten bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen«, Anna lächelte und blinzelte Henk zu.

»Ja, und wo ist Margit jetzt?«

»Toni und ich haben sie zum ›Erkerchen‹ geschickt. Hier war zu viel Trubel. Dort kann sie nachdenken und ein wenig zur Ruhe kommen. Sie war sehr aufgeregt.« Anna lächelte Henk an. »Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man seine große Liebe aus dem Wasser fischt!«

»Ich hatte großes Glück«, sagte Henk leise. »Mir sitzt jetzt noch der Schock in den Knochen.«

»Ja, ja! Die Liebe denkt sich schon mal recht seltsame Wege aus, damit sich zwei Herzen finden«, schmunzelte Anna. »Das ist so auch wunderbar. Das ist das schönste Geschenk, das man erhalten kann.«

Henk wischte sich die Lippen ab.

»Danke, Toni! Die Brotzeit hat gut geschmeckt. Dann werde ich mich auf den Weg machen. Wie weit ist es bis zum ›Erkerchen‹? Hoffentlich verlaufe ich mich nicht. Ich bin ein Neuling in den Bergen.«

»Es ist nicht weit, Henk! Verfehlen kannst du es auch nicht. Am besten du nimmst Bello mit! Oder hast du Angst vor großen Hunden?«

Toni rief nach Bello, der drinnen in der Wirtstube vor dem Kamin lag, seinem Lieblingsplatz. Bello kam.

»Ein Neufundländer! Was für ein Zufall. Ich war als Kind oft mit den Neufundländer Hunden unseres Nachbarn unterwegs. Ich hätte alles gegeben, wenn meine Eltern mir einen solchen Hund gegönnt hätten.«

»Das ist doch ein gutes Omen«, grinste Toni.

Er legte den Arm um Anna und fügte hinzu:

»Meinst net auch?«

Anna legte ihren Kopf an Tonis Schulter und lächelte glücklich.

»Ja, Toni, das ist ein gutes Omen!«

Henk sah Toni und Anna fragend an.

»Wie soll ich das verstehen? Oder muss ich das nicht verstehen?«

»Das ist eine lange Geschichte, Henk! Wir erzählen sie dir die Tage einmal. Bello hatte einen großen Anteil, dass aus uns ein Paar geworden ist. Er war so etwas wie Amor, der uns näherbrachte.«

»Ah, dann soll ich ihn als eine Art lebenden Talisman mitnehmen? Das gefällt mir«, sagte Henk und kraulte Bellos Fell.

Dann erklärte Toni Henk den Weg zum »Erkerchen« und klinkte Bellos Leine ein. Kurz darauf war Henk unterwegs zu seiner Liebsten.

*

Margit stand am Geländer des »Erkerchens« und schaute über das Tal. Sie war ganz in Gedanken versunken und erschrak, als Bello laut neben ihr bellte und an ihr hochsprang.

Sie zuckte zusammen, stieß einen kleinen Schrei aus und fasste sich an die Brust.

»Himmel, Bello! Da bleibt mir fast das Herz stehen«, sagte Margit.

Henk löste Bellos Leine und ließ den Hund Platz machen.

»Ich will auf keinen Fall, dass dein Herz stehenbleibt, Maja! Aber wenn du ein wenig Herzklopfen hast, wegen mir, das würde mir gefallen.«

Er gab ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange. Sie erwiderte ihn nicht.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte Henk.

Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er errötete. Margit lächelte ihn an. Sie streichelte ihm die Wange.

»Nein!«

Ihre Augen leuchteten. Sie gab ihm ebenfalls einen Kuss auf die Wange. Lieber hätte sie ihn auf seine weichen, warmen Lippen geküsst. Aber sie hielt sich mit klopfendem Herzen zurück.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie leise. »Ich freue mich«, fügte sie mit einem Augenaufschlag hinzu.

»Tut mir leid, dass du so lange hast warten müssen. In Kirchwalden hat es länger gedauert. Ich musste noch einige Angelegenheiten mit dem Büro klären. Anschließend war ich einkaufen. Ich musste noch etwas Wichtiges einkaufen. Dann war ich noch eine kleine Weile auf der Berghütte. Toni hatte mich zu einer Brotzeit eingeladen. Wir haben geredet.«

»Über mich? Über uns?«, entfuhr es Margit.

Sie errötete verlegen und wich für einen Augenblick seinem Blick aus.

»Ja, wir haben über dich und mich geredet. Aber nicht nur. Wir sprachen auch über Ruppert Schwarzer. Doch jetzt bin ich bei dir! Und ich werde einige Tage auf der Berghütte bleiben. Freust du dich, Maja?«

Sie nickte eifrig, und dabei strahlten ihre Augen heller als ein Stern am Nachthimmel.

»Du siehst wunderbar aus, Liebs­te!«

»Ich fühle mich auch gut. Besser als heute morgen. Ich habe etwas geschlafen, ein kleines Nickerchen gemacht.«

»Aha, du hast dir einen Schönheitsschlaf gegönnt, damit du für mich noch schöner bist. Ich fühle mich geschmeichelt. Aber du gefällst mir immer.«

Henk nahm Margits Hände. Er schaute ihr in die Augen.

