Читать книгу Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman - Friederike von Buchner - Страница 27

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Der alte Goldschmied, Juwelier und Uhrmachermeister Ferdinand Unterholzer hatte angekündigt, dass er am nächsten Wochenende zusammen mit Berni Steiniger auf die Berghütte kommen wollte. Toni und Anna freuten sich sehr. Toni hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil er immer noch nicht herausgefunden hatte, wer diese Sophie war. Toni war sich sicher, dass es leicht sein würde, über diese junge Frau Bernis Herzensmadl zu finden. Doch in Waldkogel gab es niemand, der Sophie hieß und die jung genug war, um eine Freundin oder Kollegin von Bernis geheimnisvoller Franzi zu sein.

»Toni, dann frage den Bürgermeis­ter«, riet Anna ihrem Mann. »Der Fellbacher ist dir bestimmt behilflich. Er kann im Melderegister nachsehen.«

»Ja, Anna, daran habe ich auch schon gedacht. Ich werde morgen die Kinder in die Schule fahren und gleich danach Fritz Fellbacher im Rathaus besuchen. Es ist schwierig, diese Sophie zu finden. Berni kennt auch ihren Nachnamen nicht.«

»Ich weiß, Toni! Sie kann auch nur Sophie gerufen werden. Sie kann vielleicht Sophia heißen.«

»Ich werde sehen, Anna! Sollte ich keinen Erfolg haben, dann werden wir uns etwas anderes einfallen lassen müssen. Der Ferdinand und Berni kommen an einem der nächsten Wochenenden, sagte er am Telefon. Wir werden es bereden. Irgendeine Lösung wird es schon geben.«

»Richtig, Toni! ›Wo ein Wille ist, ist ein Weg‹, lautet eine alte Weisheit.«

Anna kuschelte sich eng an Toni. Sie gähnte.

»Denke nicht mehr daran! Ich bin müde, lass uns schlafen gehen! Außerdem bin ich ein bissel eifersüchtig, wenn wir im Bett liegen und du an fremde, geheimnisvolle, junge Madln denkst«, neckte Anna ihren Mann.

Toni küsste sie.

»Wie kannst nur so etwas denken? Willst mich provozieren? Dann werde ich dir das Gegenteil beweisen müssen?«

Sie lachten und nahmen sich zärtlich in die Arme.

Toni, Tonis Vater, Xaver Baumberger, und Bürgermeister Fritz Fellbacher wechselten sich wochenweise ab, Franziska und Sebastian morgens mit dem Auto auf der Oberländer Alm abzuholen und in die Schule nach Waldkogel zu fahren. Diese Vereinbarung war damals getroffen worden, als Franziska und Sebastian nach dem Unfalltod ihrer Eltern von Toni und Anna als Pflegekinder auf der Berghütte aufgenommen wurden. Weil die Berghütte hoch in den Bergen lag und die Straße nur bis unterhalb der Oberländer Alm reichte, hatte das zustimmende Jugendamt damals Schwierigkeiten gemacht. So war die Regelung getroffen worden. Inzwischen hatten Toni und Anna die Geschwister adoptiert, die beiden trugen auf eigenen Wunsch den Namen Baumberger. Sie waren endlich eine richtige Familie. Die wechselnden Fahrdienste wurden aber wie bisher weitergeführt. In dieser Woche fuhr Toni die Kinder in die Schule.

Bürgermeister Fritz Fellbacher saß in seinem Amtszimmer. Toni wurde immer sofort vorgelassen, auch wenn er keinen Termin hatte.

»Grüß Gott, Toni!«

»Grüß Gott, Fellbacher!«

»Setz dich, Toni! Magst einen Kaffee?«

Toni nickte.

»Was gibt es? Ist des nur ein Freundschaftsbesuch oder hast du etwas auf dem Herzen? Ist was mit den Kindern?«

»Naa, denen geht es gut! Sie würden sich freuen, wenn du uns mal bald wieder auf der Berghütte besuchen würdest.«

»Ja, es wird mal wieder Zeit. Die beiden sind ja für mich so etwas wie Patenkinder. Sie haben sich gut ­entwickelt seit dem Tode ihrer Eltern.«

»Ja, das haben sie. Sie sprechen kaum noch davon. Neulich gab es auf der Berghütte mal wieder eine Bemerkung eines Gastes. Der sagte, dass die Anna und ich schon jung angefangen haben müssten, wenn wir schon so große Kinder hätten. Der Basti hatte es gehört. Er wurde richtig böse. ›Hör auf, so deppert über unsere Eltern zu reden!‹, herrschte er den älteren Hüttengast an. ›Des geht dich gar nix an. Unsere Eltern lieben sich, und wir sind ganz besondere Kinder der Liebe, mehr noch als andere Kinder. Aber warum des so ist, des geht dich nix an. Also, noch einmal so dummes Geschwätz und du bist hier die längste Zeit Hüttengast gewesen.‹ Die Franzi stellte sich neben ihren Bruder, stemmte die Arme in die Seite. Sie schloss sich der Drohung ihres Bruders an.«

Fritz Fellbacher lachte. Toni erzählte weiter.

»Die Anna und ich waren in der Küche der Berghütte und hörten durch das offene Fenster die Auseinandersetzung mit an.«

»Und was hast gemacht?«

»Nix. Wir taten so, als hätten wir es net gehört. Aber gefreut hat es uns schon sehr.«

»Mei, des glaube ich, Toni. Des war eine richtige Liebeserklärung der beiden.«

»Ja, des war es. Der Gast war so verblüfft, dass er sich bei den Kindern entschuldigte. Er trank sein Bier aus und ging.«

»Mei, sind die beiden herzig. Die Geschichte muss ich dem Zandler erzählen, dem wird sie auch gefallen.«

»Sag unserem Herrn Pfarrer Grüße von mir!«

»Des mache ich, Toni!«

Die Vorzimmerdame des Bürgermeisters brachte den Kaffee. Fritz Fellbacher schmunzelte und war voller Freude über die Liebeserklärung der Bichler Waisenkinder.

»Lieber Fellbacher, die Plauderei über die Kinder, des ist net der Grund meines Besuches. Ich brauche deine Hilfe, Bürgermeister.«

»Des ist meine Aufgabe!«

»Also, du kennst doch auch des Elektro- und Lampengeschäft Steiniger in Kirchwalden?«

»Mei, sicherlich! Der Steiniger ist ein Parteispezi von mir.«

Toni zog die Stirn in Falten.

»Was gibt es? Schaut so aus, als würde dir des net gefallen?«

»Wie man es nimmt, Fellbacher! Auf jeden Fall bitte ich dich, dem gegenüber nix verlauten zu lassen. Sonst bekäme der Berni daheim vielleicht Ärger. Um den geht es nämlich.«

»Den Berni, den kenne ich auch gut. Des war damals ein Drama, als seine Eltern verunglückten. Sein Onkel und seine Tante sind kinderlos und haben den Buben aufgenommen und groß gezogen. Der Berni war damals noch ein Säugling. Er wird sich an seine Eltern nicht erinnern können. Was ist mit ihm?«

Toni rieb sich das Kinn. Er dachte eine Augenblick nach.

»Der Berni steckt in einer Zwickmühle. Er ist verliebt. Er wollte das aber vor seiner Tante geheim halten. Die hat schon einmal einen Keil dazwischen getrieben, als ihr des Madl net gepasst hatte, in des sich Berni verliebt hatte. Des liegt schon eine Zeitlang zurück. War wohl eine Jugendliebe. Aber jetzt hofft er wohl, der Frau fürs Leben begegnet zu sein. Aber die beiden verfehlen sich. Er hat dem Madl seine Handynummer gegeben. Doch des Madl hat sich net bei ihm gemeldet. Der Berni hat herausgefunden, dass des Madl aus Waldkogel sein soll. Es wird Franzi gerufen. Einen Nachnamen hat er nicht. Seit Wochen kamen an unsere Franzi immer wieder liebe Briefe mit Geschenken. Es waren kleine goldene Anhänger, wie sie die Madln an Armbändern tragen. Ein Absender stand net drauf. Die Briefe waren nur mit ›Berni‹ unterschrieben. An Hand der kleinen Schmuckverpackung haben Anna und ich herausgefunden, dass er die Anhänger beim Ferdinand Unterholzer gekauft hatte. Über den haben wir erfahren, dass es sich um den Berni Steininger handelt. Der ist immer noch ganz verzweifelt und voller Liebeskummer. Jetzt haben wir Berni auf die Berghütte eingeladen. Wir wollen ihm helfen, sein Herzensmadl zu finden. Ein Weg dahin könnte sein, die Freundin des Madls zu finden. Sophie wird sie gerufen. Sie soll hier aus Waldkogel sein. Leider weiß der Berni ihren Nachnamen auch net. Ich habe mich schon umgehört, aber sie net gefunden.«

»Ah, du zählst auf meine Hilfe!«

»Ja, Fellbacher! Der Berni hat auch ein bissel Schwierigkeiten mit dieser Sophie. Des Madl scheint selbst Gefallen an ihm zu haben und eifersüchtig sein, verstehst?«

»Wie heißt des modern? Zickenkrieg, nennt man des, wenn ein Madl einem andern Madl sein Glück net gönnt.«

»Wobei des eine Beleidigung für jedes Zicklein ist!«

Die Männer lachten.

»Dann will ich mal sehen, was ich für dich und den Berni tun kann. Wenn des Madl, des Franzi gerufen wird, sich net bei dem Berni gemeldet hat, dann hat es kein Interesse oder sie hat Bernis Handynummer verloren oder die Sophie hat intrigiert.«

»So denke ich mir des auch, Fellbacher!«

Der Bürgermeister rief seine Sekretärin herein. Er gab ihr die Anweisung, im Melderegister der Gemeinde Waldkogel zu forschen.

Sie wollte sich sofort darum kümmern.

»Des geht ja heute alles über den Computer, Toni. Es wird net lange dauern. Ich kenne mich damit net so aus, aber dafür habe ich meinen guten Geist draußen im Vorzimmer. Bin eben noch vom alten Schlag.«

»Bist schon richtig, Fellbacher! Wir wissen alle, was wir an dir als Bürgermeister haben.«

Sie tranken Kaffee und warteten.

»Was willst machen, wenn wir die Sophie gefunden haben? Es können auch mehrere Madln sein, die Sophie heißen.«

»Ich will mit ihr oder mit ihnen reden.«

Bürgermeister Fellbacher dachte nach. Er schüttelte den Kopf.

»Naa, Toni, naa! Wir machen des anders! Ich kümmere mich darum. Wenn ich als Bürgermeister frage, dann werde ich wahrscheinlich eher was herausbekommen.«

»Ah, du wirst deine ganze amtliche Autorität in die Waagschale werfen.«

»Genau, Toni! Des wird dann gleich sehr amtlich aussehen, wenn ich mich nach einer Franzi erkundige. Warum ich das tue …, mei, es geschieht aus amtlichen Gründen. Von mir verlangt keiner Einzelheiten.«

»Bist schon ein ganz raffinierter Hund, Fellbacher«, lachte Toni. »Aber ich bin einverstanden. ›Der Zweck heiligt die Mittel‹, sagt man.«

»Ja, so ist es!«

Es dauerte nicht mehr lange, dann kam die Sekretärin herein.

»Ich habe eine Sophie gefunden, die vom Alter her passen könnte. Sie wohnt im Neubaugebiet, drüben in Marktwasen. Dann gibt es noch zweimal den Namen Sophia. Aber die beiden Frauen sind wesentlich älter. Hier steht alles drauf.«

Sie reichte dem Bürgermeister Fellbacher den Computerausdruck. Er bedankte sich. Nachdenklich schaute er auf das Blatt Papier.

»Was ist, Fellbacher?«

»Alles in Ordnung! Ich habe mir nur gerade eine weitere Strategie überlegt.«

»Und die ist?«

»Lass dich überraschen, Toni! Ich werde der Sache so bald wie möglich nachgehen. Noch heute kümmere ich mich darum. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich bei dir! Wollte ohnehin mal wieder auf die Berghütte kommen.«

»Des ist schön! Komme doch mal mit deiner ganzen Familie.«

»Des ist eine gute Idee.«

Toni und der Bürgermeister verabschiedeten sich voneinander.

Bürgermeister Fellbacher rief gleich seinen Freund Pfarrer Zandler an. Er musste ihm sofort davon erzählen, wie Sebastian und Franziska den vorlauten Hüttengast zurechtgewiesen hatten. Pfarrer Zandler lagen die beiden Kinder auch besonders am Herzen. Der Geistliche hatte sich damals nach dem Unfalltod sehr um sie gesorgt.

Nachdem das erledigt war, diktierte Bürgermeister Fritz Fellbacher einen Brief an Sophie Lanzer in Marktwasen. Marktwasen war zwar innerhalb der Gemeindegebietsreform vor Jahren eingemeindet worden, doch die Bewohner der Ortsteile Marktwasen und Waldkogel blieben mehr untereinander.

Bürgermeister Fellbacher schickte einen Boten nach Marktwasen und ließ den Brief persönlich zustellen. Er rieb sich die Hände. Das Schreiben würde seine Wirkung nicht verfehlen, freute er sich. Sicher würde sich Sophie Lanzer bald bei ihm melden. Fellbacher gab seiner Sekretärin Anweisung, der Sophie einen Termin zu geben, sobald sie anrufen würde. Dabei sollte sie keinerlei Andeutungen machen, wegen welcher Angelegenheit der Bürgermeister Sophie Lanzer persönlich sprechen wollte. Diese Strategie war auch ein Teil seines Planes.

*

Nicole stand auf dem Balkon und schaute hinunter auf den großen Parkplatz zwischen den Wohnblocks. Sie trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Ungeduldig wartete sie auf ihre Freundin Tamara. Endlich sah sie Tamara in ihrem kleine Sportwagen auf den Parkplatz rollen und aussteigen. Tamara schaute herauf und winkte Nicole zu.

»Na endlich!«, empfing Nicole die Freundin oben an der Treppe.

»Ja, es hat länger gedauert. Lass mich erst mal wieder Luft holen!«

»Keiner zwingt dich, die neun Stockwerke heraufzuspurten. Es gibt einen Aufzug!«

Tamara schmunzelte. Darüber waren sich die Freundinnen immer uneins. Es war schon fast zum Begrüßungsritual der beiden geworden, dass Nicole ihr Unverständnis über Tamaras sportlichen Ehrgeiz zum Ausdruck brachte. Tamara folgte Nicole in die Wohnung.

»Schläft Bine?«, fragte Tamara.

»Sie übernachtet bei einer Freundin! Deshalb war es mir so wichtig, dass du heute Abend kommst. Du weißt, wie neugierig die Kleine ist. Ich kann mich freier mir dir unterhalten, wenn Sabine nicht hier ist. Ich habe immer etwas Angst, dass sie mal aufwacht und uns belauscht.«

Sie setzten sich in die gemütliche Sitzecke des Wohnzimmers. Nicole hatte eine Platte mit belegten Brötchen gemacht. Sie schenkte Rotwein ein.

»Tut mir leid, dass du auf mich warten musstest. Nach der Aufführung gab es noch einen kleinen Umtrunk. Es war die hundertste Aufführung. Da konnte ich nicht so einfach gehen.«

Tamara arbeitete am Theater. Das war nicht immer so. Den Traum auf der Bühne zu stehen, hatte Tamara schon immer gehegt. Aber sie wusste, wie schwer es war, dauerhaft seinen Lebensunterhalt mit Theaterspielen zu verdienen. So hatte sie eine Ausbildung zur Büroorganisatorin gemacht. In diesem Fernkurs mit Wochenendseminaren hatten sich die jungen Frauen kennengelernt. Tamara mit ihrer Selbstsicherheit war Nicole gleich aufgefallen. Bald waren sie eng befreundet. Tamara wurde zu Nicoles inniger Vertrauten. Nicole war in der großen Stadt Berlin alleine. Sie wohnte erst seit kurzem in der Stadt, hatte keinerlei Anschluss und war zudem schwanger von einem Mann, der sie hatte sitzen lassen. Tamara unterstützte Nicole und wurde die Patin ihrer Tochter Sabine, die Bine gerufen wurde.

Die beiden Frauen prosteten sich zu.

»Was gibt es?«, fragte Tamara. »Du siehst aus, als würde mal wieder die Welt für dich zusammenbrechen?«

Nicole stand auf und holte aus ihrem verschlossenen Sekretär einen Brief. »Hier, lies selbst!«

Tamara überflog die Zeilen.

»Das ist doch ein netter Brief! Sie haben sich die Mühe gemacht, dir zu schreiben und dich nicht nur anzurufen.«

»Genau das ist es doch!«

»Es ist deinen Eltern einfach wichtig, dass du zum runden Geburtstag deines Vaters kommst. Also, ich finde den Brief sehr schön. Er ist richtig anrührend.«

»Ja!«, brummte Nicole. »Aber verstehst du nicht? Immer setzen sie mich unter Druck! Soll das ein Leben lang so weitergehen? Warum muss immer alles so gehen, wie sie es sich vorstellen? Nur dann sind sie zufrieden. Entweder ich erfülle ihre Erwartungen, füge mich ihren Vorstellungen oder sie machen mir Stress.«

Nicole seufzte tief.

»Tamara, bei der Einladung geht es nicht nur um mich. Sie wollen, dass ich meinen Freund mitbringe. Sie wollen mich und ihn vorführen. Wie schreibt mein Vater? Mein schönster Geburtstagswunsch wäre erfüllt, wenn du uns deinen Liebsten vorstellen würdest. Sonst wünsche ich mir nichts!«

»Den Liebsten, den du nicht hast!«

»Richtig, den ich erfunden habe. Was hätte ich machen sollen? Sie sind so altmodisch. Sie haben mich immer und immer wieder bedrängt. Komme doch zurück! Du findest sicher bei uns in der Gegend auch eine Stelle! Wir werden immer älter. Wer weiß, wie lange wir noch leben? Warum willst du unbedingt in Berlin bleiben? Wir haben bis heute nicht begriffen, warum du dir damals Hals über Kopf eine Arbeit in Berlin gesucht hast …, und so weiter …, und so weiter … Du kennst die Geschichte.«

»Ja, ich kenne die ganze Tragödie deines Lebens. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, hast du einen Mann erfunden. Es ist fast wie in einem Theaterstück.«

»Ja! Und wenn wir telefonierten, fragten sie mich immer wieder nach ihm. Ich erfand dann weitere Geschichten. Jetzt wollen sie ihn kennenlernen. Um in deinem Bild zu bleiben, ich muss einen Schlussakt erfinden.«

»Und was willst du machen? Wie lautet der Text der letzten Szene?«

»Ich werde ihnen sagen, dass wir uns getrennt haben. Er hat mich betrogen, und ich habe Schluss gemacht.«

»So etwas soll vorkommen. Guter Einfall! Dann wäre das Problem schon mal aus der Welt geschafft.«

»Ja, allerdings befürchte ich, dass es dann wieder von vorne losgeht. Wann kommst du zurück und so weiter und so weiter. Ich muss Zeit gewinnen. Oh, Tamara, es ist so schlimm. Ich bin in einer Zwickmühle. Sage ich ihnen, dass ich mich getrennt habe, versuchen sie mich wieder mit irgendeinem Burschen aus dem Dorf zusammenzubringen. Sage ich, er hat keine Zeit, er ist im Ausland auf Geschäftsreise, dann verstricke ich mich noch mehr in Lügen.« Nicole seufzte erneut. »Ich wollte, ich wäre in meinem Privatleben nur halb so erfolgreich wie in meinem Beruf. Beruflich läuft alles wunderbar. Mein Privatleben ist ein Scherbenhaufen!«

»Das stimmt doch nicht! Du bist die glückliche Mutter einer reizenden Tochter. Darum beneide ich dich!«

Nicoles Gesichtszüge bekamen für einen kurzen Augenblick einen glücklichen Schimmer.

»Sabine ist ein wunderbares Mädchen. Sie ist der Sonnenschein meines Lebens. Sie ist mir von meiner großen Liebe geblieben oder von dem Mann, den ich für meine große Liebe hielt. Ich frage mich oft, ob ich damals etwas falsch gemacht habe. Vielleicht nahm ich seine kleinen Ausflüge mit der anderen Frau zu wichtig? Vielleicht hätte ich ihm mehr vertrauen sollen? Himmel, ich war eifersüchtig.«

Nicole seufzte.

»Ich habe wenigstens ein Kind von ihm, das mir niemand nehmen kann. Dieses andere Weib hat nichts. Ich wünsche ihr die Pest an den Hals.«

»Ist die Wunde immer noch so groß?«

»Ja, das ist sie. Dieses Biest hat mir nicht nur den Liebsten genommen, sondern auch meinem Kind den Vater. Guido wäre noch am Leben, wenn der Autounfall nicht gewesen wäre. Sie trägt die Schuld daran. Sie saß am Steuer.«

Tamara hörte geduldig zu. Sie wuss­te, dass es sinnlos war, etwas zu sagen. Nicole hielt mehr oder weniger ein Selbstgespräch. Von Zeit zu Zeit kam das ganze Elend in ihr hoch.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Tamara, als Nicole schwieg.

»Ich wollte dich fragen, ob du auf Bine aufpassen kannst, für zwei Tage?«

»Sicherlich! Das mache ich doch immer, wenn du mal wieder heimfährst.«

Tamara zog die Stirn in Falten.

»Schau mich nicht so an, Tamara. Sage nichts, bitte, sage nichts. Ich weiß, was du mir sagen willst. Aber ich kann nicht. Es geht nicht. Es ist völlig unmöglich.«

»Nicole, das mit deinen Eltern und der Verwandtschaft kann ich irgendwo noch verstehen. Aber ich finde es nicht fair, dass du Bine ihren Großeltern vorenthältst. Sie hat ein Anrecht auf sie. Irgendwann musst du es ihr sagen oder sie wird es selbst entdecken. Bine ist jetzt zehn Jahre alt. Bisher war es vielleicht auch in Ordnung, aber du kannst sie nicht immer weiter belügen.«

»Ich kann Bine auch nicht der Ablehnung meiner Eltern aussetzen. Du kennst sie nicht, Tamara. Sie sind so konservativ, so grenzenlos rückständig! Deshalb bin ich damals fort, sobald ich wusste, dass ich schwanger war.«

»Nicole, die Zeiten haben sich geändert. Heute ist alles viel liberaler. Eine alleinerziehende Mutter wird heute anders gesehen. Viele Frauen entscheiden sich bewusst für ein Kind und gegen einen Mann oder eine Heirat. Das dürfte auch bis in die hintersten Berge vorgedrungen sein, wo du herkommst.«

»Tamara, du sagst das so einfach. Das mag ja auch so sein. Hier in der Großstadt ist es einfach. Meine Eltern sind alt, sie sind vom alten Schlag. Sie würden mich rauswerfen und mit mir brechen, wenn sie wüssten, ich habe eine uneheliche Tochter.«

»Das sagst du, seit wir uns kennen.«

Tamara schaute Nicole ernst an. Sie trank einen Schluck.

»Nicole, darf ich ehrlich zu dir sein?«

»Sind wir nicht immer ehrlich zu einander?«

»Doch! Aber was mir durch den Kopf geht, könnte dich verletzen. Ich meine es aber nicht böse.«

»Rede schon! Ich werde es überleben.«

Tamara biss in ein Brötchen. Sie kaute und trank einen Schluck Wein.

»Nicole, so ganz im Geheimen frage ich mich immer, ob es einen anderen Grund gibt. Ich meine, einen Grund, warum du nicht das Risiko eingehst, es darauf ankommen zu lassen? Du bist doch eine selbständige Frau, die ihren Mann steht, wie man so sagt. Wenn dich deine Eltern hi­nauswerfen, dann lass sie es in Gottesnamen tun. Sie haben es zu verantworten, nicht du. Du stehst zu deinem Kind. Das ist etwas, was Nicole von dir verlangen kann.«

»Auf was willst du hinaus, Tamara?«

»Ich will etwas verhindern.«

»Was willst du verhindern?«

»Ich bin in Sorge, dass dich Sabine eines Tages fragt, ob du dich ihrer geschämt hast.«

»Warum sollte sie das fragen?«

»Weil du sie versteckst! Weil niemand in deiner Heimat weiß, dass du Mutter bist, deine Eltern nicht, dein Bruder nicht, alle deine Verwandten nicht. Normalerweise verheimlicht ein Mensch nur etwas, für das er sich schämt.«

»Ich schäme mich für Sabine nicht!«

»Dann schämst du dich vielleicht dafür, dass du schwanger geworden bist, dass du dich Sabines Vater hingegeben hast. Vielleicht willst du dich selbst bestrafen? Hast du schon einmal darüber nachgedacht? Aber die Gefühle der Zuneigung sind manchmal stärker als der Verstand. Dann kommt es zu Unvorsichtigkeiten und in Folge dessen zu wahren Kindern der Liebe. Das ist doch auch etwas Wunderbares, denke ich! Kinder sind immer Kinder der Liebe!«

»Willst du jetzt die große Tiefenpsychologin spielen?«, herrschte Nicole Tamara unwirsch an.

