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Aufgewachsen bin ich am Rande des inneren Straßenringes, der das Zentrum meiner Heimatstadt Eimstadt umgibt, in einem dieser Bürgerhäuser, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden sind, prächtig, aber nicht zu prächtig, mit zwei Stockwerken, groß genug, damit meine Eltern, mein Vater ist Vorsitzender Richter am Landgericht meiner Heimatstadt gewesen, ihre drei Kinder, mich, den Ältesten, und meine zwei Schwestern darin großziehen konnten. An das Haus schloss sich ein kleiner Garten, gerade groß genug, damit wir darin tollen konnten, nicht zu groß, damit er von meiner Mutter noch gepflegt werden konnte. Die Villa lag noch zentral in dieser mittelalterlichen Stadt in der Nähe von Hamburg, die früher einmal Hansestadt gewesen war, jetzt aber diesen Titel nicht mehr führte. Unser Haus war geräumig, im Erdgeschoß befand sich hinter der Haustür und dem Windfang ein riesiges Wohnzimmer, das Platz bot für eine Sitzecke, wie meine Eltern sie nannten, einem niedrigen Tischchen mit drei bequemen Ledersesseln und einem ausladenden Sofa darum und, in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Gartenfenster, den Esstisch mit zwölf Stühlen davor, aus Eiche der Tisch und die Stühle, deren Sitzfläche mit schwarzem Leder bezogen waren. Neben dem Wohnzimmer befand sich eine Küche, die groß genug war, um der Familie Alltags zu den Mahlzeiten an einem Tisch Platz zu bieten, im Übrigen mit Herd, Kühlschrank und Waschmaschine ausgestattet. Hier nahmen wir Kinder das Frühstück ein, die wir früh aufstehen und aus dem Haus zur Schule mussten, das Mittagessen ebenfalls getrennt, mein Vater kam an Sitzungstagen unregelmäßig nach Hause, das Abendbrot versammelte die ganze Familie pünktlich um ein halb acht in der Küche, sonntags im Wohnzimmer. Diese Mahlzeit war es auch, vor der mein Vater die Hände faltete, wartete, bis auch die Familie die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt hatte, dann ebenfalls den Kopf senkte und das Gebet sprach „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns aus Gnaden bescheret hast. Amen.“

Erst dann war es erlaubt, die Mahlzeit zu beginnen, es gab abends Brot mit Aufstrich zu essen und Tee zu trinken, für meinen Vater sonntags einen weißen Wein.

Mein Vater war ein ehrfurchtgebietender Mann, nicht über ein mittleres Maß groß, aber mit einem bedeutenden Kopf, mächtig, kantig, mit einer breiten und hohen Stirn unter schlohweißem Haar, ich kann mich nicht erinnern, ihn mit braunem Haar gesehen zu haben. Unter der Stirn und den buschigen, ebenfalls weißen Augenbrauen hatte er bemerkenswert klare blaugraue Augen, mit denen er über den Tisch sah und die einen trafen, wenn man etwas falsch gemacht hatte. Keiner von uns Kindern mochte es gerne wagen, diesen Blick auf sich zu ziehen. Eine schmale Nase und ebenso schmale Lippen bildeten einen bemerkenswerten Gegensatz zu der großen Stirn, das Gesicht wurde nach unten durch ein kräftiges Kinn abgeschlossen. Seine linke Wange verunzierte ein großes rotes Feuermal, das sich, geriet mein Vater ausnahmsweise einmal in Zorn, tiefer rötete und den furchterregenden Eindruck des Gesichtes verstärkte. Ich habe meinen Vater selten ohne Anzug, weißes Hemd und Krawatte gesehen. Meine Mutter wirkte sich dagegen bescheiden aus, schmal, mit einem gütigen Gesicht, blickte sie unter braunen Haaren aus ebenso braunen Augen traurig auf uns herab, wenn wir Dummheiten gemacht hatten.

Seit ich denken kann, war ich mit Dietrich Alpmer und Malte Matter befreundet, der erste der Sohn unseres Hausarztes, der zweite aus dem Hause des Rechtsanwaltes Matter stammend, der eines der angesehensten Anwaltsbüros in unserer Stadt betrieb. Oft habe ich meinen Vater achtungsvoll über diesen Rechtsanwalt erzählen hören, der als exzellenter Jurist, dazu als fleißig und beständig galt.