»Maja, ich bin so glücklich, dass wir uns begegnet sind.«

»Unsere Begegnung war etwas feucht«, lachte Margit. »Aber ich bin auch sehr glücklich darüber.«

Henk zog sie an sich. Margit legte ihre Arme um seinen Hals. Langsam näherten sich ihre Lippen. Sie schlossen die Augen und gaben sich ganz ihren innigen Gefühlen hin. Sie küss­ten sich lange und innig. Es waren keine Küsse voller ungezügelter Leidenschaft, sondern Küsse angefüllt mit grenzenloser Liebe und ehrlicher Hingabe, so wie sie nur aus wirklich liebenden Herzen quellen konnten.

»Bist du dir jetzt sicher?«, fragte Henk.

Er schaute Margit in die blauen Augen. Eigentlich war es eine unnötige Frage gewesen, denn Henk las in Margits Augen, dass sie ihn liebte, und ihre Küsse hatten es ihm gesagt, mehr als es Worte vermögen konnten.

»Ja, Henk! Ich bin mir sicher! Es ist zwar alles etwas ungewöhnlich, aber es ist nun einmal, wie es ist.«

»Ungewöhnlich war es bestimmt, wie wir uns begegnet sind. Toni sagt, die Liebe geht oft ungewöhnliche Wege, damit sich zwei Herzen finden.«

»Was die Ungewöhnlichkeit betrifft, halten wir beide sicherlich den Rekord!«, lachte Margit.

»Wir werden später unseren Kindern einmal viel zu erzählen haben. Sie werden sicherlich alle sehr gute Schwimmer werden. Ich bin dafür, dass wir einen riesigen Pool haben, oder wir sollten am Ufer eines Teiches wohnen.«

Margit schaute Henk mit großen Augen an.

»Du hast vielleicht ein Tempo drauf!«

Henk zog sie an sich und küsste sie.

»Maja, das Leben ist so kostbar. Darüber habe ich heute nachgedacht. Jeder Tag ist ein Geschenk, und ich möchte keinen Tag verschenken. Ich weiß, dass dir vielleicht ein wenig unbehaglich ist, was meinen Beruf angeht. Aber ich habe als Ingenieur auch andere Möglichkeiten. Wenn du willst, dann suche ich mir eine andere Aufgabe. Dann kannst du sicher sein, dass niemals mehr, in Folge meiner Gutachten, Kräuter zubetoniert werden.«

»Das würdest du für mich tun? Du bist so lieb!«

Sie streichelte ihm die Wange. Er spürte, wie ihn bei ihrer Berührung ein wonniger Schauer durchströmte und jede Zelle seines Körpers er­fasste.

»Ich würde alles für dich tun, Maja! Ich habe nur noch ein Ziel im Leben. Ich will mit dir zusammen glücklich in einer Familie leben.«

Margit lachte und küsste ihn flüchtig auf die Lippen.

»Du hast dich verzählt, Henk. Das sind mehrere Ziele. Da gibt es mich, eine Familie und dazu gehören auch Kinder.«

»Was sagst du dazu?«

»Henk, was soll ich dazu sagen? Es hört sich fast wie ein Heiratsantrag an.«

»Nein, das ist kein Antrag.«

Er spürte, wie sie sich unter seinen Händen verkrampfte. Er zog sie enger an sich, schaute ihr in die Augen.

»Liebste Maja! So unromantisch bin ich dann doch nicht.«

»Gut zu hören«, sagte Margit leise.

»Ich wollte nur mal … Also ich wollte wissen …«, stotterte Henk.

»Hast du wieder diese Schwierigkeiten, einen Satz zu bilden?«

»Nein, Maja! Bitte unterbreche mich nicht. Ich gebe zu, dass ich mich bei Sätzen, in denen es um Gefühle geht, etwas schwer tue. Ich bin eben ein Mann der Tatsachen und der Fakten. Aber in Sachen Liebe, wirklicher Liebe, unerfahren. Da musst du es mir nachsehen, dass ich ins Stottern komme. Es ging auch alles sehr schnell.«

»Ja, es kam einfach über uns. Aber vielleicht war es notwendig und richtig so vom Schicksal eingefädelt. Ich habe mich bisher mehr um Kräuter, Blumen und Pflanzen gekümmert. Das war mein Lebensinhalt. Für Liebe habe ich später immer noch Zeit, dachte ich immer. Ich schob den Gedanken an eine feste Bindung immer weit fort.«

»Und ich war gedanklich immer nur auf Baustellen und Grundstücken. Dabei blickte ich öfters auf die Erde und in Baugruben, als in die Augen einer schönen Frau. Ich hatte auch kein wirkliches Bedürfnis danach. Doch dann schaute ich dich an. Der erste Blick im Wasser des Berg­sees in deine blauen Augen war unbeschreiblich. Es war ein Wunder. Es war wie im Märchen, wie bei einer Nixe. Aber du bist keine kalte Nixe, du bist warm und weich und so sinnlich. Und ich kann dich festhalten. Du wirst mir nicht mehr entgleiten in die Tiefen des Wassers, wo es keine Möglichkeit der Verschmelzung unserer Herzen geben kann. Ich liebe dich, Maja!«

»Ich liebe dich, Henk! Es ist verrückt! Aber ich kann mir auch vorstellen, immer, jeden Tag mit dir zusammen zu sein! Und ich erlaube dir Fundamente aus Beton. Weißt du, die Natur ist stärker. Das weiß ich mit Sicherheit. Kein Bauwerk, das Menschen je geschaffen haben, ist dauerhaft. Die Natur ist mächtiger und erobert sich jeden Zentimeter bebautes Land zurück.«

»Ich weiß, Maja! Und hier in den Bergen sind mir der Zauber und die Kraft der Natur wieder bewusst geworden. Im Alltagstrott löst man sich oft von der Natur. Das erkennt man nicht. Wie viel Macht und Kraft die Natur hat, bemerkte ich erst wieder hier in den Bergen.«

Henk lächelte und gab Margit einen Kuss.

