Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 30

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Toni fuhr in seinem Geländewagen die Hauptstraße von Waldkogel entlang. Schon von weitem sah er Bürgermeister Fellbacher vor der Kirche stehen. Fritz Fellbacher hatte die Hände in den Hosentaschen seines dunkelgrünen Trachtenanzuges und schaute hinauf zur Kirchturmspitze.

Toni hupte kurz.

Er hatte erwartet, dass der Bürgermeister ihm wenigstens einen Blick zuwerfen würde, aber der Bürgermeister von Waldkogel war ganz in Gedanken versunken. Toni fuhr weiter, bis zum Ende der Straße und hielt vor seinem Elternhaus. Sein Vater kam mit einem Korb voll Holz aus dem Schuppen.

»Grüß Gott!«, rief Toni ihm zu. »Gib her! Ich trag’s dir hinein.«

»Grüß Gott, Toni! Bist ein braver Bub. Aber den Korb mit Holz, den trage ich fein selbst. Ich bin doch noch kein alter Tattergreis!«

»Mei, Vater, so hab’ ich des doch net gemeint. Und des weißt auch.«

Xaver Baumberger schmunzelte.

»Schon gut, Bub! Wie war dein Einkauf in Kirchwalden? Hast alles bekommen?«

»Ja, des hab’ ich. Ich soll dich schön vom Leo grüßen. Ich war mit ihm einen Kaffee trinken. Zu mehr hat es nicht gereicht. Sein Piepser hat Alarm geschlagen. Er musste zum Einsatz. Des Wetter scheint den Leuten auf den Kreislauf zu schlagen, dann machen sie in den Bergen schlapp.

Der Leo sagte, so viele Rettungseinsätze wie in den letzten Tagen, hätte die Bergwacht schon lange nimmer gehabt. Du, Vater, die sind seit Tagen fast ständig mit mehreren Hubschraubern unterwegs.«

Xaver Baumberger nickte.

»Ja, ständig hört man die Helikopter der Bergwacht.«

Toni deutete auf den Korb mit Holz.

»Wozu brauchst des Holz?«

Xaver Baumberger schmunzelte.

»Des ist für deine Mutter. Die will den alten Holzofen in der Küche anheizen. Sie behauptet einfach, dass die Kuchen in dem alten Herd besser gelingen als im modernen Backofen. Also, ich schmecke da keinen Unterschied, Toni.«

Toni schmunzelte.

»Des ist wahrscheinlich eine reine Weibersach’, Vater. Da haben wir Mannsbilder net des richtige Feingefühl und keinen so ausgeprägten Geschmackssinn.«

Die beiden Baumberger schmunzelten. Sie gingen ums Haus herum und betraten die hinter dem Wirtsraum gelegene Küche durch die Hintertür.

»Grüß Gott, Mutter!«

Meta Baumberger wischte sich die Hände ab.

»Grüß Gott, Toni! Bist aber schon früh wieder zurück.«

»Ja, ich hab’ für die Einkäufe net lang gebraucht. Bin auch froh, dass sich wieder hier bin und will schnell wieder rauf auf die Berghütte. Mei, heute habe ich wieder geglaubt, die Leut’ in Kirchwalden sind alle irgendwie deppert. Des war ein Verkehr und jeder war so ungeduldig.«

»Des liegt am Wetter. Des ist eine seltsame Schwüle, die wir derzeit haben. Ich hoffe, es gibt bald Regen, Toni.«

Meta Baumberger schenkte Toni einen Kaffee ein. Sie gab gleich Milch und Zucker dazu und rührte um. Sie kannte ihren Buben und wusste, wie sehr ihm ein Milchkaffee schmeckte.

»Ja, ja! Ich hoffe auch, dass es bald regnet. Aber es schaut bisher net so aus. Der Himmel ist blau, wenn es auch ein bisserl dunstig in der Höhe ist. Aber es wird Zeit, dass etwas geschieht.«

»Des stimmt. Die Leut’ sind alle so müd’. Toni, du hättest mal gestern Abend den Stammtisch erleben sollen. Die saßen rum und stierten nur in ihr Bier. Sie redeten net und spielten auch keine Karten. Man hätte denken können, dass die auf einem Leichenschmaus sind und net beim Stammtisch. Aber selbst dort geht es lauter und lustiger zu. Alle sind’s dage­wesen. Alle haben nur ein Bier getrunken. Der Fellbacher hat sein Bier noch net mal ausgetrunken, die Hälfte hat er stehen lassen. Dann hat er gezahlt und ist gegangen. Des war schon seltsam«, berichtete Tonis Vater.

Toni trank einen Schluck Kaffee.

»Vielleicht liegt es wirklich am Wetter. Ich hab’ den Fellbacher eben vor der Kirche stehen sehen. Ich habe im Vorbeifahren gehupt, aber er scheint ganz in Gedanken gewesen zu sein. Er hat sich die Kirchturmspitze angesehen.

Wisst ihr etwas? Gibt es einen Schaden oder sonst einen Grund, warum unser guter Bürgermeister da so ernst hinaufgeschaut hat? Irgendwie ist mir des merkwürdig vorgekommen. Mei, wenn ich es mir genau überlege, kann ich mir keinen Reim darauf machen. Es ist noch nie vorgekommen, dass er mich net gegrüßt hat.«

Xaver und Meta Baumberger warfen sich Blicke zu.

»Was ist? Wisst ihr etwas?«, fragte Toni.

»Mei, wir wissen auch nix Bestimmtes, Toni. Nur, dass der Fellbacher gestern so merkwürdig schweigsam war. Vielleicht hängt des gar net mit dem Wetter zusammen. Vielleicht drückt ihn etwas anderes?«

»Du meinst, er hat Sorgen, Mutter?«

»Mei, ich weiß nicht. Der Fritz ist mir gestern nur ein bisserl sehr merkwürdig vorgekommen.«

Xaver Baumberger nickte eifrig.

»Toni, nun sag mal selbst. Was soll man davon halten, wenn ein Mann sein Bier net austrinkt?«

»Des stimmt, des kann einen schon ein bisserl beunruhigen. Und wenn er dazu noch so ein gestandenes Mannsbild wie unser Fellbacher ist, dann ist des schon überraschend. Also, am Bier kann es net liegen. Des hat ihm doch immer geschmeckt oder?«

»Sicher, Toni! Meistens hat er am Stammtisch drei Bier getrunken. Vorher ist er net gegangen. Er war meistens der Letzte und net der Erste, der aufgebrochen ist«, sagte Xaver Baumberger.

»Toni, je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir: mit dem Fellbacher stimmt etwas net. Also, des spüre ich genau!«

Toni schmunzelte.

»Ja, Mutter, du mit deinen Ahnungen!«

»Toni, brauchst net so spöttisch zu grinsen. Des sind keine Ahnungen. Des kommt von der Summe der Erfahrungen, die ich im Leben gemacht habe und von der Lebenserfahrung, die sich einfach daraus ergibt, verstehst? Mei, Toni, du weißt doch, wie ich des meine. Dir geht es droben auf der Berghütte doch ähnlich. Du schaust dir deine Hüttengäste auch genau an. Du merkst auch, wenn die mit ihren Gedanken ganz woanders sind. Dann machst du dir auch Sorgen, besonders, wenn die dann noch eine Bergtour planen. Wie schnell ist da etwas passiert, wenn sie net alle Gedanken beisammen haben!«

»Ja, des stimmt schon. Aber was sollen wir mit dem Fellbacher machen? Sollen wir uns da einmischen?«

»Schmarrn, Toni! Des ist kein Einmischen! Des ist Anteilnahme, des ist was ganz anderes. Wir sind doch hier net in der Großstadt, wo sich keiner um seinen Nachbarn kümmert. Naa, naa, zum Glück sind wir des net. Wir sind hier in Waldkogel und da haben wir immer zusammengehalten und Freud und Leid geteilt. ›Geteilte Freude ist doppelte Freude und geteiltes Leid, ist halbes Leid‹, so heißt es. Also tun wir was, genauer gesagt, du tust etwas, Toni.«

Toni zog die Stirn in Falten und schaute seine Mutter an.

»Mei, Toni, jetzt tu net so. Du verstehst dich doch gut mit ihm«, bemerkte Tonis Mutter. »Immerhin ist er ein Patenonkel von euren Kindern. Er hat euch beigestanden, als ihr die Kinder als Pflegekinder aufnehmen wolltet und später hat er auch eure Adoption begleitet. Er holt sie jede dritte Woche auf der Oberländer Alm ab und fährt sie in die Schule. Nächste Woche ist er wieder an der Reihe. Da siehst du ihn morgens auf der Oberländer Alm. Da dürfte es doch net so schwer sein, ihn mal kurz zur Seite zu nehmen und mit ihm einige Takte zu reden, Toni oder?«

»Ja, des stimmt schon, Mutter. Aber derjenige, mit dem sich der Fellbacher am besten verstehen tut, des ist der Zandler. Die beiden sind Freunde seit der Kindheit. Noch dazu ist der Zandler unser Pfarrer. Der Fellbacher kann sich ihm also bedenkenlos anvertrauen.«

Meta Baumberger schüttelte den Kopf.

»Des ist zwar anzunehmen, aber warum hat der Fellbacher dann den Kirchturm angestarrt? Warum war er so vertieft, dass er dich net gehört hat, wie du gehupt hast?«

Meta Baumberger machte mit Händen und Armen eine hilflose Bewegung.

»Und außerdem ist da noch etwas. Gestern Abend hat der Fritz auch net viel mit unserm guten Herrn Pfarrer geredet. Die beiden haben auch net nebeneinander gesessen, wie des sonst der Fall ist.«

»Mei, Mutter! Was tust da jetzt hineininterpretieren? Des kann doch Zufall gewesen sein, dass die net nebeneinander gesessen sind.«

Meta Baumberger schüttelte den Kopf.

»Naa, so ist des net! Jeder der Stammtischbrüder hat seinen festen angestammten Sitzplatz. Des weißt du genauso gut wie ich. Naa, naa, des kannst mir net einreden. Des kann kein Zufall gewesen sein.«

Toni trank seinen Kaffee aus.

»Gleich, wie des alles ist! Auf der Berghütte wartet meine liebe Anna! Des ist wichtig! Ich muss gehen! Die Sache mit dem Fellbacher, die wird sich aufklären, denke ich!«

Toni verabschiedete sich von seinen Eltern und ging zum Auto. Meta und Xaver standen vor dem Haus und winkten ihm nach, bis sie ihn nicht mehr sahen.

*

Meta Baumberger ließ es aber keine Ruhe. Sie knetete weiter ihren Hefeteig und heizte den Ofen an. Während sie die Kuchenbleche fettete, den Teig ausrollte und aufbrachte, während sie die Beeren und Aprikosen aus dem Garten aufschichtete, dachte sie über das seltsame Verhalten des Fritz Fellbachers nach. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass es im Hintergrund mächtig gärte. Da musste eine Sache den Bürgermeister so beanspruchen, dass er nicht mehr er selbst war. Meta wusste, wie schwierig das mit den Männern manchmal war. Die Mannsbilder haben ihren ganz eigenen Stolz, der ihnen oft im Weg steht, dachte sie. Wir Frauen sind da anders. Wir tragen das Herz mehr auf der Zunge und wenn uns etwas drückt, dann reden wir drüber und schlecht ist das net. Irgendjemand hat auch schon einmal solchen Kummer gehabt und kann einen Rat geben. Wir Frauen sind da viel offener als die Männer und das ist gut so, dachte Tonis Mutter.

»Denkst noch immer an den Fellbacher, Meta?«, fragte Xaver.

»Wie kommst drauf?«

»Mei, Meta! Ich kenn’ dich! Du heckst doch etwas aus oder?«

»So, meinst, Xaver?«

»Ja, das meine ich net nur, das weiß ich sogar!«

»Soso! Dann weißt mehr als ich! Aber jetzt störe mich net weiter. Die Kuchen müssen fertig werden. Stehe mir net im Weg herum, Xaver!«

Xaver grinste und ging hinaus. Er schaute nach, ob im Wirtsraum alles in Ordnung war. Es war schon Nachmittag und sie würden bald öffnen. Xaver schaute die Gläser und Bierseidel nach. Er legte frische blauweißkarierte Tischdecken auf, tauschte die besudelten und bekritzelten Stapel Bierdeckel auf den Tischen aus und machte noch manchen anderen Handgriff.

Drinnen in der Küche hörte er Meta hantieren. Der Duft von frischem Obstkuchen mit Streuseln drang durch die offene Tür in den Wirtsraum.

Xaver setzte sich an den Stammtisch und blätterte die Zeitung durch.

»Xaver! Ich laufe mal schnell ins Pfarrhaus. Es dauert aber net lang. Ich bin bald zurück«, rief ihm seine Frau zu.

»Was willst im Pfarrhaus?«

»Ich bringe der Helene einen Kuchen!«, sagte Meta knapp.

Ihre Stimme hatte einen Unterton, der Xaver erkennen ließ, dass es besser war, keine weiteren Fragen zu stellen.

So sagte er nur:

»Ja, gehe ruhig! Sag der Träutlein und dem Herrn Pfarrer schöne Grüße von mir.«

»Des mache ich, Xaver!«

Meta Baumberger schlüpfte aus der geschlossenen Kleiderschürze, die sie zum Backen über ihr Dirndl gezogen hatte. Sie strich sich das Haar glatt. Dann nahm sie das Kuchenblech, dass sie in dicke Handtücher gewickelte hatte und ging schleunigst davon.

Xaver sah ihr vom Fenster aus nach und schmunzelte. Ihm war klar, dass der Kuchen für die Haushälterin des Pfarrers von Waldkogel, Helene Träutlein, nur ein Vorwand war. Meta wollte Helene ausfragen, ob sie etwas wusste oder ob der Bürgermeister vielleicht sogar einen Streit mit seinem besten Kumpel hatte, obwohl sich Xaver das nicht vorstellen konnte.

Na, warten wir’s ab, dachte er und zapfte sich ein Bier.

Meta Baumberger klingelte am Pfarrhaus. Helene Träutlein, die Haushälterin des Pfarrers, kam nicht zur Tür. Sie war im Garten. Sie winkte Meta zu sich, als sie sie über den Gartenzaun sah.

»Grüß dich, Meta!«

»Grüß Gott, Helene! Du, ich hab’ da ein neues Rezept ausprobiert … Net so ganz neu, aber ein bisserl anders. Ich dachte, du willst vielleicht mal probieren?«

»Mei, des ist schön! Da danke ich dir! Was für ein Zufall? Eigentlich wollte ich heute backen, aber dann dachte ich, es ist besser, wenn ich im Garten werkele. Den armen Pflanzen setzt des Wetter genauso zu wie uns Menschen!«

»Des stimmt! Und man wird richtig duselig im Kopf. Findest net auch?«

»Ja, des stimmt, Meta. Alten und Kranken geht es richtig schlecht. Der gute Zandler ist schon den ganzen Nachmittag unterwegs und macht Hausbesuche.«

Die beiden Frauen gingen zur Gartenlaube und setzten sich. Helene Träutlein packte den Kuchen aus.

»Mei, der ist noch schön warm. Da schmeckt er am besten. Ich wollte ohnehin eine Pause machen. Du trinkst doch eine Tasse Kaffee mit mir?«

»Nur, wenn es dir net so viel Arbeit macht, Helene!«

»Schmarrn! Der Kaffee ist schon fertig! Ich habe immer frischen Kaffee in einer Thermoskanne. Man weiß ja nie, wann jemand am Pfarrhaus anklopft. Eine Tasse Kaffee tut jeder armen Seele gut.«

Helene eilte ins Haus. Bald darauf kam sie mit einem großen Tablett zurück, auf dem alles war, was zu einem schönen Kaffeeklatsch gehörte, einschließlich einer Schüssel mit Sahne.

Bald saßen die beiden Frauen bei Obstkuchen mit Schlagsahne und ließen es sich gut gehen.

»Helene, ich muss dir etwas gestehen, ich bin net nur wegen dem Kuchen hergekommen.«

»Des habe ich mir fast gedacht, Meta. Was gibt es?«

»Ich mache mir Gedanken. Mei, vielleicht sind es ganz unnötige Gedanken. Aber ich bin innerlich so unruhig. Der Xaver und auch Toni, die lachen schon über mich.«

»Mannsbilder! Da darfst dir nix dabei denken, Meta! Die Herren der Schöpfung, des sogenannte starke Geschlecht, die sind in vielen Dingen ein bisserl langsamer, des weißt doch. Sogar unser guter Herr Pfarrer macht da keine Ausnahme, aber des behältst du für dich, Meta!«

Die beiden Frauen sahen sich an und schmunzelten.

»Helene, ich hab’ da gestern schon etwas beobachtet, was mir keine Ruhe lässt und jetzt hat mein Toni mir auch noch etwas erzählt. Des hat meine Bedenken nur noch mehr angeschürt.«

»Mei, Meta, jetzt schleiche net wie die Katz’ um den heißen Brei. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst. Um was oder wen geht es?«

Meta Baumberger schaute Helene Träutlein in die Augen und beugte sich leicht zu ihr. Sie flüsterte, obwohl die beiden Frauen alleine im Garten hinter dem Pfarrhaus waren.

»Es betrifft den Fritz Fellbacher! Ich finde, der benimmt sich ein bisserl sonderbar!«

»Mei, Meta, da musst net flüstern, des kannst laut sagen! Da rennst bei mir offene Türen ein.«

»Was du net sagst?«, staunte Meta Baumberger. »Dir ist des also auch schon aufgefallen?«

»Sicher, und wie!«

Meta Baumberger schob sich genüsslich eine Gabel mit Kuchen und Sahne in den Mund. Sie kaute und schluckte.

»Siehst, Helene, des beruhigt mich jetzt doch, dass es dir auch aufgefallen ist.«

»Freilich! Ich sage dir, du hast dich net getäuscht. Mit dem Fellbacher ist eine Veränderung vor sich gegangen. Des muss doch jedem auffallen.«

»Dir ist des sicherlich noch mehr aufgefallen, Helene. Schließlich liegt das Pfarrhaus genau gegenüber vom Rathaus. Da siehst du unseren guten Bürgermeister sicherlich öfter als ich.«

»Deswegen net, Meta! Aber der Fellbacher war in den letzten Tagen öfter hier im Pfarrhaus. Und es war ganz anders als sonst, wenn er den Zandler besucht. Anschließend hat der Zandler auch ganz ernst geschaut. Mei, ich konnte natürlich nicht fragen, aber gewundert habe ich mich doch. Die beiden haben stundenlang im Studierzimmer des Pfarrers gesessen – ohne Kaffee. Sie sind verschwunden und wollten nix trinken.«

»Mei, was du net sagst! Des ist ja fast wie bei …, wie heißen diese Sitzungen?«

»Konspirative Treffen, sagt man wohl dazu!«

»Richtig! Des Wort habe ich gesucht!«

Sie nippten beide am Kaffee. Dann erzählte Meta Helene von ihren Beobachtungen, die sie in Bezug auf den Stammtisch gemacht hatte.

»Was denkst, Helene? Meinst, der Fellbacher und der Zandler haben Streit?«

»Naa, des denke ich net!«

»So, wenn du meinst, Helene. Aber was kann es dann sein, was unseren guten Fellbacher so verändert hat?«

Die Haushälterin des Pfarrers zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nix, Meta! Ich kann dir nur anvertrauen – natürlich unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit …«

Meta Baumberger nickte.

»Du hast mein Wort darauf! Des verspreche ich dir bei allen Heiligen!«

»Die Irene Fellbacher war heute in der Frühmesse!«

»Was du net sagst!«

»Ja, so war es! Sie kommt während der Woche nie in die Frühmesse. Da hat sie normalerweise keine Zeit. Bei der großen Familie hat sie viel Arbeit, bis die Kinder alle in der Schule sind. Und sie hat net gut ausgeschaut, die liebe Irene. Richtig müde sah sie aus.«

»Vielleicht stimmt etwas net mit den beiden? Differenzen gibt es auch mal in noch so einer guten und harmonischen Ehe.«

»Naa, da ist nix! Ich habe die Irene beiseite genommen. Sie sagte, dass der Fellbacher sich die halbe Nacht im Bett gewälzt hätte. Er hat wohl ein Problem. Aber er redet net mit ihr, der sture Bock!«

»Dann muss es etwas Politisches sein, denke ich mir!«, stellte Meta Baumberger fest. »Was soll es sonst sein?«

»Mei, möglich ist alles, aber der Fellbacher, der ist keiner von denen, die krumme Sachen machen, Meta! Des weißt du genauso gut wie ich. Er ist im Grunde viel zu weich und nachsichtig. Er würde sich für jeden hier ein Bein ausreißen. Feinde hat er so gut wie keine.«

»Bis auf den Strohmann vom Ruppert Schwarzer, den Franz Huber, der ja auch Mitglied im Gemeinderat ist.«

Helene Träutlein schüttelte den Kopf.

»Wenn der mal wieder querschießen würde, dann wüsste ich das. Dann hätte Pfarrer Zandler etwas erzählt.«

»Des stimmt auch wieder! Was machen wir jetzt? Mei, mit der Irene, das tut mir leid.«

»Ja, ich bin auch voller Mitleid für die Irene! Sie war so übermüdet. Ich vermute, dass des schon länger so geht, mit dem Fellbacher. Aber wir werden des rausfinden, Meta! Da kenne ich noch ganz andere Mittel und Wege.«

»So? Welche?«

Helene Träutlein schmunzelte.

»Des kannst ganz beruhigt mir überlassen. Aber sobald ich Näheres weiß, rufe ich dich an. Dann kommst her und wir bereden, was wir machen, falls wir helfen können!«

»Du kannst auf mich zählen, Helene! Und ich halte bei uns in der Wirtstube Augen und Ohren offen, da höre ich vielleicht auch das eine oder andere!«

Die beiden Frauen saßen noch eine kleine Weile zusammen und redeten. Sie spekulierten wild, was hinter dem seltsamen Verhalten vom Fritz Fellbacher stecken könnte. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis.

So verabschiedeten sie sich. Meta ging heim und Helene überlegte alleine weiter, wie sie vorgehen wollte.

*

Johanna trainierte auf dem Laufband. Sie hatte schon zehn Kilometer hinter sich gebracht, das war ihr normales Tagespensum seit Jahren. Aber sie beschloss weiter zu laufen, bis sie die totale Erschöpfung spürte. Erst dann wollte sie aufhören.

Ihr Handy klingelte. Sie ließ es bimmeln und dachte, der Anrufer würde schon aufgeben. Dem war aber nicht so.

Genervt sprang Johanna vom Band und hechtete quer durch das Fitnessstudio zum Empfangstresen, auf dem sie ihr Handy abgelegt hatte. Sie nahm das Gespräch an.

»Carin, was willst du?«, rief sie fast ärgerlich.

»Nun mal langsam, meine Gute! An mir musst du deinen Frust nicht auslassen. Ich habe noch Licht bei dir gesehen. Es geht schon stark auf Mitternacht zu. Was machst du?«

»Nichts mache ich!«

»Schwachsinn! Mach auf! Ich stehe vor der Tür!«

Carin legte einfach auf.

Johanna ging zur Tür. Durch die große Glastür sah sie ihre beste Freundin mit einem großen Korb und einer Kühltasche, wie man sie für ein Picknick verwendete. Sie schloss die Tür auf und hielt sie auf.

»Hallo«, sagte Johanna leise.

»Grüß dich! Scheinst dich ja nicht sonderlich zu freuen, mich zu sehen!«

Die Freundin musterte Johanna von oben bis unten.

»Hast dich mal wieder völlig ausgepowert, wie? Hast mal wieder trainiert bis zum Umfallen, wie?«

Johanna zog ihr Stirnband vom Kopf.

»Ja, was soll ich sonst machen? Wenn ich nicht total erschöpft bin, kann ich nicht schlafen. Immerhin war ich über sechzehn Jahre mit Rupold zusammen, davon waren wir fünfzehn Jahre verheiratet.«

»Das seid ihr immer noch!«

»Wir leben getrennt und wir werden uns endgültig trennen. Das weißt du!«

Johanna seufzte tief.

»Nun, wir hatten uns eben auseinander gelebt. Jedenfalls waren wir beide vernünftig und haben keinen Rosenkrieg angezettelt.«

Sie seufzte erneut tief.

