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Miodrag
ОглавлениеEtwa am 5. oder 6. Januar wurde ich innerhalb desselben Gebäudetraktes wieder verlegt. Die neue Zelle war etwa zwei Meter lang und hatte zwei übereinanderliegende Betten, neben welchen es einen etwa 80 Zentimeter breiten Freiraum gab, den man nutzen konnte, um sich die Füße zu vertreten. Ein festes Eisengitter und ein Drahtnetz bedeckten das Fenster. Diese Zelle – das war eine ganz neue Erfahrung – wurde sogar ein wenig beheizt. Mein Zellengenosse war 23 Jahre alt, brünett, schlank, etwas kleiner als ich und stellte sich als Miodrag Vucsetici, ein Serbe aus der jugoslawischen Stadt Niš, vor. Er war ehemaliger Berufssoldat, hatte davor seit seinem vierzehnten Lebensjahr bei den Partisanen gekämpft und war während seiner Dienstzeit beim Militär vom Nachrichtendienst als Agent rekrutiert worden. Als guter Schwimmer wurde er zu Kurierdiensten über die Donau zwischen Jugoslawien und Rumänien eingesetzt, wozu er auch die rumänische Sprache in einem Intensivkurs erlernt hatte. Im Jahre 1950 hatte er mehrmals die Donau überquert und dabei den in Rumänien operierenden jugoslawischen Agenten Befehle übermittelt oder deren Berichte nach Jugoslawien zurückbefördert. Bereits am Tag unserer Zusammenlegung ließ mich „Goldzahn“ rufen und teilte mir mit, dass mein neuer Zellengenosse selbstmordgefährdet sei und ich daher ein wachsames Auge auf ihn haben solle. Er sagte mir, dass Vucsetici schon einmal die Scherben eines Trinkglases verschluckt habe, um sich umzubringen, und nur durch eine Notoperation gerettet worden sei.
Ich verstand mich mit Miodrag ganz gut, zumal es in unserer Lage ohnehin töricht gewesen wäre, in Feindschaft zu leben. Auf den Selbstmordversuch habe ich ihn nie angesprochen, konnte jedoch beim Duschen seine Operationsnarbe deutlich erkennen. Uns war klar, dass uns noch Schweres bevorstand und auch unsere Hinrichtung nicht ausgeschlossen war, wovon er auch gelegentlich sprach. In der neuen Zelle bekam ich – obwohl Nichtraucher – täglich drei Zigaretten Marke Regale-RMS und, was mich mehr freute, das viel bessere Essen, nämlich die Schonkost, die Miodrag wegen seiner Magenoperation zugedacht war und in deren Genuss ich nun auch kam. Was mich aber am allermeisten freute, war die nunmehr von vormals täglich 250 auf 400 Gramm erhöhte Brotration. „Goldzahn“ meinte einmal, ich hätte diese Vergünstigung zwar nicht verdient, denn ich sei nach wie vor „unaufrichtig“, aber er hätte sich trotzdem beim Kommandanten zu meinen Gunsten ausgesprochen und ich müsse daher weiterhin wachsam bleiben und einen neuen Suizidversuch Miodrags verhindern. Dieser freilich machte keineswegs den Eindruck eines Lebensmüden, sondern sprach im Gegenteil oft von seiner Furcht, zum Tode verurteilt zu werden. Ich versuchte, ihm diese Angst mit dem Argument auszureden, dass die seit 1948 bestehende Spannung zwischen den beiden Ländern nicht mehr lange andauern dürfte und es nach einer Phase der Entspannung sicher zu einem Agentenaustausch kommen würde. Allerdings war ich bei dieser optimistischen Einschätzung nicht ganz ehrlich, denn eigentlich vermutete ich – wie viele andere Zeitgenossen auch –, dass ein großer Ost-West-Konflikt in naher Zukunft unvermeidlich wäre, eine Überzeugung die uns ja auch bei der Gründung unserer Organisation geleitet hatte. Miodrag meinte dazu – und hatte recht –, dass der Streit eigentlich nicht zwischen Rumänien und Jugoslawien, sondern zwischen Moskau und Belgrad bestand und dass die Hauptakteure Stalin und Tito seien.