»Ich habe die Kraft der Natur gespürt, als ich hilflos im Wasser des Bergsees trieb. Doch zum Glück hast du mich gerettet.«

»Du musst deine Arbeit nicht aufgeben, Henk! Dann wird es ein anderer an deiner Stelle tun. Du kannst bestimmt viel erreichen, wenn du sie weitermachst und dir der Verantwortung gegenüber der Natur bewusst bist. Ich bin mir sicher, du kannst steuernd und verantwortungsvoll eingreifen mit Gesprächen und Ratschlägen. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Menschen die Natur lieben. Wenn man wieder ihr Interesse daran weckt, dann sind sie nicht nur glücklich, sondern sie lieben die Natur wieder. Sie nähern sich ihr mit Ehrfurcht und Respekt im Herzen und handeln überlegter, nicht mehr so gedankenlos.«

»Toni sagt, man muss seine Arbeit lieben. Das tue ich. Und ich will ein Stück dazu beitragen, dass die Liebe zur Natur wieder wächst und viele wieder Respekt vor Gottes herrlicher Schöpfung haben.«

»Wir werden es gemeinsam tun, Henk!«

»O ja, das werden wir! Und wir werden mit den Feuchtwiesen anfangen.«

»Das ist eine großartige Idee! Wir überlegen gemeinsam, wie wir diesem Ekel und Hornochsen von Ruppert Schwarzer gehörig die Suppe versalzen können.«

»Das tun wir, Maja! Toni hat mir erzählt, wie die Männer mit der alten Kräuterfrau umgegangen sind. Was für eine Schande!« Henk schmunzelte. »Auf der anderen Seite ist es gut, dass sie es getan haben. Da bewahrheitet sich mal wieder der Satz, dass in jeder Krise eine Chance verborgen ist. Wenn sie Ella Waldner nicht verjagt hätten, wärst du nicht am Berg­see gewesen, um zu spionieren und wir hätten uns nicht getroffen. Das ist das Erste. Zweitens hat sich Ruppert Schwarzer damit selbst ein Bein gestellt, auch wenn er Ella nicht persönlich verjagt hat. Es kam etwas in Bewegung. Mit ein wenig Glück werden wir die schöne Landschaft so erhalten können.«

»Du hast eine Idee! Stimmt es?«

»Es ist erst mal nur ein Gedanke. Allein kann ich ihn nicht ausführen, dazu fehlen mir die Kenntnisse. Aber du als Botanikerin kannst sicherlich helfen. Ich schlage vor, wir schauen uns morgen gemeinsam die Feuchtwiesen an.«

»Gute Idee! Und wenn du magst, dann können wir auch Ella besuchen. Sie ist eine wunderbare Frau.«

»Gern, wir sollten ihr ein Geschenk mitbringen. Was könnte man ihr schenken?«

Maja lächelte. Sie schüttelte den Kopf.

»Ella ist sozusagen wunschlos glücklich. Wenn sie einen Wunsch hat, dann ist es der, dass sie weiterhin ihre Kräuter auf den Feuchtwiesen holen kann und die Wiesen so bleiben, wie sie sind.«

»Das verstehe ich. Uns wird schon etwas einfallen.«

»Nun sag schon, Henk. Mach es nicht so spannend!«

»Alles zu seiner Zeit. Heute wird nicht mehr gearbeitet.«

»Was tun wir stattdessen?«

»Uns in den Armen halten und küssen! Uns gegenseitig unserer Liebe versichern.«

Maja schlang die Arme fester um Henks Hals und küsste ihn. Sie tauschten zärtliche und innige Küsse. Plötzlich bellte Bello.

»Er findet das vielleicht langweilig«, lachte Henk. »Übrigens, bei meiner Aufzählung habe ich etwas vergessen – den Hund. Ich will unbedingt einen Hund. Genauer gesagt, so ein Zotteltier wie diesen.«

»Wenn dein Herz daran hängt, Henk. Einverstanden!«

Henk nahm Maja bei der Hand und führte sie zur Bank. Sie setzten sich. Henk legte den Arm um sie. Majas Kopf ruhte an seiner Schulter.

»Maja, ich war in Kirchwalden einkaufen.«

»Das sagtest du! Was hast du gekauft?«

»Etwas für dich und etwas für uns!«

Henk griff in die Hosentasche und holte eine kleine Schachtel hervor.

»Hier bitte, ich hoffe, sie gefallen dir! Ich habe aber vereinbart, dass ich sie umtauschen kann. Schau nach!«

Mit klopfendem Herzen öffnete Maja die kleine blaue Schachtel.

»Oh, wie schön!«, rief sie begeis­tert aus. »Henk, du hast genau meinen Geschmack getroffen. Dabei haben wir uns über Ästhetik noch nicht unterhalten.«

»Vergiss nicht, dass wir uns lieben und uns geküsst haben. Unsere Herzen sind verschmolzen. Da weiß jeder von uns alles über den anderen.«

»Ja, so ist es! Du hast gefühlt, was mir gefallen würde.«

Margit nahm die kleinen Ohrringe mit den blauschimmernden Steinen aus Aquamarin aus der Schachtel. Sie klemmte sich die Clips an die Ohrläppchen.

