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Nach dem Abitur zögerte Heinrich keinen Moment, er schrieb sich an der Universität in Göttingen für das Fach Jura ein.

„Warum Jura“, fragte ich ihn erstaunt, als er mir seinen Entschluss mitteilte. Bei mir wäre der Wunsch verständlich, war doch mein Vater schon Jurist gewesen und vor ihm mein Großvater.

„Das müsstest du doch inzwischen gemerkt haben“, gab Heinrich zurück, „ich kann Ungerechtigkeit nicht aushalten, ich möchte Jura studieren, Rechtsanwalt werden und dann dazu beitragen, dass mehr Gerechtigkeit in der Welt herrscht, und zwar für alle.“

Richtig, ich erinnerte mich, er hatte mir eine Geschichte von zu Hause erzählt.

„Ich habe Vaters Fahrrad ausgeliehen, um damit fahren zu lernen, ein großes schweres Fahrrad mit einer Herrenstange. Damit bin ich auf den Weg gegangen und habe versucht, zu fahren. Natürlich bin ich hingefallen, nicht einmal, viele Male, dabei ist der Lenker und der Gepäckträger verbogen worden.“

Der Vater, nach Hause gekommen, habe seinen älteren Bruder Karl - Heinz verdächtigt, ihn kurzerhand aus der Küche in die Diele gezogen, ihm den Hintern stramm gezogen, übers Knie gelegt und verhauen. Heinrich sei hinterher gelaufen, habe heulend an der Jacke des Vaters gehangen und immer wieder gerufen, er sei es gewesen, er, Heinrich, der Vater möge doch ihn bestrafen. Aber sei es, weil der Vater ihn nicht gehört habe, sei es, weil er den schwachen und empfindlichen Heinrich nicht habe schlagen wollen, der Bruder habe die ganze Wut abbekommen. Noch tagelang habe Heinrich sich nicht beruhigen können über diese Ungerechtigkeit

Und noch etwas fiel mir ein. Heinrich Görgen war in der Klasse unbeliebt, weil er als Petzer galt. Diesen Ruf hatte er, weil er zwei Mal Lehrern, die einen falschen Delinquenten bestrafen wollten, den richtigen Täter benannt hatte. Einmal, wir waren in der zwölften Klasse, hatte ein Mitschüler namens Jan in dem Klassenraum geraucht und den Aschenbecher meinem Freund Dietrich unter den Tisch geschoben, wo der Lehrer, den Rauch riechend, ihn fand und Dietrich bestrafen wollte. „Dietrich war es nicht, er hat nicht geraucht, Jan hat ihm den Aschenbecher untergeschoben“, hatte Heinrich dem Lehrer gepetzt, nachdem er gewartet hatte, ob Jan sich melden würde.

„Ich finde, Jan hätte sich melden müssen, als Dietrich erwischt worden ist,“ hatte er sich gegen Angriffe, er sei ein Petzer, verteidigt, und tatsächlich, Dietrich und ich waren der gleichen Meinung, aber der Rest der Klasse fand, das hätten dann Dietrich und Jan miteinander ausmachen müssen, dem Lehrer dürfe man nichts sagen.

Ich verstand, warum Heinrich Görgen sich für Jura entschied, obwohl ich nach den Erzählungen meines Vaters von der Justiz Zweifel hatte, wie viel Jura und Gerechtigkeit miteinander zu tun haben mochten.

Mein Berufswunsch dagegen war immer noch unklar, ich würde wohl, das war mir von väterlicher Seite gewissermaßen in die Wiege gelegt worden, auch Jura studieren, an welcher Universität, das überließen meine Eltern mir.

Heinrich war anhänglich geblieben, bis zum Abitur und darüber hinaus, während des Studiums, was umso erstaunlicher war, als er mir an Intelligenz weit überlegen war. Ich bekenne, ich bin von eher durchschnittlichem Verstand, natürlich, ich habe meine Aufgaben in Deutsch und Mathematik, Latein und Englisch, immer erledigen können, mit mittelmäßigem Erfolg, wie meine Lehrer mir bescheinigten, es reichte auch später, um die Anforderungen des Studiums der Rechte und des Refendariats zu erfüllen, ja, ich habe sogar Köpfe von weitaus geringerer Begabung die beiden juristischen Examen ablegen sehen. Nur eben gegen Heinrich Görgen kam ich mir immer simpel vor, von beschränkter Auffassung, die darüber hinaus auch langsam war gegen seine blitzschnellen Schlüsse, gegen seine brillanten Arbeiten.