Die beiden Freundinnen gingen in die hinteren Räume des Fitnessstudios. Seit der Trennung lebte Johanna in den ehemaligen Lagerräumen. Sie setzten sich. Carin packte aus.

»Ich dachte, ich bringe dir mal etwas Leckeres zu essen.«

»Ja, das ist gut. Danke! Ich koche für mich alleine kaum regelmäßig. Es lohnt auch nicht.«

Carin sah ihrer Freundin in die Augen, darin las sie das Elend.

»Was ist, hast du den Schritt bereut?«

Johanna zuckte die Achseln.

»Anfangs, nach meinem Auszug und nach der Einigung mit ihm, schwebte ich auf einer Wolke. Ich war frei, konnte machen, was ich wollte, musste niemandem Rechenschaft abgeben. Doch jetzt«, sie seufzte erneut tief, »jetzt habe ich festgestellt, dass das Alleinsein ganz schön kompliziert sein kann. Es ist niemand da, mit dem man reden kann, noch nicht einmal streiten.«

Carin schmunzelte.

»Du kannst gerne mit mir streiten, wenn du eine Sparringspartnerin brauchst.«

»Du verstehst mich nicht, Carin. Das ist kein Vorwurf, ich verstehe mich selbst nicht – oder nicht mehr. Ich bin einsam. Es ist oft ganz erschreckend, über so viel Zeit zu verfügen und auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Sicher schwebte ich im Anfang auf Wolken. Rupold würde mich nicht mehr einengen. Mein Leben würde nicht mehr von seinem Dienstplan bestimmt.«

»Aber jetzt bist du in einem tiefen, einem sehr tiefen und einsamen Loch, wie?«

»Ja, ich weiß nichts mit mir anzufangen. Kinobesuche sind alleine eben nicht so, wie sie früher waren. Und ich kann dich doch auch nicht jedes Mal bitten, mit mir zu kommen. Ich komme mir doof vor, wenn ich alleine essen gehe. So bleibe ich abends hier und lasse mir Pizza kommen.«

»Und du treibst Sport bis zur totalen Erschöpfung!«

»Das ist zwar übertrieben, kommt aber der Sache sehr nah. Welch ein Glück, dass ich schon vor Jahren mein eigenes Fitnessstudio eröffnet habe. Das ist der einzige Lichtblick in meinem neuen einsamen Single Leben. Ich habe meine Arbeit, die mir viel Freude macht. Das Studio läuft gut, ich habe keine finanziellen Sorgen. Eigentlich müsste ich glücklich sein. Ich bin aus dieser engen Ehe ausgebrochen. Weißt du, Rupold und ich, wir waren damals einfach zu jung. Es war Wahnsinn, dass wir mit achtzehn Jahren geheiratet haben, jedenfalls ich, Rupold war schon zwanzig.«

»Aber ihr seid doch glücklich gewesen. Ihr wart für mich immer das große Vorbild. Ihr habt studiert und euch das Haus gebaut. Du hast das Studio aufgemacht, Rupold hatte eine gute Stelle. Alles im grünen Bereich, wie man sagt.«

»Fassade! Ich bin jetzt dreiunddreißig und entdecke, dass alle Züge abgefahren sind. Ich kann meine Jugend nicht nachholen. Mein Leben ist einfach ein großes Loch, ein einsames großes Loch.«

Carin grinste.

»Dir fehlt ein Mann!«, sagte sie Johanna auf den Kopf zu.

»Es gibt noch andere Männer. Rupold war und ist nicht das einzige Exemplar seiner Gattung. Was hindert dich daran, auf die Pirsch zu gehen?«

»Ach, als wenn das so einfach wäre!«

»Also, wenn du es nicht einfach hast, dann weiß ich nicht, wer es einfach hat. Du musst den Männern nicht einmal nachlaufen. Sie kommen zu dir ins Studio und trainieren. Himmel, du hast die Auswahl! Ist da keiner dabei?«

»Das stellst du dir so leicht vor, Carin. Ich will auch nichts gegen meine Kunden sagen. Sie bringen mir meinen Lebensunterhalt.«

»Aber …«, warf Carin ein.

»Aber sie haben zu viel Muskelmasse und zu wenig Hirn. Sie sind eitel und egozentrisch bis zum … wer weiß was … Sie kennen nur ein Thema: ihr Aussehen.«

»Ist das so schlimm? Was hast du gegen einen gutgebauten Adonis?«

»Nichts, aber es ist mir nicht genug.«

»Bist du da nicht etwas vorschnell mit deinem Urteil?«

»O nein, Carin! Das bin ich nicht, bei Gott, das bin ich wirklich nicht. Ich war mehrere Male mit einigen meiner Kunden aus. Es ging total daneben. Da lasse ich die Finger davon.«

»Okay, ich verstehe! Beschreibe mir, wie der Mann sein müsste, in den du dich verlieben könntest?«

Johanna griff nach einem Schnittchen und aß. Carin ließ der Freundin Zeit.

»Nun, er müsste groß sein. Sportlich könnte er auch sein, aber nicht übertrieben. Er sollte intelligent sein. Ich will mich mit ihm über Literatur und Philosophie unterhalten können und Musik. Gegen einen guten Beruf habe ich keine Einwände. Aber einen geregelten Dienstplan würde ich schon schätzen. Wir sollten gemeinsame Freude an den gleichen Hobbies haben.«

Johanna lächelte vor sich hin.

»Wahrscheinlich gibt es den Mann nicht. Männer, die für mich vom Alter her in Frage kommen, haben alle ein Macke.«

»Wie meinst du das jetzt?«

»Es ist doch logisch, Carin. Ich bin jetzt dreiunddreißig Jahre. Also suche ich einen Mann, so bis vierzig. Die sind alle vergeben oder Singles mit Macken oder geschieden, vielleicht sogar mit einer nervigen Exfrau, mit der sie um die Besuchsrechte der Kinder streiten. Der Markt ist abgegrast, Carin. Meine Chancen stehen bei Null, wenn ich es nüchtern analysiere, verstehst du?«

»Das sind doch alles Vorurteile!«

»O nein, meine Liebe! Das sind handfeste Erfahrungen. Ich war auf Singletreffs, diesen Speed-Dates und was es da noch so gibt. Vergiss es! Da bleibe ich lieber bis an mein Lebens­ende alleine.«

Johanna seufzte tief.

»So habe ich mir das nicht vorgestellt, aber jetzt ist es so und irgendwie komme ich schon damit klar. Ich möchte auf keinen Fall, dass du mich bedauerst.«

»Ah, deshalb hast du dich in letzter Zeit nicht bei mir gemeldet.«

»Ja, ich kenne dich, Carin. Du bist wie eine Glucke und hättest mich total unter deine Fittiche genommen. Aber ich will nicht das fünfte Rad am Wagen sein und bei dir und deiner Familie rumhängen. Ich muss auf eigenen Beinen stehen. Je eher ich mich der Wirklichkeit stelle, desto besser für mich. Vielleicht wird es besser, wenn erst einmal juristisch alles geregelt ist. Doch Rupold und ich wollen uns damit Zeit lassen. Das hat steuerliche Gründe. Als Single wird man hier vom Staat nur abgezockt. Also haben wir uns geeinigt, dass jeder seinen Weg geht. Das Einzige was uns noch verbindet, ist die gemeinsame Steuererklärung. Wie geht es ihm?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Johanna!«

»Ist auch besser so! War nur eine rhetorische Frage. Wie dumm von mir.«

»Du liebst ihn vielleicht immer noch?«

»Lieben – nein! Ich habe schon lange aufgehört, ihn zu lieben. Damals war ich Mitte zwanzig, gerade mit meinem Sportstudium fertig. Damals hätte ich gehen sollen, da hätte ich bessere Chancen gehabt als heute in meinen Alter!«

»Du, das kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt doch auch viele Männer, die sich erst einmal in die Karriere gestürzt haben und erst später zur familiären Planung übergehen. Hast du schon mal im Internet nachgesehen? Ich meine, da gibt es eine Menge Partneragenturen. Sicher sind einige unsolide, aber es gibt auch gute Firmen darunter. Eine Kollegin hatte darüber jemanden kennengelernt, sie sind jetzt zusammengezogen. Sie sind so verliebt.«

Carin, die als Lehrerin für Sport und Musik an einer Schule unterrichtete, erzählte von einer Kollegin.

»Als Lehrerin für Latein und Griechisch war sie immer etwas vergeistigt, wie wir sagten, unter Kollegen. Sie wirkte ein wenig wie ein richtiger Blaustrumpf. Aber das war einmal. Du müsstest sie mal jetzt sehen! Die Liebe hat sie völlig umgekrempelt. Sie hat da so einen Test gemacht bei einer Agentur im Netz. Sie bekam dann verschiedene Profile von Männern, mit deren Interessen es die meisten Übereinstimmungen gab. Sie wechselten Mails. Sie telefonierten, mit einigen traf sie sich. Dabei hat es dann gefunkt.«

»Klingt wie eine Bestellung per Katalog! Welche Größe, welche Farbe, welche Qualität? Bitte liefern Sie! Rückgabe innerhalb von zwei Wochen, bei Nichtgefallen!«

»Ja und? Was ist dabei? Früher gab es auch Heiratsvermittler. Vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der genau zu dir passen würde, aber auf Grund eurer persönlichen Lebens­umstände begegnet ihr euch so niemals. Das wäre doch schade. He, Johanna! Sei kein Frosch! Probiere es doch einfach aus! Du musst zuerst nicht einmal deinen echten Namen angeben bei den Männern. Alle schreiben sich über die Agentur unter Decknamen. Du kannst entscheiden, wann und bei wem du dann in die Vollen gehst, verstehst du? Kapierst du? Du gehst kein Risiko ein. Ihr lernt euch unter einem Pseu­donym kennen.«

Johanna trank einen Schluck Rotwein. Sie schwieg. Carin ließ aber nicht locker.

»Selbst wenn du keinen findest, was ist schon dabei? Du hast einen Zeitvertreib. Schreib einigen dieser Typen und deine Abende sind nicht mehr so einsam, Hanna!«

Carin schaute Johanna in die Augen. Dass sie die Freundin bei ihrem Kosenamen aus der Kindheit genannt hatte, verfehlte nicht die Wirkung. Johanna lächelte zaghaft.

»Vielleicht hast du recht, Carin! Ich kann mir die Sache ja mal durch den Kopf gehen lassen!«

»Gut!«, sagte Carin.

Sie wühlte in ihrer Handtasche.

»Hier ist der Prospekt!«

»Du bist ja eine ganz Raffinierte!«, lachte Johanna.

»Ja, das bin ich! Außerdem kennst du mich! Ich bin immer auf alles vorbereitet. Meine Kollegin ist so glücklich! Ich war mit meinem Mann gestern Abend bei ihr eingeladen. Sie gab eine große Party nach ihrem Einzug bei ihm. Das Glück stand in ihren Augen. Die beiden passen wirklich zueinander.«

Carin schaute auf die Uhr.

»So, jetzt gehe ich! Die Sachen lasse ich dir hier! Dann hast du morgen noch etwas zu futtern.«

»Danke, Carin! Danke für deinen lieben Besuch. Vielleicht ist das eine gar keine so schlechte Idee. Auch wenn ich es nur als Spiel ansehe. Es wird mir die Zeit vertreiben.«

Die beiden Frauen gingen zur Tür.

»Ich mache das Studio für einige Tage zu und fahre in Urlaub. Es sind Sommerferien. Viele meiner Stammkunden sind in Urlaub und es ist ruhiger. Da kann ich schon mal einige Tage zuschließen. Vielleicht komme ich auf andere Gedanken.«

»Gute Idee, Hanna!«

Die Freundinnen umarmten sich. Johanna schloss hinter Carin die Tür zu. Sie löschte im großen Trainingsraum das Licht, ging nach hinten und räumte den Tisch ab. Dabei fiel ihr der Prospekt der Internetpartneragentur in die Hände. Johanna legte ihn achtlos beiseite. Sie duschte und ging ins Bett. Sie schlief auch einige Stunden. Doch dann war sie wieder hellwach. Mehr zum Zeitvertreib ging sie an den Computer in ihrem Büro. Sie gab die Internetadresse ein und sah sich die Homepage an.

Langsam stieg ein Kribbeln in ihr auf. Wenn eine langweilige Lateinlehrerin darüber die Liebe ihres Lebens gefunden hat, dann müsste ich auch Chancen haben, dachte Johanna.

Kurzentschlossen meldete sie sich an. Sofort kam die Bestätigung. Die Extraseiten für Mitglieder wurden geöffnet. Johanna machte den Flirttest. Es waren viele Fragen. Sie betrafen sie selbst, ihr Aussehen, ihre Hobbys, ihre Vorlieben und Abneigungen. Dann musste sie ein Profil eines möglichen Idealpartners erstellen. Das war nicht einfach.

»Wie soll der ideale Mann sein?«, flüsterte sie vor sich hin.

Johanna holte sich noch ein Glas Rotwein und machte die Angaben. Dabei hielt sie sich an den Rat.

Da stand oben auf der Bildschirmseite:

Denke nicht so viel nach! Lass dein Herz sprechen!

Draußen war schon die Sonne aufgegangen, als Johanna endlich den Computer ausschaltete. Sie legte sich schlafen. Ihr Fitnessstudio hatte meist nur am Nachmittag und abends geöffnet. Am nächsten Morgen standen keine Fitnesskurse für Haufrauen an. So genoss es Johanna, ausschlafen zu können. Bevor sie endgültig in den Schlaf sank, träumte sie davon, wie es jetzt weitergehen könnte.

*

Um die Mittagszeit läutete Johannas Telefon. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Johanna hörte, wie Carin ihr auf das Band sprach:

»Hallo, Hanna! Hier spricht Carin! Wie geht es dir? Ich hoffe, ich habe dich nicht all zu sehr überfahren mit meinen Vorschlag, dich an die Internetpartneragentur zu wenden. Aber du kennst mich ja, ich bin eben jemand, der nicht zusehen kann, wenn jemand so unglücklich ist. Rufe bald mal zurück!«

Johanna setzte sich auf die Bettkante. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie musste schmunzeln.

Barfuß ging Johanna zum Telefon. Sie drückte Carins Nummer, die eingespeichert war. Es läutete mehrmals, dann nahm die Freundin ab.

»Hallo, Carin! Hier Johanna!«

»Wie geht es dir? Ich hoffe …«

»Du hast mich geweckt. Aber das ist nicht schlimm. Ich hätte ohnehin bald aufstehen müssen. Und wegen der Partneragentur, da mache dir keine Gedanken. Du hast es doch nur gut gemeint.«

»Heißt das, dass du es probierst?«, fragte Carin in den Hörer.

Johanna schwieg. Sie rieb sich die Stirn.

»He, Hanna? Bist du noch dran?«, fragte Carin.

»Ja, ich bin noch dran!«

»Gut, also du solltest es wirklich ausprobieren.«

»Du solltest selbst so etwas aufziehen, so eifrig bist du dabei. Wärst vielleicht eine gute Kupplerin geworden in früheren Zeiten.«

»Du hast dich schon angemeldet?«

»Ja, damit du endlich Ruhe gibst! Ich habe mich angemeldet und diesen Test gemacht und die Fragen nach meinem ›Idealmann‹ beantwortet.«

»Großartig! Bist ein braves Mädchen – und?«

»Was ist ›und‹? Was meinst du damit, Carin?«

»Himmel, Hanna! Wie viele Vorschläge hast du bekommen?«

»Vorschläge? Keine Ahnung?«

»Wieso? Der Computer müsste dir sofort Vorschläge geschickt haben.«

»Ich bin ins Bett gegangen!«

»Du bist nicht neugierig gewesen?«

»Ach, da kommt sicher nichts! Ich habe unmögliche Forderungen gestellt, bei der Auswahl für den Idealpartner. Ich dachte einfach, wenn schon – denn schon! Aber so jemanden gibt es bestimmt nicht. Es müss­te ja Supermann sein!«

Carin lachte. Sie hörte die Aufgeregtheit in Johannas Stimme.

»Nun hab’ dich nicht so! Stellst dich an wie ein nervöser Backfisch. Nun schau nach, welche Vorschläge du bekommen hast.«

»Vielleicht!«

»Hanna! Wer ›A‹ sagt, sollte auch ›B‹ sagen!«

»Ich nehme jetzt erst einmal eine Dusche. Dann esse ich etwas, dann sehen wir weiter.«

»Du bist feige!«

»Wie kannst du so etwas sagen?«

»Ich kenne dich, Hanna!«

»Ach, denke, was du willst! Aber den idealen Mann, den ich mir wünsche, den gibt es nicht. Da bin ich mir ganz sicher! Dazu muss ich nicht erst den Computer anwerfen, um das festzustellen. Ich hatte einmal gedacht, es sei Rupold. Aber ich habe ihn wohl über Jahre so gesehen, wie ich ihn sehen wollte und nicht so, wie er war.«

»Feigling!«

»Okay, dann bin ich eben ein Feigling! Aber ich habe mir geschworen, keine Kompromisse mehr zu machen. Es muss der perfekte Mann sein.«

Johanna hörte, wie Carin am anderen Ende der Leitung seufzte. Dann meldete sie sich wieder.

»Die Kinder sind zum Spielplatz, Hanna! Soll ich vorbeikommen? Soll ich dir Händchen halten?«

»Nein, das bekomme ich schon alleine hin. Wenn ich die Tage mal Lust und Zeit habe, dann kann ich ja mal nachsehen, Carin!«

»Okay! Dann bin ich in einer halben Stunde bei dir!«

»Du gibst wohl niemals auf, wie? Manchmal kommst du mir schlimmer vor als meine Mutter!«

Carin lachte am anderen Ende der Leitung.

»Freundinnen sind aber ehrlicher als Mütter!«

»Das stimmt! Meinetwegen, dann schwinge dich in dein Auto und komme her!«

Die Freundinnen lachten. Sie verabschiedeten sich und legten auf.

Johanna nahm eine kalte Dusche. Als ihr das kalte Wasser über die Haut lief, erinnerte sie sich plötzlich an das kalte Bad im Bergsee mit Rupold auf ihrer Hochzeitsreise. Johanna stieg aus der Dusche, hüllte sich in ein Badetuch und trocknete sich ab. Sie versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht.

Es war auf ihrer Hochzeitsreise gewesen. Morgens hatten sie auf dem Standesamt in der kleinen Universitätsstadt geheiratet. Nur die Trauzeugen waren dabei gewesen. Carin war Johannas Trauzeugin gewesen und Burger, Rupolds Freund, war sein Trauzeuge. Danach waren sie mit Rupolds Auto, einem alten Bus, losgefahren, ins Blaue hinein. Sie hatten den Weg in Richtung Süden eingeschlagen und wollten nach Venedig fahren. Unterwegs blieb das Auto stehen. Rupold gelang es aber bis zum Abend, die Karre wieder zum Fahren zu bringen. Dann ging es weiter.

Johanna wurde es warm ums Herz als sie daran dachte, wie es damals auf der Fahrt war. Sie mussten langsam fahren, damit der Motor nicht zu heiß wurde. Sie saß auf der durchgehenden Sitzbank, ganz dicht neben Rupold, den sie damals Ruppy nannte. Er hatte einen Arm um sie gelegt und steuerte mit der anderen freien Hand das Auto. Wegen der langsamen Geschwindigkeit hatten sie die Strecke über ruhige Seitenstraßen gewählt. Es wurde dunkel. Sie tauschten viele Küsse und Zärtlichkeiten während der ganzen Fahrt. Dabei hatten sie wohl eine falsche Abzweigung genommen. Plötzlich standen sie am Ende einer Straße und nichts ging mehr. Es war eine Sackgasse. Sie wussten nicht einmal, wo sie waren, denn sie hatten das Ortschild auch nicht gelesen. Sie stiegen aus und fragten. Waldkogel, hieß der Ort. Im Schein der Taschenlampe breiteten sie die Straßenkarte aus und suchten den Ort. Sie fanden ihn nicht, so klein war er. Sie wendeten und fuhren zurück. Dann sahen sie das Schild: Bergsee.

Sie bogen ein. Sie wollten die Nacht am Bergsee verbringen und am Tag darauf weiterfahren. Johanna erinnerte sich an ein erfrischendes Bad im kalten Wasser des Bergsees. Danach kuschelten sie sich unter freiem Himmel in den großen Doppelschlafsack.

Johanna seufzte leise. Voll Wehmut dachte sie daran, wie glücklich sie damals war, in dieser Nacht am Bergsee von Waldkogel. Damals in den Armen des Mannes, den sie liebte, erschien ihr selbst der Nachthimmel rosarot und himmelblau. Das Leben lag vor ihr wie eine Straße, gepflastert mit Glück, gerade und eben und ohne Schlaglöcher und Hindernisse.

Die ersten Jahre war es auch so gewesen. Johanna studierte Sport und Lehramt. Rupold Ingenieurswissenschaften mit Schwerpunkt Luftfahrttechnik.

Die Schwierigkeiten begannen nach dem Studium. Johanna erhielt nach der Referendarzeit keine Anstellung. Damals gab es mehr Lehrer als freie Planstellen. Rupold fand auch keine Anstellung bei einer Firma für Luftfahrttechnik, trotz seines guten Examens. So machte er beim nächsten Verkehrsflughafen eine Zusatzausbildung und wurde Fluglotse. Die Arbeit machte ihm viel Freude. Er verdiente sehr viel Geld, besonders im Nachtdienst und an Sonn- und Feiertagen. Es war Schichtdienst. Bald stellten sie ihr ganzes Leben auf Rupolds Dienstplan ab. Sein Verdienst ermöglichte ihnen den Kauf eines Hauses und brachte das Startkapital für Johannas Fitness­center in einem Industriegebiet. Der Standort war Ideal: Nach Büroschluss war es voll bei ihr.

Rupold und Johanna hätten glücklich sein können. Aber sie sahen sich kaum noch. Oft kamen sie nur dazu, zu telefonieren oder sie schrieben sich Zettel, denn Rupold hatte auch noch eine weite Anfahrt zu seinem Arbeitsplatz. Irgendwann spürte Johanna die Leere in ihrer Beziehung. Sie log sich selbst etwas vor. Es wären eben Aufbaujahre und bald wäre alles anders. Doch so kam es nicht. Die Jahre vergingen und sie lebten sich immer mehr auseinander.

Dann kam der Tag, an dem sie offen darüber sprachen. Sie taten es ohne Vorwürfe und Bitterkeit. Sie beschlossen, sich zu trennen. Am nächsten Tag bestellte Johanna den Möbelwagen und zog aus. Das war jetzt fast ein Jahr her. Johanna hatte gehofft, ja, sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihr Leben alleine besser in den Griff bekommen würde. Sie war sich sicher, dass es doch vielleicht noch eine Chance auf eine andere glücklichere Partnerschaft gäbe, mit einem liebevollen Mann. Noch war sie auch nicht zu alt, um Kinder zu bekommen. Doch diese Illusion zerplatzte bald. Johanna musste einsehen, dass es viel schwerer war, als sie es angenommen hatte.

Johanna zog sich an. Sie setzte Kaffee auf. Dann ging sie zur Tür und wartete auf Carin, die auch bald kam.

»Hast du schon nachgesehen?«, fragte Carin ohne vorherigen Gruß.

»Erstmal einen schönen guten Tag! Komm rein! Du kannst mal nachsehen! Ich mache uns derweil den Kaffee fertig!«

Johanna nannte Carin ihr Pass­wort.

Carin stürzte zum Computer.

»Hanna! Wow! Das ist ja nicht zu fassen! Komm, komm schnell!«, kreischte Carin.

»Was ist?«, rief Johanna aus der kleinen Küche.

»Nun komm schon! Das musst du dir ansehen!«

Johanna stellte die Kaffeekanne ab und ging zu Carin.

Sie stand hinter ihr und schaute auf den Bildschirm.

»Was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte Johanna mit Unschuldsaugen.

»Du hast den Jackpot geknackt! Da sind …, warte, ich zähle!«

Carin tippte mit dem Finger auf dem Bildschirm. Sie zählte durch.