»Sieht sehr gut aus zu deinen wunderbaren blauen Augen, Maja!«

»Das will ich selbst sehen!«

Sie kramte in der Vortasche ihres Rucksackes und holte einen winzigen Spiegel heraus. Sie betrachtete sich lange.

»Ja, sie sind ganz wunderbar. Danke! Vielen, vielen Dank!«

Maja nahm die Ohrringe wieder ab und legte sie wieder in die Schachtel.

»Warum behältst du sie nicht an?« staunte Henk.

»Weil ich sie nicht verlieren will. Außerdem will ich sie nur zu besonderen Anlässen tragen. Ich habe ein blaues Kleid. Dazu passen sie gut. Dann kommen sie noch besser zur Geltung als zu diesem Outfit. Lass dich überraschen!«

»Du gefällst mir immer, gleich, was du anhast!«

Maja brach in lautes Lachen aus.

»Ja, du hast mich schon anders gesehen, nur in Wäsche. Du darfst aber nicht glauben, dass es Taktik war.«

Statt einer Antwort küsste Henk Maja.

»Es waren zuerst deine wunderschönen blauen Augen, die mich verzauberten, Maja. Da bist du im Wasser gewesen, und ich habe nur dein Gesicht gesehen.«

»Ich wäre selbst fast abgesunken, als ich dich sah, Henk. Ich dachte, mir schwinden selbst gleich alle Sinne.«

»Zum Glück ist es nicht geschehen!«

Sie küssten sich wieder.

»Maja, ich habe noch etwas eingekauft.«

»Stimmt! Du sagtest, du hast etwas für mich eingekauft und etwas für uns! Ich bin gespannt!«

»Gleich, gleich, liebste Maja! Dazu muss ich dir noch etwas sagen.«

Henk schüttelte den Kopf.

»Nein, dazu muss ich nichts sagen. Ich muss etwas erklären. Oder vielleicht auch nicht, weil alles eindeutig ist. Trotzdem will ich dir eine Erklärung geben, weil es sich so gehört und ich uns nicht um diesen wunderbaren Augenblick bringen will.«

Henk stand auf und trat vor Margit. Er griff nach ihrer Hand. Mit seiner anderen Hand zog er eine kleine rote Schachtel in Herzform aus der Innentasche seiner Jacke.

Margits Herz fing wieder stärker an zu klopfen. Sie wagte kaum zu atmen. Eine tiefe Ahnung ergriff sie. Tausend Gedankenblitze schossen ihr durch den Kopf.

Er wird doch nicht?

Es kann doch nicht sein?

So schnell schon?

Henk kniete sich vor Margit hin. Er öffnete die kleine Schachtel. In einem roten Samtkissen steckten zwei goldene Ringe.

»Maja, ich liebe dich! Du bist die Frau, mit der ich mein Leben leben möchte. Du bist die richtige Frau, die Frau, die ich gerne zur Mutter unserer Kinder machen möchte. Maja, ich liebe dich! Ich bitte dich aus tiefstem Herzen, meine Frau zu werden.«

Margit schluckte.

Ihre Augen wurden feucht vor lauter Glück. Alle Bedenken, die sie hatte, warf sie fort. Sie hörte nur darauf, was ihr Herz ihr zuflüsterte.

Nimm ihn, Maja! Maja, werde seine Frau!

Margit nickte eifrig. Dann nahm sie Henks Kopf zwischen ihre Hände. Sie küsste ihn.

Leise flüsterte sie:

»Ja, ich will! Ich bin mir sicher, wir werden viele glückliche Kinder haben.«

Mit zitternden Händen und etwas unbeholfen, so unbeholfen, dass es Maja rührte, steckte ihr Henk den goldenen Verlobungsring an den linken Ringfinger.

»Er passt genau«, sagte er leise.

»Du kannst als Ingenieur eben gut mit Maßen umgehen!«, lachte Maja.

Sie streifte Henk den größeren Ring über.

Dann stand Henk auf. Er zog Maja von der Bank hoch an sich. Sie besiegelten ihre Verlobung mit einem langen, einem sehr langen und sehr innigen und sehr tiefen Kuss.

Bello bellte.

»Ja, Bello! So ist es brav. Willst uns als erster zur Verlobung gratulieren!« lachte Henk. »Hast deine Aufgabe als Glücksbringer und Talisman gut gemacht, Bello!«, lobte ihn Henk.

Die nächsten Stunden saßen Maja und Henk eng umschlungen auf der Bank des »Erkerchens« und genossen die ersten Augenblicke eines gemeinsamen Lebens. Sie erzählten sich einander viel aus ihrem Leben, von ihren Träumen und Zielen. Die Lebensentwürfe, die jeder für sich hatte, fügten sie zusammen zu einem gemeinsamen Lebensziel, wie es nur Liebende tun.

Die Sterne leuchteten am Nachthimmel über den Bergen von Waldkogel. Der Mond stand groß und leuchtend im Sternenmeer. Es war ihnen, als lächele er ihnen zu und freute sich mit an ihrem Glück.

»Maja, ich muss dir etwas gestehen! Ich hoffe, es kommt dadurch nicht zu einem Streit zwischen uns.«

»Kommt jetzt eines der üblichen Geständnisse eines Mannes? Hast du eine Freundin, von der du dich trennen musst? Hast du ein Kind?«

Henk gab ihr einen Kuss.

Er griff in die Jackentasche und zog seine Brieftasche heraus.