Im Zusammenhang mit der damals regen Agententätigkeit zwischen den beiden Staaten stellte sich später heraus, dass zum Beispiel auch die in Temeschburg tätigen Securitate-Offiziere Sava Bugarski und Vidosa Nedici (Vida), beide Serben aus dem rumänischen Banat und zu unserer Zeit berüchtigte Verhöroffiziere, Agenten des jugoslawischen Geheimdienstes waren. Zumindest Bugarski landete 1954 nach seiner Entlarvung im Gefängnis von Piteşti, wo damals neben vielen Hochverrätern und Spionen verschiedener Nationalitäten auch etwa 50 bis 60 Serben einsaßen. Unser Kamerad Herbert Winkler durchlebte als deutscher Staatsbürger ebenfalls eine mehrmonatige schwere Zeit unter lauter Serben in Piteşti und war dabei den täglichen Schikanen und Morddrohungen seiner Mitgefangenen ausgesetzt. Seine Lage besserte sich erst nach dem Genfer Treffen im Sommer 1955 zwischen Eisenhower (USA), Bulganin (UdSSR), Eden (Großbritannien) und Faure (Frankreich), infolge dessen sich unter anderem die Lage zwischen Rumänien und Jugoslawien entspannte und alle Tito-Spione aus der Haft entlassen wurden. Übrigens erwähnt Ion Ioanid in seinem Buch „Închisoarea noastră cea de toate zilele“ („Unser tägliches Gefängnis“) viele der 1954 in Piteşti inhaftierten Serben namentlich, jedoch nicht Miodrag Vucsetici. Da auch Herbert sich nicht erinnert, diesen Namen je gehört zu haben, könnte es tatsächlich sein, dass mein Zellengenosse von den rumänischen Behörden später liquidiert wurde.
Es war schon in der zweiten Februarhälfte, als ich eines Vormittags wieder zum Verhör hinaufgeführt wurde. Schon etwa sechs Wochen davor hatte man mir mitgeteilt, dass unser Untersuchungsverfahren abgeschlossen sei und man uns nunmehr dem Gericht überstellen werde. Gleich nach meiner Ankunft trat ein Oberleutnant in den Raum, der zu meiner Überraschung sogar seinen Namen nannte, den ich allerdings nicht klar verstehen konnte. Er meinte, er habe gerade etwas Zeit und wolle mich daher kennenlernen, bevor ich mit meinen Kameraden (er sagte wirklich „Camarazi“) vor Gericht gestellt und verurteilt würde. Dann erkundigte er sich nach meinen Eltern, nach unseren Vermögensverhältnissen, der Schule und dem Sport. Was den Sport anging, machte er mir heftige Vorwürfe mit der Begründung, es gäbe im sozialistischen Rumänien für einen so hervorragenden Sportler wie mich doch beste Bedingungen und Chancen, um die ich mich nun leichtfertig gebracht hätte. Ob ich es nicht bereue, meine zehn Kameraden verführt und ins Unglück gestürzt zu haben, wollte er wissen, worauf ich antwortete, dass es sich meiner Meinung nach nicht um eine Verführung, sondern um den freiwilligen Zusammenschluss Gleichgesinnter gehandelt habe. Er gab zu, dass dies möglich sei, dass aber dennoch ich und die „faschistische“ Erziehung in der Lehranstalt Banatia die Hauptschuld trügen. In den uns bevorstehenden langen Gefängnisjahren hätten wir noch genügend Gelegenheit, festzustellen, dass wir einer falschen Ideologie gedient hatten und dass das einzig Richtige der Kommunismus unter der Führung des großen Stalin sei. Der Kapitalismus mit den US-Amerikanern an seiner Spitze müsse zwar noch ausgeschaltet werden, dozierte er, doch bedürfe es hierzu keines Krieges, denn die Volksmassen in den USA und in Westeuropa würden den Wandel zum Sozialismus selbst erkämpfen. Am Schluss seiner Ausführungen, die ich mir schweigend anhören musste, erkundigte er sich noch nach Miodrag und ermahnte mich, ihm Mut zuzusprechen und auf jeden Fall zu verhindern, dass er einen Fehler – also Selbstmord – begehe. An seinem Verbrechen, bemerkte er, trüge nicht das jugoslawische Volk Schuld, sondern vielmehr die von den USA gestützte Clique Tito/Ranković.
Nach diesem langen Gespräch – ich schätze, es hatte zwei Stunden gedauert – wurde ich in meine Zelle zurückgeführt. Diese sonderbare Begegnung und das Verhör, das eigentlich keines war, beschäftigten mich noch eine ganze Weile, und ich erzählte auch Miodrag davon. Zwei Tage später wurde ich zu einem weiteren kurzen Verhör diesmal zu „Goldzahn“ geführt, wobei sich mir Sinn und Ziel der Fragen erneut nicht recht erschlossen; als ich jedoch in meine Zelle zurückkam, war Miodrag verschwunden und ich sah ihn nie wieder.