»Du bist sauer?«

»Nein! Wir sind die besten Freun­dinnen. Doch du verstehst mich in dem Punkt nicht. Du hast mich darin niemals verstanden.«

»Muss man die Freundin in allem verstehen? Muss in allen Themen Friede, Freude und Eierkuchen sein? Du verstehst nicht, dass ich mich mit Sport fit halte und niemals einen Aufzug nehme. Du verstehst nicht, dass ich extrem auf meine Figur achte. Du sagst mir, ich hätte einen Schlankheitswahn. Dabei ist mein Sport Teil meines Karriereplanes. Ich habe für meine Anstellung am Theater so hart gekämpft. Ich will alles tun, dass ich möglichst lange engagiert werde. Deshalb will ich eine gute Figur machen.

Doch ich komme vom Thema ab. Ich wollte dir doch nur eine kleine Anregung geben. Denke darüber nach! Stehe dazu, dass du Guido geliebt hast, es schlecht ausgegangen ist und du es nicht ungeschehen machen kannst.«

Nicole trank einen Schluck Rotwein.

»Gut, ich werde darüber nachdenken. Aber wie ist es, nimmst du Sabine? Kann sie bei dir übernachten? Ich habe mir zwei Tage Urlaub genommen.«

»Sicher kümmere ich mich um mein Patenkind. Wann fährst du?«

»Es ist eine weite Strecke bis nach Waldkogel. Morgens werde ich noch arbeiten. Ich hole Bine nachmittags von der Schule ab und bringe sie zu dir. Sie muss an diesen Tagen nicht in die Kindertagesstätte. Dann fahre ich los. Ich werde spät abends ankommen. Am nächsten Tag ist die Geburtstagsfeier, die bestimmt bis tief in die Nacht geht. Dann schlafe ich einige Stunden und fahre am frühen Morgen zurück hierher nach Berlin. Mittags sitze ich wieder im Büro und hole Bine abends bei dir ab. Wenn ich zwei Tage nicht im Büro war, wird sich sehr viel auf meinem Schreibtisch türmen. Es kann dann sein, dass es später wird. Normalerweise geht Bine nach der Tagesstätte heim. Ich komme ja dann auch bald. Aber es wäre mir lieber, sie könnte zu dir gehen. Wie ist es mit deinem Spielplan?«

»Das passt. An den Tagen muss ich nicht spielen. Da ist die Zweitbesetzung dran. Ich habe auch danach einige Tage frei.«

»Wunderbar! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sabine wird sich freuen, dich mal wieder besuchen zu dürfen.«

»Hast du ihr wieder gesagt, dass du auf Geschäftsreise musst?«, fragte Tamara.

»Ja, das habe ich! Was soll ich ihr sonst sagen?«

»Wieder eine Lüge!«

»Mei, Tamara!« Nicole fiel in den Dialekt ihrer Kindheit zurück. »Sei doch net so kleinlich. Des geht net anders!«

»Nicole, ich sehe die ganze Entwicklung mit großer Sorge. Wann willst du mit Sabine reden?«

Nicole zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck. Tamara sprach weiter:

»Bine ist ein intelligentes Mädchen. Wenn du mit ihr redest, bin ich gerne dabei und unterstütze dich. Sage ihr, dass es Großeltern gibt. Dass sie wieder Kontakt mit dir aufgenommen haben. Sage ihr meinetwegen, dass sie verschrobene Bergler sind und sie nicht wollen. Aber sie weiß dann etwas. Und sage ihr, wa­rum das so ist. Sage ihr, dass du mit ihrem Vater nicht verheiratet warst. Sabine ist ein kluges Kind. Außerdem sind die Kinder heute früher reif. Sie wird es verstehen. Sage ihr, wie es damals mit Guido war. Er war ihr Vater. Irgendwann wird sie sich fragen, wie er war, welche Charaktereigenschaften sie von ihm hat und so weiter.«

Nicole schenkte sich und Tamara Rotwein nach.

»Wahrscheinlich hast du Recht! Ich muss die Sache angehen. Aber erst einen Schritt nach dem anderen. Erst muss ich diese Geburtstagsfeier hinter mich bringen und die Trennung von meinem erfundenen Freund darlegen. Danach mache ich mir Gedanken, wie ich es Sabine schonend beibringe. Jetzt muss ich mir einen Grund ausdenken, warum ich mich von meinen Freund getrennt habe. Es muss ein guter Grund sein, den meine Eltern verstehen. Meinst du, ich sollte sagen, er hätte mich betrogen?«

»Himmel, Nicole! Du musst nichts darlegen! Du hast ihm den Laufpass gegeben, basta! Einzelheiten gehen niemand etwas an. Dann kannst du dich auch nicht in Lügen verstricken.«

»Ich bin eben so, wie ich bin. Immer will ich mich für alles rechtfertigen. Von mir wurde auch immer Rechtfertigung bis in die kleinste Kleinigkeit verlangt, niemals von meinem Bruder Gerd. Gerd machte etwas und sagte, so habe ich entschieden und gehandelt, basta! Das wurde hingenommen.«

»Ich verstehe, was du meinst, Nicole. Aber du bist so eine wunderbare Frau und könntest mehr Selbstbewusstsein zeigen. Wenn du nicht auch diese Haltung dir gegenüber einforderst, wirst du sie nicht bekommen. Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es heraus, denke darüber nach.«

Tamara trank einen Schluck.

»Genug Probleme gewälzt! Reden wir von etwas Angenehmem, vom Urlaub. Hast du schon Pläne? Willst du mit Sabine alleine verreisen oder fahren wir zusammen?«

»Stimmt, es steht ein Urlaub an. Vor lauter Arbeit und Problemen habe ich das ganz vergessen, dir zu sagen. Mein Urlaubsantrag wurde genehmigt. Sicher fahren wir zusammen, wenn du keine anderen Pläne hast? Fahren wir wieder ans Meer?«

»Ich besorge die Urlaubskataloge. Wenn du von der Familienfeier zurück bist, suchen wir ein schönes Urlaubsziel aus.«

Sie waren sich einig. Die nächsten Stunden redeten sie noch über unverfängliche Themen. Tamara erzählte viel vom Theater, und Nicole sprach von ihrer Arbeit als Chefsekretärin in einem großen Verlag. Dort saß sie im Vorzimmer des Seniorchefs.

Zur fortgeschrittenen Stunde waren die beiden Freundinnen sehr ausgelassen. Da kam Tamara auf die Idee, dass Nicole einen Studenten der Schauspielschule oder einen arbeitslosen Schauspieler engagieren könnte, ihren Freund zu spielen.

»Der könnte dich dann nach Waldkogel begleiten. Der müsste sich wie ein echtes Ekel benehmen und jedem vor den Kopf stoßen, Nicole. Wenn deine Eltern so sind, wie du sie beschrieben hast, dann legen sie dir bestimmt nahe, dich von ihm zu trennen.«

Die beiden Freundinnen kicherten wie zwei Teenager, bis es draußen hell wurde. Tamara schlief in Sabines Zimmer. Noch am nächsten Morgen setzten sie das Thema fort, dem Tamara den Namen geben hatte:

Der geliehene Mann, ein Mietmann für Nicole.

Schließlich wurde aus dem Spiel Ernst. Tamara bot an, für Nicole einen Mann zu suchen. Sie kannte genug arbeitslose Schauspieler.

»Die Kosten übernehme ich! Den Spaß schenke ich dir zum Geburtstag, Nicole.«

Nicole nahm Tamaras Angebot an. Immerhin bin ich dann nicht alleine auf der Familienfeier, dachte sie. Und ich entgehe den Versuchen meiner Eltern, mir einen Burschen nahe zu bringen. Sie warf alle Bedenken über Bord. Sicherlich war es gefährlich. Es kam ihr vor, als wolle die den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

In den nächsten zwei Wochen trafen sich Nicole und Tamara mehrmals zum Mittagessen beim Lieblingsitaliener. Jedes Mal brachte Tamara einen Schauspielerkollegen mit, damit Nicole ihn sich ansehen konnte. Die beiden veranstalteten ein regelrechtes Vorsprechen. Nicole entschied sich dann für einen von Tamaras Kollegen vom Theater. Morton war Engländer und konnte mit Akzent sprechen, wenn es notwendig war. Er versprach, sich arrogant und überheblich zu geben. Als er abends in Tamaras Wohnung den beiden Frauen einige Kostproben vorspielte, konnten sich die beiden vor Lachen kaum halten. Sie lachten, bis ihnen die Tränen die Wangen herunterliefen. Allmählich freute sich Nicole auf das Spiel. Es wird lus­tig werden, dachte sie. Nach der Feier reisen wir ab. Zwei Tage später werde ich daheim anrufen und sagen, ich habe mich auf euren Rat getrennt. Dann habe ich das Kapitel schon einmal vom Tisch.

*

Drei Tage vor ihrer Abreise nach Waldkogel läutete bei Nicole im Büro das Telefon. Es war Tamara.

»Nicole, Morton kommt nicht mit dir nach Waldkogel. Er findet dich sehr sympathisch. Er hat mir gesagt, er habe sich in dich verliebt. Er würde dich gern bald wiedersehen, hat er mir gestanden, aber nicht unter den von uns geplanten Umständen. Welchen anderen Begleiter nimmst du jetzt?«

»Ach, lass es, Tamara. Es war doch nur eine verrückte Idee. Ich bin froh, dass er abgesagt hat.«

»Warum, dieser Plan war doch witzig! Außerdem wäre es doch schön gewesen, wenn du mal einen Mann an deiner Seite gehabt hättest oder?«

»Tamara, es war eine Schnapsidee oder eine Rotwein-Idee. Ich habe auch noch einmal darüber nachgedacht. Ich bin froh, dass nichts daraus wird. Außerdem widersprichst du dir selbst: Erst willst du mich zur Wahrheit überreden, dann soll ich ein solches Theater spielen! Das wirkliche Leben ist keine Bühne.«

Tamara ging auf Nicoles Antwort nicht ein, stattdessen fragte sie:

»Was ist mit Morton? Kann ich ihm sagen, dass du ihn wiedersehen willst?«

»Nein!«

»Nein? Gefällt er dir gar nicht? Ich finde, er ist ein toller Typ. Leider will er von mir nichts wissen.«

»Ob er ein toller Typ ist, darum geht es nicht, Tamara. Ich will keinen Mann, weder einen Mietmann, noch sonst einen Mann! Ich habe mein Kind. Das reicht mir als Familie. Mehr will ich vom Leben nicht mehr. Und jetzt muss ich Schluss machen, Tamara! Bis dann!«

Ohne ein weiteres Wort des Abschieds legte Nicole auf. Sie stützte für einen Augenblick den Kopf in die Hände und seufzte tief. In ihrem Kopf drehte sich alles. Was bin ich für eine Närrin, schalt sie sich.

»Wie konnte ich mich auch nur auf so etwas einlassen? Ich muss verrückt gewesen sein, total verrückt!«, sagte sie vor sich hin.

Nicole hatte nicht bemerkt, dass die Tür aufgegangen war und jemand das Zimmer betreten hatte. Ein leises Räuspern drang an ihr Ohr. Sie zuckte zusammen und schreckte auf. Nicole errötete tief, als sie ihren Chef Friedhelm Forster und seine Frau Juliana sah.

»Oh, entschuldigen Sie bitte!

Ich … ich … ich …«, stotterte Nicole nach Worten suchend.

Ihr Chef schmunzelte und schaute seine Frau an.

»Jule, du hast eben einen sehr seltenen Augenblick erlebt. Du hast miterlebt, dass Frau Anwander ein Mensch ist. Ich dachte eigentlich, sie ist ein Androide, ein Roboter in Menschengestalt, immer sachlich, funktionstüchtig, ohne Gefühle und Empfindungen. Aber meine gute Frau Anwander scheint doch Gefühle und Empfindungen zu haben.«

»Friedhelm, sei nicht so taktlos! Typisch Mann! Siehst du nicht, wie verlegen du sie machst.«

Nicole saß mit hochrotem Kopf hinter dem Schreibtisch. Sie wäre am liebsten in den Boden versunken. Sie räusperte sich.

»Ich war einen Augenblick unpässlich. Es wird nicht wieder vorkommen, Herr Doktor Forster. Es ist mir sehr peinlich. Bitte, entschuldigen Sie!«

»Sind Sie krank, Frau Anwander?«, fragte Juliana Forster.

»Nein! Alles in Ordnung!«, wehrte Nicole ab.

Sie lächelte ihren Chef an.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Doktor Forster?«

Juliana legte ihrem Mann blitzschnell die Hand auf den Arm.

»Lass mich das machen, Friedhelm!«

Sie schaute Nicole an.

»Waren Sie schon in der Mittagspause?«

Nicole sah auf ihre Armbanduhr.

»Oh, schon so spät!«

»Nehmen Sie Ihren Mantel oder Jacke oder was auch immer. Sie gehen jetzt mit mir Mittagessen, Frau Anwander.«

Nicole errötete.

»Danke, Frau Forster, das ist sehr freundlich. Aber ich esse mittags nie richtig zu Mittag. Wir essen abends.«

»Das ist ungesund, junge Frau!«

»Ich habe immer Brote mit, die esse ich im Park, oder ich gehe auf einen Salat zum Italiener!«

»Italiener, klingt gut! Dann essen wir Italienisch! Jetzt zieren Sie sich nicht.«

Unsicher schaute Nicole ihren Chef an. Dieser schmunzelte.

»Frau Anwander, Sie sollten meiner Frau schon folgen. Ich tue das auch. Sie wissen doch, hinter einem erfolgreichen Mann steht immer eine kluge Frau! Meine Juliane wird sich schon etwas dabei denken. Ich wünsche guten Appetit. Nun gehen Sie schon.«

Friedhelm gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange und ging hinaus.

Kurze Zeit später saßen Nicole und die Frau des Seniorchefs in einer Nische beim Italiener.

»So, meine liebe Frau Anwander! Jetzt sage ich Ihnen mal etwas. Sie sind für meinen Mann wirklich ein Rätsel. Sie sind jetzt schon zehn Jahre bei ihm.«

»Ist er nicht mit mir zufrieden?«

»Kindchen, wie kommen Sie da­rauf? Er ist mehr als zufrieden mit Ihnen. Sie sind pünktlich, zuverlässig, nie krank, diskret, bescheiden, zurückhaltend. Also, rundum die ideale Chefsekretärin. Aber das ist schon fast zu viel. Sie sind immer so überkorrekt, dass es schon auffallend ist. Der Vergleich meines Mannes mit einem Roboter ist treffend. Da kann ich ihm nur zustimmen. Ich habe Sie auch beobachtet. Nach dem, was mein Mann und ich gerade gesehen haben, bin ich ein wenig überrascht, um nicht zu sagen, besorgt. Hätte ich solch eine Szene bei einem anderen Menschen gesehen, wäre sie mir nicht weiter aufgefallen. Aber bei Ihnen ist das etwas anderes. Bei mir schrillen die Alarmglocken! Mein sechster Sinn rührt sich. Was ist mit Ihnen los? Welchen Kummer haben Sie?«

Nicole wurde verlegen. Sie trank einen Schluck Mineralwasser.

»Hören Sie, Frau Anwander, wie alt sind Sie?«, setzte Juliana Forster nach.

»Einunddreißig!«

»Ich bin sechzig Jahre, aber das wissen Sie ja. Also könnte ich Ihre Mutter sein! Sie wissen, wir sind ein Familienbetrieb. Dazu gehört auch, dass man sich mehr, als es in anderen Betrieben heute wohl üblich ist, sich um die Mitarbeiter kümmert. Jetzt sehen Sie in mir bitte für einen Augenblick nicht die Frau des Chefs und die Miteigentümerin, sondern eine ältere Freundin, auch wenn das für Sie vielleicht schwierig ist.«

Nicole schaute Frau Forster völlig überrascht an.

»Nun schau nicht so, Kindchen! Machen wir es anders!«

Sie streckte Nicole die Hand hin.

»Ich bin Juliane oder Jule, wie die meisten sagen.

Sie haben es bestimmt schon im Hause gehört, wenn mich jemand so angesprochen hat.«

»Ich kann Sie doch nicht …«

»Du kannst! Hand darauf, Ni­cole!«

Nicole nahm zögernd die Hand.

»Gut, das ist ein Anfang!«

»Warum tun Sie …«

»Oh, oh, oh! Ich bin Jule!«

»Gut, warum tust du das, Jule?«

»Das werde ich dir später sagen! Jetzt erzählst du mir, was dir vorhin durch den Kopf gegangen ist. Ich will alles wissen!«

»Nichts von Bedeutung! Jeder hat mal einen schlechten Tag!«

»Jeder bestimmt, Nicole. Aber du hattest in zehn Jahren keinen schlechten Tag! Rede dich nicht he­raus!«

»Frau Forster – ich meine Jule – das möchte ich nicht. Ich trenne sehr zwischen meiner Arbeit und meinem Leben.«

»Das ist mir bekannt! Aber jetzt sitzt du einer älteren Freundin gegenüber, und deren Instinkt sagt ihr, dass sie sich um dich kümmern sollte, weil es sonst niemanden gibt. Also, ich höre!«

»Du bist ganz schön hartnäckig!«

»Sicher, das ist das Geheimnis des Erfolgs – und ein wenig Instinkt, dieses gewisse Bauchgefühl, gehört auch dazu.«

Nicole war sehr verlegen.

»Eigentlich habe ich keinen Grund zum Klagen. Ich habe mein Leben im Griff, bis auf Kleinigkeiten.«

»Oh, die berühmten Kleinigkeiten!«

Nicole trank einen Schluck Kaffee. Sie sah Juliane Forster prüfend an. Konnte sie ihr vertrauen?

»Ich habe mir zwei Tage Urlaub genommen. Ich muss zur Geburtstagsfeier meines Vaters, er wird siebzig.«

»Das macht dir Kopfzerbrechen?«

»Ja, ich habe vor Besuchen daheim immer Bauchschmerzen. Ich habe mir hier in Berlin mein Leben aufgebaut und komme gut damit klar. Meine Eltern, mein Bruder und meine ganze Verwandtschaft, die leben in einer völlig anderen Welt. Meine Mutter hat nie irgendwo gearbeitet, ich meine, als Angestellte oder so. Für sie ist ein Leben, wie ich es führe, völlig unvorstellbar.«

»Ah, du bist im Konflikt. Auf der einen Seite möchtest du dein selbstgewähltes Leben leben. Auf der anderen Seite bist du immer noch die Tochter, die es ihnen recht machen will. Du passt nicht in ihr Schema, willst aber quasi die liebe Tochter sein.«

»Genau, ich passe nicht in das Bild, und deshalb ist so ein Besuch belas­tend. Ich bin über dreißig Jahre und ledig.«

»Aber so viel ich weiß, hast du eine Tochter! Das habe ich in deiner Personalakte gesehen, die ich mir neulich angeschaut habe. Du erzählst nie etwas von deiner Tochter. Mein Mann sagte mir, ich solle dich nicht auf sie ansprechen. Du hast auch kein Bild von deinem Kind auf dem Schreibtisch. Fast auf jedem Schreibtisch stehen Fotos, wenn man durch die Räume geht. Warum versteckst du deine Tochter?«

Nicole schwieg. Juliane griff über den Tisch und tätschelte Nicoles Hand.

»Leidest du unter dem Fehltritt, wie man früher sagte?«

Nicole errötete.

»Ja, wahrscheinlich! Dabei bin ich dem Himmel dankbar, dass ich Sabine habe. Sie ist so ein wunderbares Kind.«

Nicole trank wieder einen Schluck Wasser.

»Meine Eltern und die Verwandtschaft wissen nichts von Bine, so rufe ich sie. Mein damaliger Freund … Es ist kompliziert. Wir waren erst ein halbes Jahr zusammen. Wir arbeiteten zusammen in der gleichen Firma. Nach der Trennung kam er einige Tage später bei einem Unfall ums Leben. Dann stellte ich fest, ich war schwanger. Ich raffte meine Ersparnisse zusammen, es war nicht viel, und fuhr nach Berlin. Ich jobbte in Kneipen und machte eine zusätzliche Ausbildung. Ich brachte meine Tochter zur Welt und kam dann zu Ihrem Mann in den Verlag, zuerst als Vertretung in sein Vorzimmer und dann fest angestellt.«

Juliane hörte aufmerksam zu und lauschte nach Zwischentönen. Nicole erzählte weiter:

»Bei meinem letzten Besuch stichelten meine Eltern sehr, so von wegen, ich würde eine alte Jungfer und sollte zusehen, endlich zu heiraten, ob es in dem großen Berlin keine Männer gäbe. Ich habe mich ziemlich geärgert. In meiner Not habe ich einen Mann erfunden. Sie waren beruhigt. Jetzt soll ich ihn zum Geburtstagsfest mitbringen. Es ist der Geburtstagswunsch meines Vaters. Meine Freundin Tamara ist Schauspielerin an einer kleinen Kunstbühne. Sie kam auf die Idee, ich könnte einen ihrer Kollegen mitnehmen. Aktion Mietmann, nannte sie den Plan. Es hörte sich praktisch an. Er sollte ein totales Ekel spielen und sich völlig daneben benehmen. Wir würden zurückfahren, und dann würden wir uns trennen, das würde ich meinen Eltern und Verwandten sagen. Dann hätte ich Ruhe, zumindest eine Zeitlang. Jedenfalls so lange, bis ich sie im nächsten Jahr wieder besuche. So dachte sich das Tamara. Aber der Schauspieler sagte ab. In dem Augenblick nach dem Telefongespräch bist du mit deinem Mann hereingekommen. Ich stöhnte über mich. Im Beruf komme ich gut klar, aber mein Privatleben ist etwas kompliziert.«

»Du hast es dir selbst kompliziert gemacht! Warum nur, Nicole?«

»Ich bin aus einem kleinen Dorf in den Bergen. Meine Eltern sind

sehr … altmodisch …, auch heute noch. Dass ich ein uneheliches Kind habe, das würden sie nicht verstehen und mit mir brechen. Da bin ich mir sicher. Frauen, die ein uneheliches Kind haben, die gelten als Schlampen. Mein Vater ist im Kirchenvorstand und sehr korrekt, was die Moral betrifft.«

»Wussten sie nicht, dass du damals einen Freund hattest?«

»Nein! Ich hatte ihnen nichts von Guido erzählt. Das wollte ich mir noch etwas aufheben. Guido stand kurz vor seiner Abschlussprüfung als Betriebswirt. Wir planten, uns nach seiner Prüfung zu verloben. Ich wollte ihn meinen Eltern nicht als Student vorstellen. Mein Vater hat Vorurteile gegen Studenten.«

Nicole seufzte.

»Guido hatte etwas mit der Tochter des Professors. Es kam zu einem Streit, und wir trennten uns. Und dann passierte der schreckliche Unfall, den er nicht überlebte. Es war ihr Auto, sie fuhr.«

»Welch eine Tragödie!«

»Sie hat nichts von ihm! Ich habe eine wunderbare Tochter. Sie ähnelt ihrem Vater sehr. Sie ist die beste Schülerin in der Klasse. Jedenfalls ist das Thema Mann für mich tabu.«

»Und wenn dir noch einmal die Liebe begegnet?«

»Sie wird mir nicht begegnen.«

»Wenn doch, Nicole?«

»Dann mache ich die Tür zu. Für einen Mann habe ich keinen Platz in meinem Leben.«

»Fährst du oft heim?«

»Nein! Vielleicht einmal im Jahr, für ein oder zwei Tage. Sabine bleibt dann bei meiner Freundin Tamara.«

Nicole seufzte tief.

»So, jetzt weißt du alles, Jule! Jetzt musst du mich verachten.«

»So ein Unsinn, Nicole! Warum soll ich dich verachten?«

»Weil ich mein Leben so …«

»Pst! Keiner hat das Recht, einen anderen zu verachten. Niemand kann wirklich nachempfinden, was du durchlitten hast. Im Gegenteil, ich habe große Bewunderung für dich, wie tüchtig und selbständig du dein Leben gemeistert hast.«

»Ich wollte das Beste für mein Kind. Sabine hätte bestimmt gelitten, wenn ich in Waldkogel geblieben wäre, besonders als Mädchen.«

»Richtig, du bist aus Waldkogel! Das fiel mir schon auf, als ich deine Personalakte las. Roland war mit seinem Freund schon oft in Waldkogel, wenn es der gleiche Ort ist. Dort gibt es eine Berghütte, sie wird von Anna und Toni geführt.«

»Es ist mein Waldkogel. Toni ist einige Jahre älter als ich. Seine Eltern haben eine Wirtschaft mit einer kleinen Pension. Ich weiß, dass dein Sohn mehrmals im Jahr nach Waldkogel zum Bergsteigen fährt. Er erzählt im Verlag davon. In seinem Büro hängen viele große Fotos meiner Heimat an den Wänden.«

»Roland ist von Waldkogel begeis­tert. Er will bald mal wieder hin. Wa­rum fahrt ihr nicht einmal zusammen?«

Nicole starrte Jule mit großen Augen an. Erst wurde sie blass, dann schoss ihr das Blut in die Wangen.