»Das sind fünfundzwanzig Männer! Fünfundzwanzig, zu deren Profil dein Profil passt! Wow! Lass mich das ausdrucken!«

»Tu, was du nicht lassen kannst, Carin!«

»Freust du dich nicht?«

Johanna zuckte mit den Schultern.

»Für mich sind das nur Namen! Peter, Marc, Alex, Pablo, Norbert, Tom, Mike, Gert, Severin, Uwe, Frank, Walter, Guido, Hans, Felix, Rainer, Kai, Sascha, Bruno, Gerald, Lorenz, Andy, Fabian, Heiko und Bobby«, las Johanna vom Bildschirm ab.

»Lesen kann ich auch«, brummte Carin. »Es geht um die Prozente der Übereinstimmung! Sieh doch her! Diese Skala zeigt die Prozente an – von siebzig bis weit über neunzig Prozent. Das ist gut! Das ist mehr als gut! Das ist sensationell! Jetzt schauen wir uns die alle an!«

Johanna verzog keine Miene und ging in die Küche. Irgendwie war sie böse auf sich selbst, dass sie sich darauf eingelassen hatte.

Der Drucker ratterte. Bald darauf kam Carin und überreichte Johanna einen dicken Stapel Papier.

»Was soll ich jetzt damit machen?«

»Warum bist du so unbeweglich?«

»Höre mal, Carin! Wie wäre dir zu Mute? Du gibst einem Versandhaus deine Größe und schreibst, du willst eine blaue, einfache, eine ganz schlichte Jeans, ohne komplizierte Stickerei, unnötige Nähte und mit zwei Taschen vorne. Dann schicken sie dir alle zur Auswahl, die sie im Katalog haben. Das ist alles so ein Schwachsinn! Ich muss verrückt gewesen sein, mich auf deine Anregung einzulassen. Ich will einen Mann, keine fünfundzwanzig Männer!«

»Du musst dir doch nur einen aussuchen! Die ersten zwanzig Angebote scheiden aus. Am besten, du fängst mit denen an, die zu über neunzig Prozent zu deinem Profil und deinen Wünschen passen. Bei den anderen ist die Übereinstimmung zu gering.«

»Mmm!«

»Was soll das jetzt wieder – ›mmm‹? War das ›Ja‹ oder ein ›Nein‹?«

»Nun, es gibt zwei Theorien! Gegensätze ziehen sich an! Zwei Menschen mit wenig Übereinstimmung können vielleicht sehr glücklich sein. Sie ergänzen sich perfekt. Wenn zu viele Übereinstimmungen bestehen, dann langweilen sie sich vielleicht bald.«

»Dann fange mit den ersten fünf Kandidaten an, Hanna! Ihr schreibt zuerst Mails, telefoniert irgendwann und dann wirst du schon sehen, ob dein Herz klopft. Die Stimme eines Menschen sagt auch sehr viel.«

Johanna trank einen Schluck Kaffee. Sie dachte nach.

»Ich bin ja durch mein Pseudo­nym geschützt. Mir kann im Grunde nichts geschehen.«

»Richtig! Du sortierst aus! Du entscheidest, wann du deinen Namen und deine Adresse, dein Leben offenlegst. Im Grunde brauchst du es nur demjenigen gegenüber zu tun, bei dem du das Flattern der Schmetterlinge im Bauch spürst, Geigen hörst und bei dem du in Gedanken schwebst, wenn du ihn siehst.«

»Langsam, so weit bin noch nicht! Danke für deine Hilfe!«

»Ganz wie du willst! Was machst du?«

»Ich werde heute Abend in Ruhe alle Profile lesen! Dann sehe ich weiter!«

»Das ist schon mal ein guter Anfang!«

Carin schaute auf die Uhr. Sie musste gehen. Sie musste ihre Tochter zum Klavierunterricht fahren.

»Halte mich ja auf dem Laufenden, Hanna oder soll ich besser ›Jane‹ sagen?«

»Das werde ich! ›Jane‹ ist doof oder?«

»Nein! Klingt gut! Ist außerdem die englische Form von Johanna. Also viel Glück!«

Carin ging zum Auto.

Johanna setzte sich an den Computer. Sie schickte allen einige Zeilen. Sie lauteten:

Hallo, ich bin Jane! Wir haben viele Übereinstimmungen! Bei Interesse melden!

Grüße Jane

Johannas Herz klopfte sehr, als sie die Mails abschickte. Sie hatte feuchte Hände. Was würde als Nächstes geschehen, fragte sie sich.

Sie schaltete den Computer aus. Es war auch Zeit, das Fitnessstudio zu öffnen.

An diesem Tag sah Johanna ihre männlichen Kunden genauer an und ohne die sonst so große Ablehnung. Sie wusste, dass viele davon keine feste Beziehung hatten. Im Grunde kann es auch einer von ihnen sein, dachte Johanna. Sie wusste, dass sie sich in Geduld üben musste. Ich werde nichts überstürzen, dachte sie. Es kommt, wie es kommt.

Johanna ging die ganze Sache noch etwas gegen den Strich. Es kam ihr alles so konstruiert vor. Sie hatte gehofft, einfach einer neuen Liebe zu begegnen. Aber so einfach war es doch wohl nicht. Vielleicht gibt es auch nicht eine zweite Chance, fragte sie sich. Einmal in meinem Leben begegnete mir die große Liebe – Rupold! Ja, er war mein Traummann, damals. Es hätte alles so schön sein können, wenn, ja wenn, es nicht anders gekommen wäre. Große Traurigkeit über diesen Verlust legte sich wieder auf Johannas Herz.

Es war gut, dass sie viel Arbeit hatte und nicht weiter darüber nachdenken konnte.

*

Die nächsten Wochen vergingen. Gelegentlich kam Carin zu Besuch. Ansonsten telefonierten die beiden Freundinnen oft. Johanna, die das Pseudonym Jane hatte, bekam viele Mails. Einige waren sehr aufdringlich, andere sehr zaghaft. Es gingen Mails hin und her. Mit mehreren telefonierte Johanna, alias Jane, auch. Aber die Telefonate waren meist ziemlich verkrampft. Bei keiner Stimme bekam Johanna Herzklopfen.

Eines Abends saß sie mit Carin zusammen. Sie redeten.

»Das wird nichts, Carin! Ich melde mich da wieder ab. Das ist rausgeworfenes Geld. Auf diese Weise finde ich meinen Traummann nie.«

»Wenn du meinst?«

»Ja! Von den fünfundzwanzig Typen haben mir ohnehin nur gut Zweidrittel geschrieben. Das waren alle, mit denen ich weniger Übereinstimmungen hatte. Von denen im oberen Bereich schrieb mir nur ein Mann. Mit ihm habe ich auch telefoniert. Aber der ist nichts. Das spüre ich. Der hat einfach wohl alles angekreuzt. Er wollte auf Nummer sicher gehen, damit er viele Vorschläge bekommt. Das System ist doch nicht so gut, wie man denkt.«

»Es ist wie bei einer Landkarte. Sie kann dir nur den Weg aufzeigen, Johanna. Die Straße entlang musst du selbst fahren und auch immer schön richtig abbiegen. Damit du nicht in der Pampa landest.«

Johanna musste bei dem Vergleich schmunzeln.

»Ja, ich weiß, wie damals auf unserer Hochzeitsreise. Erinnerst du dich, Carin? Wir haben es dir erzählt.«

»O ja! Du und Rupold, ihr seid einige Tage in Waldkogel geblieben, bevor ihr dann doch nach Venedig gefahren seid.«

»Ja! Es war schön. Wir fanden einen Bauern, auf dessen Grund wir mit unserem Bus parken konnten. Jeden Abend waren wir am Bergsee. Es war sehr schön. Wir wollten mal wieder hinfahren. Rupold und ich sprachen immer davon. Aber es wurde nie etwas daraus. Das war auch so etwas, was wir nicht gemacht haben. Rupold hat immer geredet und geredet und geplant und dann kam doch alles ganz anders und ich sagte ›Ja‹ und ›Amen‹. Ach, vielleicht war es auch gut, dass wir niemals mehr hingefahren sind. Vielleicht ist dieses Waldkogel heute ganz anders, als wir es in Erinnerung hatten. Vielleicht wären wir enttäuscht. Es war eben eine besondere Zeit, in der wir alles durch eine rosarote Brille sahen.«

»Aber es war eine sehr glückliche Zeit für dich, Johanna.«

»Ja, die Tage in Waldkogel, die waren noch schöner als die Tage in Venedig. Das hört sich vielleicht sonderbar an, Carin. Aber es war so.«

»Dann fahre doch hin! Fahre alleine hin! Du hast doch dein Studio ab nächste Woche zu. Wo wolltest du Urlaub machen?«

»Ich habe keine festen Pläne. Ich war im Reisebüro, aber das gefällt mir alles nicht so.«

»Dann fahre nach Waldkogel. Vielleicht findest du dort dein Glück.«

»Nein!«

»Johanna, auch wenn du in Waldkogel nicht deinen Traummann findest, so findest du vielleicht dich selbst. Du bist, meiner Meinung nach, in einer Art Panik!«

»Das hast du richtig erkannt. Aber ich habe auch allen Grund dazu! Warum sollte ich nicht in Panik sein? Bei mir tickt die biologische Uhr. Du weißt, dass ich einmal Kinder haben wollte. Doch dann lebten wir uns auseinander. Rupold war kaum noch daheim. Ich wäre mir wie eine alleinerziehende Mutter vorgekommen. Da stellte ich meinen Kinderwunsch hinten an. Jahr für Jahr dachte ich, es wird besser. Du weißt es. Wir haben oft darüber gesprochen. Aber ich sehne mich nach Kindern und einer richtig lieben Familie, mit einem Mann und einem Vater, der ein Familienmensch ist. Rupold ist kein Familienmensch. Gut, dass wir keine Kinder haben, das wäre jetzt schlimm. Aber ich habe meinen Traum von einer richtigen Familie nicht aufgegeben. Deshalb habe ich es eilig. Ich suche eben nicht nur einen neuen Mann. Ich suche auch den Vater, der Kinder haben will. Verstehst du? Ist das ein unsinniger Wunsch?«

»Nein, um Himmelswillen, das ist er auf keinen Fall. Ich habe drei Kinder. Mir musst du es nicht erklären, Hanna. Ich verstehe deine Sehnsucht. Aber es bringt doch nichts, wenn du dich unter Druck setzt. Du kannst es nicht erzwingen. Deshalb meine ich, dass du lockerer werden sollst. Wenn dir Rupold den Wunsch nicht erfüllt hat, wenn ihr es nie geschafft habt, zusammen nach Waldkogel zu fahren, dann reise alleine hin. Du bist frei, kannst hinfahren, wohin du willst. Du musst keine Rücksicht mehr nehmen. Also, was hält dich davon ab?«

Johanna dachte nach.

»Stimmt! Jetzt habe ich keine Ausrede mehr. Ich kann es nicht mehr auf Rupold schieben. Vielleicht sollte ich hinfahren?« Johanna fing an zu lachen. »Ich könnte ihm eine Ansichtskarte schicken. Grüße aus Waldkogel! Endlich bin ich hier! Du wolltest ja nie!«

»Lass das! Das ist ganz schlechter Stil. Da würde so viel Wut und auch eine gehörige Portion Bitternis darin stehen, Hanna.«

»Stimmt!«

Johanna stand auf und ging zum Computer. Sie suchte die Route nach Waldkogel heraus und druckte sie aus. Sie informierte sich über den Ort. Auf den Seiten des Fremdenverkehrsamt in Waldkogel fand sie eine Menge Informationen.

Carin stand hinter ihr und schaute ihr über die Schultern.

»Und was ist jetzt, Johanna?«

Johanna schaute Carin in die Augen.

»Ich fahre! Ja, ich fahre!«

Carin schlug die Hände zusammen und richtete die Augen zur Zimmerdecke, meinte aber den Himmel.

»Es ist ein Wunder geschehen!«, seufzte Carin.

In diesem Augenblick blinkte der kleine Button auf Johannas Bildschirm, der eine ankommende E-Mail anzeigte.

»Du hast Post, Hanna!«

»Ach, das wird wieder so eine Spam-Mail sein! In letzter Zeit werde ich davon mal wieder zugemüllt.«

»Vielleicht schreibt dir doch jemand? Du hast doch gesagt, dass dir noch nicht alle gemailt haben, von den möglichen Kandidaten.«

»Carin, Carin«, stöhnte Johanna. »Sicher, aber wer bisher nicht geschrieben hat, der braucht jetzt sich auch nicht mehr zu melden.«

»Jetzt schau doch nach!«

Johanna seufzte und öffnete die Mail.

Sie und Carin starrten auf den Bildschirm.

Das stand:

An Jane!

Sehr geehrte unbekannte Jane! Ich bin Bobby. Sie haben mir vor Wochen geschrieben. Ich bin einer der Kandidaten, die das Programm für Sie ausgewählt hatte.

Danke für Ihre Zeilen!

Ich bin seit einiger Zeit Mitglied bei der Agentur. Ich bekam auch schon viele Vorschläge. Leider war niemand dabei. So hatte ich beschlossen, zu kündigen und keine Mails mehr zu beantworten. Aber ich schob die Kündigung jeden Tag hinaus. Denn wenn ich gekündigt hätte, hätte ich Ihnen nicht schreiben können. Denn irgendetwas drängte mich, mich doch bei Ihnen zu melden.

Obwohl ich auf der anderen Seite inzwischen zu der Erkenntnis gekommen bin, dass ich es lieber auf das Schicksal ankommen lassen möchte. Liebe hat wohl ihre eigenen Gesetze, man kann sie nicht erzwingen.

Auch wenn wir uns nie kennenlernen, so drängt mich eine innere Stimme, Ihnen zu schreiben. Nach der Beschreibung Ihrer Merkmale sind Sie sicherlich eine ganz besonderer Frau. Ich möchte verhindern, dass Sie denken, Sie seien nicht attraktiv oder interessant. Es liegt nicht daran, dass Sie mich nicht interessieren. Wie ich oben schrieb, will ich aufhören, dem Schicksal oder der Liebe selbst auf die Sprünge zu helfen.

Es war mir ein Anliegen, Ihnen das mitzuteilen. Ich möchte Ihnen auf der Suche nach Ihrem Traummann alles Gute wünschen. Mögen Sie den finden, der Ihr Herz sucht und nach dem Sie sich sehnen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Glück.

So, nun habe ich die letzte Mail auch beantwortet und werde kündigen.

Es grüßte Sie Ihr Bobby

»Was sagst du dazu, Carin! Der Typ scheint die gleichen Erfahrungen gemacht zu haben wie ich!«

Noch ehe Carin antworten konnte, schrieb Johanna eine Mail:

Sie lautete:

Lieber Bobby!

Vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Sie waren sehr ehrlich. Es hat mir etwas bedeutet, dass Sie geschrieben haben. Laut den Unterlagen haben wir beide eine Interessenübereinstimmung von fast einhundert Prozent.

Ich teile Ihre Einstellung und bin inzwischen zur gleichen Erkenntnis gekommen. Die Kandidaten, mit denen ich Mails austauschte und auch telefonierte, waren nicht nach meinem Wunsch. Sie konnten es auch nicht sein. Bei den Angaben, wie mein Wunschpartner sein sollte, habe ich sehr hohe Ansprüche gestellt. Wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass niemand alle diese Kriterien erfüllen kann. Er wäre dann der Supermann.

Vielleicht haben Sie ja bei dem Profil Ihrer Traumpartnerin auch nach den Sternen gegriffen und deshalb wurden unsere Daten verknüpft.

Es ist sicherlich besser, wenn wir uns nie sehen, weil wir beide wahrscheinlich voneinander enttäuscht wären. Damit möchte ich nicht sagen, dass ich Sie nicht interessant finde und ich nicht neugierig bin.

Ich wünsche Ihnen auch, dass Sie ihre Traumfrau finden und sehr glücklich werden.

Liebe Grüße Ihre Jane

PS.: Es ist schade, dass Sie kündigen. Ich habe mir gerade überlegt, dass wir doch Erfahrungen austauschen könnten. Es wäre doch interessant zu erfahren, ob ich den Supermann und Sie die Superfrau doch noch finden.

»Bin gespannt, ob er etwas darauf schreibt, Carin. Vielleicht ein ganz netter Typ«, sagte Johanna leise.

»Sag mal, kribbelt es bei dir, Hanna?«

»Weiß nicht? Aber irgendwie gefallen mir seine Zeilen.«

Die beiden Freundinnen sahen sich an.

Da kam auch schon die Antwort.

Liebe Jane,

ich hoffe, Sie gestatten mir diese Anrede. Ihren Vorschlag finde ich sehr interessant.

Bitte überlegen Sie sich, ob Sie eine Möglichkeit einräumen könnten, damit wir uns außerhalb der Agentur mailen oder telefonieren können. Ich gebe Ihnen gern einige Tage Zeit.

Mir hoffnungsvollen Grüßen

Ihr Bobby

»Oh, lá, lá,!«, sagte Carin. »Was machst du jetzt? Schickst du ihm deine Adresse?«

Johanna zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht! Ich werde erst einmal nachdenken. Und in Waldkogel habe ich Zeit dazu.«

Johanna druckte sich die Mails aus und legte sie zur Seite.

»Jetzt buche ich mir erst einmal ein Hotelzimmer!«

»Das ist doch langweilig, Hanna! Du fährst in die Berge. Da geht man doch nicht in so eine Bettenburg. Da sucht man sich eine Almhütte oder was es sonst in den Bergen gibt. Da gibt es bestimmt auch fesche Burschen.«

»Sicher, Carin! Aber ich kann doch nicht aufs Geratewohl hinfahren. Am Ende muss ich wieder auf der Wiese am Bergsee schlafen.«

Die beiden Freundinnen lachten.

»Ach, nun hab’ dich nicht so! Damals seid ihr einfach ins Blaue nach Italien gefahren. Du hast während deiner Zeit mit Rupold ein wenig deine Abenteuerlust eingebüßt. »Ja, stimmt! Rupold war ein ganz genauer Organisator und Planer …!«

»Und irgendwie färben wohl die Eigenschaften der Eheleute aufeinander ab …«, spottete Carin.

»Ich kann ja verstehen, dass ein Fluglotse alles unter Kontrolle haben muss. Aber dass er in unserem Leben dann auch so war, das war auch etwas, was mich mit den Jahren nervte, Carin.«

»Gut, sich davon zu lösen! Du bist nicht mehr Rupolds Anhang, sondern du kannst wieder ganz du selbst sein.«

Johanna stöhnte leise.

»Du hast ja so recht, Carin. Wir leben getrennt, wollen auseinander gehen und ich verhalte mich immer noch wie seine Frau.«

Während Johanna geredet hatte, spielte sie mit der Maus herum und klickte die Bilder auf der Homepage des Fremdenverkehrsamtes an.

»Die Berghütte schaut urig aus! Lies mal, was da steht, Hanna!«

»Einsam gelegene Berghütte oberhalb von Waldkogel, nur zu Fuß erreichbar. Der ideale Aufenthaltsort für Bergliebhaber, die die Einfachheit und Ursprünglichkeit der Berge suchen. Idealer Ausgangspunkt für Klettertouren und Bergwanderungen«, las Johanna.

»Du, da gibt es nur eine Handy-Nummer!«

Carin drückte Johanna das Telefon in die Hand. Johanna gab sich geschlagen und rief an.

»Grüß Gott! Hier spricht Toni von Tonis Berghütte!«

»Guten Abend! Entschuldigen Sie bitte den späten Anruf, Herr Toni. Ich habe die Berghütte auf den Seiten des Fremdenverkehrsverbandes von Kirchwalden gesehen. Kann ich bei Ihnen ab morgen Abend ein Zimmer bekommen?«

Johanna hörte eine sympathische Stimme, die leise lachte.

»Mei, sicher! Aber richtige Zimmer haben wir hier nicht. Wir haben einfache Kammern, klein, fein und sauber. Für wie lange soll es sein?«

»Eine Woche, vielleicht auch zwei Wochen?«

»Des geht in Ordnung! Auf welchen Namen soll ich die Kammer reservieren?«

»Johanna Schlegel!«

»Gut, Johanna!«

»Schlegel!«, wiederholte Johanna.

»Des habe ich schon verstanden. Aber auf Familiennamen legen wir keinen großen Wert unter Bergkammeraden. Bist noch nicht oft in den Bergen gewesen oder?«

»Ja, das stimmt, Herr Toni!«

»Toni, nur Toni!«

»Gut!«

»Dir wird es schon gefallen! Du kannst mit dem Auto bis zur Oberländer Alm fahren. Dann musst du laufen. Wenn du dich vor dem Aufstieg fürchtest, dann lasse ich dich abholen. Rufe an, wenn du auf der Alm bist.«

»Das mache ich, danke, Toni!«

»Wir freuen uns, dir unsere Berge zu zeigen. Pfüat di!«

»Fü…fü…di?«

»Naa, des heißt ‘Pfüat di!’ Des bedeutet ‘Behüt dich Gott’ also ‚Auf Wiedersehen!’, so sagen wir hier in den Bergen. Aber des wirst du noch lernen, Johanna.«

»Ich werde es versuchen! Dann bis morgen!«

Johanna legte auf.

»Himmel, das war ja ein wirklicher Bergschrat! Das fängt ja gut an!«

»Wer eine Reise tut, der kann etwas erleben!«, sagte Carin.

Sie stand auf.

»So, meine Mission ist erfüllt, meine liebe Johanna. Ich gehe und du packst. Ich wünsche dir eine gute Reise. Rufe mich an! Ich will alles wissen! Vor allem, ob du diesem Bobby deine Adresse oder Telefonnummer gibst.«

Carin blinzelte Johanna zu.

»Mal sehen! Ich werde darüber nachdenken!«

»Tue das, meine liebe Hanna! Ich wünsche dir einen sehr schönen Urlaub!«

Die Freundinnen umarmten sich. Dann brachte Johanna Carin hinaus.

Johanna packte die halbe Nacht. Es war gar nicht so einfach zu entscheiden, was sie für einen Urlaub in die Berge einpacken sollte. Außerdem gestand sie sich ein, dass sie mit ihren Gedanken bei diesem Bobby war. Mehrmals las sie die Mails. Die Neugierde wuchs. Vielleicht wäre er der Richtige, dachte sie noch, bevor sie einschlief.

*

Johanna war schon zwei Tage auf der Berghütte. Es gefiel ihr sehr. Den ganzen Tag saß sie auf der Terrasse der Berghütte. Die Ruhe tat ihr gut. Der Blick über das Tal und hinauf zu den Gipfeln empfand sie als Balsam für ihre wunde Seele. Es war, als trinke ihr Herz sich an der Landschaft satt.

Es war Vormittag. Die meisten Hüttengäste waren zu ihren Bergwanderungen oder Hochgebirgstouren aufgebrochen. Toni kam mit zwei Bechern Kaffee zu Johanna.

»Darf ich mich zu dir setzen? Magst einen Kaffee? Geht aufs Haus!«

»Bitte, setz dich, Toni! Danke für den Kaffee! Womit habe ich den verdient?«

Toni schmunzelte.

»Des gehört hier zum Service, Johanna! Die Anna und ich, wir kümmern uns gern um unsere Gäste. Wenn wir sehen, dass … Mei, ich meine, net jeder Gast ist wie der andere.«

»Dann habt ihr euch viel vorgenommen.«

»Es macht uns Freude. Und in deinem Fall denke ich, dass wir vielleicht etwas tun können, damit dein Aufenthalt noch schöner wird.«

»Oh, er ist perfekt! Ich kann gar nicht genug von der schönen Aussicht bekommen.«

»Des freut mich! Aber willst net mal eine Wanderung machen? Musst keine Angst haben. Nicht alle Wanderwege sind gefährlich und verlangen alpine Erfahrung.«

Sie tranken einen Schluck Kaffee.

»Ich meine des nur, weil du uns gesagt hast, dass du keine Bergerfahrung hast.«

»Das stimmt! Bisher verbrachte ich immer die Urlaube am Meer.«

»Ah, dann ist die Anna die richtige Gesprächspartnerin für dich! Anna kommt aus Hamburg!«

Johanna lachte.

