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1990

1.

Leise Musik erklang aus den riesigen Lautsprechern des Festsaales der Deutschen Anlagenbank ganz oben, in der sechsunddreißigsten Etage ihres Hauptsitzes in Frankfurt, klassische Musik natürlich, wie sie der Chef des Hauses und seine auserlesenen Gäste schätzten, unaufdringlich, weil sie leise war, traditionell und klangvoll, wenn man sie hören wollte, Vivaldi, Telemann, Bach, jetzt gerade erklangen Vivaldis Flötenkonzerte, die mit dem leise im Saal dahinfließenden Gespräch konkurrieren mussten, manchmal übertönt durch ein brandendes Lachen, das irgendwo aufkam, manchmal hervorgehoben durch eine allgemeine Gesprächspause, die wohl zufällig im ganzen Saal eintreten konnte.

An die zweihundert Menschen hatte der Chef der Bank für heute eingeladen, zu einem „ungezwungenen Zusammensein“, wie es in der Einladung stand, die hinsichtlich der Kleidung lediglich „leger“ vermerkt hatte. Und alle Gäste waren denn auch leger gekleidet, so leger, wie es eben möglich war, aber selbstverständlich trugen die Herren Krawatten unter den Anzügen, die Damen waren zwar nicht in lange Abendkleider, aber elegant gekleidet. Politiker waren hier versammelt, zwar nicht der Kanzler, aber immerhin hatte er seinen Kanzleramtsminister geschickt, der Finanzminister, zwei Staatssekretäre, Bankiers natürlich, Banker, wie sie selbst sich in diesem anglisierten neudeutsch nannten, Vorstände großer Unternehmen, von Industrieverbänden, eben alles, was in Deutschland wirtschaftlich irgend von Bedeutung war.

Fünf Herren hatten sich in einer Nische zusammen gefunden: Zum einen Doktor der Rechte Hans Gerd Alpers, der Chef des Hauses und Gastgeber, ein kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren, körperlich fit, mit einem edlen schlanken Schädel, dessen vornehmer Eindruck noch durch die schmale Hornbrille verstärkt wurde, das schon fast weiße Haar ließ ihn noch eleganter erscheinen. Dr. Alpers hatte ein freundliches Lächeln, das er zur Schau trug, wenn er, wie jetzt, mit Vertrauten zusammen saß, aber auch, wenn er unangenehme Wahrheiten zu verkünden hatte, ein Lächeln, das um Vertrauen warb, aber nur den Mund betraf. Die blauen Augen blickten gleichmäßig kühl in die Welt, ob er lächelte oder Anweisungen erteilte. Dr. Alpers war gefürchtet bei seinen Untergebenen, er verzieh ihnen selten einmal Fehler, und bei Politikern galt er als harter Gegenspieler, wenn die Interessen seiner Bank berührt waren.

Neben ihm saßen ausgesuchte Gäste, die er gebeten hatte, sich hier zu einem kurzen Gespräch zusammenzufinden. Es waren Dr. Thiel, der Vorstandsvorsitzende der Treuhand Versicherungsgruppe, Günter Hausmann, der Chef der „Bank des Nordens für Schiffe und Hypotheken“, wie sie sich umständlich nannte, von allen nur Nordlandbank genannt, der Finanzminister der Bundesrepublik und der Kanzleramtsminister.

„Nun, meine Herren“, erhob nun der Gastgeber seine Stimme, so dass sie in der kleinen Runde verstanden wurde, aber nicht von Außenstehenden, „wir sind mit Wein, Wasser und Zigarren wohlversorgt. Ich bitte daher kurz um Ihre Aufmerksamkeit.

Vor einigen Minuten haben wir auf die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in der großen Runde angestoßen, das Knallen der Sektkorken ist verhallt, nun beginnt die Arbeit. Unser Bundeskanzler hat das Wort geprägt, wir werden blühende Landschaften im Osten erleben. Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht Lügen gestraft wird.“

„Wir?“, ließ sich die fette Stimme Thiels vernehmen, „zuerst einmal ja wohl die Politik, die das versprochen hat, also ist doch zuerst der Finanzminister am Zuge?“

„Natürlich werden wir Politiker alles tun, um den Osten aufzubauen“, warf der Finanzminister eilfertig ein, „aber dazu ist zuerst einmal Geld nötig, sehr viel Geld. Meine Entwicklungsabteilung hat das durchgerechnet: Wir müssen aus den westlichen Ländern jährlich achtzig bis einhundertsechzig Milliarden DM aufbringen, um in halbwegs absehbarer Zeit dort eine Infrastruktur zu schaffen, die der unseren ähnelt.“

„Natürlich ist es die Aufgabe der Banken und Versicherungen, der Bundesregierung die Summen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigt, um das Land aufzubauen und Sie können sicher sein, wir werden das Unsere dazu beitragen. Aber“, Alpers wendete sich direkt an die Politiker, „Sie müssen uns natürlich auch die Möglichkeit geben, unsere Aufgabe zu erfüllen. Wir brauchen niedrige Basiszinsen, und wir brauchen mehr Geld im Umlauf, als wir zurzeit haben. Das heißt, dass Sie Einfluss nehmen müssen auf den Chef der Bundeszentralbank, die Zinsen müssen gesenkt, die Geldmenge vermehrt werden.“

„Der Bundeskanzler hat gestern mit dem Vorstand der Zentralbank gesprochen und seinen Einfluss geltend gemacht. Ich gehe davon aus, dass die Basiszinsen sehr schnell fallen werden.“ Der Kanzleramtsminister blickte in die Runde: „Ich kann mich doch wohl darauf verlassen, dass dieses Gespräch vertraulich bleibt?“ Die anderen nickten.