»Nun schau nicht so überrascht! Du wirst doch schon bemerkt haben, wie unser Sohn dich ansieht?«

»Ich will mich dazu nicht äußern!«

»Schwupp, jetzt bist du wieder schnell zurückgekrochen in dein Schneckenhaus, Nicole.«

Juliana rief nach dem Kellner und bestellte zwei Gläser Wein, die auch sofort gebracht wurden.

Sie tranken.

»So, Nicole! Jetzt will ich dir etwas sagen. Roland spricht oft von dir. Er hat sogar versucht, seinen Vater zu überreden, dass er dich an ihn abgibt. Er wollte mit Friedhelm die Vorzimmerdamen tauschen. Weißt du wa­rum?«

Nicole wurde tief dunkelrot.

»Mein Mann will dich behalten, und Roland wollte dich in seiner Nähe haben. Ich will Klartext reden! Du gefällst Roland sehr, auch wenn du dich wie ein Eisblock gibst, wie ein gefühlloser Roboter, ein Androide, wie es Friedhelm sagte. Roland schwärmt seit Jahren von dir. Jedenfalls wollte ich mehr über dich wissen und habe mir deine Personalakte angesehen. Und ich habe dich sehr genau beobachtet, wenn ich meinen Mann im Büro besuchte.«

Juliana trank einen Schluck Wein.

»Ich bin eine Mutter genau wie du, Nicole. Wie für jede Mutter ist ihr Kind, ist mein Sohn der Beste und Schönste und Großartigste aller Söhne. Dazu ist Roland unser einziges Kind und deshalb nicht unvermögend. Ich sehe die begehrlichen Augen vieler junger Damen im Verlag. Aber er hat anscheinend nur Augen für dich, Nicole. Du hast es bis jetzt nicht gesehen oder wolltest es nicht sehen.«

Nicole trank einen Schluck Wein.

»Ich …, ich meine, er ist sehr freundlich! Ich habe nichts gegen ihn. Ich, ich habe keine Ahnung, dass … Sicher, er hat mich einmal gefragt, ob ich ihm mal meine Heimat zeigen wollte.«

Nicole räusperte sich.

»Ich lehnte ab!«

»Du sagtest, dass du selten heimfährst und er sich einen Fremdenführer nehmen sollte!«

»Ja, das habe ich gesagt! Das hat er dir erzählt!«

»Ja, das hat er! Er war enttäuscht. Du hast etwas gutzumachen bei ihm, Nicole. Er mag dich wirklich. Es ist viel mehr als Mögen, aber das soll er dir selbst sagen.«

Nicole hielt sich einen Augenblick die Hände vors Gesicht.

»Jule, das ist alles etwas viel!

Ich …, ich …, ich will das nicht.«

»Nicole, du stehst dir selbst und deinem Glück im Weg.«

»Das mag sein! Ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen.«

»Das solltest du aber! Auch solltest du deiner Tochter die Berge nicht vorenthalten. Sie hat auch einen Teil ihrer Wurzeln dort.«

»Das stimmt. Manchmal tut mir Sabine leid, dass sie in der Stadt aufwachsen muss. Ich hatte eine schöne Kindheit, war immer in der freien Natur. Es war sehr schön.«

Nicole schaute auf die Uhr.

»Du musst nicht auf die Uhr schauen, Nicole. Mein Mann wird sich denken, dass ich dich länger festhalte. Also, denke darüber nach, was ich dir gesagt habe. Vielleicht gibst du Roland eine Chance? Lernt euch kennen, richtig kennen! Dann kannst du entscheiden und er auch. Vor allem gib dir eine Chance, Nicole.«

»Roland …«, flüsterte Nicole leise vor sich hin. »Ich habe mir geschworen, niemals mehr etwas mit einem Mann anzufangen und schon gar nicht mit einem Mann, der im selben Betrieb ist. Wenn Roland und ich uns näher kennenlernen – nur mal rein theoretisch – dann wird es Gerede geben.«

Juliana lachte.

»Das gibt es bereits, Nicole. Alle haben es mitbekommen, wie Roland dir nachschaut, nur du nicht.«

Nicole errötete tief. Jule lächelte Nicole an.

»So, jetzt habe ich mich genug eingemischt, Nicole. Es ist deine Entscheidung. Vielleicht habe ich schon viel zu viel gesagt. Aber ich bin eine Mutter, die ihren Sohn glücklich sehen will. Als ich dich so unglücklich sah, sagte mir mein Gefühl, ich sollte mal mit dir reden. Ich hatte eigentlich nicht vor, mit dir so ausführlich über Roland zu sprechen. Aber dann kam mir die Idee. Bitte Roland, dich nach Waldkogel zu begleiten! Dann könnt ihr euch näher kennenlernen und aussprechen. Häng einige Tage daran und gehe mit ihm auf die Berghütte. Dort seid ihr ungestört, fernab vom Verlag.«

»Das kann ich nicht. Ich habe keine Zeit für einige Tage auf der Berghütte. Jemand muss sich um Sabine kümmern.«

»Schiebe deine Tochter nicht als Grund vor. Dafür lässt sich eine Lösung finden. Es geht nur um dich, Nicole. Denke an dich!«

»Bei dir klingt alles so einfach, Jule. Ich habe sofort das Gefühl, dass ich Sabine vernachlässigen würde.«

»Du bist eine gute Mutter, eine zu gute Mutter! Verstehe das bitte richtig.«

»Ich weiß, wie du das meinst. Tamara sagte einmal zu mir, ich wollte mich nicht binden, ich würde keine Männer anschauen, weil ich Angst davor hätte, Sabine könnte eifersüchtig werden. Wahrscheinlich steckt darin auch ein Teil der Wahrheit. Es ist eine Mischung aus allem. Ein Teil ist Angst vor Sabines Reaktion, ein Teil besteht möglicherweise darin, dass ich mich selbst bestrafen will und ein Teil ist Angst, wieder jemanden zu verlieren.«

»Nicole, ich will dich nicht bedrängen, so wie du es bei deinen Eltern erlebst. Ich will dich nur ermutigen. Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du willst, dann rede ich mit Roland. Er kann dich begleiten. Er wird es tun. Er wird sich freuen. Gib dir und ihm die Chance. Überlege es dir!«

»Da gibt es nichts zu überlegen, Jule. Nimm es bitte nicht als Ablehnung gegen dich oder gegen Roland. Er ist bestimmt ein wunderbarer Mann. Die Frau, die ihn einmal bekommt, wird sicherlich sehr glücklich werden.«

Jule sah ein, dass sie nicht weiterkam. Sie war eine kluge Frau. So beendete sie das Thema.

»Nicole, ich nehme das so hin. Ich schätze dich sehr. Wenn du einmal Rat oder Hilfe brauchst, du kannst immer auf mich zählen. Vergiss einfach, dass ich Forster heiße. Denke nicht daran, dass ich Friedhelms Frau und Rolands Mutter bin.«

»Ich will es versuchen! Danke für die Einladung, deine Zeit, dein Interesse an meinem Schicksal. Es tat mir gut, mit dir zu reden. Danke, Jule.«

»Gern geschehen, Nicole!«

Jule zahlte. Sie gingen die wenigen Schritte zum Verlagshaus zurück. Juliana überredete Nicole, sich für den Rest des Nachmittags frei zu nehmen. So ging Nicole zu ihrem Auto und fuhr heim. Juliana stieg in ihre Limousine und fuhr weit vor die Tore Berlins. Dort bewohnten die Forsters eine schöne alte Villa an einem der vielen Seen.

Nicole war nach dem Gespräch mit Juliana sehr aufgewühlt. Ihr erster Gedanke war, ihre Freundin Tamara anzurufen und ihr davon zu erzählen. Doch Nicole konnte sich nur allzu gut vorstellen, was ihr Tamara raten würde. So ließ sie es sein. Nicole legte sich auf ihr Bett und dachte nach.

Die nächsten Tage im Büro, bis zu Nicoles Urlaub, verliefen wie immer. Nicole ließ sich nichts anmerken und ihr Chef, Doktor Friedhelm Forster, ebenfalls nicht. Roland bekam Nicole nicht zu Gesicht, und das war ihr sehr angenehm.

*

Es war schon dunkel, als Nicole mit ihrem Kleinwagen in Waldkogel eintraf. Sie parkte vor der Scheune. Mit ihrer Reisetasche unter dem Arm, ging sie hinein. In der Küche brannte noch Licht.

»Grüß Gott, Mutter!«

»Da bist du ja endlich, Madl!«, begrüßte ihre Mutter sie freundlich.

Martha Anwander stand am Tisch und schnitt Brot.

»Ich will noch mal etwas zu essen machen. Du, dein Bursche hat richtig Hunger! Mei, kann der etwas vertragen! Und schmecken tut es ihm auch. Da hast du dir wirklich einen feschen Burschen geangelt. Warum wolltest du ihn uns net schon längst mal vorstellen?«

Nicole starrte ihre Mutter an. Das Blut schoss ihr in den Kopf.

Wer ist hier?

Ist Morton doch hergefahren?

Haben Tamara und er eine Überraschung ausgeheckt?

Nicole stand wie vom Donner gerührt in der großen Wohnküche.

»Schau net so! Dein Roland hat uns alles erklärt. Mei, du hättest doch keine Angst haben müssen. Sicher macht dein Vater mal schlimme Bemerkungen über die studierten Leut’, aber mit deinem Roland ist er schon ein Herz und eine Seele. Sie sitzen im Wohnzimmer und trinken Bier. Ich hab’ meinen Bertl schon lange nimmer so munter erlebt. Sie erzählen sich Witze und lachen. Der Roland wirkt wie ein Jungbrunnen auf deinen Vater. Ein größeres Geschenk hättest ihm nicht machen können und mir auch nicht.«

In diesem Augenblick kam Roland herein.

»Schön, dass du hier bist, Schatz!«

Roland umarmte Nicole und küss­te sie.

»Ich habe nicht gewusst … Das war aber nicht so vereinbart! Ich habe Jule doch deutlich gesagt …«

Roland küsste Nicole noch einmal. Dieses Mal sogar auf die Lippen.

»Ja, ja ich weiß! Aber schau, Ni­cole, es wäre doch dumm gewesen, wenn du am Geburtstag deines Vaters hier alleine mit deiner Familie feierst und ich sitze auf der Berghütte und warte auf dich. Freust du dich gar nicht darüber, dass das Versteckspiel ein Ende hat?«

»Ich bin völlig überwältigt!«, hauchte Nicole.

Dann kam ihr Vater herein.

»Mei, unser Madl ist hier! Des ist schön! Und eines sage ich dir gleich. Der Roland, der ist ein feiner Kerl, ein richtiger Prachtbursche ist des!«

Er schloss seine Tochter herzlich in die Arme. Das war sehr ungewöhnlich für ihn. Bertram Anwander war normalerweise kein Mann, der seine Gefühle zeigte.

Roland legte Nicole den Arm um die Schulter.

»Siehst ein bissel blass aus. Hattest du eine anstrengende Fahrt?«

»Ja, ich …, ich … stand im Stau!«, stotterte Nicole.

»Wir hätten zusammen fahren können, Nicole. Aber du bist ja immer so pflichtbewusst.«

Nicole sah abwechselnd zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her.

»Du solltest mehr auf den Roland hören und auf seine Mutter und seinen Vater«, bemerkte Nicoles Vater. »Irgendwann lässt es sich ohnehin nicht mehr verheimlichen, dass du des Madl vom Juniorchef bist.«

»Ich muss mich setzen«, hauchte Nicole.

Sie sank auf einen Küchenstuhl, stützte die Arme auf und barg ihren Kopf in den Händen. Es drehte sich alles. Ein Gedanke jagte den nächs­ten in ihrem Kopf. Ihr war, als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig zu Boden sinken. War es die Überraschung, die Rolands Anwesenheit ausgelöst hatte? Es war jedenfalls ein Schock. Nicoles Herz hämmerte wild. Noch immer fühlte sie die Berührung von Rolands Lippen auf den ihren. Es war ihr, als hätten sich Abdrücke tief eingebrannt.

Was mache ich jetzt?

Nicole fiel keine Antwort ein. Sie stand zu sehr unter Schock.

»Bertl, hast du einen Obstler? Nicole schaut so blass aus. Vielleicht ist ihr die Überraschung, die ich ihr bereitet habe, nicht so gut bekommen.«

»Sicher, Roland! Trinken wir einen! Nicole wird sich schon wieder erholen. Sie ist eben so, wie sie ist, und hat ein Geheimnis aus dir gemacht. Hast das schon richtig gemacht, Roland. Mach dir keine Vorwürfe, des wird schon wieder. Die Nicole ist bestimmt froh, dass du hier bist, auch wenn sie ein bissel überrascht ist. Bist eben ein richtiger Mann und weißt, was zu tun ist. Und außerdem hatte ich dich auch eingeladen.«

Nicole konnte es nicht fassen, dass Roland und ihr Vater schon beim Du waren. Das war alles etwas viel für sie.

»Hier, Madl! Trink den Obstler!« Nicoles Vater reichte ihr das Glas.

Entnervt trank sie den Obstler.

»Du musst etwas essen, Nicole. Den Schinken, den kann ich dir empfehlen, und die selbstgemachte Leberwurst, die ist einfach eine Delikatesse!«

Roland lachte.

»Aber was erzähle ich dir da? Nicole, es ist ja dein Elternhaus.«

»Ich will nichts essen! Danke, ich habe unterwegs an einer Raststätte gegessen. Ich will nur schlafen!«

Nicole zuckte über ihre Äußerung zusammen. Schlafen! Himmel, wo würde Roland schlafen? Das schoss ihr wie ein Pfeil durch das Herz.

Als könnte Roland ihre Gedanken lesen, sagte er:

»Ganz wie du willst! Ich habe im Hotel ›Zum Ochsen‹ für uns reserviert. Es wird das Beste sein, wenn wir gehen. Komm, Nicole! Wir gehen jetzt ins Hotel. Morgen, wenn du schön ausgeschlafen hast, geht es dir besser!«

Roland griff nach Nicoles Reisetasche.

»Dann gute Nacht, Bertl, und dir auch, Martha. Es war ein unvergesslicher Tag für mich.«

»Ja, so war es, Roland! Euch beiden auch eine gute Nacht!«, sagte Bertl.

Martha kam auf ihre Tochter zu und streichelte ihr die Wange.

»Gute Nacht, mein liebes Madl!«

»Gute Nacht, Mutter! Gute Nacht, Vater«, hauchte Nicole.

Nicole fühlte sich wie in Trance. Fast willenlos überließ sie sich Roland und ergab sich in ihr Schicksal. Roland nahm sie bei der Hand, und sie gingen hinaus.

»Ich habe mein Auto in der Tiefgarage des Hotels stehen. Wir gehen die paar Schritte zu Fuß«, raunte er Nicole zu.

Diese nickte nur stumm. Sie ließ es geschehen, dass Roland seinen Arm um sie legte. Wortlos gingen sie die Hauptstraße entlang bis zum Marktplatz. Der Weg erschien ihr endlos.

*

Wie durch einen Schleier nahm Nicole wahr, wie sich Roland am Empfang des Hotels den Schlüssel geben ließ. Sie fuhren mit dem Aufzug hinauf in die oberste Etage des Hotels.

Nicole fand sich selbst und ihre Sprache erst wieder, als sie im Wohnzimmer der großen Suite standen.

»Es gibt zwei Schlafzimmer, Ni­cole. Welches möchtest du?«

»Was soll das? Wie kommen Sie dazu, Herr Doktor Roland Forster?«, brüllte sie, so laut sie konnte.

»Nicole, bitte beruhige dich!« Roland lächelte sie an. »Ich kann dir das alles erklären.«

»Für Sie immer noch Frau Anwander! Herr … Doktor … Forster!«, stieß Nicole hervor und betonte jedes Wort.

»Du siehst wunderbar aus, wenn du dich so aufregst. Ich kann mich gar nicht genug an dir satt sehen. Du hast ja wirklich Temperament. Ich bin begeistert.«

»Meine Begeisterung ist gleich Null, Herr Doktor Forster.«

»Roland!«

»Nein! Hören Sie auf, mich zu bedrängen!«

Nicoles Augen funkelten.

»Sie sind unverschämt. Ich kündige! Ich kündige mit sofortiger Wirkung!«

Roland brach in Lachen aus. Sein Lachen brachte Nicole völlig aus dem Konzept.

»Wieso lachen Sie? Da gibt es nichts zu lachen.«

»O doch!«

»Hören Sie auf! Aber wenn Sie sich weiter lächerlich machen wollen, bitte, das ist Ihre Sache. Ich betrachte das Gespräch für beendet.«

Nicole wandte sich um und strebte zur Tür. Roland war schneller. Er erreichte vor ihr die Tür, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Er lächelte sie triumphierend an.

»Geben Sie sofort die Tür frei! Schließen Sie auf!«

»Nein! Deine Kündigung ist unwirksam! Ich bin hier nicht dein Chef.«

»O doch, das sind Sie! Und Sie haben mich sexuell belästigt! Das ist ein Kündigungsgrund. Sie haben mich unerlaubter Weise umarmt und geküsst! Das lasse ich mir nicht bieten. Und jetzt sperren Sie mich ein.«

»Beruhige dich wieder, Nicole! Lass uns vernünftig miteinander reden.«

»Es gibt nichts zu bereden! Machen Sie die Tür auf.«

Roland verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen die Tür und schlug ein Bein über das andere.«

»Ich schreie um Hilfe!«

»Ich halte dich nicht davon ab. Außerdem wirst du das nicht wagen, nicht hier in Waldkogel.«

»Dann, dann lege ich Feuer! Ich löse die Alarmanlage aus.«

»Du bist sehr erfindungsreich! Ich liebe Frauen mit Fantasie!«

Nicole atmete schnell. Ihre Brust hob und senkte sich unter ihren Atemstößen. Sie sah, wie sein Blick an ihrem Ausschnitt hängen blieb.

»Nicole, es gibt hier zwei Schlafzimmer. Du hast die Wahl. Du kannst meinetwegen auch von innen ab­schließen. Ich lasse dir Zeit. Denke nach! Himmel, ich wollte dir doch nichts Böses. Ich wollte dir einen Gefallen tun und dir die Chance geben, mich näher kennenzulernen.«

»Das ist Ihnen gelungen, Herr Doktor Forster. Ich habe Sie von einer Seite kennengelernt, die mir bisher völlig unbekannt war. Sie sind völlig verrückt oder wie wir hier in Waldkogel sagen würden – Sie sind ein ungehobeltes deppertes Rindvieh, ein hirnloser Hornochse.«

»Ich könnte dich wegen Beleidigung verklagen!«

»Dann tun Sie es doch! Ich schwöre Ihnen, wenn ich hier raus bin, dann führt mich mein erster Weg zu Gewolf Irminger, dem Leiter der Polizeistation von Waldkogel. Ich werde Sie anzeigen, wegen sexueller Belästigung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Entführung, Beleidigung, Hausfriedensbruch bei meinen Eltern … und … und …« Nicole kam außer Atem.

»Du hast das schön aufgezählt. Ich als studierter Jurist könnte es nicht besser machen. Aber deine Eltern sind auf meiner Seite. Außerdem habe ich einen Trumpf in der Hand.«

»So, welchen? Das würde mich doch interessieren!«

»Sabine!«

»Was ist mir ihr? Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Nichts! Noch nichts! Aber das kann sich blitzschnell ändern!«

»Das ist Erpressung!«

»Nein – das ist Liebe. Ich will dich zu deinem Glück zwingen. Es ist höchstens Notwehr. Es gibt zwar keinen Paragraphen für ›Notwehr innerhalb der Liebe‹, aber es ist eine sehr interessante juristische Fragestellung.«

»Es ist höchstens Stalking, was Sie hier machen! Das ist auf jeden Fall strafbar.«

»Nun, wie wäre es mit lebenslänglich? Lebenslänglich an deiner Seite!«

»Sie sind verrückt!«

»Höchstens verrückt nach dir, Nicole.«

Nicole seufzte hörbar und machte mit den Armen und Hände eine Bewegung, die absolute Hilflosigkeit andeutete.

»Bist du zu Ende? Dann können wir vielleicht miteinander reden, wie das erwachsene, vernünftige Menschen normalerweise tun?«

»Kann ich danach gehen?«

»Ja, wenn du dann noch willst.«

Roland lächelte Nicole zu und ging an ihr vorbei zur Sitzgruppe und setzte sich in einen Sessel.

Nicole zögerte, überdachte ihre Lage und setzte sich in den Sessel, der am weitesten von dem Sessel entfernt stand, auf dem Roland saß. Sie saß aufrecht. Jeder Muskel ihres zierlichen Körpers war angespannt.

»Also, Herr Doktor Forster! Ich höre. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«

Roland presste die Hände aneinander wie zu einem Gebet.

»Also, wo fange ich an?«, sagte er zu sich selbst.

Er überlegte einen Augenblick.

»Gut! Also! Meine Mutter hat mir von dem Gespräch mit dir erzählt. Sie stellte es so dar, als bräuchtest du etwas Ermutigung. Da du ihren Vorschlag abgelehnt hast, mich als deinen Begleiter mit nach Waldkogel zu nehmen, wollte ich dich überraschen.«

»Das ist Ihnen gelungen, Herr Doktor Forster!«

»Nun, lass mich doch ausreden, Nicole! Bitte! Das war nicht so geplant. Ich wollte dich in Waldkogel abpassen. Ich rechnete mir aus, dass du bis zum frühen Abend hier ankommen müsstest. Ich ging also einige Stunden auf dem Weg vor eurem Hof auf und ab, immer hin und her. Schließlich kam dein Vater auf mich zu. Er grüßte mich freundlich und fragte, ob ich auf jemanden warten würde, am Ende vielleicht auf ein Madl? Ich lächelte verlegen. Was sollte ich antworten? Nein, das wäre eine Lüge gewesen. Ich wartete auf dich, wollte dich abfangen und mit dir reden. Dann hätten wir gemeinsam zu deinen Eltern gehen und du mich vorstellen können. Ich zögerte also. Dein Vater musterte mich von oben bis unten. Dann fragte er mich, ob ich dich kennen würde. Da musste ich zustimmen. Also nickte ich. Dann bist du am Ende der Bursche von unserer Ni­cole, fragte er mich. Mei, des ist ja eine Überraschung, strahlte er. Ja, mei Bub, dann musst doch net hier draußen auf des Madl warten. Komm’ mit ins Haus«, forderte er mich auf.

Roland sah, wie sich Nicole etwas entspannte und sprach weiter:

»Ich stellte mich vor. Dann nahm alles einen Verlauf, der so nicht vorgesehen war. Deine Eltern waren so herzlich zu mir. Sie tischten mir etwas zum Essen auf. Dein Vater brachte zwei Seidl mit Bier. Wir stießen an. Und plötzlich war ich mittendrin in der Geschichte. Sie stellten mir viele Fragen.«

»Welche?«

»Zum Beispiel, warum du nicht mehr von mir erzählt hast? Woher wir uns kennen? Seit wann wir ein Paar sind? Warum du ihnen nicht gesagt hast, wie ich heiße und der Juniorchef bin? Darauf hatte ich keine Antwort. Ich äußerte die Vermutung, dass du Angst gehabt hättest, einen Studierten heimzubringen, der dazu noch dein Chef ist. Ich suchte Antworten aus dem Bericht, den mir meine Mutter nach dem Mittagessen mit dir gegeben hatte.«

Roland lachte.