»Danke, Toni! Aber über das Meer möchte ich nicht reden.«

»Ganz wie du magst. Soll ich dir eine Karte holen und dir einige einfache Wandertouren erklären?«

»Das ist lieb gemeint, Toni. Danke! Aber ich bin hier restlos glücklich.«

»Des ist auch gut. Weißt, es ist selten, dass wir einen Hüttengast haben, der nur auf der Terrasse sitzt. Da dachte ich, ich rede mal mit dir.«

»Das ist lieb von dir, Toni. Aber ich genieße diese Ruhe und diesen Frieden. Das ist genau das, was ich gesucht habe. Ich bin in einem sehr schwierigen Lebensabschnitt. Ich muss mein Leben neu ordnen. Bisher habe ich mich immer nach jemand gerichtet. Jetzt lebe ich allein. Das muss ich erst wieder lernen. Aber ich will dich mit meinem privaten Zeugs nicht belästigen.«

Johanna lächelte Toni an.

»Du belästigt mich nicht. Weißt, als Hüttenwirt ist man Gastwirt, Bergführer, Seelsorger und Psychologe in einer Person. Des bringt der Beruf des Hüttenwirts so mit sich, wenn man ihn so lebt wie ich und meine Anna das tun. Weißt, die Ruhe der Berge, die kann bei Menschen vieles auslösen. Dem einen bekommt sie gut und er findet zu sich selbst. Bei anderen brechen alte Konflikte auf, die er in der Hektik des normalen Alltags verdrängt hatte.«

»Ich verstehe, was du mir sagen willst, Toni.«

»Des ist gut! Also, wenn du reden magst, dann hören ich und die Anna dir gern zu. Wir sind Fremde für dich. Wir müssen keine Rücksicht nehmen, wollen dich net mit unserer Meinung manipulieren. Als neutrale Außenstehende konnten wir beide schon so manchen guten Rat geben.«

Anna kam mit ihrem Kaffee Becher dazu.

»Nun, was redet ihr beide?«

Johanna bot Anna, sich dazu zu setzen.

»Anna, Toni erklärte mir gerade die umfassende Arbeit eines Hüttenwirts und einer Hüttenwirtin. Das ist wohl viel mehr, als nur die Hüttengäste zu verköstigen und ihnen eine Schlafgelegenheit zu geben.«

Anna lächelte.

»Ja, das ist es. Es ist der besondere Reiz an der Aufgabe. Wir freuen uns immer, wenn wir jemand helfen konnten. Die Bergluft und die wunderbare Ruhe, die bringen die Herzen der Menschen gelegentlich etwas in Aufruhr.«

»Das stimmt«, sagte Johanna leise.

»Auf der einen Seite ist die Ruhe wunderbar. Aber auf der anderen Seite hat man Zeit, über Dinge nachzudenken, die man bisher verdrängt hatte. Die Ruhe drängt einen, Entscheidungen zu treffen. Das ist vielleicht ein wenig seltsam formuliert. Aber so empfinde ich es.«

Toni lächelte Johanna an.

»Des sind die Berge! Weißt, wir Leut’ hier aus den Bergen, wir sagen, lausche den Bergen. Sie sind ewig und sie flüstern dir zu. Wir raten jedem, der in einem Konflikt ist, nicht zu denken und zu grübeln. Am besten ist es, dem Flüstern der Berge zu lauschen. Sicher, sie reden nicht mit Worten. Aber sie dringen in die Herzen ein und bringen das Beste, das Schönste, das Liebste und das Richtigste hervor.«

Anna lehnte sich an Toni. Er legte seinen Arm um sie.

»Das war bei uns auch so, stimmt es, Anna?«

»Ja, wir sind ein gutes Beispiel dafür, besonders ich, die nie in die Berge wollte.«

Als hätte Bello verstanden, dass Toni und Anna darüber redeten, wie Anna in die Berge gekommen war, kam der junge Neufundländerrüde an den Tisch.

Der Hund setzte sich neben Anna und legte ihr seine Pfote auf den Schoß. Toni und Anna lachten. Anna kraulte ihm das Fell.

»Ist ja schon gut, Bello, du hattest den Löwenanteil daran, dass ich mich in die Berge und in Toni verliebt habe. Aber zuerst habe ich dir mein Herz geschenkt und mich von dir auf die Berghütte locken lassen.«

Johanna schmunzelte.

»Dann ist Bello ein Heiratsvermittler? Das ist sehr interessant. Vielleicht sollte ich mir auch einen Hund zulegen? Möglich, dass ich dann die wahre Liebe finde.«

»Aha, dann hast Liebeskummer, Johanna«, bemerkte Toni.

Er warf einen Seitenblick auf Anna.

»In Sachen Liebeskummer sind wir die Spezialisten! Wir haben schon viele Weichen gestellt, damit sich zwei Herzen fanden. Stimmt es, Anna?«

»Ja, das ist richtig! Unsere Freunde sagen schon scherzhaft, wir sollten neben der Berghütte eine Heirats­agentur betreiben«, lachte Anna.

»Wenn ihr so erfolgreich seit, dann hätte ich mich besser an euch wenden sollen als an diese Internetpartneragentur. Nicht dass die schlecht sind, aber auch über sie habe ich keinen Mann gefunden.«

Anna und Toni ließen sich von Johanna erzählen, wie das so war mit den Kontakten.

»So, jetzt wisst ihr alles. So viele Übereinstimmungen und Mails und Telefongespräche. Aber es hat nicht gefunkt in meinem Herzen. Dieses Gefühl hat sich nicht eingestellt.«

»Mei, dann war eben der Richtige nicht dabei! Wenn es bei keinem nicht ein ganz klein wenig gekribbelt hat, dann musst du weitersuchen.«

Eine zarte Röte färbte Johannas Wangen.

»Einer hat mir geschrieben, weil er auch enttäuscht war. Er schrieb, er wollte über die Agentur nicht weiter suchen und ich sollte es nicht persönlich nehmen. Er hat beschlossen, es dem Schicksal zu überlassen. Dem stimmte ich zu. Wir schrieben uns einige Mails. Dann bat er mich um meine Daten, weil er sich bei der Agentur abmelden wollte. Ich sollte es mir überlegen.«

Johanna seufzte.

»Es geht dabei um Erfahrungsaustausch und sonst nichts. Aber der Typ geht mir nicht aus dem Kopf. Aber meine private Telefonnummer und Adresse und Email will ich ihm auch nicht geben. Das war bei der Agentur so gut, dass man sich erst einmal über ein Pseudonym kennenlernen konnte.«

»Wie nennst du dich?«, fragte Anna.

»Jane! Und er nannte sich Bobby! Himmel, es ist sonderbar! Ich muss ständig an ihn denken. Aber ich bin mir auch unsicher.«

Johanna lächelte.

»Vielleicht flüstern mir die Berge zu, was ich machen soll.«

Johanna errötete wieder.

»Du interessierst dich für diesen unbekannte Burschen«, stellte Anna fest.

»Ja und das ist verrückt! Irgendwie ist beim Lesen seiner Mails etwas geschehen. Da erfasste mich ein sonderbares Gefühl. Dabei habe ich wirklich keinen Grund.«

»Was hat er genau geschrieben?«, fragte Toni.

Statt einer Antwort griff Johanna in die Innentasche ihrer Sportjacke. Sie zog einige Blätter hervor.

»Oh, du trägst seine Zeilen mit dir herum?«, schmunzelte Toni.

Johanna errötete tief.

»Ja, albern, nicht?«

»Nein, des ist doch lieb! Des hat bestimmt seinen Sinn.«

»Hier, ihr könnt es selbst lesen!«

Anna und Toni steckten die Köpfe zusammen und lasen.

»Jedenfalls glaubt der Bursche an die wahre Liebe! Des ist schon mal gut! Den solltest du dir wirklich mal ansehen.«

»Ansehen?«, wiederholte Johanna.

»Ja, lass ihn hierher auf die Berghütte kommen. Hier bist nicht alleine. Wir stehen dir schon bei, nicht wahr, Anna?«, sagte Toni mit einem Seitenblick zu seiner Frau.

»Ich weiß nicht! Er schreibt doch, dass er …«

»Schmarrn, Johanna!«, unterbrach sie Toni. »Wir haben gelesen, was ihr euch geschrieben habt. Aber auch so kann ein Anfang aussehen. Er hat seine Erwartungen heruntergeschraubt und du auch. Ihr wartet beide auf die wirkliche Liebe. Also, was hindert euch daran, euch einmal zu treffen und darüber zu reden? Ihr seid nur wie zwei Freunde, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben.«

Johanna zuckte mit den Schultern.

»Also, melden solltest du dich schon, Johanna!«, schlug Toni vor.

Anna fügte hinzu:

»Schreibe ihm doch Urlaubsgrüße! Schreibe, dass du hier auf der Berghütte bist und dich nach deinem Urlaub meldest.«

Toni lächelte Johanna an.

»Wenn du magst, dann gibst du dem Typen meine Handy-Nummer. Vielleicht ruft er an. Dann könnt ihr reden, ohne dass du deinen Schutz der Anonymität aufgeben musst. Was hältst du davon? Ich meine, des ist eine Eselsbrücke.«

»Ich werde darüber nachdenken!«

»Wir haben hier auf der Berghütte keinen Internetanschluss. Aber der Martin drunten in Waldkogel, der hat einen. Der Martin ist unser Arzt und ist ein guter Freund. Wenn du magst, dann rede ich mit ihm, dann kannst von dort aus mailen. Und Beate, sie ist unsere Tierärztin, sie hat auch Internet.«

»Danke, Toni, das ist lieb! Aber ich habe mein Notebook dabei und kann drahtlos ins Netz.«

»Dann ist ja schon alles geklärt!«, sagte Toni. »Nun, gib deinem Herzen einen Ruck!«

Johanna schmunzelte.

»Eigentlich kann ich nicht viel dabei verlieren.«

»Das ist die richtige Einstellung!«, lobte sie Toni.

Johanna ging in ihre Kammer. Sie holte ihr Notebook. Ein paar Tastengriffe und sie war im Netz.

»Was soll ich schreiben?«, fragte sie immer noch unsicher.

Toni überlegte. Er legte den Arm um Anna.

»Johanna, ich diktiere dir den Text!«

»Jetzt spielst du auch noch Ghostwriter, Toni!«, lachte Anna.

»Ja, für das Glück unserer Hüttengäste tue ich auch das! Also, Johanna, bist du soweit?«

Sie nickte. Toni diktierte:

Lieber Bobby!

Ich bin in Urlaub. Im Augenblick sitze ich auf der Terrasse einer Berghütte und genieße die wunderschöne Aussicht. Ich habe hier viel Zeit zum Nachdenken, über die Welt, das Leben und die Liebe. Ich bleibe noch eine Weile und werde mich bei dir nach meinem Urlaub melden.

Ich denke, wir sollten die Pseu­donyme vorerst aufrecht erhalten. Aber ich gebe dir eine Handynummer. Das ist die Telefonnummer der Berghütte, die Freunden gehört. Darüber kannst du mich erreichen und mir eine Nachricht zukommen lassen, wie du zu erreichen bist, außerhalb der Agentur. Wie wir die Kontakte dann weiter pflegen, das können wir uns nach dem Urlaub überlegen.

»Ich werde mir eine weitere Mail­adresse zulegen«, warf Johanna ein. »Eine neutrale Adresse, mit dem Namen ›Jane‹.«

»Gute Idee, Johanna!«, sagte Anna. »Er kann sich auch eine Adresse einrichten lassen, mit dem Namen ›Bobby‹.«

»Dann schreibe es ihm«, schlug Toni vor und diktierte:

Ich werde mir nach dem Urlaub eine neue Mailadresse zulegen mit ›Jane‹. Du könntest dir eine einrichten mit ›Bobby‹. Ist das nicht eine gute Idee?

Ich wünsche dir eine schöne Zeit.

Viele liebe Grüße aus den Bergen sendet dir Jane.

Dann diktierte Toni Johanna die Telefonnummer seines Handys.

»So, dann werde ich die Mail abschicken!«

»Ja, tu das, Johanna! Los!«, ermunterte sie Toni.

Johanna schickte die Mail ab. Sie seufzte. Dann machte sie das Notebook aus.

»Das war es! Danke für eure Hilfe!«

»Gern geschehen!«, sagte Toni. »Und jetzt machst du mal eine schöne Wanderung.«

Toni erklärte Johanna den Weg zum ›Erkerchen‹. Anna packte ihr etwas Proviant in einen kleinen Rucksack.

»Nimmst den Bello mit, dann bist du nicht alleine!«, schlug Anna vor.

Sie gab Johanna die Leine.

»Die trägst du in der Hand oder hängst sie dir um. Dann läuft Bello hinter dir her!«

So machte es Johanna auch. Sie ging zum ›Erkerchen‹ und verbrachte dort einige wunderschöne Stunden. Dort war es noch schöner als auf der Terrasse der Berghütte, weil sie dort alleine war und somit völlig ungestört. Ungestört, bis auf Bello. Der legte sich neben sie auf die Bank. Sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß und er genoss Johannas Streicheleinheiten.

*

Am Nachmittag hackte Toni Holz hinter der Berghütte. Sein Handy klingelte. Toni trieb die Axt in den Hackstock und nahm das Gespräch an.

»Grüß Gott! Ich bin der Toni von der Berghütte«, meldete er sich.

»Guten Tag! Mein Name sagt Ihnen nichts. Sie haben aber sicherlich von mir gehört. Bei Ihnen ist eine Jane zu Gast auf der Berghütte. Sie mailte mir Ihre Nummer.«

»Ah, dann bist du der Bobby!«, brach es aus Toni hervor. »Mei, erst mal ein herzliches ›Grüß Gott‹. Da wird sich die Jane freuen, dass du anrufst. Aber sie ist net hier. Sie ist wandern.«

»Das ist schade! Ich wollte sie nämlich fragen, wo sie ist. Ich habe auch Urlaub. Vielleicht könnten wir uns treffen.«

»Also, die Adresse kann ich dir auch geben! Das ist hier die Berghütte oberhalb von Waldkogel.«

»Waldkogel? Ist das der kleine Ort in der Nähe von Kirchwalden?«

»Ja, das ist Waldkogel! Aber so klein ist unser schönes Waldkogel auch nicht. Kennst du dich hier in der Gegend aus?«

»Nur flüchtig!«

»Mei, dann versäumst du etwas! Die Jane ist total begeistert.«

»Wie ist Jane so?«

Toni lachte laut.

»Des kann ich dir schwer sagen. Ein fesches Madl ist sie schon, wie man hier in den Bergen sagt. Aber mit der Liebe scheint sie Pech zu haben.

Wir haben drüber geredet. Sie hat mir und meiner Frau von deinen Mails erzählt. Ein bisserl neugierig auf dich ist sie schon, ich glaube, das darf ich sagen, wenn du mich nicht verraten tust.«

»Sicher! Das bleibt unter uns Männern! Mit der Liebe geht es mir ähnlich wie Jane. Ich wollte eigentlich keinen Kontakt mehr über eine Vermittlungsagentur. Aber jetzt geht mir die Jane nicht mehr aus dem Kopf.«

»Ja, so etwas soll es geben. ›Der Mensch denkt und Gott lenkt‹, sagen wir hier in den Bergen. Wird schon seinen Sinn haben.«

Toni grinste vor sich hin.

»Du, Bobby! Mir kommt da gerade eine ganz famose Idee!«

»Und die wäre?«

»Du kommst einfach her! Du meldest dich bei mir. Ich zeige dir die Jane. Und irgendwie findest du dann bestimmt einen Dreh, sie anzusprechen.«

»Das klingt gut, Toni. Aber ich halte das für etwas aufdringlich. Vielleicht würde ich sie damit verärgern. Und ich möchte sie auf keinen Fall verärgern.«

»Damit hast auch wieder recht! Dann mache ich dir einen anderen Vorschlag! Ich sage der Jane, dass du angerufen hast. Ich überrede sie. Wir machen das Spiel umgekehrt. Ich sage ihr, wer du bist und sie kann entscheiden, verstehst?«

Bobby sagte nichts und Toni sprach weiter:

»Die Jane ist wirklich ein ganz liebes Madl. Sie hat net darüber gesprochen, aber ich denke mir, dass sie mal sehr enttäuscht wurde. Deshalb ist sie in Sachen Liebe so vorsichtig. Das kann man auch verstehen.«

»Sicher! Auch in diesem Punkt kann ich ein Lied singen.«

»Siehst du, da habt ihr schon wieder einen Gesprächspunkt. Also, wie ist es, soll ich bei der Jane ein gutes Wort für dich einlegen?«

»Ja, du kannst es ja probieren! Ich rufe dich wieder an!«

»Ja, Bobby, das mache ich! Wann könntest du hier sein?«

»Ich kann jeder Zeit kommen! Ich bin im Augenblick in München.«

»Des ist net so weit!«

»Ja, ich könnte sofort – morgen – übermorgen, kurz, wann immer es Jane angenehm ist, könnte ich kommen.«

»Gut, dann rufst du mich heute gegen Mitternacht an. Dann ist es in der Berghütte ruhiger und ich bin mir sicher, dass ich bis dorthin auch mit Jane gesprochen habe.«

»Das mache ich, Toni! Dann kann ich vielleicht morgen schon auf der Berghütte sein.«

»Versprechen kann ich nichts! Aber wie ich sagte, ich werde nichts unversucht lassen.«

»Danke, Toni!«

»Des tue ich gerne, Bobby!«

»Auf Wiedersehen! Und hoffentlich bis bald!«

»Ja! Also – Pfüat di, wie wir hier in den Bergen sagen!«

Toni schaltete das Handy aus und steckte es ein. Er rieb sich die Hände. Das klappt ja mal wieder sehr gut, sagte er sich. Die Johanna ist ein wenig ein scheues Reh, dachte Toni. Da schadet es nichts, wenn Anna und ich ihr etwas hilfreich zur Seite stehen. Es ist eine Chance. Ob Liebe daraus wird, das kann niemand sagen. Aber vielleicht gewinnt sie einen Kameraden, einen wirklich guten Freund. Das kann ja auch gut möglich sein und das wäre schon mal ein Anfang.

Toni unterbrach seine Arbeit. Er ging zu Anna in die Küche und erzählte ihr von dem Telefonat.

»Das hast du gut gemacht, Toni. Johanna ist ein gebranntes Kind, wie man sagt. Ich werde mit ihr reden.«

»Des ist ein gute Idee, Anna! Von Frau zu Frau redet es sich über Herzensdinge auch besser.«

Toni nahm seine Anna in den Arm und gab ihr einen Kuss. Dann ging er wieder zum Hackplatz hinter die Berghütte.

Als Johanna später kam, rief Anna sie zu sich in die Küche.

»Johanna, dieser Bobby hat angerufen!«

Johanna wurde tiefrot im Gesicht. Anna schob ihr einen Stuhl hin.

»Toni hat mit ihm geredet. Toni hat den Eindruck, er ist ein netter, verlässlicher und höflicher Bursche. Er ist kein Hallodri, wie wir hier in den Bergen sagen. Übrigens, Bobby ist im Augenblick in München. Er lässt fragen, ob er zur Berghütte kommen kann?«

Johanna sah Anna mit großen Augen an.

»Anna, ihr könnt nicht sagen, er soll nicht kommen. Schließlich habt ihr eine Berghütte.«

Anna schmunzelte.

»Da mach dir mal keine Gedanken! Es kommt nur auf dich an! Er will auch nur wegen dir kommen – nur wegen dir!«

»Da…da…das ist mir schon klar. Was soll ich jetzt machen?«

»Mache es doch nicht so kompliziert! Er kennt dich als Jane und du ihn als Bobby. Ihr trefft euch hier. Wenn ihr euch nicht versteht, dann geht ihr als Jane und Bobby wieder auseinander. Dabei gibt es für dich kein Risiko.«

»Stimm schon! Wann will er kommen? Wie erkenne ich ihn?«

»Er will noch einmal anrufen. Er will nur kommen, wenn du nichts dagegen hast. Scheint wirklich ein netter Typ zu sein.«

Johanna seufzte tief.

»Gut, dann soll er meinetwegen kommen!«

»Das ist doch ein Wort! Dann werden wir es ihm sagen, wenn er wieder anruft. Von München hierher ist es nicht weit!«

Johanna nickte.

Anna schaute sie an. Sie wechselte das Thema.

»Wie war es beim ›Erkerchen‹?«

»Es war wunderbar! Das ist ein herrlicher Flecken Erde. Mich wundert es, dass ich die ganze Zeit dort allein gewesen bin, allein mit Bello.«

Anna schmunzelte.

»Du bist tagsüber dort gewesen! Abends sind dort schon mal Liebes­paare! Tagsüber ist es ein perfekter Ort, wenn man allein sein will.«

»Ja, so ist es!«

»Du, Johanna, ich habe da eine Idee! Wenn Bobby kommt, dann wird er mich oder Toni nach dir fragen. Er weiß nicht, wie du aussiehst. Wie wäre es, wenn du zum ›Erkerchen‹ gehen würdest? Wir schicken ihn dann zu dir. Dort bist du unbeobachtet. Es ist bestimmt besser als hier auf der Terrasse der Berghütte. Wir haben Hochsaison. Du weißt selbst, wie voll es meistens ist. Da habt ihr bestimmt keinen freien Tisch nur für euch allein, um euch in Ruhe zu unterhalten.«

»Ich weiß nicht? Im Grunde eine gute Idee!«

»Aber, du wolltest doch ›aber‹ sagen, oder?«

»Ja, Anna! Aber ob das ›Erkerchen‹ der richtige Ort ist?«

Anna lachte.

»Du bist doch nicht abergläubisch oder? Ja, es stimmt schon. Dort treffen sich die Liebespaare. Davon solltest du dich nicht beunruhigen lassen. Ich habe mir das so gedacht. Er wird uns sagen, wann er ungefähr hier ist. Wir schicken ihn dann zum ›Erkerchen‹ und sagen, du könntest bereits dort sein. Er kommt dann zum ›Erkerchen‹. Du schaust ihn dir an. Ihr kommt ins Gespräch. Dann kannst du entscheiden. Du bist auch schnell wieder hier, wenn etwas schiefgehen sollte.«

»Was für eine komplizierte Sache! Das ist wie in einem Film.«

Anna lachte.

»Ja, klingt wie nach dem Drehbuch einer Liebeskomödie. Es fehlt nur noch das Happy End.«

Johanna seufzte.

»So schnell wird es kein Happy End geben. Im Film enden solche Drehbücher mit dem Gang zum Traualtar. Daran kann ich jetzt nicht denken. Sicherlich wünscht sich das jede Frau, aber so wie es aussieht, bin ich ein Pechvogel. Ich falle wahrscheinlich nicht unter die Kategorie glückliche Braut. Jedenfalls mache ich mir keine Hoffnungen, dann ist man auch nicht enttäuscht.« Johanna seufzte. »Ach, Anna, das stimmt auch nicht ganz. Ich habe Träume und Wünsche und Hoffnungen. Aber wenn es schiefgeht … Ich könnte es nicht ertragen.«

Anna staunte. Sie trocknete sich die Hände ab. Sie schenkte sich und Johanna einen Kaffee ein. Anna setzte sie sich an den Tisch.

»Du glaubst nicht an die Liebe, Johanna? Du hast Angst vor ihr! Ich kann das in deinen Augen lesen.«

»Ja, Anna! Ich glaube nicht mehr an die Liebe oder vielleicht noch nicht wieder. Ich wünsche mir die perfekte Beziehung, Liebe und Kinder und Familie und ein Heim voller Liebe und Harmonie – ein ganzes Leben lang. Aber dafür gibt es wohl keine Garantie.«

Anna musterte Johanna.

»Klingt, als hättest du unschöne Erfahrungen gemacht?«

Johanna seufzte tief. Sie überlegte kurz.

»Es wird am besten sein, wenn ich es dir erzähle. Ich muss dir schon recht sonderbar vorkommen. Ich wünsche mir etwas und habe doch Angst davor. Aber das hat seinen Grund, Anna. Ich war sechzehn, als ich ihn kennenlernte.«

»Die erste Liebe?«

»Ja, es war für mich und für ihn die erste Liebe! Wir gingen zwei Jahre zusammen. Dann hatte ich mein Abi und war volljährig. Ich ging an die Universität in der Stadt, in der er auch studierte. Wir heirateten nur auf dem Standesamt. Mit einem uralten Bus brachen wir zur Hochzeitsreise nach Venedig auf.«

»Oh, wie romantisch!«, warf Anna ein.