„Gut“, begann wieder der Hausherr, „die Sterne stehen günstig für uns. Der Sozialismus als Staatsmodell hat versagt, ist besiegt. Wir müssen ab sofort keine Rücksicht mehr nehmen auf Propaganda aus den östlichen Ländern, wir seien Kapitalisten und beuteten Menschen aus. Ab sofort können wir daher wieder Geld verdienen, ohne dass sofort unser System in Frage gestellt wird. Das betrifft sowohl unsere Banken als auch uns persönlich. Mit unseren Banken werden wir den Aufbau Ost finanzieren und damit für die Institute viel Geld verdienen. Wir sollten uns das persönlich aber auch gut bezahlen lassen, ich habe bei der Deutsche Anlagenbank auf der letzten Aufsichtsratssitzung eine Bonusregelung für den Vorstand genehmigen lassen, der kräftige Vergütungen vorsieht, wenn wir Gewinne fahren. Ich hoffe, dass uns die Politik dabei unterstützt.“ Fragend sah er den Kanzleramtsminister an.

„Seien Sie beruhigt“, die stille Stimme des Ministers wurde durch ein aufkommendes Gelächter in einer Gruppe in der Nähe übertönt, „seien Sie beruhigt, wir werden nicht in den Geldmarkt eingreifen, außer durch niedrige Zinsen, und schon gar nicht werden wir in die Marktwirtschaft eingreifen, wenn es um Managerbezüge geht. Das machen die Aktionäre mit ihren Managern aus.“

„Haben Sie mit dem Kanzler auch über das amerikanische Rating gesprochen, das ich ihm vorgestellt habe?“, fragte Dr. Alpers.

„Rating? Was wollen Sie mit Rating in Deutschland?“ Der Chef der Treuhand Versicherung klang ärgerlich. „Wenn wir das hier einführen, müssen wir unter Umständen unser Eigenkapital erhöhen, wenn Kredite schlecht beurteilt werden. Das mag für die große Deutsche Anlagenbank egal sein, für unsere Tochter, die Kreditbank für Handel und Commerz, die kleiner ist, wäre das tödlich.“ Thiel war ehrlich verärgert über den Vorstoß seines Kollegen, wurde aber beruhigt.

„Mit meinem Vorschlag beim Kanzler habe ich nicht auf das Eigenkapital gezielt, sondern auf die Beurteilung von Krediten, um mit ihnen handeln zu können. In den USA gibt es enorme Gewinnchancen, wenn Sie in einen schlecht beurteilten Kredit investieren und bei diesem Kredit ein Turnaround stattfindet.“

„Turnaround?“, ließ sich Hausmann mit seinem Hamburger Dialekt vernehmen, „Können Sie nicht Deutsch reden? Was ist das?“

„Es kann sehr lukrativ sein, einen Kredit zu erwerben, der schlecht geratet ist, wenn Sie Informationen haben, dass sich bei dem Kreditnehmer die Verhältnisse ändern werden. Sie können einen solchen Kredit zu einem geringen Preis erwerben und nach dem Turnaround, nach der Besserung des Schuldners also, mit einer gewaltigen Gewinnspanne verkaufen. Dazu ist allerdings ein standardisiertes Rating erforderlich, das es hier noch nicht gibt. Stanley und Morgan, eine der großen Ratingagenturen in USA, haben bei uns angefragt, ob wir nicht Interesse an Rating von bestimmten Krediten haben. Denken Sie doch nur, was für Geschäfte wir machen können allein mit dem standardisierten Kredithandel.“

Hausmann brummte. Er war von seinem Aufsichtsrat, der ausschließlich mit Parteipolitikern besetzt war, zu konservativem Handeln gezwungen, er konnte sich ausmalen, was diese Feierabendbanker zu einem solchen Modell sagen würden. Aber man würde sehen.

„Nun gut, meine Herren, ich habe Sie zu lange von Ihren Frauen ferngehalten, lösen wir diese kleine Sitzung auf, wir bleiben in Verbindung“, damit stand Alpers auf, nickte den anderen zu und mischte sich wieder unter seine Gäste.

2.