»Da hättest du mal deine Mutter hören sollen, Nicole. Sie schalt deinen Vater aus, dass dies seine Schuld sei, weil er immer so dumm daher geredet hätte.«

»Aber ich meinte des doch net so, Martha, verteidigte er sich. Er war sehr beschämt. Kannst net sehen, was für ein fescher Bursche der Roland ist. Es gibt doch Unterschiede. Und wenn die Nicole glücklich mit ihm ist, dann kann er dreimal Doktor und Jurist und Betriebswirt sein, des tut mich net stören. Dann bot er mir das Du an. Da konnte ich net ablehnen. Ich hoffte sehnsüchtig, dass ich dein Kommen hören würde. Ich wollte dich abfangen, bevor du hereinkommst. Aber das ging dann schief und zwar gründlich.«

»Das habe ich bemerkt. Dazu später. Wie ging es dann weiter?«

»Dein Vater zeigte mir das ganze Haus und alle Anbauten, die Ställe, die Fremdenzimmer und die Ferien­apartements. Wir redeten über Investitionen und Renditen. Schließlich saßen wir alle zusammen im Wohnzimmer. Deine Eltern fragten nach meiner Familie. Ich war vorbereitet. Ich hatte Bilder von einer der Betriebsfeiern dabei.«

»Welche?«

Roland stand auf und holte aus seiner Reisetasche einen Umschlag. Er schob ihn über den Tisch. Nicole betrachtete die Fotos.

»Da sind auch Bilder dabei, die nicht unmittelbar von der Betriebsfeier sind.«

»Ja, sie sind vom Sommerfest. Da hatten dich deine Freundin Tamara und Sabine abgeholt, weil dein Auto streikte. Erinnerst du dich?«

»Ja, viele Kollegen versuchten, den Motor in Gang zu bringen, auch als Tamara und Sabine schon da waren.«

»Ja, so war es! Der engagierte Fotograf hatte alles aufgenommen. Als ich die Bilder sah, freute ich mich sehr. Endlich hatte ich ein Foto, auf dem du und deine Tochter drauf waren. Das hatte ich aber aussortiert – nur für mich!«

»Dann haben meine Eltern das Bild gesehen, auf dem Sabine darauf ist?«, fragte Nicole mit klopfendem Herzen.

»Ja, das haben sie, und deiner Mutter gefiel das kleine Mädchen sehr gut. Übrigens, sie hat keine Ähnlichkeit mit dir festgestellt.«

»Das wollte ich gerade fragen.«

Nicole entspannte sich leicht.

»Ich muss dir sagen, dass deine Mutter nach der Kleinen fragte.«

»Was haben Sie ihr gesagt?«

»Die Wahrheit.«

Nicole schrie auf.

»Ganz ruhig! Ich habe nur die halbe Wahrheit gesagt, dass die Frau, die neben Sabine zu sehen ist, nicht ihre Mutter ist. Ich sagte, dass Sabine ein kluges, ein sehr wohlerzogenes Mädchen ist und die Tochter einer Mitarbeiterin … und ….«

»Und was? Nun beichten Sie schon!«

Roland bekam einen hochroten Kopf. Er wurde jetzt doch von Gewissensbissen geplagt.

»Also, ich sagte, dass meine Mutter die Kleine auch sehr mag. Ich sagte, dass Mutter das Mädchen sogar oft einlädt, weil sie Halbwaise ist und sie im Augenblick auch wieder eingeladen hat.«

»Eingeladen zu was?«, schrie Nicole.

»Du darfst aber nicht wütend werden. Es war ausschließlich Mutters Idee, und sie konnte deine Freundin Tamara auch dafür begeistern.«

»Es sind wohl alle verrückt geworden. Egal, was ihr ausgeheckt habt, ich will es sofort wissen! Sagen Sie es mir, ohne lange weitere Vorreden.«

»Gut! Meine Mutter, mein Vater, Tamara und Sabine sind auf der Berghütte!«

Nicole sprang auf, öffnete den Mund. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie fiel wieder auf den Sessel zurück.

»Das wird Folgen haben! Geben Sie mir sofort den Schlüssel! Ich will hier raus! Ich will zu meiner Tochter! Das ist Entführung!«

»Im streng juristischen Sinn …, es ist eine Auslegungssache! Du hast Sabine deiner Freundin Tamara anvertraut. Damit konnte sie auch den Aufenthaltsort bestimmen. Oder hattest du es ihr untersagt, mit Sabine einen Ausflug zu machen? Tamara meinte, ganz im Gegenteil, du hättest sie ermuntert, mit Bine ins Grüne zu gehen. Und die Wiesen und Wälder hier in den Bergen sind wunderbar grün.«

Nicole stöhnte. Sie rieb sich die Stirn.

»So ein abgekartetes Spiel! Na warte, Tamara! Das werde ich dir nicht vergessen«, schimpfte Nicole.

Sie seufzte tief. Sie war auf das Schlimmste vorbereitet.

»Wie brachte Tamara Sabine hierher? Sie muss mit ihr in der Dunkelheit aufgestiegen sein. Die Autobahn war voll, es war Stau. Es ist unverantwortlich mit einem Kind, das die Berge nicht kennt, nachts von der Oberländer Alm auf die Berghütte aufzusteigen. Das ist Leichtsinn!«

»Ganz ruhig, Nicole. Sie sind nicht aufgestiegen. Sie standen nicht im Stau. Meine Eltern haben unser Flugzeug genommen und danach einen Hubschrauber benutzt. Ich bin eng mit Toni befreundet. Er machte eine Ausnahme und ließ den Hubschrauber auf dem Geröllfeld vor der Berghütte landen.«

»Sie haben auch nichts ausgelassen, wie?«

Doch, dachte Roland ich habe dir noch nicht gesagt, dass ich dich liebe und einen Verlobungsring in der Tasche habe. Aber er entschied, dass es nicht der richtige Augenblick dafür war.

»Aber Sabine weiß nicht, dass ich …, dass sie hier Verwandte hat?«

»Nein«, sagte Roland leise.

»Gott sei Dank, wenigstens etwas!«, seufzte Nicole erleichtert.

Roland erzählte Nicole, wie begeis­tert Sabine von dem Flug gewesen war. Sie waren schon früh am Nachmittag auf der Berghütte. Sabine hätte sich sofort mit Sebastian und Franziska angefreundet.

»Du hättest sie sehen müssen, wie sie mit Bello vor der Hütte herumgetobt haben. Es war eine Pracht, zuzusehen. Ich spielte eine kurze Weile mit. Doch dann musste ich los, weil ich dich treffen wollte. Sabine ist ein wunderbares Mädchen. Das habe ich ihr auch gesagt.«

Roland brach in Lachen aus.

»Sie ist sehr schlagfertig. Sie sagte, ich sei auch super und fragte, ob ich in Zukunft öfters mir ihr spielen könnte. Ich könnte die Bälle so weit werfen.«

»Mm!« Mehr konnte Nicole nicht hervorbringen.

»Franziska fragte Sabine dann, ob sie keinen Vater habe. Sabine sagte, dieser sei gestorben. Dann meinte Franzi, das wäre bei ihr genauso. Aber jetzt würden sie Baumberger heißen. Toni und Anna hätten sie adoptiert. Vielleicht kann dich Roland auch adoptieren, schlug Franzi vor, dann hast du wieder einen Vater, meinte sie.«

Nicole hörte jetzt stumm zu. Sie war einfach sprachlos.

»Mache dir keine Sorgen, Nicole! Sabine geht es gut. Sie hat gut gegessen und schläft heute Nacht bei Franziska im Zimmer.«

»Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

»Ja, ich habe Sabine einen Hund versprochen. Sie ist ganz vernarrt in Bello.«

»Das wundert mich nicht. Bine liebt alles, was vier Beine hat.«

»Ich dachte mir, ihr einen kleinen Hund zu schenken. Bitte, lass mich den Wunsch erfüllen.«

Nicole schaute Roland nur an.

»Nun sage etwas, bitte!«

»Ich kann nichts sagen. Mir fehlen die Worte. Ich bin völlig überrumpelt.«

»Darf ich dir einen Vorschlag machen? Bitte, höre ihn an!«

»Anhören kann ich ihn ja, Herr Doktor Forster!«

Roland schlug vor, den Geburtstag von Nicoles Vater zu feiern und sie in dem Glauben zu lassen, dass er und sie ein Paar wären. Sie würden dann abreisen und die Autos in Kirchwalden unterstellen. Toni hätte einen Hubschrauberflug der Bergwacht organisiert. Im Rahmen eines Übungsfluges würde Leo, der Leiter der Bergwacht in Kirchwalden, sie am frühen Morgen zur Berghütte bringen.

»Wir verbringen dann einige schöne Tage gemeinsam auf der Berghütte. Meine Eltern reisen übermorgen wieder ab. Sie nehmen Tamara mit zurück.«

»Dann wären wir mit Sabine alleine!«

»So ungefähr! Aber auf der Berghütte sind wir nie alleine. Wenn wir alleine sein wollen, dann müssten wir schon zum ›Erkerchen‹ gehen oder zum ›Paradiesgarten‹ hinaufwandern. Wie gefällt die mein Vorschlag, Nicole?«

»Ich muss darüber nachdenken, eine Nacht darüber schlafen!«

»Das verstehe ich! Also, es ist auch spät. Wir sollten schlafen gehen. Welches Schlafzimmer nimmst du?«

Roland fasste in die Hosentasche und legte den Schlüssel auf den Tisch.

»Bitte«, sagte er leise.

Nicole griff nach dem Schlüssel. Sie drehte ihn spielerisch zwischen den Fingern hin und her. Dann legte sie ihn wieder auf den Tisch.

»Ich nehme das Schlafzimmer dort!«, bemerkte sie.

Dabei schaute sie Roland nicht an. Sie stand auf und nahm ihre Reisetasche.

»Gute Nacht, Herr Doktor Fors­ter«, sagte sie leise, und dabei klang ihre Stimme nicht mehr ganz so hart.

»Gute Nacht, Nicole! Träume schön! Danke, dass du bleibst!«

Nicole schaute ihn nicht an, als sie nickte. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Sie zog die Tür hinter sich zu. Roland hörte, wie sie von innen abschloss.

Du kannst dich ruhig einschließen, Nicole, dachte er. Bald übergibst du mir den Schlüssel zu deinem Herzen. Du bist schon auf dem halben Weg dorthin, auch wenn du es nicht zugeben willst.

*

Nachdem Nicole gegangen war, trat er hinaus auf die Terrasse der Suite und setzte sich in einen der Liegestühle und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen.

In Gedanken erlebte er den Abend noch einmal, an dem seine Mutter ihm von dem Mittagessen mit Nicole erzählt hatte. Rolands Großeltern waren auch dabei gewesen.

Wie sich in einer Familie alles wiederholt, dachte er und musste schmunzeln. Sein Großvater musste hart um Großmutter werben, die im Verlag arbeitete. Sie glaubte ihm anfangs nicht, dass er es ernst meinte und nicht nur ein Abenteuer mit einer Angestellten suchte. Sein Vater verliebte sich damals in Juliana und hatte es ähnlich schwer. Die junge Werbeleiterin verstand zwar viel von Werbung, war aber seiner Werbung um sie selbst lange Zeit völlig immun. So sah es nach außen aus. Sie konnte ihre Liebe gut verstecken. Erst der schriftliche, sogar notariell beglaubigte Heiratsantrag öffnete ihr Herz. Und jetzt bin ich an der Reihe. Jetzt werbe ich um Nicole und zwar schon seit Jahren. Vielleicht ist es Schicksal in unserer Familie, dass es so kommt. Aber danach waren die Ehen stabil und widerstanden jedem Sturm, wie sehr ihnen das Leben den Wind auch ins Gesicht blies.

Rolands Herz sehnte sich so nach Nicole. Er machte sich Hoffnungen. Immerhin war sie geblieben, als ich ihr den Schlüssel auf den Tisch legte. Vielleicht sollte ich ihr auch einen notariell beglaubigten Heiratsantrag machen, überlegte er. Ich könnte ihn ihr zusammen mit dem Ring zustellen lassen. Dann würde ich mich aber um einen der schönsten Augenblicke im Leben bringen. Er lächelte. Sabines Herz habe ich schon erobert. Wenn Nicole sieht, wie sehr ihre kleine Tochter mir zugetan ist, dann habe ich bei ihr bestimmt einen Bonus.

Das, was heute geschehen ist, muss sich für Nicole angefühlt haben wie ein Sturm, der über sie hereingebrochen ist, wie riesige Wellen eines Tsunamis, der sie begraben hat. Ich werde mich morgen bei ihr entschuldigen, dachte Roland, und ich werde versuchen, ihr zu sagen, dass ich sie liebe.

Rolands Herz pochte heftig, während er an Nicole dachte. Es klopfte aber auch vor Angst, dass sie seine Annäherung ablehnen könnte. Er hatte alles ganz anders geplant, beteuerte er zu seiner Verteidigung sich selbst gegenüber. Aber dann hat das Leben einen Strich durch das Drehbuch gemacht. Ich musste sie küssen, sonst wäre es ihren Eltern gegenüber nicht glaubhaft gewesen. Außerdem wollte ich sie küssen. So eine Gelegenheit konnte ich mir doch nicht entgehen lassen, sagte er sich und schmunzelte. Wie wunderbar sich ihre Lippen anfühlten, erinnerte er sich, so weich und sanft. Küsse sagen so viel. Sie muss gespürt haben, dass ich sie liebe, dass es nicht nur Theaterdonner war. Es waren zwar nur Sekunden, in denen sich unsere Lippen berührten, aber in diesen flüchtigen Kuss legte ich all meine Liebe.

Roland sah hinauf in den Nachthimmel über Waldkogel. Es war Vollmond. Der Mond stand groß und silberhell leuchtend in einem Meer von Sternen.

Welch eine traumhaft romantische Nacht, dachte Roland. Es gäbe nichts Schöneres auf Erden und im Universum, als jetzt Nicole in den Armen zu halten. Er sehnte sich so nach ihr. Er hatte sie heute von einer neuen Seite erlebt. Nicole konnte richtig Temperament zeigen. Das Eis der Sachlichkeit und der Distanz hatte sie aufgegeben. Ihre Augen haben gefunkelt. Sie war so schön in ihrer Wut und ihrem Ärger auf mich, dass sie noch attraktiver wirkte.

Wortlos schickte Roland all sein Sehnen hinauf in die Unendlichkeit des Universums. Roland war Jurist und Betriebswirt, und normalerweise bestimmte sachliches Denken sein Handeln. Doch jetzt war alles anders, das hatte Nicoles Nähe bewirkt.

Also, wenn es dort oben irgendwo die Macht gibt, von der die Menschen sagen, dass sie Wunder vollbringen kann, dann wende ich mich hier und jetzt an sie. Ich liebe Nicole. Sie ist mein Leben. Ich liebe ihre kleine Tochter und wünsche mir nichts mehr, als Nicole zu meiner Frau zu machen und ihre kleine Sabine zu meinem Kind. Ich will die beiden mit Liebe und Zuneigung und Fürsorge überschütten. Ihnen soll es an nichts fehlen, was man mit Geld kaufen kann und an liebevollen Gefühlen. Sie werden alle Liebe bekommen, die ich aufbringen kann. Wenn es eine Macht der Liebe gibt, dann bitte ich dich um Beistand. Lass es wahr werden. Rühre Nicoles Herz an, damit sie erkennt, wie sehr ich sie liebe. Lass mich ihr Vertrauen und ihre Liebe gewinnen. Bitte!

Roland saß noch eine Weile auf der Terrasse und träumte, wie es sein könnte, wenn Nicole und er ein Paar wären. Er machte Pläne, die elterliche Villa am See vor den Toren Berlins anzubauen. In Gedanken sah er Sabine mit einem kleinen wuscheligen Hund durch den Garten toben, während er und Nicole auf der Terrasse saßen und neben ihnen in der Wiege ein Säugling schlief. Bei all seinen Träumen fühlte er Nicoles Lippen auf den seinen und roch den Duft ihrer Haare und ihrer Haut, den er für einige flüchtige Augenblicke wahrnehmen durfte. Er sehnte sich danach, ihren Körper mit Küssen zu bedecken, sie in seinen Armen zu halten und zu lieben.

Ich muss warten, sagte er sich, und hoffen. Ich vertraue der Liebe, sagte er sich. Mutter sagt immer, dass allein die Liebe Wunder vollbringen könne.

Roland stand auf. Er schlich auf Socken und Zehenspitzen zu

Nicoles verschlossener Schlafzimmertür. Dort lehnte er seine Wange an das Holz. Er dachte an Nicole und schickte ihr in Gedanken all seine Liebe und Zuneigung.

Dann legte er sich schlafen.

*

Nicole hatte sich im Badezimmer, das zu ihrem Schlafzimmer gehörte, ein heißes Bad einlaufen lassen. Sie legte sich in das Schaumbad. Die Beleuchtung im Badezimmer hatte sie nicht angemacht. Durch die offene Tür zum Schlafzimmer fiel das gedämpfte Licht der Nachtischlampe.

Nicole streckte sich aus und schloss die Augen. Sie konnte nicht mehr denken. Ihr sonst so sachlicher Verstand versagte einfach. Es war ihr unmöglich, sich die Sätze und Worte zurechtzulegen, die sie ihm am nächs­ten Morgen vortragen wollte. Immer wenn sich Nicole sicher war, dass der Satz gut war, entfiel er ihr wieder, und sie sah seine wunderbaren braunen Augen vor sich. Nicole gestand sich ein, wie gut ihr Roland gefiel. Sie erinnerte sich, wie der alte Chef ihr am ersten Arbeitstag seinen Sohn vorgestellt hatte. Schon beim ersten Blick hatte ihr Herz geklopft. Wie wütend war sie damals auf sich gewesen. Sabine war erst einige Wochen alt, und Nicole hätte jeden heiligen Eid geschworen, dass ihr Herz beim Anblick eines Mannes nie mehr schneller schlagen würde. Aber es hatte es getan. Nicole hatte eine ganze Weile gebraucht, bis sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte.

Doch mit meiner eisernen Disziplin ist es mir gelungen, die Distanz zu halten. Niemals habe ich mich wieder vergessen, tröstete sie sich. Das ist jetzt über neun Jahre her. Ausdauer hat der Juniorchef schon, das muss man ihm lassen, sagte sich Nicole. Er war zielstrebig und ausdauernd im Beruf. Das wusste sie. Aber nach dem Gespräch mit Jule und noch mehr nach diesem Abend war Nicole klar, dass er auch im Privatleben sein Ziel mit allen Mitteln verfolgte, die ihm zur Verfügung standen. Und wenn er nicht über die nötigen Mittel und Wege verfügte, dann verschafft er sie sich, dachte Nicole.

Sie gab sich selbst gegenüber zu, dass sie sich geschmeichelt fühlte, auch wenn er sie überrumpelt hatte.

Doch wie sollte es weitergehen, überlegte Nicole. Nachdem ihre Eltern Roland aufgenommen hatten, erwartete sie von dieser Seite keine Schwierigkeiten. Sabine schien Roland auch zu mögen. Jule war eine liebe Frau, voller Mütterlichkeit. Und Rolands Vater kannte sie sehr gut. Es hieß ja, dass die Sekretärin den Mann oft besser kenne, als dessen eigene Ehefrau. Im Fall von Doktor Friedhelm Forster konnte Nicole nur sagen, dass er ein feiner Charakter war, ehrlich und zuverlässig. Er war seiner Frau treu, ein gutes Vorbild für seinen Sohn, in jeder Beziehung.

Dass Jule nun doch erreicht hatte, dass Roland in Waldkogel war und sich als Nicoles Liebster ausgab, das verzieh ihr Nicole. Sie hat es nicht böse gemeint. Immerhin habe ich auf diese Weise erfahren, dass meiner Mutter Sabine auf dem Foto aufgefallen ist und ihr Bine gefällt.

Das war Nicole ein großer Trost. Vielleicht werden Mutter und Vater ihre Enkelin doch noch in ihr Herz schließen, eines fernen Tags, überlegte Nicole. Sie sehnte sich so danach, endlich das Versteckspiel aufzugeben. Nicole dachte sich verschiedene Möglichkeiten aus, wie sie mit ihren Eltern darüber reden könnte. Sie wusste, Klarheit würde in mehreren Schritten geschaffen werden müssen. Bevor ich daran gehe, mit meinen Eltern über meinen Sündenfall zu sprechen, muss ich mit Sabine reden, dachte Nicole. Sie überlegte sich die Worte, die sie zu ihr sagen wollte. Ich werde von der Liebe reden. In zehn Jahren ist Sabine eine junge Frau. Die Zeit vergeht schneller, als man denkt. Ja, Tamara hat Recht, ich muss etwas unternehmen.

Nicole ließ noch weiteres warmes Wasser einlaufen und überlegte. Sie wusste nicht genau, wie sie es anstellen sollte. Aber sie entschloss sich dazu. Das ist ein erster Schritt, dachte sie. Ich werde mit Jule reden. Sie kann mir vielleicht einen Rat geben. Nicole musste schmunzeln. Es darf aber kein Rat sein, der eine solche Überraschung auslöst wie ein Erdbeben mit der Stärke Zehn auf der Richterskala. Ich muss nicht jetzt, nicht heute Nacht und auch nicht gleich morgen entscheiden, wie ich vorgehe. Wichtig ist nur, dass ich es tue.

Nicole war etwas zufriedener mit sich und ihrem Schicksal. Und sie gestand sich ein, dass Roland einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hatte, auch wenn er etwas gewaltsam vorgegangen war.

Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, zog Shorts und ein T-Shirt an und legte sich ins Bett. Sie kuschelte sich in die Kissen. Vor dem Einschlafen musste sie immer noch an Rolands flüchtigen Kuss denken. Es breitete sich dabei ein schönes Gefühl in ihrem Herzen aus, ein Gefühl, das sie jahrelang verdrängt hatte. Sie erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wie es damals bei Sabines Vater gewesen war. War es auch so? War es anders? Wahrscheinlich war es anders, höchstens ähnlich. Es war Guido, nicht Roland. Es muss anders gewesen sein, dachte Nicole.

Und mit einem stillen Lächeln stellte sie sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie ihn einfach zurückgeküsst hätte. Träumen darf ich davon, dachte sie. Träume gehören nur mir, niemand kennt sie, außer mir. Nicole spürte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Sehnsucht nach inniger Zweisamkeit in ihrem Herzen. Es wäre schön, nicht mehr alleine zu sein. Sie sehnte sich nach einer vertrauten, einer zuverlässigen Schulter, der eines starken, eines liebenden Mannes. Doch sich ganz auf Roland einzulassen, dagegen wehrte sich Nicole noch. Sie war zu ärgerlich über den unerwarteten Überfall. Er hätte auch zu mir ins Büro kommen und es mit mir bereden können, sagte sie sich. Im gleichen Augenblick war ihr klar, dass es dann nie so weit gekommen wäre.

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Roland. Mit diesen Gedanken und uneingestandenen Sehnsüchten im Herzen glitt sie hinüber in das Land der Träume.

*

Das Geräusch eines zaghaften und doch dauerhaften Klopfens holte Nicole am nächsten Morgen in die Wirklichkeit zurück. Sie brauchte einen Moment, bis sie ganz wach war. Mit einem Ruck setzte sie sich im Bett auf.

»Oh, Himmel! Das war kein Traum!«, sagte sie laut.

Das beständige Klopfen hörte auf.

»Nicole, bist du wach? Habe ich dich eben gehört?«

Roland! Ihr Herz klopfte. Sie riss sich zusammen und antwortete:

»Ja, ich bin wach!«

»Guten Morgen! Geht es dir gut?«

»Ja, es geht mir gut! Danke, dass Sie mich geweckt haben. Es ist schon spät.«

»Ich habe Frühstück für zwei bringen lassen.« Und vorsichtig fügte Roland hinzu. »Machen wir ein Arbeitsfrühstück und bereden unsere gemeinsame Vorgehensweise. Bist du damit einverstanden?«

»Klingt vernünftig! Geben Sie mir einen Augenblick, Herr Doktor Fors­ter. Ich bin gleich fertig!«

»Ich bin auch noch nicht für das Fest angezogen. Mein Anzug wird noch aufgebügelt. Ich bin im Bademantel, nur damit du gewarnt bist.«

»Danke, für die Warnung!«

»Gern geschehen! Es ist also kein Bruch der Etikette, wenn du dich ebenfalls im Bademantel an den Tisch setzt. Ich warte, der Kaffee wird kalt.«

»Gibt es hier im Hotel keine Warmhaltekanne?«

»Er wird trotzdem kalt!«

Nicole seufzte leise.

»Gut, einen Augenblick!«

»Schön, ich schenke dann schon den Kaffee ein!«

»Nein, tun Sie das nicht. Das möchte ich nicht!«

»Das gehört vielleicht zu deinen Aufgaben im Vorzimmer bei meinem Vater. Aber du hast gestern gekündigt, erinnerst du dich?«

Roland lauschte an der Tür. Er hörte nichts mehr. Er trat zurück, rieb sich die Hände.

»Gutes Zeichen«, sagte er leise zu sich selbst.

Er stellte sich neben den Frühstückstisch und wartete.

Es dauerte nicht lange, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss, und Nicole kam heraus. Sie trug eine enge schwarze Hose und eine weiße Bluse.

»Guten Morgen, Herr Doktor Fors­ter!«

Er schob ihr den Stuhl hin.