Mit beiden Freunden streifte ich seit unserer frühen Kindheit durch Eimstadt. Als kleine Kinder spielten wir in den jeweiligen Gärten unserer Elternhäuser, die in erreichbarer Nähe lagen, seit wir in die Schule gingen, hatten wir unseren Radius erweitert und stöberten durch die Straßen unserer Stadt. Was gab es da zu entdecken. Da war zunächst der Stadtstreicher Heini, wie alle Welt ihn nannte, den wir verfolgten, wenn er durch die Straßen ging und ihm „Heini, Heini“, hinterherriefen. Das machte gleichzeitig Spaß und war furchterregend, weil die Passanten, die Heini und uns sahen, beifällig lachten und uns sogar anspornten, furchterregend wurde es, wenn Heini sich plötzlich umdrehte und drohte, uns zu verprügelten, wenn wir nicht von ihm abließen. Einmal erschreckte er mich tatsächlich beinahe zu Tode, weil er nach einer solchen Drohung sich nicht wieder abwandte, sondern tatsächlich hinter uns, die wir in alle Richtungen auseinanderstoben, herlief und sich ausgerechnet entschied, mich zu verfolgen. Ich rannte, was ich konnte, suchte verzweifelt ein Geschäft, in das ich flüchten konnte und in das er mir nicht folgen würde. Ich war aber aus Versehen in eine stille Straße ohne Geschäfte gelaufen und hörte, wie er, der schneller laufen konnte als ich, mir immer näher kam, bis ich eine Straße mit Geschäften erreichte und in den nächsten Laden stürmte, ein Herrenbekleidungsgeschäft, in das er mir nicht folgte. Völlig außer Atem lehnte ich mich gegen den Verkaufstresen, um mich auszuruhen, wurde aber von dem Verkäufer angesprochen, der den Achtjährigen, der japsend an seinem Tresen stand, als störend empfand und hinausjagte. Vorsichtig steckte ich die Nase auf die Straße, aber Heini war verschwunden und blieb es auch, als ich im Trab nach Hause lief. Am gleichen Nachmittag vergewisserte ich mich, dass auch Dietrich und Malte entkommen waren.

Durch die Stadt floss die Scharte, ein kleiner Fluss, der in früheren Jahren, so hatten meine Eltern erzählt, völlig verseucht worden war durch Abwässer, Dünger aus der Landwirtschaft und alles, was man sonst hineingeworfen hatte. In der Altstadt machte der Fluss immer noch einen sehr verdreckten Eindruck, vor der Stadt aber war er inzwischen so weit geklärt, dass wir ohne Bedenken darin schwimmen konnten. Im Ort selbst lagen in einem kleinen Hafen die Segelboote, die Eigentümern aus der Umgebung gehörten, vertäut. Wir konnten stundenlang am Ufer des Flusses sitzen und uns erträumen, wohin wir segeln würden, wenn wir groß wären. Dietrich kannte sich mit Booten aus, er wusste, wohin man von hier aus segeln konnte, gehörte doch eines der am Steg vertäuten Segelboote seinem Vater, der uns allerdings strengstens verboten hatte, es in seiner Abwesenheit zu betreten. Wir durften einmal mitfahren, aber nur aus dem Hafen heraus und an das Ufer des Flusses. Nicht nur Segelboote lagen im Hafen, auch Binnenschiffe, die ihre Fracht in unsere Stadt trugen und wieder beladen wurden. Das waren lange Schiffe, mit richtigen Wohnungen in den hinteren Bereichen, in denen auch die Steuerhäuser lagen, und einer kleinen Wohnung im vorderen Teil für den Bootsmann. Ein Schiff, das immer wieder kam, hieß Line und mit seinem Bootsmann, Richard, freundeten wir uns an. Er hatte uns gefragt, ob wir nicht einmal seine Kajüte sehen wollten und neugierig hatten wir zugestimmt. Wir waren auf das Schiff geklettert, achtern, wie er sagte, und waren den schmalen Laufgang an der Ladefläche vorbei nach vorne gegangen und dort über eine steile Leiter nach unten gestiegen, in sein Reich, wie er es nannte. Winzig war die Kajüte, nur mit einer schmalen Koje ausgestattet, mit einer kleinen Kochecke und, verschämt hatten wir die Köpfe gewendet, mit Zeitungsausschnitten mit nackten Mädchen über der Koje. An der Wand gegenüber aber waren Postkarten aufgeklebt, Karten von den Städten, wo sie mit Line schon überall gewesen waren. Hamburg, das war klar, aber dann die Elbe hinauf, durch den Mittelandkanal und auf den Rhein, bis nach Koblenz, dann wieder zurück, den Main bis Frankfurt, weiter über den Main aufwärts bis zur Donau und ins Ausland, bis Budapest, so zeigten die Karten, war die Line gekommen. Monatelang nach diesem Besuch antwortete ich auf die Frage, was ich werden wolle, „Bootsmann auf der Line.“

Mit sechs Jahren lernten wir Fahrrad fahren und fuhren hinaus aus der Stadt, im Sommer die zur Scharte, bis zu einer Stelle, an der man ungefährdet in den Fluss kommen konnte, um zu baden. Die Scharte war hier vielleicht vierzig Meter breit, tief allerdings, und floss nur träge. Wir drei Freunde konnten anfangs nicht schwimmen und planschten am Ufer im Wasser, bis Dietrich anfing, zu tauchen.