„Was hat er denn von euch gewollt?“, fragte Maritta Hausmann ihren Mann, als sie spät am Abend in ihrer Limousine saßen, die von John, ihrem Chauffeur, über die Autobahn nach Hamburg gesteuert wurde. Sie hatten die Trennscheibe hochgefahren, damit sie unter sich waren.

„Er will Geld verdienen“, antwortete Hausmann, „wir haben über die Zinspolitik gesprochen und über das Ausmaß der Transferleistungen nach Osten in die neuen Bundesländer. Ich glaube, es kommen Zeiten auf uns zu, in denen das Geld, wenn man klug ist, reichlich sprudeln könnte.“ Hausmann sah seine Frau an. Sie war immer noch attraktiv, seine Maritta, mit ihren blonden Haaren, die sie kaum nachfärben musste, es waren wenig graue Strähnen darunter. Maritta hatte sich trotz der Geburt ihrer Tochter Charlotte eine schlanke, fast knabenhafte Figur erhalten, die sie auch gerne mit ihrer Kleidung betonte. So hatte sie heute zu dem Empfang ein Kleid gewählt, das kurz über dem Knie endete, „ich kann es mir schließlich leisten“, hatte sie auf die schwachen Einwände ihres Mannes geantwortet. Hausmann war nach all den Jahren immer noch etwas verliebt in seine Frau, obwohl sie längst ihre eigenen Wege ging, seit ihre Tochter aus dem Hause war. Sie brachte ihm Kameradschaft entgegen und beriet ihn, wann immer er sie fragte. Maritta war klug, ehrgeizig für ihn und achtete bei ihren eigenen Wegen peinlich genau darauf, ihn nicht zu kompromittieren. In Hamburg wäre ein Skandal sein Ende als Chef der Nordlandbank gewesen, die Hamburger Gesellschaft verstand da auch heute noch keinen Spaß. Hausmann wendete sich ab und hing seinen Gedanken nach, während sie mit hoher Geschwindigkeit nach Hamburg rauschten.

„Du wirst deine Geschäftspolitik ändern müssen“, ließ sich Maritta wieder leise vernehmen, „ich fand schon immer, dass die Nordlandbank mehr kann als Kundenkonten zu verwalten, Immobilien und Schiffe zu finanzieren. Ich finde, du solltest dich mit Richard Leibherz in Verbindung setzen. Was du brauchen wirst, sind Mitarbeiter mit Erfahrung im Anlagegeschäft.“ Richard Leibherz war einer der prominentesten Unternehmensberater in Deutschland, der berühmt für seine Qualitäten war, wenn es galt, hochrangige Manager zu finden.

„Ich werde es mir überlegen“, brummte Hausmann, bevor er einnickte, von dem sonoren Summen der Limousine in den Schlaf gewiegt.

Der Weg

Am Abend kam er aus der Stadt heraus. Es herrschte warmes Sommerwetter, er war durch die Innenstadt nach St Pauli gegangen, hatte den alten Tunnel unter der Elbe zum Hafen genommen, hier kannte er sich kaum aus, hatte die Containerbrücken sich gegen den strahlend blauen Himmel recken sehen, das bedeutete, dass sie nichts zu laden und entladen hatten, das wusste er, Ausfluss der Krise. Mit der Krise waren jäh die Transportwege unterbrochen worden, es bestand kein Bedarf mehr, irgendetwas zu transportieren. Imposant sahen sie aus, die Containerbrücken, wie sie, stählernen Armen gleich, in den Himmel ragten. Unter der Köhlbrandbrücke war er durchgegangen, diesem Bauwerk von unvorstellbarer Größe, wenn man darunter stand und hochblickte, an Riesenträgern aufgehängt und befahren von Strömen von Lastkraftwagen und Personenkraftwagen, deren Strom selbst in der Krise nicht abgerissen war. Er bemerkte die zunehmende Hitze der Sonne nicht, war dem Hafenbecken ausgewichen, hatte immer wieder den Weg nach Süden gesucht, geleitet von seinem eisernen Willen und angetrieben durch das Stakkato der eigenen Schritte. Er war an die Kirche gelangt, die am Rande des Hafens über geblieben war, einst ein ganzes Dorf krönend. Längst waren die Häuser verlassen und abgerissen worden, sie hatten dem Wachstum des Hafens weichen müssen. Der Kirchturm war flankiert von zwei riesigen Windrädern, die den unendlichen Energiedurst der Stadt stillen helfen sollten. Oft hatte er dieses Ensemble von der Autobahn aus gesehen, wenn er sich von Süden der Stadt näherte, der ehemals mächtige Kirchturm zusammengeschmolzen zu einer winzigen Nadel zwischen den ihn wohl um das zehnfache an Höhe überragenden Windrädern, Zeichen der menschlichen Hybris, Zeichen für den Glauben an immer mehr Energie und immer weniger Gott. Hinter sich ließ er Kirche und Windräder und die riesige Stadt, ging hinaus in das Land, folgte dem Sog seiner Schritte und seinem Wissen über den Weg, der vor ihm lag.

Rudolf Mittelbach hätte geschossen

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