»Guten Morgen, Nicole! Du siehst großartig aus!«

Nicole setzte sich. Roland nahm gegenüber Platz. Er war wirklich im Bademantel. Sie warf ihm scheue Blicke zu. Ihr Herz klopfte. Sie ermahnte sich zur Disziplin.

Nicole räusperte sich nach einer Weile.

»Herr Doktor Forster! Ich möchte mich bei Ihnen in aller Form entschuldigen für meine überzogene Reaktion gestern Abend. Ich war von der unerwarteten Situation sehr überrascht, um nicht zu sagen überrumpelt. Ich kam in Panik. Und in dieser Lage habe ich Ihnen Wörter an den Kopf geworfen und Ihnen Vorhaltungen gemacht, die ich heute bedauere. Ich möchte Sie bitten, meine Kündigung …, also ich möchte gerne weiterhin in Ihrem Verlag tätig sein.«

Roland kostete es viel Kraft, sich zu beherrschen. Sie sieht so rührend aus, wenn sie zerknirscht ist, dachte er. Er stand auf und schenkte ihr und sich Kaffee ein. Dann setzte er sich langsam wieder hin. In Zeitlupe bestrich er ein Brötchen mit Butter.

»Ich könnte den Ausrutscher vergessen. Aber ich stelle eine Bedingung!«

»Die ist?«

Er sah ihr über den Tisch tief in die Augen. Nicole konnte seinem Blick kaum Stand halten.

»Bedingung ist, dass du endlich aufhörst, mich Doktor Forster zu nennen. Ich bin Roland für dich!«

Nicole schluckte.

»Gut, einverstanden – aber nur wenn wir allein sind. Sie wissen …«

»Falsch! Grober Fehler! Du

weißt …, muss es heißen.«

Nicole seufzte hörbar.

»Gut, dann … Also, du weißt, dass im Verlag gern geredet wird. Ich möchte nicht, dass diese kleine Intimität, dass wir uns duzen, Anlass zu Gerüchten gibt.«

Er sah, wie sich Nicoles Wangen färbten.

»Darüber werde ich noch einmal nachdenken. Beschränken wir diese Intimität der Anrede, wie du es nennst, auf die Zeit des gemeinsamen Aufenthaltes hier in Waldkogel. Einverstanden?«

»Auf den Aufenthalt in der Gegenwart meiner Eltern, Verwandten und so weiter …«

Roland schüttelte den Kopf.

»Danach wird neu verhandelt. Aber bis dorthin bleibt es ausschließlich beim Du. Es könnte uns jemand hören, und das wäre gefährlich.«

»Gut, einverstanden! Ich muss klein beigeben.«

»Heißt das, du bist bereit, das Spiel weiterzuspielen?«

»Habe ich eine andere Wahl?«

»Im Augenblick nicht, denke ich! Was hat dich zum Umdenken bewogen?«

»Reiner Pragmatismus!«

»Aha, reiner Pragmatismus also – soso. Und was genau?«

»Nun, es ist einfach praktisch und außerdem habe ich etwas gutzumachen.«

»Deine Beschimpfungen von ges­tern verzeihe ich dir!«

»Danke!«

»Du musst mir nicht danken! Es war nicht fair, wie das gelaufen ist. Vielleicht hätte ich dich nicht einfach so küssen dürfen. Nicht, dass ich es bedauere, ganz im Gegenteil. Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm für dich!«

»Nein, es war in der Situation unvermeidbar. Das sehe ich ein.«

»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Es kann sein, dass die Situation nach einer Wiederholung verlangt. Ich hoffe, dir ist das klar. Es wäre unglaubhaft, wenn wir nicht ein wenig turteln würden, das gehört nun mal dazu.«

»Wenn es denn sein muss, bitte! Aber es muss im Rahmen bleiben.«

»Du kannst dich auf mich verlassen. Du kennst mich. Wenn ich mein Wort gebe, dann halte ich es auch.«

»Das weiß ich!«

Sie lächelten sich zum ersten Mal an. Nicole errötete und senkte den Blick. Roland ließ Nicole Zeit. Sie fingen an zu essen.

»Können wir jetzt die anderen Punkte besprechen?«, fragte Roland nach einer Weile.

»Welche?«

»Gemeinsamer Aufenthalt in den Bergen und den Hund für Sabine. Du kannst mir den Wunsch, Sabine einen Hund zu schenken, nicht versagen.«

»Das will ich auch nicht. Aber Sabine ist den ganzen Tag in der Schule und nachmittags in der Tagesstätte. Der arme kleine Hund wäre dann den ganze Tag allein in unserer Wohnung eingesperrt.«

»Du nimmst ihn einfach mit ins Büro!«

»Du hast auf alles eine Antwort und eine Lösung, wie?«

»Sicher, ich bemühe mich darum. Bevor du weiterer, Argumente anführst, möchte ich dir etwas zeigen. Hund ist nicht gleich Hund! Ich habe mir bereits viele Gedanken gemacht und im Internet nach Hunderassen geforscht. Ich habe einige Rassen ausgesucht. Wir müssen nur noch gemeinsam entscheiden, wobei du, als Sabines Mutter, natürlich das letzte Wort hast.«

Roland legte Nicole einige Ausdrucke vor. Sie sah sich die Bilder an. Auf allen Ausdrucken waren Welpen abgebildet. Darunter stand eine ausführliche Beschreibung der jeweiligen Hunderassen.

»Die sind alle so süß. Da schmilzt mein Herz! Die möchte man ja alle gernhaben und knuddeln!«

»Oh, sage mir bei welcher Rasse dein Herz am meisten schmilzt und ich verwandele mich sofort in einen Hund wie im Märchen.«

»Roland!«, sagte Nicole.

»Was ist denn? Wie soll ich dir sonst sagen, dass ich dich mag. Du weigerst dich seit Jahren, mich überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Da musst du schon in Kauf nehmen, dass mir solche Bemerkungen herausrutschen.«

Nicole seufzte tief.

»Gut, dann sage ich dir, dass ich dich zur Kenntnis genommen habe. Ich sage dir auch, dass ich dir auch dankbar bin, dass du meiner Mutter eine Bemerkung über Sabine entlockt hast. Sie weiß zwar nicht, dass Bine ihre Enkelin ist, aber es hat mich sehr gefreut.«

»Gern geschehen! Welcher Hund soll es sein? Oder willst du ihn Sabine aussuchen lassen?«

»Geschenke kann man sich höchst selten aussuchen. Außerdem denke ich, dass es besser ist, wir entscheiden.«

»Wir! Diese Antwort gefällt mir. Es sind vier Rassen, von denen ich denke, dass sie in Frage kommen, Havaneser, Lhasa-Apso, Malteser und kleine Pudel. Die ersten drei Rassen müssen jeden Tag gekämmt werden. Pudel haben keinen Haarwechsel und sind deshalb auch pflegeleicht. Meine Großeltern hatten früher zwei Königspudel.«

»Sabine wird ihren Hund bestimmt mit Begeisterung bürsten, kämmen und baden. Ich denke, ich muss sie eher zur Zurückhaltung anhalten, als sie dazu aufzufordern, sonst hat der Hund bald kein Fell mehr.«

Sie lachten beide.

»Was schlägst du vor, Roland? Du schenkst den Hund, also suchst du ihn aus.«

»Dann bist du damit einverstanden? Damit machst du mir eine große Freude. Also, ich würde einen Lhasa-Apso nehmen. Dieser Rasse, die ursprünglich von den Tibetern gezüchtet wurde, sagt man nach, dass sie Botschafter des Friedens und des Glücks sind. Vielleicht bringt er etwas Frieden zwischen uns für den Anfang und später auch Glück?«

Nicole räusperte sich. Sie verstand Rolands Anspielung, überging sie aber bewusst.

»Gut, einverstanden! Dann kannst du, darfst du Sabine einen Hund schenken.«

Rolands Augen leuchteten. Er nahm den Ausdruck und tippte die Nummer eines Züchters in sein Handy ein, der ganz in der Nähe von Kirchwalden war. Roland machte einen Termin aus.

»Wir fahren mit Sabine hin. Sie haben viele Welpen. Sie kann sich einen aussuchen.«

Nicole nickte.

»So, dieser Punkt auf meiner Liste wäre abgehakt. Nun kommen wir zu der Feier. Wir spielen ein Paar. Abends gehen wir wieder hierher und geben vor, am nächsten Morgen sehr früh nach Berlin fahren zu wollen, wie ich es dir gestern schon vorgeschlagen habe.«

Nicole wiegte den Kopf hin und her.

»Ich bin einverstanden, mit dir und auch mit Sabine einige Tage zu verbringen. Aber muss es die Berghütte sein? Nicht bei Toni und Anna, das will ich nicht! Es lässt sich nicht verhindern, dass mich Sabine anspricht. Meistens sagt sie Nicole oder Nicky zu mir, aber gelegentlich nennt sie mich Mama. Dann erfahren Toni und Anna, dass Sabine mein Kind ist.«

»Ich verstehe deine Bedenken, Nicky! Aber ich kann mit Toni und Anna reden. Franzi und Basti kennen dich nicht. Sie wissen nicht, dass du aus Waldkogel bist und dass deine Eltern hier leben. Der alte Alois hält bestimmt auch dicht, außerdem kommt er nur noch selten ins Dorf herunter. Du hast nichts zu befürchten. Auf Toni ist Verlass. Er kennt deinen Vater und kann dich bestimmt verstehen, dass du so ein Geheimnis aus Sabine gemacht hast. Bine war so glücklich mit Franziska und Sebastian. Gönne ihr doch noch einige Tage mit ihnen auf der Berghütte!«

Nicole überlegte.

»Gut, irgendwann muss ich über meinen Schatten springen. Dann gehen wir aber nicht zusammen zur Berghütte. Du gehst vor, ich komme nach. Du redest zuerst mit Toni.«

»Das mache ich! Du kannst dich auf mich verlassen! Ich weiß, wie groß dieser Schritt für dich ist. Dann gehe ich am Abend noch hinauf auf die Berghütte und du kommst am Morgen nach. Wir telefonieren vorher.«

»Du bist ein guter Planer!«

Roland grinste.

»Mein gestriger Plan hat mir Probleme bereitet. Manchmal will ich es etwas gewaltsam zu einer Entscheidung bringen. Das wäre beinahe schiefgegangen.«

Das Telefon klingelte.

Roland stand auf und nahm das Gespräch an. Er hielt die Hand über die Muschel und flüsterte:

»Es ist dein Vater, Nicky!«

Nicky wehrte mit beiden Händen ab. Sie legte den Kopf auf die Hände und zeigte eine Schlaflage.

»Bertl, die Nicky schläft noch! Ich will sie nicht wecken. Sicher wolltest du mich fragen, wann wir kommen. Du, das wird noch etwas dauern.«

»Mei, auf der einen Seite verstehe ich des. Aber ich wollte mit Nicole reden, bevor ihr herkommt. Ich habe da eine großartige Idee. Aber Nicole ist ein bissel stur, und ich kann des net einfach so machen, sonst reist sie am Ende sofort wieder ab.«

Bertram Anwander räusperte sich. Roland spürte, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Weißt, Bub, es betrifft auch dich!«

»Dann sage es mir, Bertl, wenn es dir weiterhilft.«

»Ja, wenn du meinst!«

Roland hielt wieder die Sprechmuschel zu und flüsterte Nicky zu.

»Dein Vater hat ein Problem!«

Dann lauschte Roland. Nicole sah, dass Roland große Augen bekam. Schließlich räusperte er sich.

»Im Prinzip kann ich das verstehen, Bertl. Allerdings will ich Nicoles Entscheidung darüber nicht vorgreifen. Du weißt, wie eigen sie ist. Sie war mir gestern nicht gerade wohlgesonnen, dass ich sie so überlistet habe. Aber jetzt sind wir uns wieder einig. Ich werde es ihr sagen.«

Nicky stand vom Stuhl auf und lief nervös auf dem Teppich auf und ab.

»Weißt, Bertl, ich verstehe dich. Aber so eine Feier wäre etwas einseitig, weil …«

Roland lauschte wieder, und Ni­cole musste sich zurückhalten, um Roland nicht den Hörer wegzunehmen. Sie vermutete schon, dass eine weitere große Komplikation drohte.

»Genau, Bertl! So ist es! Ich werde es mit Nicky bereden, sobald sie aufgestanden ist. Wir kommen dann bald! Grüße mir Martha.«

Roland legte auf.

»Nicky, ich brauche einen Cog­nac!«, stöhnte Roland.

Er holte sich einen Cognac und schenkte Nicole auch gleich einen ein. Dann reichte er Nicole den Cog­nacschwenker und ließ sich auf die Couch fallen.

»Was ist los? Rede schon, Roland!«

»Dein Vater will, dass wir heute an seinem Geburtstag unsere Verlobung bekanntgeben.«

»Nein! Das kann doch nicht sein Ernst sein?«

Nicoles Augen weiteten sich vor Schreck, als hätte sie den Teufel aus dem »Höllentor« steigen gesehen.

»Doch!«

»Nein! Nein! Und nochmals Nein!«, brüllte Nicky. »Da siehst du es, wie stur er ist. Alles muss immer nach seinem Kopf gehen.«

»Ja, ja, ja! Du hast mich überzeugt. Ich werde mit ihm reden. Er mag mich. Mir werden schon die richtigen Argumente einfallen. Es ist sein Geburtstag. Wir wollen unsere Verlobung separat feiern, zusammen mit meinen Freunden und Verwandten. Das werde ich ihm sagen.«

Roland prostete ihr zu, und sie tranken.

Danach saßen sie eine Weile stumm nebeneinander auf der Couch im großen Wohnzimmer der Suite. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Irgendwann sagte Roland:

»Ich werde mich dann mal anziehen und mich auf den Weg machen, Nicky. Wenn ich mit deinem Vater geredet habe, rufe ich dich an. Du kommst nach.«

»Ich danke dir, Roland!«

»Gern geschehen, Nicky!«

Das sagte Roland, und insgeheim dachte er, es hätte gut gepasst. Den Verlobungsring habe ich dabei. Aber noch war nicht der richtige Augenblick gekommen. Er wusste, dass er Nicole nicht bedrängen durfte, um nicht diese erste zarte Annäherung zunichte zu machen.

Roland zog sich in seinem Schlafzimmer um.

»Ich gehe, Nicky.«

Nicole lächelte ihm zu. Sie saß immer noch auf der Couch und hielt das Glas mit dem Rest des Cognacs in den Händen.

Roland ging hinaus und zog leise die Tür der Suite zu. In der Hosentasche seines Anzugs steckte die kleine Schachtel mit dem Ring für Nicole. Seit dem Kauf trug er den Ring immer mit sich herum, in der Hoffnung auf den richtigen Augenblick.

Er wird schon kommen, der richtige Augenblick, tröstete er sich, während er im Aufzug nach unten ins

Foyer des Hotels fuhr. Der Augenblick kommt – der Augenblick kommt – der Augenblick kommt, wiederholte Roland in Gedanken, wie ein Mantra.

*

Roland hielt Wort und rief Nicole bald an.

»Ich habe mit deinem Vater geredet. Er war einsichtig. Mache dir keine Sorgen, Nicky!«

»Danke, Roland!«

»Kommst du jetzt? Es sind schon eine Menge Gäste hier.«

»Ja, ich mache mich auf den Weg.«

Als Nicole auf dem Hof ankam, lief sie ihrem Vater in die Arme. Sie gratulierte ihm zum Geburtstag.

»Ist schon recht, Madl. Du hast mir das schönste Geschenk bereits gemacht.«

Nicky lächelte verlegen. Zum Glück kamen weitere Gäste, um ihm zu gratulieren. So ging das den ganzen Tag. Es gab Bier vom Fass, und es wurde auf dem Hof gegrillt. Ni­cole, ihre Mutter, ihr Bruder Gerd und seine Frau sorgten für das leibliche Wohl der Gratulanten. Bertram war nur am Reden und Plaudern. Dabei ließ er Roland nicht von seiner Seite. Jedem stellte er Nicoles Freund vor. Es war ihm anzusehen, wie stolz er auf diese gutaussehenden Burschen war. Nicole wurde zu ihrer guten Wahl beglückwünscht. Den ganzen Tag schwirrten ihr Sätze entgegen wie:

»Mei, Nicole, dein Roland ist ein fescher Bursche. Da kannst dich glücklich schätzen. Mei, vielleicht sollte ich auch nach Berlin umziehen, wenn es dort so fesche Mannsbilder gibt.«

Andere waren etwas aufdringlicher. Sie erkundigten sich nach dem Hochzeitstermin.

»Ihr werdet es schon hören, wenn es so weit ist!«, redete sich Nicole heraus.

Oder sie sagte:

»Das hat noch Zeit. Heutzutage heiratet man später.«

Nicole war das alles sehr peinlich. Aber es war noch besser, als ständig mit Roland zusammen zu sein. Sie hatte Angst, von ihm wieder geküsst zu werden. Sie hatte Angst, dabei ihren Gefühlen für ihn zu erliegen.

Der Tag nahm seinen Verlauf. Abends wurde auf dem Hof Musik gemacht und getanzt. Nicole und Roland tanzten auch.

»Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich dich so eng halte, Nicky? Sonst wirken wir nicht glaubhaft.«

Roland berührte mit seinen Lippen Nicoles blondes Haar.

»Du duftest so gut«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Dein Rasierwasser ist auch sehr angenehm«, gab Nicole zurück.

»So meinte ich das nicht!«

»Das habe ich mir fast gedacht. Aber wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen. Es war nicht ausgemacht, dass du mir Komplimente machst.«

»Aber über etwas müssen wir reden. Alle beobachten uns, Nicky. Entweder du legst jetzt gleich deinen Kopf an meine Schulter und spielst das verliebte Madl, das mit seinem Liebsten tanzt, oder wir plaudern leise, damit es so aussieht, als würden wir uns Zärtlichkeiten zuflüstern.«

Roland schaute Nicole in die Augen.

»Ich möchte dir sagen … Ich meine, ich möchte meinen Text aufsagen. Hörst du mir zu, Nicky?«

Roland wartete nicht auf Nicoles Antwort.

»Du bist eine wunderbare Frau. Du bist schön. Ich bin glücklich, dass ich bei dir bin. Ich kann mir im Augenblick nichts Schöneres vorstellen. Du tanzt wunderbar. Ich möchte immer nur mit dir tanzen. Dein Haar duftet herrlich. Ich werde den Duft niemals wieder vergessen. Ich wünsche mir, dass dieser Augenblick niemals endet und ich dich ewig in meinen Armen halten kann.«

Roland nutzte es aus, dass Nicoles Eltern, die auch tanzten, zu ihnen herübersahen.

»Achtung, ich küsse dich jetzt, Nicky!«

Roland kam Nicole ganz nah. Er hauchte ihr zuerst zärtlich einen Kuss auf die Wange, dann küsste er sie auf die Lippen. Der Kuss war länger als der Kuss am Abend zuvor zur Begrüßung in der Küche. Roland glaubte zu spüren, wie Nicoles Widerstand schwand.

»Los, lege jetzt beide Arme um meinen Hals, Nicky. Das ist eine Regieanweisung.«

Nicky schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie lehnten ihre Stirn aneinander und tanzten mit geschlossenen Augen weiter.

»Weißt du, wie es Sabine geht?«, flüsterte Nicole leise.

»Es geht ihr gut! Ich habe kurz mit meiner Mutter gesprochen. Sie spielt mit Franzi und Sebastian. Mache dir keine Sorgen. Es geht ihr wirklich gut.«

»Ich bemühe mich, mir keine Sorgen zu machen.«

»Ich fühle, dass du dich sorgst.«

»Ja, es stimmt. Auf der Berghütte werden genau wie im Hotel die Namen der Gäste aufgeschrieben.«

»Du meinst wegen dem Namen ›Anwander‹?«

Nicole nickte ihm zu.

»Mutter hat das schon geregelt. Sie hat einen anderen Namen hingeschrieben.«

Nicole seufzte erleichtert.

Rolands Handy klingelte leise.

»Ich muss mal rangehen!«

Er nahm Nicole bei der Hand und führte sie an den Rand des Tanzbodens. Er machte ein nachdenkliches Gesicht, nickte und sagte, dass er das verstehe. Dann schaltete er das Handy aus, beugte sich zu Nicole und flüs­terte ihr ins Ohr.

»Das war ein fingierter Anruf. Ich habe mich vom Weckdienst anrufen lassen, damit wir rechtzeitig von hier fortkommen.«

Nicole schaute Roland überrascht an. Er denkt an alles, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Eltern kamen dazu.

»Was gibt es? Ihr schaut so ernst aus«, sagte Nicoles Vater.

»Ja, Bertl, wir überlegen, was wir machen sollen. Ich habe eben einen Anruf aus Berlin bekommen. Da läuft etwas schief in der Druckerei. Mein Vater ist auch in Urlaub. Eigentlich müsste ich fahren …«

»Mei, Bub, des kann ich doch verstehen. Arbeit ist Arbeit, Pflicht ist Pflicht! Ich hab’ mich gefreut, dass du mich, dass ihr mich besucht habt. Aber bei dem Trubel hab’ ich doch keine Zeit. Ihr kommt doch hoffentlich bald wieder? Dann sind wir unter uns.«

»Sobald es möglich ist, Bertl. Und du bist mir nicht böse, dass ich Nicky mitnehme?«

»Naa, Bub, ihr gehört zusammen. Des wäre sehr egoistisch von mir, zu verlangen, dass du allein nach Berlin fahren würdest und die Nicole würde erst morgen früh fahren. Also danke ich euch für euren Besuch.«

»Vater, Mutter, es war schön bei euch!«, sagte Nicole leise.

»Roland und ich verdrücken uns heimlich, damit wir dein Fest net stören. Sage dem Gerd und seiner Frau Grüße. Pfüat di, Vater! Pfüat di, Mutter!«

Nicoles Eltern schlossen zuerst Nicole zum Abschied in die Arme, dann Roland.

Sofort zog Roland Nicole schnell fort, und sie verschwanden in der Dunkelheit.

»Puh! Geschafft! Es ist vorbei!«, seufzte Nicole.

Roland lächelte. Er ließ ihre Hand nicht los, bis sie im Hotel waren.

»Wie machen wir es jetzt?«, fragte Nicole. »Was sieht das Stück als nächstes vor?«

»Wie beredet! Ich ziehe mich um und wandere noch heute Nacht hinauf zur Berghütte. Du schläfst bis Sonnenaufgang. Dann folgst du mir.«

»Was ist mit der Suite und deinem Auto?«

»Nichts, das lassen wir so. Ich habe die Suite für zwei Wochen gebucht. Wichtig ist, dass du dich morgen früh auf den Weg zum ›Erkerchen‹ machst. Nimm den Umweg über den ›Pilgerpfad‹! Ich komme hin und erzähle dir von meinem Gespräch mit Toni.«

Nicole nickte eifrig.

Roland tauschte den feinen Anzug gegen seine Wandersachen. Er hatte eine Umhängetasche über der Schulter hängen, als er aus dem Schlafzimmer kam. Er nahm sich eine Flasche Wasser aus der Bar.

»So, dann gehe ich! Gute Nacht, Nicky.«

»Gute Nacht, Roland! Danke schön für alles!«

Roland beugte ich zu ihr herab und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange. Dann schaute er ihr in die Augen und deutete mit seinem Zeigefinger auf seine Wange.

»Regieanweisung! Madl küsst Bursche zum Abschied!«

Nicole lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Ich werde mich an dieser Stelle nie mehr waschen«, flüsterte er.

Sie lächelten, und Roland ging fort. Nicole lehnte sich innen an die Tür und schloss die Augen. Sie träumte vor sich hin. Ihr Herz klopfte.

Sie ging noch kurz auf die Terrasse, dann ging sie zu Bett. Es dauerte aber noch eine Weile, bis sie einschlafen konnte.

Sie überdachte den Tag, die Gespräche mit Roland, dass er Sabine einen Hund schenken wollte und seine Küsse, auch wenn es Regieanweisungen waren, wie er es darstellte. Aber Nicole wusste, dass es mehr war, bei Roland und auch bei ihr.

Wo führt das hin? Das fragte sie sich, bevor sie in tiefen Schlaf sank und von Roland träumte.

*

Roland erreichte kurz vor Mitternacht die Berghütte. Alle Hüttengäste schliefen schon. Toni saß auf der Terrasse der Berghütte und wartete auf Roland.

Anna war auch schon ins Bett gegangen.