»Maja, ich beobachte dich schon lange. Ich war schon lange in dich verliebt. Ich habe dir einmal eine Einladung zum Abendessen an dein Auto gesteckt.«

»Du warst das gewesen?«

»Ja, ich! Warum bist du nicht gekommen? Warum hast du dich nicht gemeldet?«

»Ich war unterwegs, eine Forschungssache mit meinem Chef. Ich fand das Kuvert erst viel später unter meiner Post.

Nachbarn hatten sie für mich in Empfang genommen. Sie hatten den Umschlag unter dem Autoscheibenwischer herausgenommen. Ich habe einmal bei dir geläutet. Du bist nicht daheim gewesen.«

»Dann war ich wohl unterwegs!«

»Warum hast du nicht noch einmal versucht, mich anzusprechen?«

»Ich war vielleicht zu feige! Aber ich liebte dich! Ich habe dich heimlich mit dem Teleobjektiv auf der Wiese fotografiert. Hier, sieh!«

Er zeigte ihr das Bild und hielt zur Erleuchtung die Flamme seines Feuerzeuges daneben.

»Kein gutes Bild!«

»Stimmt! In Wirklichkeit bist du noch viel schöner!«

Henk küsste sie.

»Du denkst jetzt nicht, ich hätte das im Wasser mit Absicht gemacht, damit du mich rettest?«

Margit lachte und küsste ihn.

»Henk, Henk, Henk! Nein, das denke ich nicht. Aber jetzt verstehe ich, warum du noch einmal abgesunken bist, als du mich erkanntest.«

»Ja, ich dachte, vielleicht bin ich doch ertrunken und schon im Paradies. Du bist mir wie ein Engel vorgekommen!«

»Pitschnasser Engel!«

Margit schmiegte sich in Henks Arme. Sie küssten sich lange und innig und voller Hingabe und Zärtlichkeit.

»Wir wurden wohl zusammengebracht, weil wir uns beide nicht trauten, auf den anderen zuzugehen. Ich hätte mich auch einmal mehr auf deine Einladung melden können. Aber wir sind füreinander bestimmt. Als ich in deine Augen blickte, da wusste ich es. Du bist es!«

Sie küssten sich. Es bedurfte keiner weiteren Worte, die über ihre Lippen kamen. Alles, was sie sich zu sagen hatten, flüsterten sich ihre Herzen zu bei jedem Kuss.

Stunde um Stunde lauschten sie dem Glockenschlag der schönen Barockkirche von Waldkogel. Es ging schon auf Mitternacht zu, als sie zurück zur Berghütte gingen. Bello lief voraus.

Anna und Toni saßen beim Kamin im großen Wirtsraum. Sie schmunzelten, als sie die beiden durch die offene Tür treten sahen. Henk legte den Arm um Margit.

»Toni! Anna«, sagte Henk.

Dabei hatte er leuchtende Augen vor lauter Glück, wie man sie sonst nur bei Kindern unterm Weihnachtsbaum sah.

»Toni! Anna! Maja und ich haben uns verlobt! Wir sind uns ganz sicher, dass wir zusammengehören!«

Toni und Anna standen auf. Sie beglückwünschten die beiden.

»Ganz schön verrückt«, sagte Maja. »Gestern um die Zeit hätte ich noch Stein und Bein geschworen, dass ich so eine Entscheidung niemals treffen würde und so schnell und nach so kurzer Zeit überhaupt nicht. Aber Henk ist schon der Richtige!«

»Und du bist die Richtige!«

Henk küsste Margit.

»Mit Zeit hat die Liebe nichts zu tun, sage ich immer. Im Grunde weiß ein liebendes Herz sofort, für wen es schlägt. Es ist Unsinn, lange drum herum zu reden und abzuwägen und so weiter. Die Liebe hat ihre eigenen Gesetze, die sich außerhalb jeder Vernunft bewegen, und das ist gut so. Es ist einfach Liebe!«

Anna schmiegte sich an Toni.

»Ja, da kann ich Toni nur beipflichten. Genauso ist es! Man schaut dem anderen nur für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen und dann weiß man schon, dass man zusammengehört. Es ist einfach das Wunder der Liebe!«

Toni und Anna sagten »Gute Nacht« und ließen die beiden alleine. Sie hatten ihnen den Tisch gedeckt und eine herzhafte Brotzeit hingestellt.

Bevor Henk und Margit sich an den Tisch setzten, verschwand Margit in ihrer Kammer. Es dauerte nicht lange, dann kam sie wieder. Sie trug ein blaues wadenlanges Sommerkleid und dazu Henks Geschenk, die Aquamarinohrringe.

»Du siehst wunderbar aus, Maja!« hauchte Henk und küsste sie.

Dann saßen Henk und Margit alleine im Wirtsraum der Berghütte. Henk drehte die Petroleumlampen herunter. Der Raum wurde nur von dem leise prasselnden Kaminfeuer und den Kerzen auf dem Tisch erhellt.

»Was für eine wunderbare, romantische Atmosphäre«, sagte Henk. »Und dieser Frieden! Es ist, als stehe die Zeit still. Es gibt nichts mehr, nur noch dich und mich!«

»Bis jetzt, Henk!« blinzelte ihm Maja zu. »Aber dabei wird es nicht bleiben. Unser Glück wird erst vollkommen sein, wenn wir eines Nachts an einer Wiege stehen und das schlafende Kind betrachten.«

Henk griff über den Tisch, nahm Majas Hand und küsste sie.