»Der Bus machte unterwegs schlapp. Aber Rupold, damals rief ich ihn Ruppi, dabei war er gar nicht ruppig, sondern sehr, sehr lieb und einfühlsam. Also, er brachte den Motor wieder zum Laufen. Wir hingen sogar während der Fahrt wie Kletten aneinander. Dabei haben wir wohl mehrere Abzweigungen verfehlt und landeten nachts hier in Waldkogel.«

»Dann bist du schon einmal hier gewesen? Davon hast du noch nichts erzählt!«

»Ja, ich war schon einmal in Waldkogel, nicht hier auf der Berghütte, sondern unten im Ort. Wir kampierten eine Nacht am Bergsee und dann einige Tage auf der Wiese eines Bauern. Es war sehr schön und sehr romantisch. Es war sogar noch schöner als in Venedig.«

»Das wundert mich nicht! Kein Ort auf der Welt ist romantischer als unsere Berge, als unser schönes Tal. Doch erzähle weiter.«

»Ich wollte immer mal wieder nach Waldkogel. Aber Rupold hatte immer andere Pläne. Wir studierten fertig. Er wurde Fluglotse, ich machte ein Fitnesscenter auf. Wir entwickelten uns auseinander. Es gab keine Gemeinsamkeiten mehr. Er hatte viele Wochenenddienste. Es wurde nie etwas daraus.«

Johanna seufzte tief. Anna sah eine grenzenlose Traurigkeit in ihren Augen.

»Wir lebten uns auseinander! Die Liebe versiegte – irgendwie. Wir lebten so weiter diesen eingefahrenen Trott. Aber wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Irgendwann schafften wir es dann, uns auszusprechen. Wir beschlossen, uns in Freundschaft zu trennen.«

»Dann bist du geschieden?«

»Nein! Auf dem Papier sind wir noch ein Paar. Das ist wegen der Steuer, sagt er. Aber wir haben nichts mehr gemeinsam, außer der Steuersache – zumindest geht das noch eine Weile so. Rupold wollte das so.«

»Ich verstehe!«

»Zuerst war ich ganz euphorisch, Anna. Ich sagte mir, er war der Falsche. Ich sagte mir, wir waren einfach noch zu jung. Jetzt bin ich dreiunddreißig. Ich bin auf der Suche nach einem Mann, mit dem ich Kinder haben kann, eine Familie, ein wirkliches Heim. Aber dann stellte ich fest, wie kompliziert das ist. Die Ernüchterung folgte bald. Jetzt bin ich sogar in Panik. Meine biologische Uhr tickt, wie man sagt.«

Johanna trank einen Schluck Kaffee.

»Ich habe alles versucht, einen Mann kennenzulernen. Ich belegte einen Tanzkurs, ich bin zu Singletreffs, nahm an Speed-Dates teil. Alles ohne Erfolg und dann meldete ich mich bei der Internetpartneragentur an. Den Rest habe ich schon erzählt. Der einzige Fortschritt, den ich gemacht habe, ist, dass ich mich entschlossen habe, nach Waldkogel zu fahren. Es ist schwer, wieder allein zu leben. Ich muss das alleine Leben erst wieder lernen. Ich habe mich zu sehr angepasst. Ich wollte mit aller Gewalt glücklich sein.«

Anna war erschüttert. Ihr Herz war voller Mitleid.

»Und du und dein Rupold, habt ihr es nicht noch einmal probiert?«

»Nein! Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denke ich. Vielleicht hätten wir uns danach nicht mehr in die Augen sehen können und hätten einen Rosenkrieg geführt. Das wollten wir nicht. So können wir unsere endgültige Trennung sachlich und mit Anstand abwickeln, wenn es irgendwann so weit ist.«

»Seht ihr euch gelegentlich?«

»Nein, wir gehen uns aus dem Weg! Es ist besser so!«

»Hier in den Bergen spricht man von einen schweren ›Packerl‹, wenn jemand so eine Last auf dem Herzen hat. Du hast wirklich eine sehr schwere Last zu tragen, Johanna. Du hast das Vertrauen in die Liebe verloren. Das ist wohl das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann.«

»Möglich!«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Ja, es stimmt. Ich habe Angst, ich könnte mich wieder irren. Man sagt doch – ›die gerät immer an den Falschen‹. Das hast du doch auch schon gehört.«

»Ja, ich kenne den Spruch! Das ist dumm. So sollst du nicht denken, Johanna. Schau dich doch an! Du bist eine junge, eine sehr schöne junge Frau. Richtig fesch, wie wir hier in den Bergen sagen.«

Anna lächelte Johanna an.

»Irgendwo dort draußen gibt es auch für dich einen feschen Burschen.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja! Absolut! Das liegt nur an dir! Soll ich dir mal etwas sagen?«

»Sicher, du meinst, ich mache etwas falsch, stimmt es?«

»›Falsch‹ ist ein zu strenges Wort! Du solltest versuchen, mit dir selbst glücklich zu sein. Sei stolz auf dich! Sei zufrieden mit dir! Menschen können Fehler machen! Ich kann nicht beurteilen, ob du einen Fehler gemacht hast. Aber es hat keinen Sinn, wenn du dir immer und immer wieder deswegen Vorwürfe machst. Damit stehst du deinem neuen Glück im Wege. Niemand hat eine Garantie für das Glück. Liebe ist ein Geschenk, das man täglich schenken soll und es als Geschenk auch täglich annehmen muss. Wenn du alle Geschenke mit Skepsis anschaust, dann wird daraus nichts. Ich will dir ein Beispiel geben. Jemand überreicht dir ein Paket. Es ist ein Geschenk. Es ist in buntes Papier eingepackt und hat eine große Schleife. Jetzt gibt es zwei Gedanken. Der erste Gedanke ist, was wird Wunderbares darin sein? Herrlich, ein Geschenk für mich! Du freust dich und machst das Präsent auf. Du siehst, was darin ist und freust dich wirklich. Die zweite Möglichkeit ist, dass du denkst: mal sehen, was darin ist. Wenn es mir nicht gefällt, dann lasse ich mir den Kassenzettel geben und tausche es um. Mit diesen Hintergedanken wirst du dir das schöne Geschenk nie richtig ansehen. Du wirst dir keine Zeit nehmen, es genau zu betrachten. Dessen Schönheit wirst du dabei nicht erfassen. Du riskierst nur einen flüchtigen Blick. Verstehst du?«

»Ja, Anna! Ich verstehe! Genauso ist es! Du willst mir sagen, ich soll mir diesen Bobby genau ansehen?«

»Nicht nur diesen Bobby! Du sollst dein Herz nicht verschließen. Es kann niemand hinein, wenn du nicht wirklich deine Tür öffnest. Du hast die Tür zwar offen. Da steht auch ein Schild daran, das besagt, bitte eintreten. Aber du hast auf der Schwelle eine Schnur gespannt. Bevor du sie löst, musterst du jeden. Und bei der kleinsten Kleinigkeit schickst du ihn zurück. Du stehst hinter der Schnur und suchst nach Fehlern.«

Anna lachte.

»Am liebsten hättest du ein Gerät, das dir alles zeigt, damit du ja kein Risiko eingehst, wie diese Scanner am Flughafen. Höre auf, die Messlatte so hoch anzulegen. Es bringt nichts! Lege dir selbst keine Steine in den Weg! Und wenn du unbedingt Steine verarbeiten willst, dann baue etwas Schönes daraus. Aus jedem Stein kann man ein schönes Haus bauen. Es kommt nur auf die Architektin an.«

»Nun, vielleicht finde ich hier in den Bergen die Steine für ein schönes Haus der Liebe. Steine gibt es genug!«, seufzte Johanna.

»Jede Menge haben wir hier davon! Aber nimm die Steine vom ›Engelssteig‹, nicht von dem Geröll beim ›Höllentor‹. Du weißt, was ich dir damit sagen will?«

»Ja, ich habe die Geschichte über die beiden Berge auf der Internetseite vom Fremdenverkehrsamt gelesen. Ich finde sie ganz lustig! Wenn etwas Schlimmes geschieht, dann soll vorher eine schwarze Wolke über dem Gipfel des ›Höllentors‹ hängen, weil der Teufel aus seinem Tor auf dem Gipfel getreten ist. Aber die Engel auf dem ›Engelssteig‹ beschützen das Tal und Waldkogel. Als Kind hätte mir die Vorstellung, dass die Engel jede Nacht auf einer unsichtbaren Leiter hinauf in den Himmel steigen, bestimmt gefallen. Ich hatte als Kind eine Zeit, da sammelte ich alles, was mit Engeln zusammenhing, Engelsfiguren aller Art, Engelsbilder, Geschichten. Da hätte ich mir vorgestellt, wie die Engel, mit schwerem Rucksack auf dem Rücken, zwischen den Flügeln, hinauf in den Himmel stiegen.«

»Du kannst jeden hier in Waldkogel fragen. Fast jeder hat Erfahrungen gemacht. Es sind keine unsinnigen Geschichten, Johanna. Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist. Du kannst aber selbst mit den Engeln reden. Schau hinauf zum Gipfel des ›Engelssteig‹ und erzähle den Engeln, wie der Traummann sein soll, den du dir wünschst. Sie haben den Überblick, die Engel. Und sie werden mit Sicherheit deinen Wunsch hinauf in den Himmel tragen.«

Johanna lächelte Anna an.

»Ich glaube nicht mehr an Märchen, weder an Märchen aus dem Märchenbuch, noch an Engel.«

»Und nicht an die Liebe«, ergänzte Anna. »Dann bitte die Engel, dass du wieder an die Liebe glauben kannst, dass du wieder fähig sein wirst, Liebe zu empfinden, sie zu spüren, wenn sie dir geschenkt wird. Das ist doch etwas, womit sogar du die Wirkung der Engel vom ›Engelssteig‹ prüfen kannst.«

»Ja, das ist machbar! Das wäre ein Test! Darauf könnte ich mich einlassen!«, schmunzelte Johanna. »Ich werde darüber nachdenken!«

Sie lächelte Anna an.

»Danke, dass du dir so viel Zeit genommen hast!«

»Gern geschehen!«

Johanna trank ihren letzten Rest Kaffee aus. Dann stand sie auf, lächelte Anna noch einmal zu und ging in ihre Kammer. Dort legte sie sich aufs Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte nach.

*

»War das alles, oder haben Sie noch einen Wunsch?«

»Danke, ich glaube, das war alles. Sollte ich noch etwas an Ausrüstung brauchen, dann schaue ich noch mal vorbei!«

Der Mann stand vor dem großen Spiegel und schaute sein Spiegelbild an. Er schmunzelte.

»Fühlst dich verkleidet, wie?«, sprach ihn ein Mann an, der ihn beobachtetet hatte.

»Ziemlich ungewohnt! Ich komme mir vor, als hätte man mich in ein Karnevalskostüm gesteckt. Kniebundhosen, Kniestrümpfe, Wanderschuhe, Lederweste, eine atmungsaktive Jacke, Rucksack und, und, und … Na ja, es muss wohl sein.«

»Bist zum ersten Mal in den Bergen?«

»Ja, das kann man so sagen!«

»Ich komme schon seit Jahren her! Wo hast du dein Quartier?«

»Ich will rauf zu Berghütte!«

»Ah, zum Toni und der Anna! Gute Adresse!«

»Ja! Da muss ich doch den Milchpfad hinauffahren und dann ein Stück wandern, richtig?«

»Ja, des ist ein Weg! Ich will auch zur Berghütte. Aber ich nehme den Weg durch den Wald, am Forsthaus vorbei. Ich laufe ein Stück den alten ›Pilgerweg‹ entlang und dann biege ich zum ›Erkerchen‹ ein. Von dort aus kann man die Berghütte sehen. Der Weg ist zwar länger, aber meiner Meinung nach auch schöner. Wenn du willst, kannst du dich mir an­schließen. Ich bin der Thomas.«

Er reichte ihm die Hand. Der so Angesprochene überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Ich bin der Bobby!«

»Freut mich, dich kennenzulernen. Was ist? Kommst du mit?«

»Das ist sehr freundlich von dir! Aber ich habe es eilig!«

Thomas lachte.

»Mann, sei locker! Du bist hier in den Bergen. Ganz ruhig! Hier gibt es keine Rushhour wie in der Stadt, verstehst?«

Thomas lachte erneut und schaute an Bobby hinab.

»Na, dann denke ich, wir sehen uns heute Abend auf der Berghütte. Bist eben ein Neuling! Du musst den Rhythmus der Berge erst erfassen.«

Thomas schulterte seinen Rucksack und verließ den Laden.

Bobby zahlte. Veronika Boller reichte ihm die Tüten, in denen seine alte Kleidung war und die Tüten mit den vielen Dingen, die er für seinen Aufenthalt in den Bergen gekauft hatte. Bobby schulterte den neuen Rucksack und ging zu seinem Auto. Er verstaute seine Sachen und fuhr los.

Bobby erkundigte sich auf der Oberländer Alm nach dem Weg zur Berghütte. Er wollte sich nicht abholen lassen, wie es ihm Toni angeboten hatte. Er war voller Ungeduld, so ging er los. Bald schmerzten ihm die Füße in den neuen Wanderschuhen und die Tragegurte des Rucksacks schnitten ihm in die Schultern. Er bezweifelte, ob die vielen Ausrüstungsgegenstände, die ihm die freundliche und sicherlich auch sehr geschäftstüchtige Ladeninhaberin verkauft hatte, notwendig waren.

Aber Bobby hatte sich nun einmal vorgenommen, auf diese Jane einen guten Eindruck zu machen. Er war davon überzeugt, dass sie eine Berg­liebhaberin war. Würde sie sonst in den Bergen ihren Urlaub verbringen? Auf den Weg zur Berghütte legte Bobby mehrere Pausen ein. Er war die dünnere Bergluft und die körperliche Anstrengung nicht gewöhnt.

Wer Erfolg haben will, muss leiden. Diesen Spruch hatte er oft gehört. Und das alles nur, weil er dieser Jane gefallen wollte. Wie sie wohl sein wird? Er kramte ihr Profil heraus und studierte es noch einmal, dazu die Angaben über ihren angestrebten Idealmann. Treu sollte er sein, verständnisvoll sollte er sein, zuhören sollte er können, Zeit sollte er haben, eine Familie mit Kindern sollte er wollen, einfühlsam sollte er sein.

Bobby dachte nach, wie er sich in seiner verflossenen Beziehung verhalten hatte. Er gestand sich ein, dass er nicht zugehört hatte, wenig einfühlsam war, er hatte sich wenig Zeit zur Pflege der Beziehung genommen. Er war ehrlich zu sich selbst und nahm sich vor, in Zukunft alles anders zu machen.

Er hatte damit auch schon angefangen. Er hatte seine Arbeit gewechselt. Die neue Arbeitsstelle, die er antreten würde, garantierte ihm bessere Arbeitszeiten.

Dann kann ich mich auch der Familie widmen, dachte er. Das nahm er sich fest vor und hoffte, dass er bald auf ein liebendes Herz treffen würde.

Bobby erreichte völlig erschöpft die Berghütte. Er warf den Rucksack ab und ließ sich auf der Terrasse auf den ersten freien Stuhl fallen, den er erreichen konnte. Er schälte sich aus der Wanderjacke und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

»Mei, du schaust net gut aus! Aber das wird schon wieder! Erst bringe ich dir mal ein kaltes Bier!«

Bobby nickte dankbar.

Es dauerte nicht lange, dann brachte Toni das Bier. Bobby setzte den Bierseidl an die Lippen und trank bis zur Hälfte aus.

»So, das tat gut!« Er wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe.

»Ich suche den Hüttenwirt! Toni heißt er.«

»Das bin ich! Lass mich raten. Bist du möglicherweise der Bursche, der sich Bobby nennt?«

»Ja, der bin ich!«

»Dann ein herzliches ›Grüß Gott‹! Schön, dass du da bist!«

Toni streckte ihm die Hand hin.

»Siehst ein bisserl ramponiert aus! Hast den Aufstieg unterschätzt, wie?«

»O ja! Dabei bin ich bestens ausgerüstet!«

»Mei, ich sehe es! Schaut fast so aus, als wärst du der Veronika Boller in ihrem Laden am Marktplatz in die Finger gefallen. Die hat dich gründlich ausstaffiert.«

»Ja, das hat sie! Ich sagte ihr, dass ich eine Grundausrüstung für die Berge möchte.«

Toni lachte laut. Er konnte sich gut vorstellen, wie Veronika in ihrem Element war.

»Sie hätte dir lieber zu anständigem Proviant raten sollen. Ich gebe dir jetzt einen Rat. Gehe niemals ohne Proviant in die Berge, auch wenn die Strecke noch so kurz ist. Du musst immer genug Flüssigkeit mitnehmen. Das ist wichtig! Und jetzt hole ich dir einen Krug mit Quellwasser. Damit löschst du erst einmal deinen Durst, das ist besser als Bier. Und ich bringe dir Eier mit Speck.«

»Wasser ist gut, Eier mit Speck, nein danke! Ich will nur etwas essen und dann versuchen, mit Jane ins Gespräch zu kommen. Ich dachte mir, ich lade Jane zum Essen ein. Bei einem schönen Essen lässt es ich gut reden, hoffe ich.«

»Ja, des stimmt schon! Aber die Jane ist nicht hier! Sie ist wandern. Aber ich weiß, wo sie sein könnte. Jetzt ruhst dich ein wenig aus, sammelst neue Kräfte und dann erkläre ich dir den Weg.«

»Ist es weit? Ich will ja kein Jammerlappen sein. Aber ich denke, dass mich meine Füße nicht mehr weit tragen. Diese neuen Schuhe sind Folterinstrumente.«

»Des ist bei neuen Wanderschu­hen oft so! Aber sie laufen sich schnell ein. Wirst sehen, morgen ist es schon besser. Wie lange willst bleiben?«

»Das kommt auf Jane an. Ich habe vielleicht an eine Woche gedacht. Aber vielleicht jagt sie mich sofort zum Teufel.«

Bobby lachte.

»Mei, des hört sich an, als wolltest du gleich aufgeben.«

»Ja, ich habe gelernt, dass es besser ist, wenn man aufgibt. Das ist dann nicht so bitter wie, wenn einem die Frau davonläuft oder einen fortschickt. Das tut weh!«

»Hast du solche Erfahrungen gemacht? Des tut mir leid!«

»Nicht mehrere Erfahrungen! Es war nur eine, aber die war gründlich und endgültig. Damit muss ich mich abfinden. Aber daran will ich jetzt nicht denken. Erzähle mir lieber von Jane!«

Toni holte einen Krug mit frischem Quellwasser und setzte sich einen Augenblick zu Bobby an den Tisch.

»Es ist net weit. Jane hat hier ganz in der Nähe einen Lieblingsplatz. Dort seid ihr auch ungestört. Hier auf der Berghütte ist viel Trubel. Deine Sachen musst net mitschleppen! Ich habe dir eine Kammer reserviert. Ich nehme deinen Rucksack mit hinein. Meine Anna hat schon einen kleineren Rucksack mit einer leckeren Brotzeit für euch beide gerichtet. Du kannst die Jane also zum Essen einladen, zu einer schönen Brotzeit.«

Bobby trank zwei Gläser Wasser. Er schaute auf die Uhr.

»Ich muss mich beeilen. Nicht, dass sie denkt, ich komme nicht! Der erste Eindruck ist entscheidend. Man soll eine schöne Frau nie warten lassen.«

»Das stimmt und die Jane ist ein besonders fesches Madl.«

»Das freut mich! Und wie ist sie sonst so?«

»Etwas zurückhaltend ist sie! Sie ist misstrauisch gegenüber der Liebe. Meine Frau, die liebe Anna, die hat sich gestern länger mit der Jane unterhalten. Des Madl hat eine große, eine wirklich große Enttäuschung erlebt. Deshalb sei vorsichtig. Das kann ich dir raten. Es wird nicht einfach werden, ihr Vertrauen zu gewinnen, vermute ich. Du musst Geduld aufbringen. Aber du willst ja eine Woche bleiben. Da hast du genug Zeit. Übrigens, am Wochenende machen wir hier auf der Berghütte einen zünftigen Hüttenabend. Wir grillen und es gibt Bier vom Fass. Es gibt ein großes Feuer und es kann getanzt werden.«

»Das klingt gut! Beim Tanzen kann man sich näherkommen, falls es vorher nicht so …, du weißt schon, wie ich das meine, Toni.«

»Ja, Tanzen ist immer gut! Jetzt ruhst dich noch einen Augenblick aus. Dann zeige ich dir den Weg.«

Bobby trank das ganze Wasser aus. Sein restliches Bier ließ er stehen. Er wollte Jane nicht mit einer Bierfahne gegenübertreten. Bald kam Toni. Er beschrieb Bobby den Weg und wünschte ihm alles Gute.

»Übrigens, du kannst Jane nicht verfehlen! Sie hat einen großen schwarzen Hund dabei. Das ist Bello, unser Neufundländerrüde. Jane ist ganz vernarrt in ihn.«

Bobby bedankte sich noch einmal und ging los.

Toni trat zu Anna in die Küche.

»Welchen Eindruck hast du, Toni?«

»Der Bursche ist ganz schön nervös! Der ist auch ein gebranntes Kind, genau wie Johanna. Er hatte eine Beziehung, die in die Brüche gegangen ist. Sein Madl hat ihn verlassen. Das ist nicht gerade stärkend für das männliche Ego.«

»Ja, das ist nicht schön. Mit so einer Abfuhr können Männer auch schlechter umgehen als Frauen. Wir heulen uns vielleicht die Augen aus für einen Tag. Doch dann trösten wir uns, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben. Bei den Burschen ist es anders. Sie sind doch alle ein wenig stolze Gockel. Sie trifft es ins Mark. Das kratzt mächtig an ihrem Selbstbewusstsein.«

»Des stimmt, Anna!«

Toni nahm Anna in die Arme. Sie schauten sich in die Augen und küss­ten sich.

»Aber wenn die Liebe beschlossen hat, dass des Madl und der Bursche zusammengehören, dann kommen sie auch zusammen«, sagte Toni.

»Das stimmt! Dann überwinden die beiden alle Hindernisse!«

Toni schmunzelte.

»Dann kommt es sogar vor, dass ein Madl von der Waterkant auf einer Berghütte vor Anker geht!«

Sie küssten sich wieder und lachten. Beiden war es warm ums Herz.

*

Johanna saß auf der Bank und streichelte Bello.

Bobby kam zum ›Erkerchen‹. Er blieb abrupt stehen, als er Johanna erkannte. Sein Herz fing an zu rasen. Er hatte das Gefühl, als versagten ihm die Beine. Mit einer Hand stützte er sich kurz an der Felswand ab. Johanna hatte ihn noch nicht bemerkt. Aber Bello wandte sich um und gab Laut. Johanna blickte auf. Er sah, wie ihr Lächeln auf dem Gesicht verschwand und ihre Gesichtszüge einfroren.

Sie sprang von der Bank auf.

»Rupold? Was tust du hier?«

Er ging auf sie zu.

»Ich … ich … Also, was für ein Zufall? Da ist die Welt so groß und wir treffen hier in Waldkogel aufeinander.«

»Das ist grotesk, finde ich. Zusammen mit mir wolltest du nie herfahren. Aber allein hast du den Weg gefunden. Na ja, ich ziehe meine Schlüsse daraus. Du wolltest nicht mit mir nach Waldkogel fahren. Aber bilde dir nur nicht ein, dass mich das ärgert! Pah! Das lässt mich völlig kalt. Und jetzt kannst du wieder verschwinden. Los, hau ab! Du störst!«

»Bist immer noch so feurig!«, lächelte Rupold.

»Lass den Kommentar! Ich war zuerst hier und du gehst jetzt!«

Seelenruhig ließ Rupold den Rucksack von den Schultern gleiten und stellte ihn auf den Boden vor die Sitzbank. Ohne sie weiter zu beachten, nahm er Platz.

Johanna stemmte die Arme in die Seite und schaute ihn wütend an.