»Grüß Gott! Da bist du ja! Was soll dieser Anruf, dass ich unbedingt auf dich warten soll. Du müsstest mich allein sprechen?«

»Erst mal grüß Gott, Toni, lass uns ein Stück den Berg hinaufgehen. Setzen wir uns oben an den Gebirgsbach. Ich muss dir etwas sagen, und ich will sicher sein, dass uns niemand belauscht.«

»Himmel, machst du des aber spannend! Also, gehen wir! Aufi!«

Sie gingen über das Geröllfeld und setzten sich auf große Steine am Gebirgsbach. Das Wasser murmelte leise. Bello legte sich zu ihren Füßen, nachdem er ausgiebig getrunken hatte.

»Toni, ich will es dir direkt sagen! Es geht um die kleine Sabine. Sie hat Verwandte hier in Waldkogel. Ihre Mutter stammt von hier. Ihre Großeltern leben hier. Sabine kennt ihre Großeltern nicht, und diese wissen nicht einmal, dass sie eine Enkeltochter haben. Sabines Mutter ist nicht verheiratet. Sie trennte sich vom Vater des Mädchens. Die Einzelheiten der Trennung sind jetzt nicht wichtig. Zwei Wochen nach der Trennung kam Sabines Vater bei einem Autounfall ums Leben. Dann stellte Sabines Mutter fest, dass sie schwanger war. Sie hat strenge Eltern und wollte ihrem Kind ein Leben bei diesen Großeltern nicht zumuten. So ging sie fort. Es kostete mich viel Mühe, sie davon zu überzeugen, endlich mit Sabine zu reden. Vielleicht kann ich auch zwischen den Eltern und Sabines Mutter vermitteln. Nun hat sich Sabines Mutter bereit erklärt, einige Tage mit mir hier auf der Berghütte zu verbringen. Ich liebe Sabines Mutter seit vielen Jahren, bisher ohne größeren Erfolg. Aber jetzt scheint langsam das Eis zu schmelzen. Sie hat Angst, dass du eine Ähnlichkeit erkennst zwischen ihr und Sabine oder dass irgendjemand hier hören könnte, wie sie Mama zu ihr sagt. Ich versprach ihr, mit dir zu reden und gab ihr im Voraus das Verspechen, dass du niemandem etwas davon erzählst.«

»Was für eine Geschichte! Wer kann das nur sein? Des ist ja schrecklich. Des arme Madl! Des gilt für die Sabine und auch für ihre Mutter. Was muss die Mutter von der Sabine eine Angst gehabt haben? Mei, des muss schrecklich gewesen sein, dass sie von daheim fort ist in dem Zustand. Mei, was ein Elend! Und so lange hat sie des geheimgehalten.«

»Ja, Toni, über zehn Jahre!«

»Roland, du hast mein Wort, dass des unter uns bleibt. Aber ich werde die Anna einweihen, des musst du verstehen.«

»Sicher!«, sagte Roland.

»Und vom Alois, da droht auch keine Gefahr! Mit dem werde ich auch reden.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Willst mir jetzt sagen, wer die Mutter ist?«

»Es ist die Nicky, die Nicole Anwander! Ihre Eltern sind Bertl und Martha!«

»Mei, die Nicky! Und du liebst sie?«

»Ja, Toni. Ich liebe sie, seit sie damals bei uns im Verlag zu arbeiten anfing. Damals war Sabine noch ein Baby.«

»Mei, Roland, du hast eine Ausdauer! Du musst die Nicky wirklich lieben. Und jetzt seid ihr euch endlich nähergekommen.«

»Ja, etwas, aber nur mit Tricks meinerseits!«

»Wie ist das zu verstehen?«

Roland erzählte Toni alles. Toni lachte.

»Die Geschichte, die musst du unserem Pfarrer Zandler erzählen. Der schreibt solche Geschichten von Waldkogel auf.«

»Vielleicht tue ich es, wenn aus Nicky und mir ein Paar geworden ist. Drücke mir die Daumen, Toni. Ich liebe die Nicky wirklich. Schau her!«

Roland griff in seine Hosentasche und zeigte Toni den Ring.

»Mei, des ist ja ein richtig großer Klunker, wie wir hier in den Bergen sagen.«

»Für meine Nicky kann er nicht groß genug sein.«

»Wann willst du ihn ihr geben?«

»Das weiß allein der Himmel! Ich hoffe bald. Aber es muss der richtige Augenblick sein.«

»Des versteht sich. Es muss immer der richtige Augenblick sein, wenn ein Bursche seinem Madl den Antrag macht. Aber in deinem Fall muss der Augenblick noch richtiger sein. Ich verstehe dich.

Nix ist bei dir und der Nicky so, wie es sein soll. Des ist ein ziemliches Durcheinander von Liebe, Verantwortung, Schuldgefühlen und einem Versteckspiel. Aber des wird schon, Roland! Ich drücke dir die Daumen und leg beim Herrgott ein gutes Wort für dich ein.«

»Danke, Toni!«

»Du solltest mal mit den Engeln vom ›Engelsstein‹ reden.«

Toni konnte sich ein Grinsen nicht versagen.

»Ich weiß, dass du von den alten Legenden und Sagen nix hältst. Dabei kommst schon viele Jahre hierher und hast selbst erlebt, wie sich die Menschen hier mit ihren Sorgen an die Engel gewandt haben. Ich kann dich net zwingen, daran zu glauben, dass die Engel nachts über eine Leiter in den Himmel aufsteigen und die Gebete, Wünsche und auch die Herzensnöte in den Himmel bringen. Aber ich versichere dir, das ist so. Genau wie der Teufel dann und wann aus dem Gipfel des ›Höllentor‹ he­rauskommt und dann eine schwarze Wolke über dem Gipfel steht. Dann geschieht ein Unglück.«

»Ich kenne die Legenden, Toni! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal nach solcher Hilfe, nach Hilfe von Engeln sehnen würde. Aber ich brauche nicht nur ein Wunder, sondern gleich mehrere.«

»Des wird schon. Es hat doch schon angefangen. Du siehst es nur falsch. Du siehst, dass du dein Ziel bei der Nicole noch net erreicht hast. Des ist wie beim Bergsteigen. Wenn du ständig den Gipfel anstarrst und denkst, mei ist der hoch, dann wirst Schwierigkeiten haben, hinaufzukommen. Wenn dir aber bewusst wird, dass dich jeder Schritt näher bringt und sei er auch noch so klein, dann wirst bald unterm Gipfelkreuz stehen. Außerdem hast du eine gute Seilschaft. Deine wichtigste Bergkameradin ist die kleine Sabine. Die wird dir schon helfen, Nicoles Herz zu erobern. Und des Herz vom alten Anwander Bertl, des wird schmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn er seine Enkelin sieht. Und wenn du Hilfe brauchst, dann helfe ich dir, und die Anna auch. Da kannst du sicher sein.«

»Danke, Toni! Bist eben ein echter Freund.«

»Jetzt solltest du dich schlafen legen, wenn du morgen früh, ganz früh zum ›Erkerchen‹ willst.«

»Ja, das will ich! Gleich beim Sonnenaufgang, will ich losgehen. Ich will sicher sein, dass ich dort bin, falls die Nicky früher kommt.«

»Des verstehe ich! Ich richte dir noch heute Proviant. Wenn bei mir der Wecker klingelt, wecke ich dich sofort auf. Dann kannst gehen! Komm, lass uns schlafen gehen!«

Sie gingen übers Geröllfeld zurück zur Berghütte. Auf der Terrasse zögerte Roland.

»Gute Nacht, Toni! Ich bleibe hier und schaue mir noch ein bissel des Gipfelkreuz auf dem ›Engelssteig‹ an, wie es im hellen Mondlicht so gut zu sehen ist.«

Toni lächelte Roland an. Er legte ihm die Hand kurz auf die Schulter, dann ging er hinein. Es war eben Rolands Art zu sagen, dass er noch Zwiesprache mit den Engeln halten wollte.

*

Als Nicole beim »Erkerchen« ankam, wartete Roland schon auf sie.

»Hallo, Nicky! Ich freue mich, dich zu sehen!«

Nicole ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten. Sie nickte ihm zu, holte aus dem Rucksack eine Flasche Wasser und trank sie zur Hälfte aus.

»Puuuuh! Das tat gut! Mir war völlig entfallen, wie durstig so eine Wanderung in den Bergen macht. Ist ja auch schon zehn Jahre her, dass ich in den Bergen wandern ging. Und es ist eine weite Strecke von Kirchwalden bis zum ›Erkerchen‹!«

»Du bist in Kirchwalden gewesen?«

»Ja, ich hatte doch keine Wandersachen dabei. Sie erinnern sich, Herr Doktor Forster? Ich war nicht zu einem Wanderurlaub auf der Berghütte nach Waldkogel gekommen, sondern zum Geburtstag meines Vaters. Übrigens stand mein Auto noch daheim auf dem Hof. Ich bin heute Nacht noch mal aufgestanden und habe es geholt.

Heute bin dann früh am Morgen nach Kirchwalden gefahren und habe es dort in ein Parkhaus gestellt. Danach war ich einkaufen, wetterfes­te Wanderkleidung, bis hin zum Rucksack. Lieber hätte ich bei Veronika am Marktplatz in Waldkogel eingekauft. Das wollte ich aber nicht. Veronika ist lieb, sie ist aber leider sehr neugierig. Ich wollte nicht mit Fragen gelöchert werden.«

Nicoles Worte rauschten an Rolands Ohr vorbei.

»Schöne Sachen! Schaust gut in den Kniebundhosen aus oder wie man hier in den Bergen sagt – richtig fesch!«

Nicole errötete sanft.

»Danke für das Kompliment, Herr Doktor Forster.«

Er stöhnte laut auf und rollte die Augen.

»Nicole, was soll das? Wieso siezt du mich jetzt wieder?«

»Das ist völlig korrekt, laut unserem Theaterstück und der Abmachung. Die Geburtstagsfeier ist vorbei. Damit ist jetzt alles wieder beim Alten. Ich bin Frau Anwander für Sie, Herr Doktor Forster!«

Roland streckte die Arme gegen den blauen Himmel.

»Was soll das? Sicher war es so vereinbart. Aber musst du so schrecklich genau sein? Wir haben uns doch so gut verstanden! Du hast auch eingewilligt, einige Tage auf der Berghütte zu verbringen, zusammen mit Bine. Also wirklich, was soll diese Förmlichkeit? Außerdem sind wir hier oben in den Bergen Bergkameraden. Bergkameraden reden sich mit dem Vornamen an und sind per du. Also, jetzt höre auf dich zu zieren!«

»Ich ziere mich nicht. Ich war nur verunsichert und wusste nicht genau ...«

»Fein! Aber jetzt weißt du es! Und wenn du es nicht weißt, dann sage ich es dir jetzt deutlich. Ich bin der Roland! Ich möchte immer und für alle Zeit von dir so genannt werden. Völlig unabhängig davon, wo wir sind, was wir tun und wer uns gerade zuhört.«

Nicole öffnete den Mund. Sie wollte etwas sagen, aber Roland deutete mit einer energischen Handbewegung an, dass sie still sein sollte.

»Lass mich ausreden. Ich kann auch an alle Mitarbeiter im Verlag ein Rundschreiben schicken, indem ich bekannt mache, dass wir uns duzen. Oder ich bitte meinen Vater es zu tun. Das wäre noch wirkungsvoller. Es könnte lauten:

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Hiermit gebe ich bekannt, dass mein Sohn und Nicole Anwander sich geeinigt haben, zukünftig statt in der dritten Person Plural in der zweiten Person Singular zu verkehren. Dies gebe ich Ihnen zur Kenntnis.

Sollten Sie daraus Schlussfolgerungen ableiten, die sich auf den privaten Umgang der beiden obengenannten Personen beziehen, halte ich Sie an, diese Schlussfolgerungen nicht weiterzuverbreiten, da ich dies als Störung des Betriebsfriedens ansehe.

Im Klartext:

Kein Getuschel und / oder Ähnliches!

Mit freundlichen Grüßen

Doktor Friedhelm Forster

Ist dir das so recht?«

Nicole starrte ihn an. Sie sank auf die Bank, griff nach ihrer Wasserflasche und trank sie aus. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab.

»Ich warte auf eine Antwort.«

Nicole schwieg. Sie schaute über das Tal. Ihr Herz klopfte. Wo wird das alles hinführen? Das fragte sie sich. Aber eine Leichtigkeit machte sich in ihrem Herzen breit. Er ist hier, ich bin hier, Sabine ist hier. Es wird am Bes­ten sein, ich lasse alles auf mich zukommen.

»Gut, ich bin einverstanden«, flüs­terte sie leise.

»Danke, ihr Engel vom ›Engelssteig‹. Endlich ist ihr Herz etwas geschmolzen. Geschmolzen ist vielleicht zu viel gesagt, es hat Tauwetter eingesetzt!«

»Ich wusste nicht, dass du so poetisch sein kannst, Roland.«

»Oh, ich bin unter der Oberfläche sehr poetisch und romantisch. Willst du eine Kostprobe?«, fragte er kess.

»Wenn es dir Freude macht, dann gern. Ich habe auch etwas gutzumachen. Du hast mir den gestrigen Tag erleichtert und bist wunderbar zu Sabine und hast wohl auch mit Toni gesprochen, bist in der Dunkelheit zur Berghütte aufgestiegen. Also, wenn du einen weiteren Akt an unser Theaterstück hängen willst, dann trage ihn vor. Los, ich warte!«

Sie lächelte ihn an.

Das ist der Augenblick, auf den ich gewartet habe, schoss es Roland durch den Kopf. Sein Herz klopfte. In seiner Hosentasche umschloss seine Hand den Ring, den er für Nicole bestimmt hatte. Aber eine innere Stimme warnte ihn und legte ihm nahe, vorsichtig zu sein.

Roland rieb sich das Kinn. Er schloss die Augen und tat, als dachte er nach. Dann lächelte er und sagte:

»Ja, so könnte es gehen, aber nur wenn du mitspielst. Wir sind hier allein, nur du und ich. Es sieht uns niemand. Hemmungen sind also unnötig!«

»Du machst es sehr spannend!«

»Ich will eben sicher sein, dass mir der Applaus gewiss ist.«

»Nun fange schon an, ich werde langsam ungeduldig. Wir haben uns eigentlich zu einem andern Zweck hier verabredet. Du wolltest mir von deinem Gespräch mit Toni erzählen.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen! Er ist auf deiner Seite und hält zu dir! Er meint, dein Vater sei ein Sturkopf, der sich im Grunde selbst bestraft, weil er sich um seine Enkelin bringt.«

»Danke, danke«, hauchte Nicole. »Was hat er genau gesagt?«

»Später, später, Nicole! Ich habe mir doch gerade so eine schöne Fortsetzung ausgedacht.«

»Ich höre!«

»Also, in einer Komödie kommt das Paar am Ende immer zusammen. Sie umarmen sich herzlich und küssen sich innig. Dann fällt der Vorhang.«

»Du suchst nach einem Trick, mich wieder zu küssen«, lachte Nicole. »Bist ganz schön clever!«

»Abitur, Examen und Einser-Promotion – aber gegen das, was ich jetzt vorhabe, waren diese Prüfungen Kinderkram.«

»Fange endlich an oder bist du doch etwas schüchtern? Hast du Angst vor der eigenen Courage?«, lachte Nicole.

Roland ging auf sie zu. Er nahm ihre Hand und zog sich an sich. Er legte beide Arme um sie, schaute ihr tief in die Augen.

»Ich küsse dich jetzt! Ich küsse dich jetzt – wie der verliebte Held!«

Noch ehe Nicole etwas tun konnte, bedeckte Roland ihre Lippen mit Küssen. Die Liebe, die er hineinlegte, sprengte die Tür zu Nicoles Herzen auf. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte seine Küsse.

»Endlich! Endlich!«, stöhnte Roland zwischen weiteren Küssen. Und es war, als wenn sie gar nicht mehr aufhören könnten.

»Ich habe mich schon damals, an deinem ersten Tag im Verlag, in dich verliebt, Nicole! Ich habe dich damals gesehen, und es war einfach um mich geschehen. Keine andere Frau hatte seither eine Chance bei mir. Ich träumte immer nur von dir. Und du warst kalt wie ein Eisberg, liebste Nicole.«

»Ich war nicht kalt wie ein Eisberg, liebster Roland.«

»So, du sagst, das bist du nicht gewesen? Aber ich konnte nicht erkennen, dass du in deinem Herzen auch nur winzigste Gefühle für mich hattest.«

Nicole schaute ihm in die Augen.

»Die hatte ich aber. Du hast mir auch gleich am ersten Tag gefallen.«

»Ich habe all die Jahre nichts davon bemerkt. Wo hattest du die Gefühle versteckt? Hattest du einen besonderen Tresor dafür?«

»Genauso war es! Mein Herz war der Tresor. Die Gefühle darin bekamst du nicht zu sehen und zu spüren. Aber jetzt hast du mit deinen Küssen die Schlüssel im Schloss gedreht und die Zahlenkombination geknackt. Du bist ein wunderbarer Panzerknacker.«

»Warum hast du mich nicht früher in dein Herz gelassen?«

»Es war kein Platz darin. Es war nur Platz für Sabine. Ich hatte den Tresor so klein gewählt, dass kein Mann darin Platz finden sollte. Es war meine Taktik. Es war zu meinem Schutz.«

»Du bist auch eine Poetin! Hast du jetzt einen neuen Tresor, in dem auch Platz für mich ist?«

»Nein! Aber zu meiner eigenen Überraschung habe ich festgestellt, dass der Tresor über elastische Wände verfügt. Ich kann die Wände dehnbar einstellen, wenn ich will.«

»Was für eine raffinierte Technik!«

»Ja, sie ist ganz neu. Ich wusste theoretisch, dass es möglich ist. Aber ich hatte es nie ausprobiert. Weißt du, ich bin kein großartiger Technikfreak. Aber ich bin mit dem Testergebnis sehr zufrieden.«

»Das freut mich!«

Sie küssten sich wieder.

Roland sah eine Möglichkeit, wie er weiter vorgehen konnte und griff das Bild, den Vergleich von Herz und Tresor auf.

»Ich habe eine Idee, Nicole. Ich wusste natürlich, dass es einen Schlüssel zu deinem Tresor gibt. Und nachdem ich jetzt drin bin, denke ich mir, es wäre sinnvoll, dir für deinen Schlüssel eine neuen Schlüsselanhänger zu schenken.«

»Schlüsselanhänger?«

»Ja, so ist es! Sabine bekommt einen Welpen von mir und dir möchte ich auch etwas schenken. Ich dachte, ich schenke dir einen Schlüsselanhänger. Ich gebe zu, er hat eine ungewöhnliche Form. Ich habe ihn auch schon gekauft. Ich sah ihn neulich in einem Geschäft und wusste sofort, dass ist der Richtige für Nicole. Ich wollte ihn dir schon längst geben, aber ich wusste nicht, wie du es aufnehmen würdest. Ich gestehe, ich war doch unsicher, wegen der Form und Farbe.«

»Er ist bunt?«

»Indirekt, mindestens zweifarbig, je nach Lichteinfall auch mehrfarbig! Ich habe ihn Toni gezeigt heute Nacht. Wir kamen, als wir über dich redeten, auf das Thema Schlüsselanhänger.«

»Teilt Toni deinen Geschmack?«

»O ja! Das kann man sagen. Allerdings …«

»Allerdings was?«

»Die Größe, er fand ihn zu groß! Nein, so kann ich es auch nicht sagen. Er fand ihn sehr auffallend und ungewöhnlich.«

»Ich denke, Schlüsselanhänger müssen ungewöhnlich sein. Auf diese Weise ist es schier unmöglich, die Schlüssel zu verlegen oder zu verlieren.«

»Es ist ein großer Anhänger für die Schlüssel zu deinem und meinem Herzen!«

Roland schaute Nicole tief in die Augen. Dann fanden sich ihre Lippen zu einem langen, einem sehr, sehr langen Kuss.

Roland führte Nicole zur Bank. Sie setzten sich. Er legte den Arm um sie und hielt sie ganz fest.

»Mache die Augen zu! Und nicht blinzeln! Versprochen?«

»Versprochen!«

Nicole machte fest die Augen zu.

»Strecke deine Hand aus!«

Nicole streckte die linke Hand aus. Sie war Linkshänderin.

»So ist es brav!«, flüsterte Roland. »Schön die Augen zulassen!«

»Ich habe es dir doch versprochen!«

»Das heißt, du vertraust mir?«

»Ja! Wenn du es unbedingt wissen willst. Ja, ich vertraue dir!«

Roland holte mit seiner freien Hand die kleine Schachtel aus der Hosentasche und nahm den Ring he­raus. Mit dem anderen Arm hielt er weiter Nicole fest.

Er steckte ihr den Ring an die Hand. Nicole riss schlagartig die Augen auf. Sie schrie auf.

»Was ist das?«

»Das siehst du doch!«

Roland schaute Nicole tief in die Augen.

»Nicky, ich liebe dich! Du bist die große Liebe meines Lebens.«

Nicole löste sich aus Rolands Arm.

»Gefällt er dir?«

»Er ist wunderschön! Er ist riesig!«

»Der Stein ist etwas größer als ein Karat.«

»Er muss sehr teuer gewesen sein, Roland!«

»Pst! Zerstöre mit solchen merkantilen Bemerkungen nicht den wunderbaren Augenblick der Romantik. Ich habe die Größe genommen, weil ich dir dadurch sagen will, dass es dir an nichts fehlen wird. Ich will dir damit sagen, dass ich dir alle Geborgenheit und Liebe geben werde, die es geben kann, dir und Sabine. Ich liebe dich so! Und ich liebe dein Tochter!«

»Das ist …, ich meine …, also … wenn im Film …, wenn ein Mann einer Frau so einen Ring schenkt …, dann … sind an das Geschenk …, ich meine …, dann sind die beiden …«

Roland nahm Nicole zärtlich in den Arm.

»Liebste, meine liebste Nicole! Ja, ja und nochmals ja! Dann sind die beiden ein Paar. So etwas nennt man Verlobung! Willst du meine Frau werden?«

»Ich habe dir noch nicht gesagt, dass ich dich liebe.«

»Nicht mit Worten, aber mit Küssen! Ich habe es in jedem Kuss gespürt. Nicht nur ein Bild sagt mehr als tausend Worte, nicht nur dein Blick erzählt von Liebe, deine Küsse waren so süß und innig, so rein und so voller Hingabe. In jedem einzelnen Kuss hast du geflüstert: Ich liebe dich, Roland. Ist es so?«

»Ja, es ist so! Ja, Roland, ich liebe dich! Ich habe mich gegen die Liebe gewehrt, aber sie war stärker, als alles andere. Sie brach sich Bahn. Ich habe mir immer gewünscht, dir nah zu sein, auch wenn ich es jahrelang verleugnet habe, mir gegenüber. Ich liebe dich, Roland!«

Ihre Lippen kamen sich näher, und sie küssten sich. Ihre Herzen schlugen dabei im gleichen Takt.

»Sind wir jetzt verlobt?«, fragte Nicole.

Roland lachte. Er verstand Nicole. Die Unsicherheit rührte aus ihrer Vergangenheit.

Er schaute ihr tief in die Augen und sagte:

»Nicole, willst du meine Frau werden?«

Sie blickte ihn an. Ihre Stimme versagte ihr. Sie nickte eifrig.

»Ja, ich will!«, brachte sie schließlich unter Mühen hervor.

Nicole schwindelte.

Roland hielt sie ganz fest, streichelte ihr zärtlich über das blonde Haar und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Dann fasste er ihr unter das Kinn.

»Meinst du, Sabine will mich als Vater?«

»Nach dem, was du mir geschildert hast, wie du mit ihr gespielt hast, denke ich schon. Und mit dem Welpen eroberst du für alle Zeiten ihr Herz.«

»Lässt du mich Sabine adoptieren? Ich möchte nicht nur ein angeheirateter Vater sein, sondern will vor dem Gesetz Vater sein.«

Nicole lächelte ihn an.

»Dann bekommt Sabine sogar Großeltern, das ist schön …, bis jetzt …«

Roland küsste sie.

»Das wird sich eines Tages auch ändern! Dann wird sie meine Eltern und deine Eltern als Großeltern haben.«

»Wenn du meinst? Es wäre zu schön!«

»Wir werden das schaffen, liebste Nicole.«

Er sah sie liebevoll an und schmunzelte.

»Was denkst du? Du, ich kenne dich inzwischen ganz gut. Wenn du so schaust, dann heckst du etwas aus.«

»Ich stelle mir gerade deinen Vater vor, wie er auf unsere Hochzeit seine Enkeltochter herumführt und stolz vorzeigt.«

»Roland, ich will deinen Traum nicht ausbremsen. Aber du hast meinen Vater nur von der Schokoladenseite kennengelernt. Ich weiß, dass er auch eine andere Seite hat. Ich hätte Waldkogel nie, niemals verlassen, wenn ich in dem Punkt nur etwas Güte hätte erwarten können. Mir blutete das Herz. Ich hatte solches Heimweh! Ich war so allein. Es war so schlimm für mich, dass ich meinem Kind keine richtige Heimat geben konnte. So habe ich es empfunden.«

»Du musst sehr gelitten haben. Doch du bist eine starke Frau und sehr tapfer. Dafür bewundere ich dich. Du kannst stolz auf dich sein.«

Nicole legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen.