Sie aßen zu Ende. Dann räumten sie gemeinsam den Tisch ab. Anschließend nahm Margit Henk bei der Hand und führte ihn zu ihrer Kammer. Sie machte die Tür auf.

»Es wird ein wenig eng werden, Henk!«, flüsterte sie leise.

»›Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar‹, so sagt man doch, Maja! Also werden wir diese Aussage jetzt prüfen.«

»Genau! Gesagt wird vieles! Wir prüfen. Danach können wir ein Gutachten abgeben!«

»Es wird mit Sicherheit die These bestätigen, denke ich!«

»Das denke ich auch, Henk!«

Sie traten ein und schlossen die Tür hinter sich. Dabei mussten sie Bello hinausdrängen, der mit in die Kammer kommen wollte.

*

Am nächsten Tag wanderten Henk und Maja zu den Feuchtwiesen. Den ganzen Tag trieben sie sich darauf herum. Maja pflückte Kräuter und hielt Henk lange botanische Vorträge. Margit war ganz aufgeregt. Sie brach jedes Mal in lautes Entzücken aus, wenn sie eine weitere Schmetterlingsart, eine seltene Art von Grashüpfer, wenn sie einen Laubfrosch sah, der davonhüpfte, wenn Wiesenvögel von ihren Nistplätzen aufschwirrten. Margit war ganz in ihrem Element. Sie hatte dutzende Arten von Pflanzen entdeckt, die auf der roten Liste der bedrohten Arten standen.

»Das wird alles werden, Henk! Es wird großartig werden, Henk. Dieser Ruppert Schwarzer wird hier nichts machen können!«, jubelte Margit.

Der Plan der beiden schien aufzugehen. Die Feuchtgebiete am Berg­see von Waldkogel beherbergten so viele seltene Exemplare der Flora und Fauna, die alle auf der Liste der bedrohten Arten standen. Jetzt hieß es, äußerst schnell zu sein. Es war schon später Nachmittag, als sich Henk und Margit in Henks Auto zurückzogen. Sie fuhren tiefer in den Wald. Das war sicherer, denn sie wollten nicht entdeckt werden. Dort, in Henks perfekt mit Computer und einem Minilabor ausgestattetem Auto, machten sich Margit und Henk an die Arbeit. Sie arbeiteten Hand in Hand, so als würden sie es schon lange tun. Es war eben die Liebe, die ihre Herzen so verband und sie so harmonieren ließ.

Margit teilte die gesammelten Pflanzen. Die eine Hälfte presste sie. Die andere verpackte sie sorgfältig und schickte sie an ihren Professor an der Universität mit einem entsprechenden Begleitschreiben. Darin erläuterte Margit, warum sie dringend und umgehend seine Hilfe benötigte. Er sollte ein Gutachten schreiben, damit bei der übergeordneten Naturschutzbehörde ihr Schreiben den nötigen Nachdruck hätte. Gleichzeitig informierte Margit verschiedene Zeitungen über ihren Fund und die Ankündigung, dass das Gebiet unter Naturschutz gestellt werden würde, was bedeutete, dass es dort keinerlei bauliche Veränderungen geben konnte. Margit rieb sich vor Vergnügen die Hände.

»Hoffentlich gelingt uns im Leben alles so wunderbar, Henk!«

»Das wird es Maja, weil wir uns lieben und an die Liebe glauben.«

Sie nahmen sich immer wieder in den Arm und küssten sich.

Sie waren an sich schon sehr glücklich, wie es eben nur Liebende sein konnten. Aber zusammen sich einer Aufgabe zu widmen und gemeinsam ein Ziel zu verfolgen, darin gingen sie auf. Das brachte sie noch näher.

Es war schon später Abend, als Henk und Margit nach Kirchwalden zum Hauptpostamt der Gegend fuhren, das einen Nachtschalter hatte. Dort gab Margit den dicken Umschlag an den Professor per Einschreiben und Eilpost auf.

»Wunderbar«, sagte Henk. »Wir haben viel erreicht! Nach unserem Telefongespräch hat Toni den Bürgermeister von Waldkogel informiert. Er wird sich dafür einsetzen, dass die Feuchtwiesen ganz schnell unter Schutz gestellt werden.«

»Ruppert Schwarzer wird morgen früh ganz schön aufgescheucht werden, wenn er in der Tageszeitung von Kirchwalden über das zukünftige Naturschutzgebiet lesen wird. Da wäre ich gerne Mäuschen!«

»Das ist schlecht möglich, Maja! Aber einen Teil davon wirst du schon mitbekommen. Ich nehme an, dass ich bald einen Anruf vom Büro bekomme, dass meine Arbeit hier nicht mehr notwendig ist.«

Henk lachte.

»Aber es ist auch ein Ergebnis und welch ganz wunderbares Ergebnis!« strahlte er.