»Verschwinde! Du bist der letzte Mensch, den ich hier sehen will. Wahrscheinlich habe ich die Wolke über dem Gipfel des ›Höllentors‹ übersehen. Dass du hier aufkreuzt, kommt einer Naturkatastrophe gleich. Stehe auf, schnapp dir dein Zeug und gehe weiter!«

»Das würde ich gern tun, Johanna. Ich habe mir auch nicht ausgesucht, dich hier zu treffen. Das ist eben Schicksal! Jetzt müssen wir uns einigen.«

»Einigen – so ein Quatsch! Mit dir konnte ich mich noch nie einigen. Immer musste alles nach deinem Dickschädel gehen. Du hast bestimmt und ich sollte das brave Weiblein sein, das dem Herrn der Schöpfung seinen Willen lässt. Die Zeiten sind vorbei, Rupold. Ich bin gerade dabei, mir ein eigenes Leben aufzubauen. Und diese Chance, die lasse ich mir von Nichts und Niemanden nehmen und schon gar nicht von dir kaputtmachen. Verschwinde, und zwar sofort! Die Berge sind so groß, du musst nicht hier sein!«

»Doch, das muss ich!«

»Musst du nicht!«

»Doch! Ich habe keine Wahl!«

Johanna stöhnte laut und verdrehte sie Augen.

»Das ist mal wieder typisch für dich! Das war einer deiner meistgebrauchten Redewendungen – ›Ich habe keine andere Wahl‹, so ein Schwachsinn. Stellst du mir am Ende nach?«

»Nein, bewahre! Es ist wirklich Zufall, dass ich hier bin. Es ist auch wirklich Zufall, dass ich in Waldkogel bin.«

Johanna war völlig erschöpft. Sie sank auf das andere Ende der Bank. Sie klopfte neben sich auf die freie Sitzfläche zwischen Rupold und sich und rief Bello.

»Bello, komm! Platz!«

Der junge Neufundländer ließ sich das nicht zweimal sagen. Er setzte sich zuerst hin. Dann legte er sich flach und barg seinen Kopf auf Johannas Schoß. Sie warf Rupold einen Seitenblick zu. Sie sah, wie dieser den Hund anstarrte und sogar mit dem Finger auf ihn zeigte. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, blieb aber dann stumm.

Hilflos rieb sich Rupold die Stirn. Er stand auf, ging einige Schritte auf und ab. Dann setzte er sich wieder hin und stöhnte laut:

»Himmel, stehe mir bei! Das darf nicht wahr sein! Das gibt es doch nicht!«

»Was ist? Stimmt etwas mit Bello nicht? Warum starrst du den Hund so an. Er hat dir nichts getan!«

Rupold löste sich aus seiner Erstarrung. Er lächelte zuerst, dann lachte er und brach schließlich in einen richtigen Lachanfall aus. Immer wieder sah er dabei Johanna an.

Diese zog die Augenbrauen hoch und sah sich das Schauspiel an.

»Jetzt bist du wohl ganz verrückt geworden, wie? Was lachst du so hysterisch, Rupold? Ist das eine neue Masche von dir?«

Johanna stand auf.

»Bello, komm, hier bleiben wir nicht! Wir gehen zurück zur Berghütte!«

Rupold sprang auf. Er packte Johanna am Arm.

»Lass mich los! Sofort! Sonst hetze ich den Hund auf dich!«, brüllte sie ihn an.

Rupold zog seine Hand zurück.

»Okay! Doch bleibe noch einen Augenblick! Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Es ist wirklich sehr wichtig!«

Johannas Augen funkelten. Sie war wütend.

Mühsam hatte sie sich durchgerungen, sich mit diesem Bobby zu treffen.

Und jetzt zerstörte ihr Noch-Ex-Mann die ganze Stimmung.

»Gut, aber mache es kurz! Wenn du hier bleibst, dann gehe ich!«

»Es wird sehr kurz werden! Aber es wird nicht einfach sein. Bitte, setz dich für einen Moment.«

»Willst du mir schon wieder sagen, was ich machen soll? Kommt nicht in die Tüte! Sage, was du zu sagen hast! Dann gehe ich!«

Johanna nahm Bello an die Leine.

Rupold stand auf und schaute ihr in die Augen.

»Der Hund gehört Toni, stimmt es?«

»Ja, woher weißt du das?«

»Toni, hat es mir gesagt, dass Bello mit dir unterwegs ist.«

Rupold sah, wie Johanna die Farbe im Gesicht wechselte. Langsam dämmerte es ihr. Zuerst wurde sie blass wie eine frisch gekalkte Wand, dann lief sie purpurrot an. Sie atmete hörbar ein.

»Nein! Nein und nochmals nein! Das kann nicht sein! Das darf nicht sein! Das ist unmöglich!« schrie sie ihm ins Gesicht.

Rupold lächelte sie an.

»Doch ist es möglich! Ich bin nach Waldkogel gefahren, um mich hier mit einer Frau zu treffen, deren Pseudonym Jane ist. Und du bist, nach Tonis Beschreibung, Jane, stimmt es?«

Johanna brachte kein Wort hervor. Sie ging die wenigen Schritte zurück zur Bank und setzte sich. Sie schwieg, streichelte Bellos Fell und ließ ihn wieder von der Leine. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie etwas sagen konnte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Die Erkenntnis, dass sich hinter Bobby, Rupold verbarg, hatte sie getroffen. Sie fühlte sich, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Am liebsten hätte sie sofort die Flucht ergriffen. Doch ihrer Beine zitterten. Die Angst, in sich zusammenzusacken und am Ende dann in seinen Armen zu landen, war mehr als ein Alptraum.

»Dann bist du Bobby?«, sagte sie nach einer ganzen Weile leise.

»Ja, ich habe das Pseudonym Bobby! Und wir haben, laut Computerauswertung, achtundneunzig Prozent Übereinstimmung!«

»Das weiß ich! Das musst du mir nicht sagen!«

»Immer noch so kratzbürstig!«, lächelte Rupold sie an.

»Ich … ich kann es nicht fassen! Wenn ich das auch nur geahnt hätte, dass du dahintersteckst, dann hätte ich dir nie geschrieben.«

»Das glaube ich dir aufs Wort! Aber wir haben uns gemailt. Und ich hatte mich sehr darauf gefreut, mich mit Jane zu treffen. Jetzt sind wir hier! Machen wir etwas daraus!«

»Schon wieder machst du mir Vorschriften!«

»Nein, es war nur ein Vorschlag! Es war wohl Schicksal, dass wir uns hier als ›Jane‹ und ›Bobby‹ begegnet sind.«

»Das war wohl ein schlechter Scherz des Schicksals. Was hat es sich da erlaubt? Es ist nicht zu fassen! Von all den Millionen und Millionen Single-Männern musst du hier auftauchen. Warum? Es muss ein Irrtum im Computerprogramm sein!«

Johanna warf die Arme zum Himmel.

»Warum? Warum, frage ich!« stöhnte sie.

»Vielleicht, weil wir eine zweite Chance bekommen haben! Bitte glaube mir, ich bin genauso überrascht wie du!«

Er lächelte sie an.

»Aber ich hadere nicht mit diesem Schicksalsschlag. Jetzt wird mir einiges klar.«

»Was wird dir klar? Was hast du jetzt mit deinem messerscharfen Verstand wieder analysiert?«

»Ich habe nichts analysiert, Johanna? Oder soll ich besser ›Jane‹ sagen?«

»Jane ist in Ordnung.«

»Gut, dann sage du ›Bobby‹ zu mir! Vielleicht ist es uns so möglich, unbefangener zu reden.«

Bobby bückte sich und griff nach seinem Rucksack.

»Anna hat uns eine leckere Brotzeit eingepackt, weil ich dich auf der Berghütte zum Essen einladen wollte. Ich dachte mir, bei einem guten Essen, redet es sich leichter. Aber du bist nicht dort gewesen, sondern hier! Gute Idee, dass wir uns hier treffen sollten. Auf der Terrasse der Berghütte sind so viele Leute.«

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern packte den Rucksack aus. Er legte die Sachen zwischen sie auf die Bank. Es gab Brote mit Wurst und mit Käse, Äpfel, Schokolade, Müsliriegel und zwei Thermoskannen, eine mit Tee und eine mit Kaffee, sowie eine Flasche mit Wasser.

»Bitte greife zu!«

»Danke!«

Johanna nahm einen Müsliriegel und knabberte daran herum.

»Du hast also auch keine guten Erfahrungen mit den vorgeschlagenen Bekanntschaften gemacht, Johanna? Pardon, Jane!«

»Nein!«

»Ich auch nicht!«

»Das hast du schon geschrieben!«

»Ja, das stimmt! Ich habe mich sogar mit einigen Kandidatinnen verabredet, aber Dates dauerten nie lange. Ich wurde mit keiner warm, wie man sagt. Dabei musste ich immer an dich denken!« Er seufzte. »Du musst es nicht glauben, aber so war es. Langsam wurde mir bewusst, was ich verloren hatte – an dir!«

»Oh, eine ganz neue Erkenntnis!«

»Ja, verspotte mich ruhig! Ich habe es nicht besser verdient.«

Er lächelte.

»Dann dachte ich, ich schreibe dir ab. Jetzt weiß ich, dass es so sein musste, es war eben Schicksal. Und dann kam deine Mail. Da knisterte etwas in mir. Außerdem war ich ein wenig neugierig, wie diese Jane ist.«

»Bei dem hohen Prozentsatz an Übereinstimmungen ist das kein Wunder.«

»Wahrscheinlich habe ich unbewusst nach dir gesucht. Ich will dir etwas gestehen, Jane – Johanna! Ich wollte mich abmelden und dann erneut um dich werben. Denn ich habe festgestellt, dass es für mich nur eine Frau gibt – das bist Du!«

Rupold hätte ihr gerne seine Liebe gestanden. Aber er hatte Angst, dass sie es für eine billige Anmache halten könnte. Sie muss spüren, dass sie mir immer noch so viel bedeutet, dachte er. Wenn sie das erkannt hat, dann sage ich ihr die schönsten Worte, die ein Mensch einem andern Menschen sagen kann: Ich liebe dich!

Johanna sah ihn an.

»Diese Erkenntnis kommt etwas spät!«

»Ich weiß! Doch wie sagt man: ›Lieber spät als nie!‹ Jedenfalls hatte ich die letzten Wochen und Monate viel über uns nachgedacht.«

Johanna nahm ein Brot mit Käse und fing an zu essen.

»Wir haben wohl einiges völlig falsch gemacht, Johanna! Ich sage Johanna, weil es dabei um Johanna geht und nicht um Jane.«

»Bobby oder Rupold, es bringt nichts, lassen wir die Vergangenheit ruhen! Als wir beschlossen, uns zu trennen, vereinbarten wir, dass wir uns nicht streiten wollten. Wir stellten sachlich fest, dass wir uns auseinandergelebt hatten. Es war so und es ist so! Wir waren eben zu jung, damals! Und irgendwann passten unsere Lebensträume nicht mehr zusammen und die Liebe starb. Sie wurde einfach immer weniger und weniger, dann verschwand sie.«

Johanna seufzte.

»Johanna, du seufzt? Klingt, als wärst du traurig darüber?«

Sie warf ihm einen Blick zu.

»Lassen wir das«, sagte sie leise.

»Du kannst es gerne lassen, ich nicht. Als wir beschlossen, getrennt zu leben, haben wir nicht über unsere Gefühle geredet. Wir stellten nur fest, wie es ist und trafen die Entscheidung. Ich hatte jetzt wahrlich genug Zeit, darüber nachzudenken. Und ich sage dir, ich bedauere sehr, dass uns unsere Liebe abhanden gekommen ist. Du bist für mich die große Liebe gewesen. Du bist für mich meine Traumfrau gewesen und bist es immer noch. Im Grunde habe ich dich gesucht, nur dich. Deshalb gaben mir die andern Kandidatinnen auch nichts. Sie lösten in mir nichts aus. Es kam nichts in Gang in mir.«

Er lächelte.

»Sieh mal, Johanna! Ich hätte mich längst bei dieser Internetpartneragentur abmelden können, einfach kündigen – Schluss damit. Aber da war noch deine Meldung. Jetzt bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur die hohe Prozentzahl an unserer Übereinstimmung war, sondern etwas anderes, was mich davon abhielt. Es war etwas, was sich der sachlichen Welt entzieht. Nenne es Schicksal, nenne es Vorsehung, nenne es Magie oder nenne es Liebe, der ich nachtrauerte und die mich auf den Weg gebracht hat. Und der Weg führte mich hierher nach Waldkogel, zu dieser Bank, auf der du auf einen Bobby gewartet hast. Sicher ist das rational nicht zu verstehen. Ich gebe auch gerne zu, dass ich immer alles rational und pragmatisch angegangen bin in meinen Leben, jedenfalls in den letzten Jahren. Ich habe aber inzwischen erkannt, dass es noch etwas anderes gibt. Es ist eine Kraft, stärker als jede physikalische Einheit. Diese Kraft kann man in keinem Labor nachweisen, sie nicht sehen. Sie ist auch nicht gasförmig, aber sie ist da und füllt doch Räume aus. Ihre Gefäße sind die Herzen. Und die Kraft heißt Liebe.«

Johanna schüttelte verwirrt den Kopf, als wollte sie zu sich kommen.

»So habe ich dich noch nie reden gehört! Hast du das Fach gewechselt? Bist du jetzt unter die Philosophen gegangen?«

»Johanna, gewechselt habe ich vieles. Ich habe einiges grundsätzlich in meinem Leben ausgewechselt, seit du gegangen bist. Doch noch mehr habe ich neue Erkenntnisse gewonnen. Ich bin ein anderer Mensch, ein anderer Mann. Dabei will ich aber vorwegschicken, dass ich nicht perfekt bin. Ich weiß aber, wie ich sein will und ich bemühe mich. Ich weiß auch, dass es ein langer Weg ist, auf dem ich bin.«

Johanna schaute ihn mit großen, fragenden Augen an.

»Da staunst du, wie? Ich kann dir das nicht verdenken! Wenn ich mich so reden höre, dann wundere ich mich selbst. Es klingt auch irgendwie völlig unglaubwürdig, wenn ich meine Gedanken zum ersten Mal laut ausspreche. Aber es ist so!«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Rupold!«

»Nichts sollst du dazu sagen, Johanna! Ich freue mich unbändig, wenn du mir einfach zuhörst. Ich will dir nur sagen, dass ich dich um etwas bitten möchte.«

Johanna zog erneut die Stirn in Falten. Rupold machte eine besänftigende Handbewegung, die so viel bedeutete wie lass mich bitte ausreden.

»Ich möchte dich bitten, mich neu kennenzulernen. Kannst du mich so unbefangen ansehen, wie du einen Fremden ansehen würdest? Wenn hinter Bobby nicht ich mich verborgen hätte, wäre das doch möglich oder? Wenn wir uns viele Mails geschrieben hätten, wären wir uns vielleicht auf eine ganz neue Art nähergekommen. Fast bedauere ich, dass es nicht dazu gekommen ist. Unsere Chancen wären besser gewesen. Wir hätten uns vorurteilsfrei über die Liebe, das Leben, die Träume und Sehnsüchte austauschen können. Wir hätten uns geschrieben, frei von Groll und Bitternis und auch der Enttäuschung. Der Verlust unserer Liebe hätte uns nicht gehemmt. Deshalb hatte ich vorhin den Vorschlag gemacht, dass wir uns als Jane und Bobby begegnen.«

Johanna schwieg.

Rupold wusste nicht, wie er es deuten sollte. So sprach er einfach weiter.

»Ich habe meinen Jahresurlaub genommen und feiere zusätzlich Überstunden ab. Danach scheide ich aus. Nach der freien Zeit fange ich in München bei einer Firma an, die im Bereich Flugzeugkonstruktion tätig ist.«

»Glückwunsch! Das wolltest du doch immer! Ich freue mich für dich, dass es endlich geklappt hat.«

»Danke! Ja, das wollte ich immer. Ich war in meiner alten Arbeit nicht glücklich. Sie gab mir nicht die innere Zufriedenheit. Heute denke ich, dass ich deswegen so viel gearbeitet habe. Ich suchte dieses innere Gefühl, das mich glücklich macht. Es stellte sich nie ein. Stattdessen habe ich viel mehr verloren, das Gefühl der Liebe. Johanna, es geschah einfach. Ich kam in einen Sog. Es passierte einfach. Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden. Es war wie ein Ball, der den Hang hinunterrollt. Dabei wird er immer schneller und schneller, bis er kaum noch aufzuhalten ist.«

»Wie eine Lawine, die alles unter sich begräbt.«

»Ja, so war es! Ich war nicht glücklich. Heute weiß ich es. Deshalb ändere ich mein Leben. Ich werde sicherlich beruflich die Anerkennung und die Freude finden, die ich immer wollte.«

»Du hast nie darüber gesprochen, dass du in deinem Job unglücklich warst.«

»Zu einem war mir das selbst nicht bewusst. Zweitens hätte ich es nie zugegeben.«

»Ja, das hättest du nie!«

»Darf ich dir noch ein Geständnis machen?«

»Wenn wir schon mal dabei sind? Warum nicht?«

»Johanna, du hattest nach deinem Studium keine Planstelle bekommen. Das hat dich nicht sonderlich getroffen. Du hast einen anderen Weg eingeschlagen. Wenn du aus dem Studio gekommen bist, dann warst du glücklich. Ich weiß jetzt, dass ich dich darum beneidet habe. Das war mir nicht bewusst. Aber es war so. Je glücklicher du mit deiner Arbeit warst, desto mehr habe ich gearbeitet, jede freie Schicht zusätzlich übernommen, ohne Rücksicht auf Feiertage, Sonntage, auf unsere gemeinsame Planung.«

»Ja, so war es! Wie oft wollten wir zusammen etwas unternehmen und dann bist du ins Auto gestiegen und zum Flughafen gefahren.«

»So etwas wird nie wieder geschehen! Ich habe erkannt, dass es nur ein Leben gibt. Ich habe andere Schwerpunkte gesetzt.«

Sie schauten sich an.

»Du glaubst mir nicht?«

Johanna lächelte hilflos.

»Dem Mann, der Rupold heißt, zu glauben, fällt mir schwer. Aber wenn ein Bobby so zu mir gesprochen hätte, dann würde ich ihm zustimmen. Ich hätte Verständnis.«

»Das ist ein Anfang! Danke!«

»Ein Anfang von was?«

»Ich hoffe auf einen neuen Anfang, Johanna!«

Sie schwieg und schaute ihn nur an. Er konnte den Blick in ihren Augen schwer deuten.

Stimmte sie zu? Lehnte sie ab?

War sie sich nur unsicher?

Wollte ihr Kopf etwas anderes als ihr Herz?

Rupold zögerte. Doch schließlich fasste er Mut und fing an zu sprechen. Dabei sah er Johanna nicht an.

»Johanna«, begann der leise.

Seine Stimme klang weich, das fiel Johanna sofort auf.

»Johanna«, wiederholte er, »ich habe vorhin schon gesagt, dass ich mich bei der Agentur abmelden wollte, weil ich eingesehen habe, dass es nur eine Frau für mich gibt. Das bist du! Im Grunde habe ich dich gesucht, immer nur dich! Ich wollte versuchen, dir wieder näherzukommen. Das war meine Absicht. Und ich sehe es als Bestätigung des Schicksals, dass wir aufeinander getroffen sind. Wir gehören zusammen, Johanna! Dass ich mich wirklich darum bemühen wollte und es ernst meinte, dass kannst du daran sehen, dass ich mir eine andere Arbeit gesucht habe. Kannst du das anerkennen?«

»Ja, das kann ich!« Johanna stöhnte. »Rupold, ich verstehe, was du meinst. Mir ging es ähnlich, wenn nicht genauso. Jeden verglich ich mit dir. Keiner war so wie du! Ich wartete ungeduldig auf die Antwortmail von Bobby, wegen der vielen Übereinstimmungen. Ich dachte, dieser Bobby hat alle guten Eigenschaften. Er ist vielleicht so, wie du früher warst.«

»Du bist früher auch anders gewesen, Johanna.«

»Menschen verändern sich! Die Lebensumstände verändern sie. Reden wir Klartext, Rupold. Ich akzeptiere, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat. Aber ich kann meine Gefühle nicht einfach einschalten. Ich kann mir nicht sagen, alles vergeben und vergessen, streichen wir die schlechten Zeiten aus unserem Gedächtnis.«

»Das wäre auch Unsinn. Unsere Krise hatte einen Sinn. Ich bin zu Besinnung gekommen. Ich habe gesehen, wie gedankenlos ich oft war.«

Er lachte.

»Mal ehrlich, findest du es nicht lustig, dass wir uns hier in Waldkogel getroffen haben? Weißt du noch?«

»Wie könnte ich unsere Hochzeitsreise und die schönen Tage hier vergessen?«

»Bist du schon am Bergsee gewesen?«

»Nein! Ich war nur auf der Berghütte. Sicher habe ich daran gedacht, zum Bergsee zu gehen. Aber ich hatte Angst vor den schönen Erinnerungen. Viele meiner Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.«

»Ich habe viele Fehler gemacht, Johanna! Es tut mir leid. Ich bitte dich aus ehrlichem Herzen, mir zu verzeihen. Es ist alles meine Schuld.«

»Nein, das ist es nicht! Wenn eine Beziehung scheitert, dann gehören immer zwei dazu. Vielleicht waren wir leichtsinnig. Wir hielten unsere Liebe für zu selbstverständlich. Wir nahmen uns deshalb zu wenig Zeit.«

»Ich habe dir zu wenig Zeit gewidmet!«

»Es ist nicht fair, wenn du alles auf dich nimmst. Das ist kein guter Neuanfang!«

»Neuanfang? Wirklich? Du bietest mir einen Neuanfang an?«

»Langsam, Rupold! So schnell geht es nicht! Aber man könnte darüber nachdenken und es versuchen. Vielleicht haben wir beide sogar eine Verpflichtung, es zu versuchen. Sicherlich ist es Schicksal, dass wir als Jane und Bobby aufeinander getroffen sind. Vielleicht will uns die Liebe eine zweite Chance geben.«

»Ja, nehmen wir doch die zweite Chance an! Wir verbringen den lange geplanten und immer verschobenen Urlaub in Waldkogel. Wir reden und erzählen uns alle unsere Träume. So haben wir es doch am Anfang gemacht. Du lagst in meinem Arm und wir träumten.«

Für eine kleine Weile schwiegen sie. Sie schauten über das Tal von Waldkogel, das so schön in der Sonne lag. Der Himmel war blau und hoch oben kreisten einige Vögel. Am Hang auf der anderen Talseite stiegen Gämsen hinauf. Doch das sahen die beiden nicht. In ihren Köpfen lief ein Film der Erinnerungen ab. Als sei es erst gestern gewesen, erinnerten sie sich an die Tage damals in Waldkogel. Sie spürten, wie ihre Herzen von einem warmen Gefühl durchdrungen wurden. Einem Gefühl, das sie seit langem nicht mehr so intensiv empfunden hatten. Ihre Herzen fingen, an zu klopfen. Und es war, als spürten sie ein erstes zaghaftes Flattern der Schmetterlinge des Verliebtseins. Sie hatten vergessen, wie es war. Doch die Erinnerungen bewegten ihre Herzen und sie fühlten diese Gefühle der Liebe, der Verbundenheit und Zuneigung zum ersten Mal wieder seit langer Zeit.

Es war, als drängten nach einem eisigen schneereichen Winter die Spitzen der ersten Blumenknospen ans Licht.

Rupold räusperte sich.

»Wir könnten die zweite Chance annehmen und damit beginnen, dass wir uns näher zusammensetzen. Allerdings ist das nur möglich, wenn Bello den Platz freigibt. Ich wäre für den Anfang schon sehr glücklich, wenn dieses liebenswürdige Zottelpaket uns nicht weiter trennen würde. Ich wäre schon glücklich, wenn ich einfach nur neben dir sitzen könnte.«

Johanna schob Bello von der Bank.

»Du musst jetzt Bobby etwas Platz machen, Bello! Sei ein braver Hund und lege dich hier vor meine Füße.«

Bello war anzusehen, dass es ihm nicht gefiel, seinen privilegierten Platz zu räumen.