»Jetzt habe ich eine neue Heimat!«

»Ja, du hast eine Heimat in meinem Herzen. Wenn du damals nicht gegangen wärst, wären wir uns nie begegnet.«

»Das stimmt! Wenn ich es mit einer Bergtour vergleiche, dann war der Weg steil, steinig und voller Gefahren. Aber jetzt ist alles gut.«

»Jetzt stehst du auf dem Berggipfel und schaust weit ins Land, bis zum Horizont. Unten im Tal sind die Zaghaften und Feiglinge. Du hast Mut bewiesen und Kraft und die Mühsal auf dich genommen. Sicherlich hätten das viele nicht getan. Ich verspreche dir, dass der Himmel, den du sehen wirst, immer blau sein wird, und es wird immer die Sonne scheinen.«

»Auch mitten in der Nacht?«, lachte Nicole.

»Für dich auch mitten in der Nacht! Ich werde mit den Engeln vom ›Engelssteig‹ reden, vielleicht können die beim Schöpfer ein gutes Wort einlegen, damit für dich auch nachts die Sonne scheint.«

»Setze die Engel nicht so unter Druck, Roland. Danke für die Absicht, aber Mondschein und ein Sternenhimmel ist ebenso wunderbar.«

Nicole kuschelte sich noch enger an Roland. Sie seufzte.

»Das war aber kein glücklicher Seufzer! Weihst du mich in deine Gedanken ein?«

Nicole seufzte erneut.

»Ich habe immer den Eindruck, als stehe eine schwarze Wolke vom ›Höllentor‹ über meinem Leben.«

»Ich verstehe, was du meinst. Aber der erste Schritt ist getan. Du bist in Waldkogel. Wir verbringen einige wunderbare Tage auf der Berghütte. Ich habe mit Toni geredet. Er ist auf deiner Seite.«

»Ja, das ist ein Anfang! Es muss eine Lösung geben, Roland. Mein Vater würde es mir nie verzeihen, wenn ich heirate, ohne dass er als Brautvater dabei sein kann. Als Sabines Mutter kann ich dich nicht heiraten, ohne dass mein Kind dabei ist!«

Roland sah Nicole tief in die Augen.

»Das heißt, du wirst mich erst heiraten, wenn du deinen inneren Frieden wiedergefunden hast, wenn dein Leben im Gleichgewicht ist, wenn du deinem Kind eine Heimat geben kannst?«

»Ja, Roland, so ist es!«

»Wir werden es schaffen! Du weißt doch, es kommt immer darauf an, wie man ein Stück spielt. Darin haben wir beide doch gerade eine sehr beachtliche Vorstellung gegeben.«

»Ja, das haben wir! Ich liebe dich, Roland!«

»Ich liebe dich, meine Nicky!«

Sie saßen eine Weile engumschlungen zusammen. Roland fühlte, wie gut Nicole diese Ruhe tat.

»Die Berge gaben mir als Kind und später als junge Frau viel Kraft. Als ich damals wusste, dass ich schwanger war, lief ich in die Berge. Als ich am Morgen aufbrach, war ich voller Zweifel und Angst gewesen. Ich wanderte den ganzen Tag. Ich suchte mir einsame Wege. Ich redete mit niemandem, lauschte nur der Natur. Sie gab mir Kraft. Es war, als flüsterten mir die Berge Mut zu. Auf dem Rückweg, es war schon dunkel, fasste ich den Entschluss von Waldkogel fortzugehen.

Wenn ich in Berlin einsam war, fuhr ich in das oberste Stockwerk eines Hochhauses und stellte mich dort ans Fenster im Treppenhaus. Ich schaute gegen Süden und stellte mir meine Berge vor.«

»Jetzt bist du wieder hier. Wir können so oft du willst herfliegen!«

Nicole umarmte ihn.

»Es ist schön, dass du Waldkogel ebenso liebst wie ich!«

Sie lächelte ihn an.

»Weißt du, warum ich dir nie die Briefe und Unterlagen mit der Hauspost geschickt habe?«

»Ich kann es mir denken! Es sind die Fotos der Berge und von Waldkogel, die die Wände meines Büros zieren. Du hast mir jeden Tag die Post persönlich gebracht, weil du einen Blick auf die Bilder deiner Heimat werfen wolltest.«

»Das wusstest du?«

»Ja, und noch mehr! Ich weiß auch, dass du oft abends, wenn ich schon gegangen war, heimlich in meinem Büro gewesen bist. Dann standest du lange vor den Fotos. Vater hat dich einmal dabei gesehen. Du hast ihn nicht bemerkt.

Er erzählte mir, du hast zärtlich mit der Hand die Rahmen berührt, als wolltest du etwas aus deiner Heimat streicheln. Doch das ist jetzt nicht mehr nötig! Wir können jetzt Waldkogel besuchen. Sobald wir daheim sind, bekommst du von mir viele Fotoabzüge.«

»Vielleicht kann ich in meinem Büro auch wenigstens ein Foto von Waldkogel aufhängen.«

»Du kannst die Wände damit komplett zuhängen, wenn du willst. Ich hoffe allerdings, dass wir bald heiraten und du nicht weiter arbeitest.«

»Ein Schritt nach dem anderen, Roland!«

»Ja, das machen wir, wie bei einer guten Seilschaft, langsam aber stetig, ohne Hast, ohne ein Risiko einzugehen, bewältigen wir unsere Tour bis zum Gipfel!«

Sie nahmen sich in die Arme und küssten sich.

»Toni hat mir Proviant eingepackt! Willst du etwas essen oder gehen wir zur Berghütte zurück?«

»Gehen wir zur Berghütte!«

»Sabine wird Augen machen, dass ich dich mitbringe!«

»Ja, das wird sie!«

Sie brachen auf und gingen Hand in Hand in Richtung Berghütte.

Als die Berghütte in Sichtweite kam, sagte Nicole:

»Roland, ich habe eine Bitte! Nimm den Ring noch einmal eine Weile an dich! Ich will mit Sabine sprechen, über mich und dich und sie. Ich will sie nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Ich werde noch heute mit ihr reden. Dann machst du mir in ihrem Beisein noch einmal einen Antrag. Bitte?«

»Ich verstehe dich! Gern erfülle ich dir diesen Wunsch, und ich sage dir, du bist nicht nur eine wunderbare und wunderschöne Frau, sondern auch eine kluge Mutter!«

Sie gingen weiter.

*

Auf der Terrasse der Berghütte saßen Nicoles Freundin Tamara und Rolands Eltern. Sie lächelten Nicole und Roland zu, als sie an ihren Tisch kamen. Es gab eine herzliche Begrüßung. Dann legte Roland seinen Arm um Nicole und flüsterte leise:

»Ich habe Nicole versprochen, dass sie zuerst mit Sabine reden kann, dann feiern wir!«

Er blinzelte seinen Eltern und Tamara zu.

»Heißt dass, dass Nicole und

du …?«, schrie Juliana laut vor Freude.

»Pst, Mutter! Leise! Gedulde dich!«

Er gab Nicole einen Kuss auf die Wange.

»Wo ist Sabine?«, fragte Nicole und schaute sich um.

Toni kam dazu. Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Dir ein besonders herzliches Willkommen auf der Berghütte, Nicole! Du und dein Madl sind hier immer gern gesehen. Anna und ich, auch der Alois sind voller Mitgefühl für dich!«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Dir auch ›Grüß Gott‹, Toni! Danke für dein Verständnis und deine Anteilnahme. Ich hatte bisher weniger Glück im Leben, aber das ändert sich jetzt. Ich freue mich, dass du deinen Kindheitstraum, einmal Hüttenwirt auf der Berghütte zu werden, verwirklichen konntest. Das wollte ich dir sagen. Seit ich Waldkogel verlassen habe, hatten wir uns nicht mehr gesehen. Weißt du, wo meine Kleine steckt? Ich sehe sie nicht«, lachte Nicole. »Kleine darf ich sie nicht nennen. Sie wäre schon groß, sagt sie. Aber Kinder in dem Alter sind in einem Zwischenstadium, denke ich oft. Auf der einen Seite sind sie schon sehr erwachsen und meistens ein wenig altklug. Auf der anderen Seite sind sie noch Kinder, die sich in die Arme der Mutter flüchten, wenn der Wind des Lebens zu rau bläst.«

Toni schmunzelte.

»Ich weiß genau, wovon du sprichst, Nicole. Du hast es treffend beschrieben. Ja, wir müssen uns in Geduld und Verständnis üben. Die Jahre gehen schnell vorbei – leider. Sabine ist mit Franzi und Basti hinterm Haus. Dort spielen sie. Soll ich dir sie rufen?«

»Wo kann ich hier einen Augenblick mit Sabine alleine sein?«

»Warte, Nicole, des machen wir so! Ich hole die Franzi und den Basti. Dann kannst zu deinem Madl hinter die Berghütte gehen und mit ihr reden.«

»Danke, das ist lieb von dir, Toni.«

So geschah es dann auch.

Als Nicole um die Ecke bog, wandte Sabine ihrer Mutter den Rücken zu. Sie kniete am Boden auf einer Wolldecke und spielte mit Puppen.

»Sabine, ich bin hier!«

Das Mädchen sprang auf, stieß einen Freudenschrei aus und rannte in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter.

»Nicky, wo kommst du her? Musst du nicht arbeiten, wie Tamara und die Forsters sagen?«

»Nein, meine liebste Sabine, das muss ich nicht. Ich habe mir Urlaub genommen.«

»Super! Bleiben wir länger auf der Berghütte?«

»Ja, wir bleiben einige Tage. Wir machen schöne Wanderungen.«

»Tamara hat sich den Fuß verletzt, Nicky. Sie kann nicht weit laufen.«

Nicole strich Sabine über, dunkle Haar.

»Tamara bleibt nicht.«

»Das ist schade.«

»Herr Doktor Forster und seine Frau reisen heute Abend ebenfalls ab.«

»Och, das ist doof! Aber Roland bleibt noch, oder? Das heißt, er kommt wieder, ja? Er war ins Dorf gegangen, wegen irgendeiner wichtigen Sache, das hat er jedenfalls gesagt.«

Nicole schaute in die erwartungsvollen Augen ihrer Tochter. Sie hängt sehr an Roland, das ist sehr schön, dachte Nicole.

»Roland ist schon hier! Wir sind zusammen hergekommen.«

»Super! Wo ist er? Ist er auf der Terrasse? Ich muss zu ihm.«

»Keine Sorge, Roland bleibt auch einige Tage.«

»Super!«

Nicole schmunzelte über Sabine, die im Augenblick nur ein Wort hatte für etwas was ihr gefiel und Freude machte.

»Bine, bevor wir nach vorne gehen, will ich mit dir über Roland reden.«

»Also ich finde ihn supercool!«, brach es aus Sabine heraus.

Nicole musste lachen. Supercool, das war eine Steigerung.

»Na gut, dann stimme ich dir zu, dass er supercool ist.«

Nicole errötete.

»Mama, du wirst ja ganz rot im Gesicht!«

»Ja, das musst du verstehen, Bine. Ich muss dir da etwas sagen.«

»Meinst du, dass der Roland dich mag?«

»Woher …, wieso …, wie kommst du darauf?«

»Ich habe da so etwas gehört! Toni und Anna haben getuschelt.«

»So?«

Sabine sah ihrer Mutter die Verlegenheit an.

»Mama, nun hab’ dich nicht so! Musst nicht ständig rot werden. Ich bin schon ein großes Mädchen.«

Sabine griff nach der Hand ihrer Mutter.

»Kannst mir schon sagen, dass der Roland in dich verliebt ist. Bist du auch in ihn verliebt?«

»Ja, Bine! Ich bin in ihn verliebt! Aber bevor ich …, ich wollte erst mit dir reden.«

»Ist schon in Ordnung! Musst dich vor mir nicht genieren, Mama!«

Nicole fiel auf, dass Sabine sie die ganze Zeit mit Mama angeredet hatte und nicht mit Nicky, wie sie es meis­tens tat.

»Gut, ich will es dir gestehen. Ich bin sehr verliebt in Roland. Er macht sich Hoffnungen, dass …, weißt du, wenn sich zwei Menschen lieben, dann wollen sie zusammenbleiben. Aber ich werde nur einen Mann nehmen, der dir auch gefällt.«

»Ich sagte doch schon, dass er supercool ist, Mama! Ihr könnt ruhig ein Liebespaar werden. Ich habe nichts dagegen. Und du bist dann nicht mehr so allein.«

»Du meinst ich sei allein? Wie kommst du darauf?«

»Mama, nun tu nicht so, als sei ich ein Baby! Du brauchst jemanden zum Kuscheln. Das ist doch so bei Erwachsenen. Du hast mich aufgeklärt.«

Nicole musste schmunzeln.

»Sabine, was soll ich tun, wenn Roland mich heiraten will?«

»Mama, was für eine blöde Frage! Weißt du das nicht? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ja oder nein. Bei Roland ist es Ja!«

Nicole seufzte glücklich. Sie zog Sabine eng an sich, drückte und küss­te sie.

»Meinst du, er adoptiert mich, wenn ihr verheiratet seid? Dann hätte ich einen richtigen Papa!«

»Ich kann mir das gut vorstellen. Er hat dich sehr gern, Bine. Wir verbringen jetzt einige Tage in den Bergen, wir drei. Und mal sehen, wie wir uns vertragen und ob er mir einen Antrag macht. Aber ich bin sehr glücklich, dass er dir gefällt.«

»Mama, können wir jetzt auf die Terrasse gehen?«

Nicole nickte. Hand in Hand gingen sie nach vorn. Dann sah Sabine Roland. Sie ließ die Hand ihrer Mutter los und rannte auf ihn zu. Er fing sie mit beiden Armen auf.

»Hallo, Roland! Du bist in Nicky verliebt, stimmt es?«

»Ja, das stimmt!«

Sabine spielte mit einer Haarlocke.

»Hast du sie schon gefragt?«

»Was soll ich sie gefragt haben?«

Sabine erkannte, dass er im Scherz so tat, als hätte er ihre Frage nicht verstanden. Sie stöhnte laut.

»Roland, du stellst dich nur so dumm. Du weißt schon, das was jeder Mann die Frau fragt, die er liebt? Und dann schenkt er ihr einen Ring. Du liebst Nicole doch, jedenfalls hat sie das gesagt.«

»Aha, jetzt verstehe ich! Du meinst, ich soll sie fragen?«

»Ja, tu’s endlich! Sie arbeitet schon so lange bei euch. Du hättest sie schon viel früher fragen sollen.«

Alle lachten. Nicole stand mit hochroten Wangen dabei.

»Roland, hast du den Ring?«, fragte Sabine.

»Welchen Ring, Bine?«

»Roland, nun tun, nicht so unschuldig! Den Ring, den du Nicky schenken willst und den du Toni gezeigt hast. Ich weiß, dass du einen hast, ich habe Toni und Anna leise davon sprechen gehört.«

Roland griff in die Hosentasche.

»Du meinst diesen Ring?«

»Oh, der ist super. Ist er echt?«

»Ja, er ist echt! Dann will ich Nicole fragen. Aber du bleibst an meiner Seite und hilfst mir! Tust du das?«

Sabine nickte eifrig. Roland hielt Nicole den Ring hin. Er räusperte sich.

»Nicole, ich liebe dich! Ich möchte dich heiraten! Nimm diesen Verlobungsring als Zeichen meiner Liebe. Willst du meine Frau werden?«

»Ja, Roland, ich will!«

»Super, ich bekomme einen Papa!«, schrie Sabine.

Sie fiel sofort ihrer Mutter und dann Roland um den Hals.

»Langsam, junges Fräulein! Der Roland muss Nicole noch den Ring anstecken!«, lachte Rolands Vater.

»Ups! Richtig! Und küssen müssen sie sich, Herr Doktor Forster.«

Roland steckte Sabine den Ring an.

Sie nahmen sich in die Arme und küssten sich, dann zogen sie Sabine an sich.

»Wir werden eine glückliche Familie sein, Sabine, das verspreche ich dir!«

Roland lächelte Sabine an.

»Deine Mutter hat den Ring bekommen. Für dich habe ich auch ein Geschenk. Aber das habe ich nicht dabei. Wir werden es die Tage abholen.«

»Was ist es?«

»Es ist dunkel, hat lange Haare, vier Beine und …«

»Ein Hund!«, schrie Sabine. »Ein Hund! Ein Hund!«

Sie fiel Roland um den Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

»Super! Super! Wann holen wir ihn?«

Roland zog aus der Gesäßtasche seiner Hose den Ausdruck.

»Das ist ein Bild der Rasse. Sie heißen Lhasa-Apso und sind ganz besondere Hunde.«

»Ist der süß! Oh, wie süß! Ich habe mir schon immer einen Hund gewünscht. Du bist toll, Roland! Danke, danke, danke! Du bist super!«

Roland schmunzelte.

»Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken, Bine. Ich kann dir den Hund nur schenken, weil Nicole es mir erlaubt hat. Also, musst du dich in erster Line bei ihr bedanken!«

»Danke, Nicky!«, sagte Sabine und gab ihrer Mutter einen Kuss. »Aber Roland hat dich überreden müssen, stimmt es?«

»Nein, überreden habe ich deine Mutter nicht müssen«, sagte Roland. »Nicole erzählte mir ebenfalls, dass du dir schon lange einen Hund wünschst. Sie sagte, dass du jetzt groß genug und verantwortungsvoll wärst, um einen Hund zu bekommen.«

Juliana und Friedhelm Forster standen vom Tisch auf. Tamara trat hinter sie.

»Meine liebe Sabine! Fangen wir mal bei dir an, du bekommst nicht nur einen Papa, sondern auch Großeltern, Oma Jule und Opa Friedel, so werden wir gerufen.«

»Super! Ich mag euch! Ihr seid auch supercool!«

Alle lachten.

»Junge, dann lass dich mal von deinem Vater, dem supercoolen Opa umarmen. Ich wünsche dir und Nicky alles Glück der Erde. Herzlichen Glückwunsch zu eurer Verlobung!«

Die beiden Männer lagen sich in den Armen. Dann umarmte Jule ihren Sohn.

»Eine bessere Frau hättest du nicht wählen können!«

»Danke, Mutter! Aber ohne deine kleinen Weichenstellungen und Anregungen, wären wir wahrscheinlich noch kein Paar.«

»Unsinn, Junge!«

Dann umarmten Jule und ihr Mann Nicole.

»Dann muss ich mir jemand anderen für mein Vorzimmer suchen«, bemerkte er. »Ich lasse dich ungern gehen! Aber du gehörst jetzt zu unserer Familie, und etwas Schöneres gibt es nicht!«

Dann kam Tamara auf Nicole zu. Sie lagen sich eine Weile wortlos in den Armen und hielten sich lange fest. Beide jungen Frauen hatten Tränen in den Augen.

»Ich gönne dir so dein Glück, Nicky. Du hast es verdient.«

Tamara sprach danach Roland ihre Glückwünsche aus.

»Du wirst doch unsere Trauzeugin, Tamara?«

»Gern! Wann heiratet ihr? Aber das ist unerheblich! Ich werde ohnehin viel Zeit haben, da ich bald wieder eine arbeitslose Schauspielerin bin.«

»Oh, das wusste ich nicht, Tamara! Das tut mir leid! Jetzt bin ich so glücklich und du bist unglücklich!«

»Nicky, mache dir keine Sorgen. Entschuldige, dass es mir so herausgerutscht ist. Es war ein unpassender Moment. Heute ist es dein Tag, euer Tag!«

»Warum kannst du nicht mehr am Theater bleiben?«, fragte Roland.

»Sie stellen niemanden mehr fest an! Sie haben kein Geld, kein Budget. Die Schauspieler bekommen nur an den Abenden, an denen sie spielen, ein kleines Entgelt!«

»Langsam, da kommt mir eine Idee!«, sagte Roland. »Vater, Nicky und Tamara haben zusammen die Ausbildung gemacht. Vater, nimm doch Tamara!«

»Großartige Idee!«

Doktor Friedhelm Forster schaute Tamara an.

»Wenn Sie wollen, können wir darüber reden. Ich würde Sie nehmen.«

»Ich überlege es mir gern. Aber heute feiern wir Verlobung! Toni, bringe eine Runde Bier«, rief Tamara laut.

»Ist schon gezapft!«

Toni und Anna brachten Bier. Alois schenkte eine Runde selbstgebrannten Obstler aus.

»Auf euch beide, auf eure Liebe, auf ein schönes glückliches Leben!«, wünschte ihnen Toni.

Sie tranken und nahmen Annas und Alois’ Glückwünsche entgegen. Die anderen Hüttengäste auf der Terrasse der Berghütte hatten es gehört und beglückwünschten das junge Paar.

Bis zum späten Nachmittag wurde auf der Berghütte gefeiert, getanzt und getrunken.

Am Abend landete ein Hubschrauber. Er brachte Friedhelm, Jule und Tamara zum Flugplatz. Von dort aus flogen sie zurück nach Berlin.

*

Es war noch nicht ganz dunkel, da schlief Sabine auf dem Stuhl ein. Nicole trug sie in Franziskas Zimmer. Währenddessen wartete Roland auf der Terrasse der Berghütte. An diesem Abend waren die meisten Hütten­gäste früh schlafen gegangen.

Toni stellte sich neben Roland und sagte ganz leise:

»Was ist jetzt mit Nickys Eltern? Habt ihr schon Pläne, wann und wie ihr mit Nickys Eltern redet?«

»Das wird nicht einfach werden! Ich bin froh, dass Nicky meine Frau wird. Wir werden die nächsten Tage viel wandern. Ich hoffe, die Berge flüs­tern uns zu, wie wir es machen sollen. Toni, du sagst doch immer, die Berge geben die Antwort auf alle Fragen den Menschen ins Herz.«

»Des stimmt auch! Ich habe die Antwort schon bekommen. Roland, ich habe eine Idee!«

Toni erläuterte Roland kurz seinen Plan. Roland hörte zu. Er rieb sich das Kinn.

»Toni, du meinst, dass dieser Plan aufgehen könnte?«

»Sicher! Ich bin nicht nur sicher – es ist der einzige Weg!«

»Gut, dann lass ihn uns angehen! Sofort!«

»Sofort? Jetzt? Willst du nicht erst mit Nicky reden?«

»Nein! Es ist besser, sie weiß nichts. Sie würde sich sonst Sorgen machen. Ich werde das mit ihren Eltern klären und gleich, wenn ich Erfolg habe, finde ich bestimmt die richtigen Worte, es ihr zu sagen.«

Roland überlegte kurz.

»Toni, wir machen es, wie folgt! Du musst wegen einer Sache plötzlich noch heute Abend nach Waldkogel hinunter und bittest mich mitzukommen. Weil es so wichtig ist und weil ich dein Freund bin, kann ich dich nicht im Stich lassen. Außerdem sind wir bis Mitternacht zurück.«

»Dann gehen wir! Anna wird es Nicky sagen! Das ist dann glaubhafter!«

Toni sprach kurz mit Anna. Er und Roland griffen nach ihren Jacken und gingen los. Sie rannten fast über das Geröllfeld, bis sie außerhalb der Sichtweite der Berghütte waren.

Etwas später parkte Toni seinen Geländewagen auf dem Hof von Nicoles Elternhaus. Sie stiegen aus. Bert­ram Anwander kam aus dem Haus gelaufen.

»Mei, Roland! Bist wohl ein ganz fixer Bursche, wie? Konntest daheim alles erledigen?«

Roland nickte. Bertram begrüßte Toni.

»Wo ist Nicole?«, fragte ihr Vater.

»Die ist schon auf der Berghütte«, kam Toni Roland mit der Antwort zuvor.

»Ja, eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass die Nicky und ich einige Tage auf der Berghütte verbringen, Bertl! Ich will mich auch nicht lange aufhalten.«

»Mei, Bub, für ein Bier wirst schon Zeit haben, oder?«

»Ein Bier kann ich nicht ablehnen. Was meinst du, Toni, haben wir so viel Zeit?«

»Des passt schon!«

Sie gingen ins Haus. Martha stand in der Küche am Bügelbrett. Sie hatte gleich am Morgen nach Bertls Geburtstag die Tischwäsche gewaschen. Bei dem schönen Sonnenschein war sie schon getrocknet. Jetzt wollte Martha sie gleich bügeln. Als sie Roland sah, unterbrach sie ihre Arbeit. So saßen sie zusammen am Tisch und tranken ein Bier.