»Außerdem ist es der Beweis, dass jeder Einzelne etwas tun kann, Got­tes schöne Natur zu erhalten. Sicherlich muss und kann man auch nicht die ganze Welt unter Naturschutz stellen. Dann hätte der Mensch keinen Lebensraum mehr. Das ist übrigens kein modernes Thema. Schon vor Jahrhunderten hatten sich die Philosophen Gedanken über das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur gemacht.«

»Es wird sich sicherlich viel ändern in den nächsten Jahren, Maja. Die Zeichen sind jetzt schon deutlich, und es werden immer mehr werden. Die Menschen werden mehr und mehr erkennen, dass Geld alleine nicht satt macht und nicht glücklich. Sie werden den Wert der Natur, das wunderbare Schöpfungsgeschenk, wieder achten und ehren lernen. Sie werden lernen, liebevoll und damit mit großer Verantwortung umzugehen. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Und wenn sie nicht wollen, dann müssen sie einfach nur nach Waldkogel in die schönen Berge kommen. Hier werden ihre Herzen berührt.«

»Das gibt aber ein schönes Gedränge, Maja!«

»Ich habe doch nur Witze gemacht, Henk!«

Sie fuhren zurück nach Waldkogel.

Auf Margits Wunsch hin hielten sie bei der schönen Barockkirche an. Margit hatte gesehen, dass die Kirchentür weit offen stand.

Sie gingen hinein. Margit zündete vor einem der Seitenaltäre Kerzen an und verharrte einen Augenblick. Sie brachte ihre Dankbarkeit zum Ausdruck. Sie war dankbar, dass sie die Liebe gefunden hatte und dankbar, dass sie und Henk zum Werkzeug geworden waren, ein schönes Stück Natur.

Anschließend fuhren sie zu Tonis Eltern ins Wirtshaus mit der kleinen Pension. Dort übernachteten sie. Sie wollten am nächsten Tag Ella Waldner in ihrer Kate im Wald besuchen und ihr als Geschenk eine Tageszeitung mitbringen.

*

Es war neun Uhr, als Henks Handy die beiden Liebenden aus dem Schlaf riss. Wie Henk es vorausgesehen hatte, rief sein Büro an. Der Auftrag war storniert worden. Henk sollte zurückkommen.

»Das wird schlecht zu machen sein, Chef«, sagte Henk. »Ich nehme Urlaub. Ich werde heiraten und meine Flitterwochen hier in Waldkogel verbringen.«

»Ich wusste nicht, dass Sie eine Braut haben, Herr Gruber! Das ist eine wirkliche Überraschung. Nun dann, herzliche Glückwünsche!«

»Danke!«

»Wann wird die Hochzeit sein?«

»Das behalten wir für uns, Chef! Aber wir feiern noch einmal nach meinen Urlaub! Grüßen Sie mir die Kollegen schön! Und ›Pfüat di‹, wie man hier in den Bergen sagt.«

Henk legte auf und drehte sich im Bett zu Maja um.

»Was hältst du davon, wenn wir hier heiraten?«

»Du meinst, das geht so einfach?«

»Sicherlich! Der Bürgermeister ist uns einen Gefallen schuldig. Wir haben die Feuchtwiesen gerettet.«

»Wo du recht hast, hast du recht, Henk! Also heiraten wir!«

Maja kuschelte sich in Henks Arm.

Am Nachmittag besuchten sie Ella Waldner in ihrer Kate. Sie freute sich sehr.

Sie kamen nicht alleine an. Unterwegs hatten sie Bürgermeister Fellbacher getroffen, der ebenfalls auf dem Weg zu Ella war und ihr eine Zeitung brachte.

Ella setzte ihre Lesebrille auf und las den Zeitungsartikel. Sie ließ die Zeitung sinken.

»Was ist, Ella? Du schaust net glücklich aus. Wir dachten, du freust dich wie eine Schneekönigin«, staunte Bürgermeister Fellbacher.

»Mei, des nützt nix, Fellbacher! Aber danke für die gute Absicht!«

»Mei, Ella, warum soll des nix nützen? Ja, hast denn net verstanden?«

»Sicher, ich freue mich, dass die Feuchtwiesen jetzt geschützt werden und dass der Ruppert Schwarzer seinen Plan net umsetzen kann, was immer er auch vorhatte. So genau werden wir das nie erfahren, denke ich. Ist auch nicht so wichtig. Aber die Feuchtwiesen sind für mich trotzdem verloren.«

»Wieso?«, fragte Bürgermeister Fellbacher nochmals erstaunt.

Margit begriff sofort, was Ella Waldner bedrückte.

»Herr Bürgermeister«, sagte Margit, »die Landschaftsschutzverordnung besagt, dass auf geschützten Wiesen keine Kräuter gesammelt werden dürfen.«

Ella Waldner nickte Margit zu.

Bürgermeister Fellbacher grinste. Natürlich war dieses Argument für ihn nicht neu.

Er hatte es nur spannend machen wollen.

»Mei, des weiß ich doch! Aber dafür haben wir vorgesorgt. Ich habe heute Morgen schnell eine Sondersitzung des Gemeinderats einberufen. Die Gemeinde Waldkogel hat beschlossen, dem Eigentümer die Wiesen abzukaufen, symbolisch für einen Euro. Die Besitzer haben auch schon zugestimmt. Des ist billiger für sie, so sparen sie die Grundsteuer, denn machen können sie nix damit.«

»Sie sind mir ja ein ganz schlauer Fuchs«, sagte Henk.

»Ja, der bin ich! Wenn es um das Wohl und Wehe von Waldkogel geht, dann kenne ich keine Grenzen. Da kann ich ziemlich trickreich sein. Deshalb bin ich wohl auch immer wieder gewählt worden mit großer Mehrheit, meistens einstimmig!«

Mit einem verschmitzten Lächeln griff Bürgermeister Fellbacher in die Innentasche seines Lodenjankers. Er legte Ella Waldner ein Schreiben auf den Tisch.