Dennoch, er blieb anhänglich und bekundete lebhaftes Bedauern, als ich ihm eröffnete, ich könne jetzt noch nicht mit dem Studium beginnen, müsse vielmehr erst meine Pflicht gegen das Land erfüllen und den Dienst an der Waffe ableisten, von dem er aus mir nicht bekannten Gründen befreit war. Den Waffendienst leistete ich ohne Begeisterung ab und schloss mich nach seiner Beendigung Heinrich an, der in Göttingen schon heimisch geworden war. Vier Jahre verbrachten wir gemeinsam in der Universitätsstadt, hier lernte ich meine erste Freundin Mathilde kennen, die Deutsch und Geschichte studierte und Lehrerin werden wollte. Mathilde war eine gutmütige junge Frau, mir gleichaltrig, aber in der Liebe schon viel erfahrener als ich, mit ihr hatte ich meine ersten Liebeserlebnisse, wobei sie mich eher unterwies als dass ich sie verführte.

Wir saßen in dem Seminargebäude für Juristen, einem schmucklosen Bau, der in den sechziger Jahren hochgezogen worden war, als der Platzbedarf wegen der rapide steigenden Zahl der Studenten plötzlich groß wurde. Heinrich hatte mich überredet, mit ihm an einem Seminar zur Rechtsphilosophie teilzunehmen, das weder examensrelevant, wie er zugab, noch meinem Semester angemessen war. Dennoch, auch mich zog das Thema an, und der Assistent, der das Seminar leitete, Dr. Assmeier, war mir aus einer Vorlesung über bürgerliches Recht bekannt und sympathisch. Hufeisenförmig waren die Tische gestellt, am inneren Ende des Hufeisens der Assistent, ich ihm zu Rechten, Heinrich neben mir und neben ihm Charlotte Hausmann, eine Studentin in Heinrichs Semester, die heute das erste Mal dieses Seminar besuchte. Ich merkte, wie Heinrichs Interesse an dem Stoff immer weiter nachließ, und verstand ihm, hatte er mich doch schon mehrfach auf die Kommilitonin aufmerksam gemacht. Nach seiner Meinung war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Schlank, schwarzhaarig, mit dunkelbraunen, schrägstehenden, lachenden Augen, runden gleichmäßigen Augenbrauen darüber und einer breiten hohen Stirn, fast zu breit war die Stirn für das Gesicht, das im Übrigen, ebenso wie der ganze Kopf, vollendet geformt war, noch betont durch das gegen alle Mode sehr kurzgeschorene Haar. Charlotte war nicht sehr groß, mit langen Beinen und schlank, einer guten Figur, die sie allerdings mehr ahnen ließ als zeigte, trug sie doch fast immer sehr weite lange Kleider.

Heinrich Görgen richtete seine Aufmerksamkeit in dieser Stunde mehr auf seine Nachbarin als auf den Stoff des Seminars und fragte sie am Ende, fast stotternd, ob er sie zu einer Tasse Tee einladen dürfe. Es gab eine Kneipe in dieser Zeit in der Nähe des Seminars, in der ausschließlich Tee serviert und klassische Musik gespielt wurde. Gegen alle Erwartungen sagte Charlotte mit einem freundlichen Lächeln zu und Heinrich verschwand mit ihr, ohne mir auch nur noch einen Blick zu gönnen. Ich sah ihn drei Tage nicht, nach drei Tagen kam er mich in meinem Studentenzimmer besuchen.

„Rudolf, ich bin verliebt“, trällerte er fast, mit seiner weichen Stimme, „ich habe jetzt drei Tage mit Charlotte zugebracht, ich bin sehr in sie verliebt, und sie sagt, sie liebt mich auch. Ich habe ihr von dir erzählt, sie will mit uns und Mathilde essen gehen, was hältst du davon?“

Ich freute mich ehrlich für ihn, Heinrich Görgen war ein eher ernster und verschlossener Mensch, es tat mir gut, ihn glücklich und vor allem so fröhlich zu sehen. Wir gingen daher am Abend zu viert essen und danach immer wieder, ich sah ihn allerdings während der Seminare und Vorlesungen kaum noch, so sehr war er entweder mit Lernen, mit Charlotte oder mit beidem beschäftigt. Ich bekam allerdings mit, dass er immer öfter von politischen Versammlungen erzählte, die er besuchte, Versammlungen, die sich mit der Wirtschaftspolitik im Allgemeinen beschäftigten, mit der zunehmenden Konzentration in der Wirtschaft und der Globalisierung. Ich selbst habe ihn dahin nie begleitet, hielt ich doch mich selbst und die Jura für völlig unpolitisch und meinte, das müssten wir auch sein, über den Parteien stehend. So lehrten es uns unsere Professoren und so glaubte ich es, kam doch diese Meinung meiner Bequemlichkeit im Denken sehr entgegen. Häufiger sahen wir uns ab jetzt zu viert, Mathilde und Charlotte, Heinrich und ich.

Rudolf Mittelbach hätte geschossen

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