»Ich wusste nicht, dass du Hunde magst. Aber das hast du auch aufgeführt.«

Rupold holte seine Ausdrucke hervor.

»Hier steht es! Bei ›Tieren‹, hast du Hunde, Katzen, Hasen und Meerschweinchen eingegeben. Wie bist du darauf gekommen?«

»Es ging bei der Liste doch um die Idealvorstellung. Also stellte ich mir einen Mann vor, mit dem ich Kinder und Haus hätte. Dazu gehören Tiere, Hund, Katze und Kleintiere. Kinder mögen Tiere.«

»Stimmt! Das Thema Kinder war plötzlich auch verschwunden zwischen uns. Das Haus ist schon da. Aber nach der Probezeit werde ich mich nach einem neuen Domizil umsehen. Ich habe mir in München ein kleines Apartment genommen. Es geht zu viel Zeit verloren, wenn ich immer zurück zum Haus fahre. Ich dachte, das Haus ist gut zu vermieten und man kann etwas anderes suchen. Welche Vorstellung hast du von einem Traumhaus?«

»Damals in Waldkogel träumte ich von einem Bauernhof. Erinnerst du dich?«

»Stimmt! Jetzt erinnere ich mich wieder. Du maltest dir unser Leben auf einem alten Bauernhof aus, mit knarrenden Dielen und Deckenbalken.«

»Und einem Pferd auf der Wiese! Ich wollte einen Haflinger haben. Übrigens, du hast mir einen versprochen!«

Rupold rückte ein Stück näher an Johanna.

»Vielleicht sollten wir die Reste der Brotzeit hier forträumen?«, sagte sie.

Rupold verstaute alles in seinem Rucksack. Dann setzte er sich noch näher neben Johanna.

»Ich will dir jetzt keine materiellen Güter versprechen, Hanna! Das käme mir wie Bestechung vor.«

Sie lächelte ihn an.

»Du hast mich lange nicht mehr Hanna genannt. Am Anfang hast du immer Hanna zu mir gesagt oder Hanni!«

»Und für dich war ich Ruppi!«

»Dabei warst du damals nicht ruppig!«

»Danke für das Kompliment. Ich war später wohl ziemlich ruppig, wie?«

»Vergessen wir es!«

»Ja, vergessen wir es! Stört es dich, wenn ich meinen Arm auf die Lehne hinter deinem Rücken lege?«

Johanna errötete.

»Nein«, sagte sie leise und warf ihm einen scheuen und verlegenen Blick zu.

»Du willst doch in Wirklichkeit deinen Arm um mich legen oder?«

»Wenn ich ehrlich bin, will ich noch mehr!«

Er lächelte verlegen und fügte leise hinzu:

»Aber für dem Anfang wäre ich schon damit zufrieden.«

Johanna griff nach Rupolds Hand und führte sie über ihren Kopf.

»Nun mach schon, Ruppi! Ich beiße dich nicht!«

Rupold rückte näher an Johanna und zog sie mit seinem Arm eng an sich.

Sie drehte ihm den Kopf zu, schaute ihm lange in die Augen.

»Ich habe dich vermisst, schrecklich vermisst, Ruppi!«

»Ich weiß, Hanna! Ich weiß! Und ich habe dich vermisst! Ich liebe dich! Ich werde keine andere Frau lieben können!«

Johanna lächelte. Sie neigte ihren Kopf und legte ihn an seine Schulter. Ihr Herz raste. Mit jedem Schlag flüsterte es seinen Namen.

Es dauerte lange, dann sagte Johanna leise:

»Ich liebe dich auch, mein Ruppi!«

Er hätte sie gerne geküsst, scheute sich aber. Ich will sie nicht bedrängen. Ich werde warten, bis sie mir ihre Lippen anbietet, dachte er. So hauchte er ihr vorsichtig einen sanften, einen hingebungsvollen Kuss auf das Haar. Ihre Antwort war, dass sie sich enger an ihn kuschelte und leise flüsterte:

»Lass uns einfach eine Weile so sitzen! Es ist schön, mich bei dir geborgen zu fühlen.«

»Das freut mich!«

Bello, der vor ihnen auf dem Boden lag, setzte sich auf und schaute die beiden an. Dann ließ er sich hinfallen und streckte sich aus. Das hatte wohl zu bedeuten, dass er sich auf eine längere Wartezeit einrichtete.

*

Lange saßen sie wortlos zusammen. Dabei hielten ihre Herzen stumme Zwiesprache.

Johanna hob ihren Kopf und schaute Rupold an.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie leise.

»Weiter mit uns als Paar oder was tun wir heute? Was meinst du, Hanna?«

»Alles!«

Rupold lächelte sie an.

»Wir könnten zur Berghütte zurückgehen und dort einige schöne Tage verbringen. Wir könnten Wanderungen machen.«

Er lächelte sie zärtlich an.

»Ich habe aber auch eine andere Idee, Hanna. Ich weiß, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Wir sind beide älter geworden und sehen die Welt sicherlich etwas nüchterner, als wir sie damals auf unserer Hochzeitreise sahen. Aber wir sollten versuchen, uns etwas von den schönen Erinnerungen zurückzuholen. Wir könnten zurück zur Berghütte gehen, du musst auch Bello zurückbringen. Dann wandern wir hinunter auf die Oberländer Alm, steigen in eines unserer Autos – du hast die Wahl – dein Auto oder mein Auto. Wir fahren nach Kirchwalden und mieten uns einen Campingbus. Damit fahren wir zurück nach Waldkogel und parken am Bergsee. Morgen suchen wir den Bauern auf, auf dessen Grund wir damals unsere Zelte aufgeschlagen hatten. Vielleicht gibt es ihn ja noch. Wir tun so, als wären wir auf unserer zweiten Hochzeitsreise. Wie denkst du über meinen Vorschlag?«

Johanna strich sich die Haare aus der Stirn. Sie setzte sich auf, beugte sich zu Bello hinunter und kraulte ihm das Fell. Das gab ihr einige Augenblick zum Nachdenken.

»Das ist an sich eine gute Idee, Ruppi«, sagte sie leise.

»Nur an sich? Was gefällt dir daran nicht? Sage es ehrlich, bitte. Wir sollten uns immer alles ehrlich sagen.«

»Ja, wir sollten ehrlich und aufrichtig sein. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit habe ich in der Liste auch angekreuzt.«

Johanna schaute Rupold an.

»Ich denke, es ist noch zu früh, von einer zweiten Hochzeitsreise zu reden. Aber wenn wir uns sagen, dass wir es versuchen wollen, unseren lange gehegten Urlaubsplan zu verwirklichen, dann bin ich damit einverstanden.«

»Das freut mich, Hanna! Vielleicht wollte ich wieder einmal zu viel. Du kennst mich ja, mein Perfektionismus steht mir immer noch sooft im Weg. Das mit der zweiten Hochzeitsreise, da bin ich mal wieder über das Ziel hinausgeschossen. Ich wollte den letzten Schritt zuerst machen. Bitte entschuldige, wenn ich mal wieder zu schnell war.«

Johanna streichelte Rupold die Wange.

»Pst! Du musst dich nicht entschuldigen«, lächelte sie. »Es zeigt mir nur, dass du deinen Sinn für Romantik wiedergefunden hast. Also, dann sollten wir gehen!«

Johanna stand auf und stieg über Bello. Der Neufundländer erhob sich und schüttelte das Fell. Rupold stand auf und trat zu Johanna. Er nahm zärtlich ihre Hand und schaute ihr tief, sehr tief in die Augen. Er sah darin ihre Liebe und Zuneigung, nach der er sich so sehr sehnte. Röte stieg in Rupolds Wange.

Johanna lachte leise.

»Was ist? Was denkst du? Was geht in deinem Kopf vor? Sage es! Du bist ganz rot geworden!«

Rupold wich Johannas Blick für einen Moment aus. Dann sagte er leise:

»Ich würde dich gerne küssen, aber ich weiß nicht …«

Johanna schloss die Augen.

Rupold umarmte sie. Johanna legte ihre Arme um seinen Hals. Und zum ersten Mal fanden sich ihre Lippen wieder. Es war ein sehr sanfter und behutsamer Kuss. Fast hatte er etwas von der Unbeholfenheit und Scheu, wie sie Teenager haben, wenn sie zum ersten Mal küssen. Trotzdem spürte jeder die tiefe Liebe des anderen. Ein warmes und wunderbares Gefühl durchströmte sie.

Sie öffneten die Augen und schauten sich an.

»Jane – Hanna – Johanna, ich liebe dich!«

»Bobby – Rupold – Ruppi, ich liebe dich!«

Bello bellte. Er lief um sie herum.

»Wir sollten gehen! Bello wird ungeduldig!«, sagte Johanna.

Sie nahmen ihre Rucksäcke und wanderten Hand in Hand zurück zur Berghütte.

Toni bediente die Gäste auf der Terrasse der Berghütte. Er sah die beiden Hand in Hand über das Geröllfeld kommen.

»Anna, schau! Des ist ein schönes Bild. Da scheinen sich zwei gefunden zu haben!«

Anna trat neben Toni.

»Ja, so sieht es aus! Und schau, wie die beiden strahlen, als wäre die Sonne in ihren Herzen aufgegangen.«

»Anna, das ist die Liebe!«

»Ja, Toni, das ist die Liebe!«

Die beiden kamen. Sie gingen in den Wirtsraum und stellten sich an den Tresen. Toni und Anna traten hinzu.

»Ihr schaut richtig glücklich aus«, bemerkte Toni.

»Ja, das sind wir!«

Rupold rieb sich das Kinn. Es war ihm etwas peinlich und er wirkte verlegen.

»Toni, deine Berghütte ist ein wunderbarer Ort! Wir möchten die Kammern auch beibehalten. Aber zuerst werden wir für einige Tage hinunter nach Waldkogel gehen. Das sollst du nicht missverstehen, Toni.«

»Wie könnte ich das missverstehen, Rupold? Wenn ihr wollt, dann rufe ich bei meinen Eltern an. Anna und ich haben für uns und die Kinder zwei Zimmer in meinem Elternhaus. Dort wohnen wir den Winter über, wenn die Berghütte geschlossen ist. Jetzt stehen die Zimmer leer. Ihr könnt dort gerne Quartier beziehen.«

Rupold schüttelte den Kopf.

»Danke Toni, das ist gut gemeint! Aber wir wollen einen Bus mieten und die Nächte am Bergsee verbringen.«

»Ja, das wollen wir, Toni!«, erklärte Johanna. »Warum wir das so machen wollen, das ist eine lange Geschichte. Aber die erzählen wir euch später.«

Toni schmunzelte.

»Ihr habt wohl ein Geheimnis, das ihr jetzt noch für euch behalten wollt, wie?«

»Ja, so ist es!« grinste Rupold. »Dann machen wir uns auf den Weg.«

Johanna und Rupold holten einige Sachen aus ihren Kammern und bald waren sie unterwegs. Toni und Anna standen auf der Terrasse der Berghütte.

Der alte Alois trat neben sie. Er grinste.

»Was gibt es?«, fragte Toni.

»Mei, Toni, hast die letzten Stunden mal ins Hüttenbuch gesehen? Ach, was frage ich? Sicher hast du net reingesehen, sonst könntest du dir denken, warum ich so schmunzeln muss.«

»Naa, warum? Stimmt etwas nicht?«

Der alte Alois forderte Toni und Anna mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen.

Alois fuhr mit dem Zeigefinger die Zeile mit der Eintragung vom Rupold entlang. Dann blätterte er zurück und deutete auf Johannas Eintragung.

»Was sagst du jetzt, Toni? Anna, denkst net auch, dass die beiden schon lange zusammengehören?«

»Mei, Alois! Vielleicht hast du recht! Sie heißen beide mit Familiennamen ›Schlegel‹ und kommen aus der gleichen Stadt. Des ist ja wirklich interessant.«

»Noch interessanter ist, dass sie beide den Namen des anderen aufgeschrieben haben, der verständigt werden soll, falls einem von ihnen in den Bergen etwas passiert. Schau, da steht es! Die Johanna hat vor Tagen geschrieben: R. Schlegel! Und jetzt hat Rupold in die Rubrik eingetragen: J. Schlegel! Das ist mir vorhin gleich aufgefallen, als ich einen Blick darauf geworfen habe. Mei, das kann kein Zufall sein, dachte ich. Ich war gespannt, wie die beiden zurückkommen. Und jetzt, da sie so glücklich aussehen, kann des nur so sein, dass es wieder gefunkt hat zwischen den beiden. Das sagt mir meine Erfahrung als Hüttenwirt.«

»Es muss so sein, Toni!«, warf Anna ein.

»Johanna hatte mir erzählt, dass sie schon einmal in Waldkogel war – auf ihrer Hochzeitsreise.«

»Mit einem alten klapperigen Bus sind die beiden damals unterwegs gewesen. Richtig? Des wollen sie jetzt wiederholen. Mei, des ist schön. Wollen wir hoffen, dass ihre Herzen wieder zusammenfinden.«

»Toni, die Engel vom ›Engelssteig‹, die werden schon ein Auge auf die beiden haben.«

Toni legte seinen Arm um Anna. Er küsste sie.

»Die Engel vom ›Engelssteig‹, die haben immer beide Augen auf die Liebenden gerichtet. Was meinst, glaubt die Johanna an die Engel dort oben?«

»Gesagt hat sie nichts! Aber vielleicht war ihr nicht klar, worum sie bitten sollte. Wenn die beiden ein Paar, und womöglich, so sieht es aus, ein Ehepaar sind, dann hatten sie sich getrennt. Dann müssen beide erst wieder den Entschluss fassen, der Liebe eine zweite Chance zu geben.«

»Diese Chance geben sie ihrer Liebe bestimmt! So wie die beiden ausgesehen haben. Daran habe ich keinen Zweifel, Anna.«

Toni, Anna und der alte Alois widmeten sich wieder den Gästen auf der Berghütte. Mit ihren Gedanken weilten sie aber bei Johanna und Rupold.

*

Es war schon dunkel, als Johanna und Rupold nach Waldkogel zurückkamen. Langsam fuhren sie auf dem Weg am Bergsee entlang.

»Hast du es so in Erinnerung?«, fragte Rupold.

»Es hat sich einiges verändert. Es gibt mehrere Neubauten entlang des Weges. Ich kann mich nicht erinnern, dass so viele Häuser am Weg standen. Die Straße war auch nicht so weit geteert. Gleich hinter dem letzten Hof begann damals ein Sandweg.«

Johanna schaute aus dem offenen Wagenfenster.

»Alles verändert sich, Ruppi! Wir haben uns auch verändert!«

»Ja, das haben wir! Und uns dabei fast verloren.«

»Aber wir sind uns wieder begegnet. Also, ich finde es eigentlich ganz lustig. Da haben wir uns getrennt. Wir sahen uns nicht. Keiner wusste vom anderen, wie er jetzt lebt und dann finden wir über diese Partneragentur neuen Kontakt. Es ist schon sonderbar!«

»Ja, das ist es! Aber manchmal muss man im Leben einen weiten Umweg gehen, damit man zum Ziel kommt. Nur dann weiß man es zu schätzen.«

»Sind wir schon am Ziel?«, fragte Johanna.

»Sagen wir, wir biegen um die Kurve und laufen in die Zielgerade ein. Ist das gut dargestellt – ohne dir zu nahe zu treten?«

»Das hast du schön gesagt, Ruppi«, flüsterte Johanna leise.

Sie fuhren weiter und fanden am Ufer des Bergsees einen idyllischen Platz. Dort hielten sie an. Sie stiegen aus. Rupold griff nach Johannas Hand. Sie gingen durch das hohe Gras des schmalen Uferstreifens bis zum Wasser. Der Vollmond spiegelte sich im See, dessen Wellen sich sanft im Wind kräuselten und silbern schimmerten.

Sie setzten sich.

»Ja, so habe ich es mir immer vorgestellt, Ruppi. Ist das nicht herrlich hier?«

»Ja, das ist es! Wunderschön! Und du bist bei mir!«

»Meinst du, wir schaffen einen zweiten Anfang?«

»Ist dir bange?«

»Ja, Rupold, mir ist sehr bange davor! Nicht, dass ich vor einem Neubeginn Angst habe. Ich fürchte mich davor, weil ich nicht wieder vor einem Scherbenhaufen stehen will. So etwas einmal zu erleben war schlimm, ein zweites Mal möchte ich es nicht noch einmal mitmachen.«

»Dann willst du es nicht wagen?«

Rupolds Stimme klang ängstlich und verunsichert.

»Nicht wagen? Das ist vielleicht zu hart gesagt.«

Johanna schaute im Mondlicht auf ihre Armbanduhr.

»Es sind kaum sechs Stunden her, dass wir uns trafen. Ich gebe zu, ich finde es sehr schön. Und ich freue mich darüber. Sonst wäre ich sicherlich nicht mitgekommen und hätte deinem Vorschlag nicht zu gestimmt.«

»Höre ich da irgendwo ein unterschwelliges Aber mitschwingen?«

»Ja, so ist es wohl! Werte das bitte nicht als Misstrauen, Ruppi! Es hat wenig mit dir zu tun. Ich habe irgendwie das Vertrauen verloren, damit meine ich das Vertrauen allgemein, die Zuversicht, die Unbekümmertheit. Laut diesem Computer sind wir das ideale Paar. Wenn man es genau nimmt, dann hätten wir uns nicht so auseinanderleben dürfen oder? Warum ist es dann geschehen?«

»Wie man es nimmt, Hanna. Wir haben die Frageliste erst nach unserer Trennung ausgefüllt. Erst dann wurde uns beiden bewusst, was wir vermissten. Aus dem Mangel heraus und der Sehnsucht haben wir nach dem Ideal gesucht.«

Rupold lachte.

»Hanna, ich muss dir etwas gestehen. Wenn ich damals gewusst hätte, dass du dich ebenfalls bei dieser Partneragentur angemeldet hattest, dann wäre ich nie Mitglied geworden.«

Hanna fing an zu lachen und Rupold stimmte ein. Hanna stimmte ihm zu, dass sie es auch nicht getan hätte.

»Die Vorstellung ist einfach komisch!«

»Ja, aber jetzt sind wir hier! Gut, dass wir es nicht wussten, Hanna.«

»Ja! Und trotzdem war es die einzige Möglichkeit, dass wir wieder miteinander redeten. Freiwillig hätte ich es sicherlich nicht getan.«

»Ich hatte mir vorgenommen, um dich zu werben, Hanna. Aber so wie es gekommen ist, ist es mir lieber. Ich denke, du hättest es mir sehr schwer gemacht.«

»Das hätte ich sicherlich! Ich war nach unserer Trennung nicht glücklich. Die Euphorie über die Freiheit war bald vorüber und ich fiel in ein tiefes Loch. Ich will dich nicht dafür verantwortlich machen. Ich wollte die Trennung. Ich war fest davon überzeugt, dass all meine Probleme sich in Luft auflösen, wenn ich erst einmal von dir getrennt wäre. Aber die Probleme lösten sich nicht in Luft auf. Früher war ich einsam, weil du mal wieder Überstunden machtest. Ich fühlte mich versetzt, nicht beachtet. Als ich dann allein lebte, stellte ich fest, dass sich an dem Zustand kaum etwas änderte. Nur, ich konnte dir nicht mehr die Schuld geben. Die Abende waren jetzt noch länger und zogen sich wie Gummi. Ich hatte ja nicht einmal mehr die Gelegenheit, auf dich zu warten. Das Kochen machte mir keinen Spaß mehr. Es ist einfach blöd, allein zu essen, für sich allein den Tisch zu decken. Auch wenn du bei der Arbeit warst, so habe ich doch den Tisch für zwei gedeckt und es blieb alles stehen, bis du kamst. Ich lebte meistens nur von Fertiggerichten. Der Pizzahändler um die Ecke war mein stetiger Lieferant.«

»Ich verstehe dich genau! Mir ging es ähnlich, auch wenn es anders war. Du warst fort und in der Küche stand kein vorbereitetes Essen mehr, wenn ich von der Arbeit heimkam. Also wurde der Dosenöffner mein liebstes Werkzeug. Irgendwann konnte ich das Dosenzeugs und die Tiefkühlkost nicht mehr sehen. Ich kaufte mir ein Kochbuch und versuchte mein Glück. Das ging natürlich gründlich daneben. Denn ich wollte natürlich zu viel auf einmal. Damals war ich noch nicht so weit, wie ich heute bin. Ich meine, ich hatte mich noch nicht zu einigen Erkenntnissen durchgerungen. Also belegte ich einen Kochkurs.«

»Was du nicht sagst? Du bist richtig zu einem Kurs gegangen? Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Ja, so war es!«

»Was waren da für Leute?«

»Oh, ich habe mich nicht zu einen Grundkurs angemeldet, sondern für einen Kurs, der nannte sich – ›Dinner for Two‹. Da wurden Essen gekocht für romantische Stunden bei Kerzenlicht – für zwei! Ich stellte mir immer vor, wie ich dich damit überraschen könnte.«

»Und jetzt bist du ein Sternekoch?«

Rupold fing an zu lachen.

»Bewahre! Mir wurde bestätigt, dass ich dazu völlig untalentiert sei. Also konzentrierte ich mich auf kalte Platten. Das bekomme ich ganz gut hin, so richtig mit Dekorationen aus Petersilie und Tomaten, Radieschen und sonst so Verschiedenem.«

»Wow, ich bin beeindruckt!«

»Danke! Dabei hast du noch nicht einmal einen Tisch gesehen, den ich dekoriert habe!«

»Du scheinst ja ungeahnte Talente zu haben, Ruppi?«

»Ja, die habe ich auch erst entdeckt, nachdem du fort warst. Ich habe mir überlegt, was falsch gelaufen ist. Und ich habe mir eine Liste gemacht, was ich ändern wollte. Dazu dachte ich, könnten auch Abende gehören, an denen ich koche. Ich habe mir auch gedacht, dass wir uns mit der Hausarbeit abwechseln könnten. Ich wollte dir einen Brief schreiben. Im Entwurf liegt er in meiner neuen Wohnung.«

»Was steht drin?«

»Nun, dass wir uns wochenweise mit der Hausarbeit abwechseln.«

»Das ist wieder Rupold, wie ich ihn kenne. Alles wird geplant, durchorganisiert.«

»Nein, Hanna! So nicht! Ich will dich, unser Leben nicht in einen Zeitplan pressen. Verstehe das bitte nicht falsch! Der Plan sollte nur meinerseits eine Verpflichtung sein, regelmäßig mehr alltägliche Aufgaben zu übernehmen. Erinnerst du dich, damals? Wir wollten eine richtige partnerschaftliche Ehe führen. Wir wollten alles gemeinsam machen.«

»Und wie ich mich erinnere!

Besonders an die verkohlten Früh­stücks­eier, die du gemacht hast, Ruppi!«

»Ja, die ganze Küche war voll Qualm! Die Nachbarn kamen, weil sie dachten, es brennt bei uns. Danach hast du mich nie mehr Spiegel­eier machen lassen, Hanna. Und irgendwann kam es auch so, dass wir irgendwie in das alte Rollenbild gefallen sind. Das da heißt, die Frau macht den Haushalt und der Mann verdient das Geld.«

»Stimmt! Wir sind in ein altes Mus­ter gefallen.«

»Obwohl du auch deine Arbeit hattest, Hanna! Aber wenn du dann alleine daheim warst und mal wieder auf mich gewartet hattest, dann bist du vielleicht auch in deiner Rolle gefangen gewesen. Ich will dir keinen Vorwurf machen, Hanna. Ich habe nur viel darüber nachgedacht. Eigentlich können wir beide nichts dafür. Wir leben in einer Zeit, in der Ehepaare ein neues Rollenverständnis finden müssen. Wir wollten es leben, sind aber irgendwie vom Kurs abgekommen.«

»Ja, es ist eine schwierige Zeit, Ruppi! Das hast du klar erkannt. Und wir haben kein Kursbuch, wie viele Paare keines haben. Da sind die alten Muster und die neuen Ideale. Aber der Druck der Gesellschaft ist so groß. Ich will den Druck auf dich, auf die Männer überhaupt, nicht als geringer erachten, aber der Druck auf die Frauen ist riesig. Wir sollen schönen, dem Ideal der schlanken, Frau aus den Hochglanzmagazinen entsprechen. Wir sollen emanzipiert sein und berufstätig. Dabei sollen wir sehr erfolgreich sein. Aber gleichzeitig – und das ist in meinen Augen irgendwie pervers, das muss ich schon so hart sagen – sollen wir die perfekte Hausfrau sein. Die Fenster müssen glänzen, die Böden spiegeln, die Wäsche muss immer sofort gebügelt werden und akkurat in den Schränken sitzen. Wir hetzen zwischen Beruf und Haushalt hin und her. Und eines sage ich dir, Hausarbeit ist eine oft eine sehr frustrierende Tätigkeit.