Bertram Anwander strahlte.

»Nun, Toni, was sagst du zu meinem Madl? Hat sie sich nicht einen feschen Burschen eingefangen? Einen Besseren hätte sie net aussuchen können. Mei, bin ich glücklich! Ich kann dir gar net sagen, wie glücklich ich bin. Toni, weißt, manchmal hatte ich Angst, dass die Nicole die Liebe verpasst und eine alte Jungfer wird. Aber jetzt besteht keine Gefahr mehr.«

»Ja, sie hat gut gewählt, auch wenn sie sich dafür viel Zeit gelassen hat, was ich bei Nicoles Umständen verstehe. Und für Roland ist Waldkogel kein Fremdland. Zufälle gibt es im Leben. Die beiden begegneten sich in Berlin. Sie hätten sich genauso gut hier in Waldkogel kennenlernen können.«

»Des stimmt, Toni! Da ist Berlin ein ziemlicher Umweg gewesen. Ich habe ohnehin nie verstanden, warum Nicole damals so plötzlich ihre Sachen gepackt hat und auf und davon ist. Ich dachte, des Madl ist narrisch! Bis heute hat sie net drüber geredet. Ich habe sie immer mal wieder gefragt und wollte sie überreden, wieder heimzukommen und sich eine Arbeit in Kirchwalden zu suchen. Doch dann wurde sie immer gleich ärgerlich. Richtig bös’ wurde sie, wenn ich von dem Thema angefangen habe. Aber lassen wir des! Jetzt hat sie den Roland – und alles ist vergeben und vergessen.«

Bertram trank einen Schluck Bier.

»Bei dir ist es vergessen, bei der Nicole bestimmt net. So etwas vergisst man net, Bertl!«

»Toni, lass, das ist alleine die Angelegenheit von Nicole«, warf Roland gekonnt ein.

Die beiden hatten vorher auf dem Weg nach Waldkogel genau besprochen, wie sie vorgehen wollten.

»Was soll des heißen, Roland?«, fragte Bertl. »Du weißt etwas? Du kennst den Grund?«

»Nichts soll das heißen, Bertl. Und du, Toni, du mischst dich da in etwas ein, was ihn nichts angeht. Ich warne dich, Toni!«

Toni sah Roland streng an.

»Sicher geht mich des nix an. Aber auf der anderen Seite geht es mich doch etwas an. Mei, wir leben doch im einundzwanzigsten Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter. Zum Glück kann ich da nur sagen! Des Ganze ist doch eine unnötige Geschichte. Es hätte nie soweit kommen dürfen.«

»Toni, rege dich net auf! Es ist Nicoles Angelegenheit, da müssen wir uns raushalten.«

»Raushalten, des sagt sich so leicht, Roland! So etwas geht mir nah und jedem, der davon erfährt. Die Anna hat geweint, als ich ihr es erzählt habe. Du weißt, dass unsere Ehe kinderlos ist. Dass wir deshalb die Franzi und den Basti als Himmelsgeschenk angenommen haben. Wenn ich dann so etwas höre, da werde ich richtig wütend. Da kommt mir die Galle hoch! Des Ganze war doch unnötig! Wie kann man einem Menschen so etwas antun?«, brüllte Toni fast.

Er gab den Erregten und hämmerte mit beiden Fäusten auf den Tisch.

»Nimm dich jetzt zusammen, Toni! Sonst zwingst du mich, dich auf eine andere Weise zum Schweigen zu bringen!«, schrie Roland und drohte Toni mit der Faust.

»Nun mal langsam, ihr Kampfhähne! Ich verstehe nix! Von was und wem redet ihr?«, fragte Bertl.

Toni tat, als würde er Bertram überrascht ansehen.

»Mei, ich glaube wirklich, du hast keine Ahnung!«

Toni schüttelte den Kopf.

»Des ist doch mal wieder typisch für deine Sturheit und deine Verbohrtheit, Bertl. Aber wundern, wundern tut des hier in Waldkogel niemand. Ich sage dir nur, dass du dich schämen sollst! Dass dich noch wagst, unter die Leut’ zu gehen, des ist oberdreist und zeugt von so einer Abgebrühtheit, dass es zum Himmel schreit!«

Roland hielt Toni an, sich zu mäßigen und zu schweigen. Er stand auf.

»Toni, es ist besser wir gehen jetzt! Toni, jetzt kein Wort mehr!«

»Naa, Roland, wir gehen net!«, schrie Toni zurück. »Wir gehen erst, wenn dem Dickschädel hier ein Licht aufgegangen ist, dem dummen Ochsen, diesem elenden!«, brüllte Toni aufs höchste erregt Roland an.

»Jetzt höre aber auf, Toni!« schrie Bertram Anwander Toni wütend an. »Des muss ich mir von dir in meinem eigenen Haus net bieten lassen. Du bist Gast hier! Wenn du nicht gleich dein dummes Maul halten tust, Toni, dann werfe ich dich raus!«

Toni grinste.

»Das kannst gerne machen! Ich halte dich net davon ab. Aber ich bezweifele, dass du, nachdem dir endlich gedämmert ist, was ich sagen will, dass du dann noch die Kraft hast, mich hinauszuwerfen. Dann wirst selbst jemanden brauchen, der dich stützen tut, so fertig wirst sein, Anwander!«

Roland, der sich wieder hingesetzt hatte, stand wieder auf.

»Ich will damit nichts zu tun haben! Ich halte mich da heraus. Außerdem habe ich Nicole mein Wort gegeben, dass ich es ihr überlasse.«

»Sicher hast du der Nicole ihr Wort gegeben, aber wie soll des alles weitergehen? Roland, ich habe dir gesagt, dass die Nicole nie den Mut aufbringt und sich immer weiter in Lügengeschichten verstrickt und du auch. Des ist keine gute Grundlage für eine glückliche Ehe. Außerdem, wie wollt ihr des bei eurer Hochzeit machen? Wer soll wegbleiben? Wie wollt ihr des erklären, dass die Eltern der Braut nicht dabei sind?«

Roland zuckte mit den Achseln. Bertram schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Roland und Toni bemerkten, dass Bertl und Martha sie überrascht anschauten. Ihre Frage, warum sie nicht bei Nicoles Hochzeit dabei sein konnten oder sollten, stand deutlich in ihren Gesichtern geschrieben. Toni und Roland unterdrückten mühsam ein triumphierendes Lächeln.

»Ruhe jetzt! Jetzt red’ ich, Toni!«, fuhr Bertl dazwischen. »Du sagt mir jetzt auf der Stelle, was los ist!«

Toni seufzte. Er tat, als gebe er sich geschlagen und tat, als müsse er einen Augenblick nachdenken. Dann sagte er:

»Gut, meinetwegen, Anwander. Aber ich rede net, ich stelle dir Fragen. Ich habe der Nicole nur versprochen, dass ich nichts sage. Ich habe ihr nicht versprochen, dass ich dir keine Fragen stelle, verstehst? Also…«

Toni seufzte erneut.

»Also, was kann der Grund für ein Madl sein, dass es plötzlich fortgeht? Was kann es für einen Grund haben, dass es denkt, es wird daheim nimmer glücklich? Was kann die Ursache sein, dass es daheim keinen Schutz und kein Verständnis und keine Liebe mehr bekommt? Sagt dir der Name Guido etwas?«

»Naa! Sagt dir der Name etwas, Martha?«, fragte Bertl seine Frau.

Nicoles Mutter schüttelte den Kopf. Sie sah plötzlich blass aus. Toni schmunzelte.

»Mir kommt es so vor, dass du langsam auf dem richtigen Weg bist, Martha! Des ist kein Wunder, es ist ja auch eine Frauenangelegenheit. Die Burschen haben des Vergnügen, und an den Madln bleibt es dann hängen. So heißt es! Ist es net so, Bertl?«

Bertram Anwander wurde blass wie frischgekalkte Wand im Hühnerstall.

»Toni … Toni … Toni«, Bertram Anwander kam ins Stottern. »Toni …, du willst … doch … da … damit net sagen, dass unser Madl …, ich meine …, des kann doch net sein …, oder?«

Martha schaute ihren Mann an.

»Des Madl auf dem Bild, dem Foto, hat des was mit der Nicole zu tun, Roland? Sage es geradeheraus!«, flehte Martha.

Roland schaute in seinen Bierseidl.

»Also doch! Unser Madl hat ein kleines Madl! Richtig?«

Marthas Stimme wurde immer leiser.

»Was willst du damit sagen, Mar­tha?«, fragte ihr Mann.

»Mei, Bertl, begreifst denn immer noch net? Die Nicole war schwanger, als sie nach Berlin ging. Des muss es gewesen sein. War es so, Toni?«

»Ja, es war so! Jetzt, da ihr selbst draufgekommen seid, kann ich es sagen. Die Nicole ist Mutter. Das Kindl ist ein Mädchen und heißt Sabine. Ein liebes braves Kindl ist es!«

»Aber warum ist die Nicole dann fort? Warum hat sie net geheiratet?«, empörte sich Bertram.

»Bist ein Depp, ein blöder Esel, Bertl! Ich hatte es all die Jahre für möglich gehalten, dass so etwas dahinterstecken könnte. Du bist jetzt still, Bertl. Jetzt red’ ich! Wer ist der Vater?«, fragte Martha.

»Ich bin es nicht, Martha«, antwortete Roland. »Ich werde das Kind adoptieren. Ich liebe die kleine Sabine sehr. Ich bin glücklich, solch eine Tochter zu bekommen. Die Geschichte von Sabines Vater soll Nicole dir selbst erzählen, wenn sie darüber reden will.«

»Und du bist schuld, Bertl«, brüllte Martha ihren Bertl an. »Du mit deiner Sturheit, deinem Starrsinn, deiner Überheblichkeit! Immer hast auf andere herabgeschaut, die mal ein bissel anders gewesen sind. Hast mit dem Finger auf sie gedeutet und hast den moralischen Übermenschen gegeben. Wenn mal wieder ein uneheliches Kindl in Waldkogel zur Welt kam, dann hast dich tagelang laut entrüstet. Hast keinen anderen Gesprächsstoff mehr gehabt. Geschimpft hast, verurteilt hast du die Mutter und das Kindl. Deshalb ist die Nicole fort. Es war ihr unmöglich, dir des einzugestehen und unter die Augen zu treten. Mei, ich wäre an ihrer Stelle auch gegangen! Statt mit dir und dem unehelichen Kind unter einem Dach zu leben, hätte ich auch die Fremde vorgezogen. Du trägst ganz allein die Schuld daran!«

Bertram Anwander begriff erst jetzt. Er sackte in sich zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

Nicoles Mutter stand auf. Sie holte ihr Umschlagtuch und band es sich um die Schultern. Sie betrachtete ihren zusammengesunkenen Mann.

»Des war längst fällig, dass dich jemand wieder auf den Boden holt! Du musst jetzt damit fertig werden, dass du selbst der Großvater von einem Bastard bist, wie du immer gesagt hast.

Es gibt doch noch eine höhere Gerechtigkeit, und die hat dir eine Lektion erteilt. Ja, jetzt schaust! Des gönne ich dir. Ja, ja, wie heißt es? ›Wer hoch hinaus will, der wird tief fallen‹. Aber ich mache mir nix draus. Ich gehe jetzt auf die Berghütte zu meinem Madl und meiner Enkelin. Wenn du Frieden haben willst, dann musst einen Weg finden. Pfüat di, Bertl!«, sagte Martha hart. »Ab heute weht hier ein anderer Wind, das schwöre ich dir! Du solltest dem Toni auf Knien danken, dass er Licht in die dunkle Sach’ gebracht hat!«

Die Bäuerin winkte Toni und Roland zu.

»Aufi, gehen wir! Ich hab’s eilig. Ich war einst eine junge, eine sehr junge Mutter, und jetzt bin ich eine junge Großmutter. Ich freue mich so! Was für ein Geschenk!«

Sie gingen zum Auto, stiegen ein und fuhren davon. Unterwegs erzählten Toni und Roland Martha, dass sie den Streit vorher abgesprochen hatten, weil sie keinen anderen Weg sahen, Bertl und ihr, von Nicole und ihrem Madl Sabine zu erzählen.

»Ihr seid mir zwei Halunken! Aber danke, danke, danke!«

*

Als Toni und Roland den Wirtsraum der Berghütte betraten, saß Nicole am Kamin. Sabine kuschelte sich im warmen Flanellschlafanzug an ihre Mutter.

Nicole erschrak, als sie hinter den beiden ihre Mutter erkannte. Roland ging auf Nicole zu. Er gab ihr einen Kuss und flüsterte ihr ins Ohr:

»Alles ist gut, Nicky! Bleibe ganz ruhig!«

Martha Anwander setzte sich in einen der Schaukelstühle. Anna brachte ihr einen Tee. Es herrschte eine gespannte Ruhe im Wirtsraum der Berghütte. Das Feuer im Kamin knisterte. Bello lag vor dem Kamin auf seinem Lieblingsplatz und schnarchte leise.

»Nicky, warum schaut die Frau mich so an?«

»Vielleicht denkt sie, dass kleine Mädchen um diese Zeit schon schlafen sollten.«

»Ich kann aber nicht schlafen. Außerdem habe ich schon etwas geschlafen. Aber dann bin ich aufgewacht und habe an den Hund denken müssen, den mir Roland schenkt. Ich freue mich so und kann nicht schlafen.«

Roland streichelte Sabine über das Haar.

»Wir holen den Hund morgen! Ich rufe den Züchter an und frage, ob wir ihn sofort holen können.«

»Das ist super, Roland!« jubelte Sabine.

»Das ist also dein Madl, Nicole?«, fragte Martha Anwander.

»Ja, das ist Sabine. Sie ist zehn Jahre alt und in Berlin geboren. Ihr Vater kam bei einem Autounfall ums Leben. Das war zu einem sehr frühen Zeitpunkt, vor Sabines Geburt. Das wolltest du doch wissen, Mutter, oder?«

Nicole setzte sich mit einem Ruck auf.

»Nicky, warum sagst du zu dieser komischen Frau, Mutter?«

»Weil ein jeder Mensch eine Mama hat, Bine. Diese komische Frau, wie du sie nennst, ist meine Mama und deine Großmama! Sie hat einen Mann und der ist dein Großpapa!«

»Ich will sie nicht! Sie soll gehen! Ich will nur Opa Friedel und Oma Jule!«, wehrte sich Sabine und wandte sich ab.

»Aber warum willst du sie nicht, Sabine?«

Nicole war sehr erstaunt. Toni, Roland, Anna und der alte Alois, die dabeisaßen, hielten fast den Atem an.

»Weil sie mich nicht wollen! Sie mögen mich nicht leiden!«, jammerte Sabine im weinerlichen Tonfall.

»Aber, Bine, warum denkst du so etwas? Wie kommst du darauf?«

»Weil ich es schon lange weiß, dass sie mich nicht wollen. Du hast einmal nachts mit Tamara darüber geredet. Du hast gedacht, ich schlafe, aber ich habe alles gehört.«

Nicole verschlug es die Sprache. Hilflos sah sie Roland an. Der zog Sabine auf den Schoß.

»Kann es sein, dass du etwas falsch verstanden hast, Bine? Weißt du, du streitest doch manchmal mit deinen Freundinnen. Ihr sagt dann Sachen, die ihr nicht so meint.«

Sabine nickte. Roland lächelte.

»Siehst du! Erwachsene streiten auch und sagen ebenfalls dumme Sachen, die sie nicht so meinen.«

»Wir sind uns dann aber bald wieder gut.«

»Wenn Erwachsene streiten, dann sind sie manchmal länger miteinander böse, weil sie auch größer sind als Kinder. Erwachsene sind oft dümmer und sturer. Aber dann vertragen sie sich wieder. Glaubst du mir?«

Sabine zuckte mit den Achseln. Roland streichelte Sabine die Wange.

»Du, Bine, ich mag deine Oma Martha sehr. Wenn ich sie mag, kannst du dann nicht versuchen, sie zu mögen? Schau, sie sieht so traurig aus!«

»Wenn du sie magst, dann mag ich sie auch, Roland!«

»Das ist schön! Willst du deiner Oma Martha nicht die Hand geben und ›Grüß Gott‹ sagen?«

Statt einer Antwort rutschte Sabine von Rolands Schoß.

Sie ging und reichte Martha die Hand und sagte:

»Grüß Gott!«

»Mei, wie mich das freut!«

Martha liefen die Tränen über das Gesicht.

»Warum hast du den Opa nicht mitgebracht?«, fragte Sabine. »Ist das wegen des Streites? Will er mich nicht sehen?«

Martha schaute hilflos zu Nicole und Roland. Alle suchten nach einer Antwort.

»Der Opa ist hier!«, klang eine heisere Stimme durch den Raum.

Alle schauten zur Tür. Im Türrahmen stand Bertram Anwander.

Nicole stand auf. Sie schauten sich an. Er ging auf sie zu. Ihr Vater überreichte ihr einen Blumenstrauß.

»Zur Geburt eines Kindls schenkt man doch Blumen, dachte ich. Der Strauß ist nix Besonderes. Ich hab’ eben in der Eile welche aus dem Garten geholt.«

»Der Strauß ist wunderbar! Es ist der schönste Blumenstrauß, den ich zur Niederkunft bekommen habe! Danke, Vater!«

Nicole streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin ein Esel! Ich weiß net, was ich sagen soll.«

»Dann sagst du am besten nichts, Vater! Und jetzt kannst du Sabine begrüßen.«

Er streckte die Hand aus.

»Ich bin dein Großvater Bertl!«

»Ist euer Streit jetzt vorbei?«

»Ja, das ist er!«

»Streiten ist ganz schön dumm, sagt Mama!«

»Ja, das ist es, Sabine, mein kleines Madl!« Bertl kämpfte mit den Tränen.

Nicole klatschte in die Hände.

»Jetzt ist es genug, Bine. Du musst schlafen. Du willst doch morgen ausgeschlafen haben, wenn wir mit Roland den Welpen holen, oder?«

Sabine nickte eifrig. Sie wünschte allen eine gute Nacht und lief zu Franzi ins Zimmer.

Toni, Anna und der alte Alois legten sich ebenfalls schlafen. Roland und Nicole saßen mit Nicoles Eltern die nächsten Stunden am Kamin. Nicole sprach sich mit ihren Eltern aus. Dabei flossen auch einige Tränen auf beiden Seiten.

Als die Sonne über den Bergen aufstieg, liefen Martha und Bertl Hand in Hand den Pfad zur Oberländer Alm hinunter. Nicole und Sabine hatten versprochen, ihren restlichen Urlaub bei ihnen zu verbringen. Alle wollten einen neuen Anfang machen. Nachdem sie morgen den Welpen abgeholt haben würden, wollten die drei auf den Hof kommen.

*

Toni erhielt am nächsten Morgen einen Anruf von Bürgermeister Fritz Fellbacher. Er hatte herausgefunden, wer diese Franzi war, die Berni Steiniger so verzweifelt suchte.

Die junge Frau hatte vor einigen Wochen ein Praktikum im Hotel »Zum Ochsen« gemacht und war eine Großcousine von Sophie Lanzer. Der Bürgermeister hatte Sophie streng verhört. Sie gab zu, dass sie gegenüber Franzi, die eigentlich Frances hieß und nur Franzi gerufen wurde, sehr schlecht über Berni gesprochen hatte, weil sie sich selbst in Berni verliebt hatte. Sie gab auch zu, Frances übel mitgespielt zu haben. Sie hatte Bernis Handynummer auf Frances Handy mit Absicht gelöscht, damit diese keinen Kontakt aufnehmen konnte. Unter Tränen gab sie dem Bürgermeister die Adresse.

Nachdem Sophie gegangen war, rief der Bürgermeister Frances an. Sie war zuerst verwundert, freute sich dann aber sehr.

Der Bürgermeister erzählte ihr die ganze Geschichte, so weit er sie nach Tonis Bericht wusste. Er gab ihr die Telefonnummer von Ferdinand Unterholzer, dem Inhaber des kleinen Goldschmiedeladens in Kirchwalden. Er riet ihr, mit ihm zu sprechen, damit sie ihren Berni wiedersehen würde.

Dann war alles ganz schnell gegangen. Frances hatte Unterholzer angerufen. Sie hatten lange miteinander gesprochen. Sie gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer. Leider lebte sie fünfhundert Kilometer entfernt. Sie wollte aber bald einmal nach Kirchwalden kommen. Berni sollte sie anrufen.

Nach dem Telefongespräch hatte Ferdinand Unterholzer sofort Berni angerufen und ihn kommen lassen. Dieser rief von Unterholzers Telefon aus seine Franzi an. Endlich konnten die Liebenden miteinander reden. Berni war sehr glücklich. Nach dem langen Telefongespräch sagte er zu Unterholzer:

»Mei, ich glaube, des passt mit uns! Und dieses Mal lass ich mir von der Tante keinen Keil dazwischen treiben.«

Berni schickte Franzi in einem kleinen Paket alle Umschläge mit Anhängern, die er an die Franziska auf der Berghütte irrtümlich adressiert hatte.

»Mei, Fellbacher! Des sind gute Nachrichten! Ich werde den Unterholzer sofort anrufen. Der Berni soll seine Frances mit auf die Berghütte bringen. Hier in den schönen Bergen werden die beiden sich noch mehr finden. Ich danke dir, Fellbacher!«

»Gern geschehen! Bin glücklich, wenn ich helfen kann. Des war eine schöne Aufgabe und hat nix mit lästigem Papierkram zu tun gehabt.«

Drei Wochen später kamen Unterholzer, Berni und Frances für ein Wochenende auf die Berghütte. In den Bergen fasste Berni den Entschluss, dass er sich eine Arbeit in Frances Heimatstadt suchen wollte, um bei ihr zu sein. Frances konnte nicht nach Kirchwalden ziehen, weil sie in ihrer Heimatstadt eine Ausbildung begonnen hatte. Dieser Ortswechsel hatte für das junge Paar auch den Vorteil, dass ihre Liebe sich ohne den Einfluss von Bernis Tante entfalten und entwickeln konnte.

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Roland, Nicole und Sabine waren einige Tage bei Nicoles Eltern geblieben. Diese verwöhnten ihre Enkelin über alle Maßen. Bertl spazierte mit ihr durch Waldkogel, wenn Sabine ihren Welpen Gassi führte. Dabei stellte er jedem Sabine vor.

Nach ihrer Rückkehr nach Berlin, führte Nicole ihre Freundin Tamara in die Aufgaben als Vorzimmerdame ihres künftigen Schwiegervaters ein. Tamara hatte die Stelle angenommen. Praktisch veranlagt, wie Tamara war, sagte sie sich, dass eine Arbeit an einem Theater jedes Jahr schwerer zu bekommen sei, je älter sie würde.

Nicole kündigte ihre Wohnung und zog mit Sabine zu den Forsters. Roland baute an der Villa seiner Eltern an. Dabei trieb er die Bauarbeiter an. Sabine gab ihm deshalb den Spitznamen »Sklaventreiber«. Roland ärgerte sich darüber nicht. Er hatte es sehr eilig. Dafür gab es auch einen Grund. Nicole war schwanger. Sie wollte aber erst heiraten, wenn das neue Heim fertig war. Sie wollte mit einer Hebamme daheim entbinden, so wie das früher einmal in Waldkogel üblich gewesen war. Sie fand es als Kind immer schön, dass das Haus, in dem sie aufwuchs, auch der Ort war, an dem sie geboren wurde.

Drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin zogen sie ein. Sie heirateten auf dem Standesamt in Berlin. Dazu waren Nicoles Eltern angereist. Nicole bekam einen Jungen. Sie nannten ihn Felix, weil das »der Glückliche« bedeutet. Einige Monate später heirateten sie kirchlich in der schönen Barockkirche in Waldkogel und ließen Felix auch dort taufen. Toni wurde Patenonkel.

So oft es Nicole mit ihren Kindern möglich war, besuchte sie ihre Eltern in Waldkogel. Friedhelm zog sich immer mehr aus dem Verlag zurück. Er fand es schöner, den kleinen Felix im Kinderwagen spazieren zu fahren. Begleitet wurde er von Sabine und ihrem Hund. Jule achtete darauf, dass ihr Sohn, neben den vielen neuen Aufgaben als Verleger, sich genug Zeit für seine junge Familie nahm. Schließlich wünschten sich die Großeltern noch weitere Enkel.

Tamara verliebte sich im Verlag in den Abteilungsleiter für Kultur und Unterhaltung. Er war auch ein Theaterliebhaber, und sie spielten beide in einer Laienschauspielgruppe. Noch bevor ein Jahr vorbei war, heirateten sie. Roland und Nicole waren ihre Trauzeugen. Sabine war stolz, dass sie die Blumen streuen durfte.

Toni der Hüttenwirt Paket 3 – Heimatroman

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