„Wetten, dass ich ohne schwimmen zu können, über die Scharte komme?“ Ein leichter Schauer packte mich, als Dietrich das triumphierend fragte. Ich wusste, wenn Dietrich heil an das andere Ufer kam, was da unerreichbar vierzig Meter weit entfernt lag, dann schwamm auch Malte hinüber und dann musste auch ich, koste es was es wolle, den Versuch wagen. Also tat ich so, als hätte ich die Frage nicht gehört, vergeblich allerdings, denn Malte ging sofort darauf ein.

„Schaffst du nie, du ersäufst, lass es lieber, sonst kriegen wir mit deinen Eltern Ärger.“

Aber Dietrich hatte darauf nur gewartet, er sprang vom Ufer mit dem Kopf zuerst in das Wasser, blieb unter der Oberfläche unsichtbar, weil die Scharte Moorwasser führte, zwar sauber, aber dunkel. Nach bangen Sekunden tauchte er auf, er hatte ein Viertel des Flusses hinter sich, schnaufte, prustete und ging wieder unter Wasser. Wieder vergingen Sekunden und wieder kam er hoch, schnaubend, ächzend und tauchte erneut unter. Dann war er auf der anderen Seite zu sehen, stehend im seichten Wasser und triumphierend wie ein Sieger die Arme hochreißend. „Es ist ganz einfach“, schrie er, „macht das mal nach!“

Wie ich es geahnt hatte, ließ sich Malte das nicht zweimal sagen, sprang ebenfalls in den Fluss, auch er kam nach drei Gängen auf der anderen Seite an, ebenfalls die Arme hochreißend. Was blieb mir zu tun? Ich sprang in den Fluss, tauchte unter und schwamm unter Wasser aus Leibeskräften, immer in die Richtung, in der ich das andere Ufer vermutete. Als mir die Luft ausging, tauchte ich auf, schnappte verzweifelt nach Luft, sah, dass ich in die richtige Richtung geschwommen war und tauchte wieder unter, mit vollen Kräften schwimmend. Nach einem weiteren Auftauchen und erneutem Schwimmen und einem dritten Auftauchen hatte auch ich das Ufer erreicht, wo ich mich erschöpft, aber zufrieden auf dem Gras niederließ, das an diesem Ufer wuchs.

Ich erinnere mich genau an diesen Sommertag, als ich auf dem duftenden Gras lag, auf dem Rücken, in den Himmel blickend, die Sonne strahlte auf meinen Körper, der nach dem kühlen Wasser die warmen Strahlen genoss, hörte mit halbem Ohr die Prahlerei meiner beiden Freunde, an denen ich mich aber nicht beteiligte, wusste ich doch, dass ich allein nie auf den Gedanken gekommen wäre, den Fluss zu durchschwimmen. Statt dessen fühlte ich es unter mir im Grase krabbeln, Ameisen und Käfer trieben da wohl ihr Unwesen, hörte über und neben mir Spatzen tschilpen, die sich um eine Stück Futter zankten, beobachtete eine Lerche, die sich singend in den Himmel schraubte. Von fern hörte ich auf der anderen Seite des Flusses das Badeleben, Frauenstimmen, die ihre Kinder riefen, Männer, die sich unterhielten und Gleichaltrige, die am Ufer spielten. Ich war matt, zufrieden und zum ersten Mal in meinem jungen Leben bewusst glücklich.

„Was habt ihr denn heute gemacht?“ fragte meine Mutter am Abend bei der Mahlzeit und ich erzählte ihr von meiner Heldentat.

„Mein Junge, Rudolf“, die Stimme meines Vaters hatte einen ernsten Unterton, ohne dass sie böse klang, „ich möchte nicht, dass du das noch einmal machst, das ist zu gefährlich. Aber ich merke, dass du schwimmen lernen willst, morgen früh gleich darfst du dich in der Badeanstalt zum Schwimmlehrgang anmelden, da ist Herr Hülsen, der Bademeister, melde dich bei ihm und sag, dass ich dich schicke und er soll dir das Schwimmen beibringen.“

Und tatsächlich ging ich mich, und Dietrich und Malte folgten mir, zum Schwimmunterricht, den wir nach nur drei Tagen mit dem Freischwimmer beendeten. „Die können doch schwimmen, “ erzählte Herr Hülsen meinem Vater, „die brauchten bloß die Finger nicht zu spreizen, sondern zusammen zu legen, und dann schwammen sie los.“

Im Jahr darauf kamen wir drei, Dietrich, Malte und ich, auf das Gymnasium.

Rudolf Mittelbach hätte geschossen

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