Beispiel: Man kocht stundenlang, deckt einen sehr schönen Tisch und binnen kurzer Zeit ist alles gegessen und der Tisch sieht aus wie ein Schlachtfeld. Von der Arbeit einer Hausfrau bleiben keine dauernde Resultate übrig, jedenfalls nicht von den meisten Arbeiten.«

»Ich verstehe, was du meinst, Hanna. Früher hätte ich es wahrscheinlich nicht verstanden. Hausarbeit ist einfach ein notwendiges Übel. Deshalb werden wir – pardon – könnten wir es uns in Zukunft ehrlich teilen. Geteilter Frust ist halber Frust!«

»Klingt gut, so auf den ersten Blick!«

»Hast du auch Ideen, Hanna? Ich meine, wie könnten wir es machen, wenn wir es schaffen, es noch einmal zu versuchen? Was ich sehr hoffe!«

Johanna dachte nach. Sie schwieg einen Augenblick.

»Ich habe mir bisher darüber keine Gedanken gemacht, wie ich es mit dir anders machen wollte, denn ich konnte mir nicht vorstellen …« Johanna brach den Satz ab. »Ich habe mir nur vorgestellt, welches Leben ich mit einem anderen Mann führen wollte.«

»Erzähle!«

»Schwer zu sagen! So genau wie du, habe ich das nie durchdacht. Ich kann dir nur von meinen Sehnsüchten erzählen. Ich wollte Zeit, Stunden oder auch Tage, vielleicht einen Tag in der Woche, an dem die Pflichten hinten anstehen und nur der Partner im Vordergrund ist. An so einem Tag werden keine Störungen geduldet. Die Welt wird einfach ausgesperrt, verstehst du. An diesem Tag, in diesen Stunden sollte alles so sein, wie es ist, wenn man frisch verliebt ist. Alles sollte leicht und sorglos sein, voller Zuversicht und Hoffnung auf ein wunderschönes gemeinsames Leben, ohne Schattenseiten. Ich wollte nie mehr zulassen, dass meine Liebe unter dem Alltag erdrückt wird. Besser kann ich es nicht sagen. Verstehst du mich?«

»O ja! O ja, meine Hanna! Ich verstehe dich!«

»Ich will dir etwas gestehen, Ruppi! So glücklich bin ich in meinem Fitnessstudio nicht, wie du es vielleicht denkst. Sicher, ich verdiene gutes Geld und bin unabhängig. Aber es ist so wie bei den Kunden, die auf dem Laufband ihre Kilometer laufen. Wirklich glücklich machte es mich nicht.«

»Das überrascht mich jetzt doch! Kannst du mir das näher erklären? Du hast immer so glücklich ausgesehen, wenn du von der Arbeit heimgekommen bist.«

»Ja, sicher! Ich habe selbst viel trainiert. Mein Körper hat nach täglich zwanzig Kilometer auf dem Laufband Glückshormone ausgeschüttet. Das ist doch ganz normal, ein biologischer Vorgang. Aber so schnell, wie du dich superglücklich fühlst, so schnell bist du auch wieder im Tal. Im Grunde war ich auf der Suche nach dem Glück, das dauerhaft anhält, das innere Glück, das einfach das Herz ausfüllt. Damals, als wir noch halbe Kinder waren und uns gefunden hatten, dachte ich, das ist es – du bist es – du bist der Mann, der mir dauerhaft das Gefühl geben kann. Und irgendwann stellte ich fest, dass mein Herz leer war. Natürlich gab ich dir daran die Schuld. Das war um so vieles einfacher und bequemer.«

Rupold legte seinen Arm fest um Johannas Schultern.

»Die Liebe, oder wie immer du diese Kraft auch nennen möchtest, hat es gut mit uns gemeint. Wir haben uns gefunden, als wir jung waren und unverdorben vom Leben und von jedem gesellschaftlichen Zweckdenken und jedem Leistungsdruck. Wir, du und ich, wir hatten die Chance, eine Weile den Geschmack des Paradieses zu erleben.«

»Bis wir freiwillig von der verbotenen Frucht naschten, Ruppi?«

»Nein, wir haben nicht von der verbotenen Frucht genascht. Wir wurden damit zwangsgefüttert und haben uns zu wenig gewehrt. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Johanna schaute Rupold in die Augen.

»Ja, ich verstehe, was du damit sagen willst. Wir haben unser Leben, unsere Liebe zu wenig von den Einflüssen von außen abgeschirmt. Wir wollten es allen recht machen und haben uns dabei verloren.«

»Aber wir haben uns nur für kurze Zeit aus den Augen verloren und jetzt haben wir uns wieder gefunden. Ja?«

Rupold sah Johanna tief in die Augen.

»Ja, wir haben uns wieder gefunden. Weißt du, es war so! Wir waren verabredet für ein langes, gemeinsames, schönes Leben. Das war unser Ziel und wir kamen auch die ersten Jahre gut voran. Dann haben wir uns im Jahrmarktsgedränge aus den Augen verloren.«

»Das ist ein schönes Bild, Ruppi!«

Sie schaute ihm tief in die Augen und flüsterte leise und voller Zärtlichkeit:

»Dann sind wir am Ende doch auf einer Hochzeitsreise?«

Seine Antwort war eindeutig. Rupold zog Johanna fest an sich und sie küssten sich. Die Küsse waren voller Tiefe und Leidenschaft. Es war ihnen beiden, als wollten sie alle Küsse nachholen, die sie versäumt hatten.

Später trug Rupold die Polster aus dem Campingbus und legte sie ins Ufergras. Darauf kuschelten sich die beiden und schauten hinauf in den nächtlichen Sternenhimmel. Und es war ihnen, als lächelte ihnen der Mond zu.

*

Nach dieser wunderschönen Nacht, in der sie sich wieder so nahe gekommen waren, schlief Johanna lange.

Das gab Rupold Gelegenheit, sie zu überraschen. Als er alles fertig hatte, weckte er sie mit einer Tasse Kaffee.

»Guten Morgen, liebste Hanna!«

»Guten Morgen, Ruppi! Oh, du hast mir Kaffee gemacht, wie lieb von dir!«

Sie küssten sich.

»Leider ist es kein Filterkaffee, sondern nur Pulverkaffee.«

Johanna trank einen Schluck.

»Oh, er schmeckt ausgezeichnet, da ist viel Liebe darin! Das gibt eine besondere Note!«

Johanna schälte sich aus den Decken. Ihr Blick fiel auf den gedeckten Tisch.

»Oh, wie schön! Ruppi, du kannst ja wirklich zaubern.«

Rupold hatte liebevoll den Frühstückstisch gedeckt. Er hatte als Tischsets Blätter des Löwenzahns aufgehäuft, den er auf der Wiese gestochen hatte.

Dazu hatte er über den ganzen Tisch die Blütenköpfe von Gänseblümchen und gelben Butterblumen gestreut. Auf Johannas Teller lag ein Herz aus Binsen.

»Wie lieb von dir! Du bist ja ein richtiger Künstler!«

Rupold strahlte.

»Erinnerst du dich, dass ich damals nach dem Abitur gerne die Kunsthochschule besucht hätte?«

»Stimmt, davon hattest du gesprochen. Das war die Zeit, als wir uns kennenlernten. Doch dann hast du Ingenieurwissenschaft studiert.«

»Es war ein Zugeständnis an meinen Vater! Kunst ist eine brotlose Beschäftigung, hämmerte er mir damals ein. Es brach mir fast das Herz! Manchmal frage ich mich, ob ich im Leben glücklicher oder zufriedener geworden wäre, wenn ich meiner Leidenschaft gefolgt wäre. Ich träumte immer davon, Bühnenbilder zu entwerfen und Ähnliches zu machen.«

»He, du bist erwachsen, Ruppi! Du kannst es immer noch tun. Heute gibt es auch viel mehr Möglichkeiten als damals. Mache doch einen Fernkurs!«

»Himmel, Hanna!«

Er schaute sie mit großen Augen an.

»Schau nicht so, ich meine es ernst!«

»Ja, vielleicht sollte ich einmal ernsthaft darüber nachdenken!«

»Tu das, Ruppi! Vielleicht hast du dich auch so in deinem Beruf festgebissen, weil sich dein Herz nach ganz anderen Entfaltungsmöglichkeiten gesehnt hatte?«

»Das kann gut sein! Doch jetzt und heute muss ich das nicht entscheiden. Bitte, setze dich! Ich mache Eier!«

»Bitte nicht kohlrabenschwarz!«

»Ich werde mich bemühen, gnädige Frau!«

Sie lachten, nahmen sich in die Arme und küssten sich.

Rupold gelangen die Spiegeleier ganz gut. Sie frühstückten.

»Genau wie damals – fast«, hauchte Johanna.

Er sah sie an, tupfte sich mit einem Papiertaschentuch den Mund ab, in Ermangelung einer Serviette. Er sah ihr in die Augen.

»Mir ist da noch etwas eingefallen, Hanna! Wir waren damals nur auf dem Standesamt, weil wir einfach nur Mann und Frau sein wollten. Wir feierten mit deiner Freundin Carin und meinem Freund Thomas anschließend an einer Würstchenbude auf dem Wochenmarkt.«

»Ja, so war es! Ich erinnere mich! Wir sagten, wir würden später eine große Feier machen! Und dabei ist es dann geblieben.«

»Ja, das war auch ein Teil der Pläne, die auf der Strecke geblieben sind.«

»Ist nicht so wichtig, Ruppi! Wir haben uns gefunden und dort wieder angeknüpft, wo wir einmal sehr glücklich waren. Der Bus, den wir gemietet haben, ist zwar sehr viel schöner und bequemer und wir haben an der Tankstelle viel mehr eingekauft, als wir damals für die ganze Reise hatten.«

»O ja! Aber ich habe da noch eine Idee!«

Er schaute ihr in die Augen.

»Wir könnten noch einmal heiraten!«

Johanna benötigte einen Augenblick, bis sie seinen Vorschlag ganz erfasste.

»Du meinst mit einer großen Feier?«

»Ja, und wir heiraten in der Kirche. Wie denkst du darüber?«

»Himmel, wie kommst du darauf?«

»Ich wurde heute Morgen wach. Die Glocken haben gebimmelt. Da fiel mir diese Möglichkeit ein. Du kaufst dir in dem Laden am Marktplatz ein schönes Brautkleid und ich einen Lodenanzug. Wir schicken Thomas und Carin SMSs oder Telegramme und laden sie mit ihren ganzen Familien ein. Deine Eltern und Geschwister können kommen und meine auch. Es ist ein Neuanfang! Den möchte ich zelebrieren und dir neu das Versprechen geben, dich zu lieben und zu ehren und gut zu dir zu sein, jeden Tag unseres Lebens, von dem ich hoffe, dass es lang ist!«

Rupold griff über den Tisch und nahm Johannas Hand.

»Willst du meine Frau werden – Johanna, Hanna, Jane?«

Sie sah ihm in die Augen.

»Bist du dir sicher, dass wir es dieses Mal schaffen?«

»Eine Garantie für den Erfolg einer Beziehung gibt es nicht, Hanna. Aber ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit wir es schaffen. Aus Fehlern kann man lernen und wir beide, wir haben daraus gelernt.«

»Ja, das haben wir! Dann sage ich ja, lieber Rupold, Ruppi, Bobby!«

Rupold ging um den Tisch herum. Er zog Johanna in seine Arme. Sie hielten sich ganz fest und küssten sich, wie es nur zwei Menschen tun, die sich das Versprechen gegeben haben, zu heiraten. Ihre Herzen klopften.

Dann aßen sie zu Ende. Sie spülten gemeinsam das Geschirr und säuberten den Bus.

*

Am Nachmittag fuhren Johanna und Rupold nach Kirchwalden. Sie brachten den Bus zurück. Anschließend gingen sie einkaufen. Sie kauften sich noch einmal zwei schmale Ringe. Darin ließen sie ihre Pseudonyme gravieren, Jane und Bobby. Sie wollten sie zusätzlich tragen und sie sollten sie an ihren zweiten Anfang erinnern. Sie sollten sie daran erinnern, dass die Liebe sie wieder zusammengeführt hatte, wenn auch über einen großen Umweg.

Sie nahmen sich in Kirchwalden ein Hotelzimmer. Dann schickten sie Einladungen an ihre Familien und Freunde. Sie ließen sich im Hotel ein Abendessen für zwei auf das Zimmer bringen. Dort feierten sie ganz alleine und intim ihre zweite Verlobung, wie sie es nannten.

Am nächsten Tag durchstreiften sie die Geschäfte von Kirchwalden. Der Lodenanzug aus feinem dunkelgrünem Loden für Rupold war schnell gefunden. Bei dem Brautkleid für Johanna war es schwieriger. So legten sie eine Pause ein und gingen in ein Straßencafé.

»Was macht ihr hier?«

Anna kam auf die beiden zu. Sie stellte ihre Einkaufstüten ab und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Hallo, Anna! Bist du einkaufen?«

»Ja, die Kinder wachsen schnell. Sie brauchten neue Sachen und Schuhe. Und was treibt ihr so?«

»Wir waren einkaufen! Aber das ist so schwierig!« klagte Johanna. »Den Hochzeitsanzug für Rupold hatten wir gleich gefunden. Aber ich finde kein Brautkleid.«

Anna lachte laut.

»Dann stimmt Alois Vermutung. Ihr seid ein Paar?«

»Ja, wir sind schon lange zusammen und verheiratet, aber nur standesamtlich. Wir hatten uns auseinandergelebt und uns jetzt auf Umwegen wieder gefunden«, sagte Rupold.

»Und es war Ruppis Vorschlag, dass wir wirklich ein Zeichen setzen für einen neuen Anfang und jetzt in der Kirche heiraten. Wir dachten uns, dass du und Toni uns dabei vielleicht helfen könnt. Wir sind in Waldkogel fremd. Wir sind uns aber einig. Es ist unser Wunsch, hier vor den Altar zu treten, hier in Waldkogel, wo wir uns wiedergefunden haben.«

»Da musst du dir keine Sorgen machen, Johanna! Ihr geht einfach zu Pfarrer Zandler. Bestellt ihm schöne Grüße von Toni und mir. Erzählt ihm eure Geschichte. Er wird sie verstehen und euch sicherlich mit Freuden seinen Segen geben.«

»Danke, Anna!«

»Gern geschehen, Johanna! Und jetzt sagst du mir einmal, warum du kein Kleid gefunden hast?«

Johanna zuckte mit den Schultern.

Toni kam mit Franziska und Sebas­tian.

»Mei, was für ein Zufall! Was macht ihr hier?«

Anna kam Johanna und Rupold mit der Antwort zuvor:

»Stell dir vor, Toni! Die beiden sind wirklich ein Paar, genau wie der alte Alois es vermutet hatte. Und jetzt wollen sie kirchlich heiraten, in unserer schönen Barockkirche in Waldkogel.«

»Mei, des ist eine gute Idee! Des ist dann wirklich ein Neuanfang!«

»Noch können wir nicht heiraten, weil ich einfach kein Brautkleid finde.«

»Also, in Sachen Brautkleidern kenne ich mich net so aus. Da musst du dich an die Anna wenden, Johanna. Aber dass des so schwierig ist, kann ich mir nicht vorstellen.«

Die Bedienung kam. Toni bestellte für Anna, die Kinder und sich Eisbecher.

»So, jetzt musst du es uns genau erklären, Johanna. Warum findest du kein Kleid?«, fragte Toni.

»Entweder ich gefalle mir nicht oder Rupold findet, es steht mir nicht. Er will etwas ganz Besonderes haben«, klagte Johanna.

»Mei, du machst des ganz falsch!«, sagte die kleine Franziska ganz laut und kicherte.

Alle schauten Franziska überrascht an.

»Was macht die Johanna falsch, Franzi?«, fragte Toni.

Er war von Franziskas Bemerkung sehr überrascht.

»Mei, Toni, des weiß doch jedes Madl!«

Franzi verdrehte die Augen.

»Was weiß jedes Madl, Franzi? Das musst du uns schon sagen, Franzi, und der Johanna auch. Du weißt doch, dass die Johanna nicht aus den Bergen ist. Vielleicht weiß sie nicht, was sie falsch macht!«

»Des ist ganz einfach. Die Johanna darf den Rupold nicht mitnehmen, wenn sie sich ein Brautkleid aussucht! Die Großmutter Meta hat gesagt, dass der Mann, der Bräutigam, des Brautkleid erst in der Kirche sehen darf oder höchstens, wenn er die Braut daheim abholt. Deshalb! So ist des! Und deshalb findet sie kein Kleid, das weiß doch ein jeder! Die Großmutter sagt, das bringt Unglück, wenn der Bräutigam das Brautkleid vorher sieht. Aber das weiß doch schließlich jeder!«

»Ah, so ist das! Ihr habt gehört, was die Franzi gesagt hat. Und mit wem soll die Johanna einkaufen gehen, Franzi?«

»Also, sie kann ihre Mutter mitnehmen oder eine Freundin oder ihre Patin, auch die Großmutter kann mitgehen.«

Franzi schaute Anna an.

»Anna, das stimmt, nicht wahr? Wenn ich später einmal heirate, dann gehst du mit mir, wenn ich mein Brautkleid aussuche. Machst du das?«

»Aber sicher, mein kleiner Gold­engel! Und du bekommst das schöns­te Brautkleid auf der Welt!«

»O Franzi, bist du ein herziges Madl!«

Johanna legte ihren Arm um Franziska und gab ihr einen Kuss auf ihr blondes Haar.

»Du hast ganz recht, Franzi! Kommst du mit mir einkaufen?«

Franziska warf Anna einen fragenden Blick zu.

Anna lachte. Dann besprachen sie am Tisch kurz alle das weitere Vorgehen. Toni, Rupold und Sebastian würden die restlichen Einkäufe erledigen und dann nach Waldkogel zurückfahren. Anna, Johanna und Franziska würden sich auf die Suche nach dem richtigen Brautkleid begeben.

Die kleine Franziska nickte eifrig. In aller Schnelle aß sie ihren Eisbecher auf und drängte.

»Aufi, dann gehen wir!«

Johanna nahm Franzis Hand und sagte:

»Ja, aufi jetzt! Gehen wir!«

Und in diesem Augenblick dachte sie daran, dass es noch ein Themengebiet gab, das sie mit Rupold besprechen wollte. ›Eine Ehe ohne Kinder ist wie eine Suppe ohne Salz‹, diesen Spruch hatte sie einmal gehört. Der Spruch gefiel Johanna nicht so sehr, aber er drückte es genau aus. Zu einer glücklichen Verbindung gehören Kinder als Zeichen der Liebe. Sie bezeugen das Zusammenwachsen der Herzen. Johanna nahm sich vor, bald mit Rupold darüber zu reden. Sie wollte eine richtige Familie mit Kindern, so wie sie es sich einmal erträumt hatte.

*

Zwei Wochen später schritten Johanna und Rupold durch den Mittelgang der schönen Barockkirche von Waldkogel. Johanna hatte ein Brautkleid aus Brokat in einem gebrochenen Weiß mit zarter hellgrüner Paspelierung, die gut zu Rupolds Anzug harmonierte.

Sie waren ein schönes Paar.

Die Familien der beiden Brautleute waren gekommen und alle Freunde. Toni und Anna saßen mit Franziska und Sebastian in der ersten Reihe, auf der linken Seite des Mittelgangs in der Kirche. Dort saßen alle engen Freunde des Brautpaares.

Pfarrer Zandler hielt eine ergreifende Predigt. Darin sprach er davon, wie die beiden sich im Gewühl des Jahrmarktes des Lebens verloren hatten und in Waldkogel wiedergefunden.

»Ja, im dichten und lauten Gedränge des Trubels kann es schon einmal geschehen, dass sich zwei verlieren. Da wird geschoben und gedrückt. Es ist laut und die zwei können sich nicht mehr hören und verlieren sich aus den Augen. Aber wenn sie das Bild des anderen fest in ihrem Herzen haben, dann finden sie ihn auch wieder. Sie laufen planlos herum, wie aufgescheuchte Hühner und suchen ziellos mal hier und mal dort. Und dann stehen sie sich plötzlich wieder gegenüber und fallen sich glücklich und erleichtert in die Arme. Was die Liebe wirklich zusammengeführt hat, das kann nichts und niemand trennen. Mei, was ist schon so ein kleiner Sturm? Der Sonnenschein, der danach am Himmel steht, ist wärmer und schöner und strahlender als zuvor.«

Nach der Hochzeit wurde bei Tonis Eltern, Xaver und Meta Baumberger, ausgiebig gefeiert. Bürgermeister Fritz Fellbacher kam und gratulierte dem Paar. Er bedauerte, dass er die beiden nicht auf dem Rathaus in den Bund der Ehe hatte schicken können. Aber es war ein Trost für ihn, dass sich Johanna und Rupold in Waldkogel wiedergefunden hatten.

Mitten in der Hochzeitsfeier nahm der Bürgermeister Toni zur Seite.

»Toni, ich möchte mich mal dir treffen. Aber im Rathaus ist des net möglich.«

Toni runzelte die Stirn und sah den Bürgermeister überrascht an.

»Wenn du es sagst, Fellbacher, dann wird es so sein. Also, wo wollen wir uns treffen?«

»Wir treffen uns beim Pfarrer Zandler! Mit ihm habe ich die Angelegenheit schon beredet. Ihm kann ich vertrauen. Im Pfarrhaus gibt es net so viele Lauscher, jedenfalls gibt es dort keine Intriganten. Hast irgendwann mal Zeit, Toni?«

»Sicher, Fellbacher! Wann immer du willst?«

Sie vereinbarten, sich an einem der nächsten Vormittage im Pfarrhaus zu treffen.

»Um was geht es, Fellbacher?« raunte Toni ihm leise zu.

»Pst, net hier! Da ist eine Sauerei im Busch. Ich sage nur einen Namen: Ruppert Schwarzer!«

»Da kannst auf mich zählen, Fellbacher!«

Die Männer nickten sich zu.

Als sich die Sonne senkte, stiegen Johanna und Rupold ins Auto und brachen zu ihrer zweiten Hochzeitsreise auf. Das heißt, eigentlich setzten sie ihre Reise nur fort, denn sie hatten sie schon in Waldkogel am Bergsee begonnen. Sie fuhren nach Venedig.

Rupold wurde mit seiner neuen Arbeitsstelle sehr glücklich. Er machte keine Überstunden mehr und kam pünktlich heim. Johanna bestärkte ihn, seinen Traum zu verwirklichen und so meldete er sich für einen Fernstudium im Fach Kunst an.

Johanna verkaufte ihr Fitnessstudio an ihre Freundin Carin.

Rupold und Johanna fanden nach langem Suchen außerhalb von München einen alten Bauernhof. Dieses alte Gehöft war genauso, wie sie es sich einmal erträumt hatten. Johanna schaffte sofort einen Hund an, dann eine Katze und ein Kaninchen. Rupold schenkte Johanna ein Pferd. Oft stand Johanna am Gatter der Weide hinter dem Haus und freute sich an dem Haflinger.

Reiten konnte sie das schöne braune Pferd mit der hellen Mähne und dem langen hellen Schweif nicht, denn sie war schwanger und erwartete Zwillinge.

Es war ein Junge und ein Mädchen, das wussten die glücklichen Eltern schon.

Die Namen zu finden war nicht schwer gewesen.

Den Jungen wollten sie Robert nennen und sie würden ihn Bobby rufen. Das Mädchen sollte Jeanette heißen, gerufen würde sie Jane.

Einmal im Jahr machten sie einen Urlaub in Waldkogel.

Dann besuchten sie Toni, Anna, die Kinder und den alten Alois auf der Berghütte.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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