»Des ist nur die juristische Absicherung, Ella! Die Gemeinde Waldkogel bestellt dich zur ehrenamtlichen Pflegerin der Feuchtwiesen am Bergsee. Du musst gut darauf aufpassen.«

Bürgermeister Fellbacher grinste verschmitzt.

»Dazu gehört vor allen Dingen, dass du aufpasst, dass die Pflanzen und seltenen Kräuter gedeihen. Die dürfen wie in einem Beet auch nicht zu dicht stehen, damit sie sich gegenseitig nicht die Nährstoffe, das Licht und so weiter fortnehmen. Deshalb musst du sie gelegentlich an einigen Stellen ein bissel ausdünnen. Du verstehst? Falls du net verstehen tust, dann sage ich des dir jetzt. Du musst einige entfernen, rausreißen. Die kannst du natürlich net auf der Wiese liegen lassen. Die musst wegbringen.«

Margit und Henk brachen in lautes Lachen aus. Ella Waldner schmunzelte. Sie schaute Bürgermeister Fellbacher an und sagte:

»Ja, ja! Ich habe verstanden! Ich bin zwar nimmer die Jüngste, aber verstehen tue ich noch alles. Bist ein gerissener Fuchs, Fellbacher! So viel Mühe hättest dir net machen müssen, um bei der nächsten Wahl meine Stimme zu bekommen. Die hätte ich dir auch so gegeben.«

Sie lachten alle.

Bürgermeister Fellbacher bedankte sich bei Margit und Henk für die Hilfe.

»Schade, dass solche Leut’ wie ihr keine Bürger von Waldkogel sind.«

»Damit können wir Ihnen im Augenblick keine Freude machen, Herr Fellbacher! Aber das Leben ist lang. Wenn wir mal alt sind und Rente beziehen, dann verbringen wir bestimmt unseren Lebensabend in Waldkogel. Damit Sie sehen, wie sehr wir Waldkogel und die schönen Berge lieben, haben wir uns entschlossen, hier zu heiraten.«

Bürgermeister Fellbacher schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, dass das Leder seiner Kniebundhose krachte.

»Des höre ich doch gerne. Wann soll es sein?«

Die nächste Stunde besprachen Henk und Margit mit Fellbacher ihre Hochzeit. Das heißt, meistens redete Fellbacher. Er übertraf sich bei der Planung fast selbst. Die Gemeinde Waldkogel würde die Hochzeit der beiden zu einem besonderen Fest machen, da Henk und Margit so viel getan hatten.

*

Bernd und Sandra staunten nicht schlecht, als Henk sie anrief und sie kurzfristig zu seiner Hochzeit einlud. Sie setzten sich sofort ins Auto und fuhren die ganze Nacht durch nach Waldkogel. Sie wollten Henks Traumfrau sehen und von ihr und Henk noch einmal ganz ausführlich hören, wie sie sich gefunden hatten.

»Die Liebe hat eben eingegriffen«, sagte Henk. »Die Liebe ließ sich einen großen Trick einfallen, damit wir uns endlich fanden. Denn die Liebe wusste, dass unsere Herzen zusammengehören!«

Bernd und Sandra halfen Henk und Margit bei den Hochzeitsvorbereitungen.

Zwei Wochen später traute Bürgermeister Fritz Fellbacher Henk und Margit im Rathaus. Die kirchliche Trauung in der schönen Barockkirche von Waldkogel nahm unmittelbar anschließend Pfarrer Zandler vor. In seiner Predigt ging Pfarrer Zandler ausführlich auf den Spruch ein, den das Brautpaar gewählt hatte.

»Macht euch die Erde untertan.«

Pfarrer Zandler sagte deutlich, dass dieser Satz ständig missinterpretiert würde. Inhaltlich wären die Menschen zum Hüter und Bewahrer der Natur und der ganzen Erde bestimmt. Und in diesem Sinne hätte das Brautpaar gehandelt. Beifall füllte die Kirche, die bis auf den letzten Platz besetzt war. Die Waldkogeler wollten damit dem jungen Paar danksagen, dafür dass sie einen Zugriff Ruppert Schwarzers auf ihr schönes Waldkogel verhindert hatten.

Nach der Trauung feierten alle bei Tonis Eltern im Wirtshaus.

Henk und Margit verbrachten wunderbare vier Wochen in Waldkogel. Sie wohnten bei Toni auf der Berghütte, machten ausgedehnte Wanderungen durch die Berge, übernachteten auch mal in Schutzhütten und besuchten oft die alte Ella. Toni fuhr mit den beiden zum Hundezüchter, von dem er vor Jahren Bello gekauft hatte. So wurde einer von Henks Kindheitsträumen wahr. Er kaufte eine junge Neufundländer-Hündin, die er Bella nannte, weil ihnen Bello auf so besondere Weise ans Herz gewachsen war.

Einige Wochen nach Henk und Margits Abreise, erhielten Toni und Anna einen Brief. Darin teilten die beiden voller Freude mit, dass sie auf dem glücklichen Weg wären, bald zu dritt zu sein. Toni und Anna freuten sich sehr darüber. Anna schrieb zurück und schlug vor, das Kind in Waldkogel taufen zu lassen.

So machten es die glücklichen jungen Eltern auch. Es war ein Mädchen.

Sie nannten es Ella-Luisa. Die alte Ella hielt es während der Zeremonie in der schönen Barockkirche über das Taufbecken. Dabei war sie so gerührt, dass sie Tränen in den Augen hatte.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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