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Neun

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Max wölbte die Unterlippe vor, um sich Luft ins Gesicht zu blasen. Clarissa betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und erinnerte sich an die vorgewölbten Unterkiefer der Schabemaulbuntbarsche ihres Bruders. Für die Jahreszeit zu warm, hatte einer der Wetterexperten am Morgen die Warmluftdusche kommentiert, die seit zwei Tagen für feuchte Füße und Herzrhythmusstörungen sorgte.

Sie beugte sich etwas vor, um die Hausnummern lesen zu können. „Da ist es“, sagte sie. Max fuhr bis zum Ende der Straße, wendete und hielt vor dem Liedvogelschen Haus. Zwar unspektakulär, aber tadellos in Schuss, erweckten Garten und Fassade den Anschein, als ließe man machen.

Moosige Ziegel auf dem roten Walmdach. Zur Förderung seiner poetischen Versuche nutzte Max auch die kreative Kraft des ersten Eindrucks. Erste Eindrücke lieferten ihm fast immer frische Wortkombinationen. Zur Regel gemacht hatte er sich, mindestens drei Wörter aus einem neuen Eindruck zu ziehen für seine Liste gedichtwürdiger Wörter. Moosige Ziegel, das klang und saß. Wie sehr ihm die Wörter auch gefielen, so machten sie noch lange kein Gedicht.

Versuche Hildegard Liedvogel, die Frau des Ermordeten, zu erreichen, waren in der Nacht und am Morgen fehlgeschlagen. Er wollte nicht an einen Parallelmord denken. Natürlich erleichterte ein zweiter Mord seine Arbeit.

Clarissa dachte an „Lamb to the Slaughter“, als sie den Kieselpfad zum Haus hinauf knirschten.

Berger legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Er klingelte und lauschte. Dann versuchte er es mit dem Klopfer. Ein Wolfskopf. Sie horchten. Drinnen blieb es still, während der atemwarme Oktoberwind im Laub der Platanen herumwuschelte. Dieser perverse Oktober würde den September übertreffen mit höheren Durchschnittstemperaturen, hatten die Meteorologen orakelt. Im Haus muckste keine Maus und so gingen sie zur Nummer 15, wo eine Schelle aufschrillte, die offenbar niemanden im Haus, wohl aber Max und Clarissa erschreckte, dass ihre Herzen einen Schlag ausließen.

Die Tür von Nummer 19 hingegen sprang schon auf, noch bevor Max den Klingelknopf berührte. Lauerzecke dachte Clarissa.

„Na, es geht doch“, sagte Max.

„Wie bitte“, fragte die Frau.

„Nichts weiter.“

„Frau...“

„Steinbach.“

„Frau Steinbach, wir hätten da ein paar Fragen über...“

„Fragen, Vorwerk, ich brauche keinen Staubsauger.“

„Kommissar Berger und das ist Frau Klabund.“

„Berger, der Max Berger?“ fragte Frau Steinbach.

„Jaja.“

„Kommen sie herein, bitte sehr.“

Ihr Mündchen küsste den Wortsammler in Max wach: Knospenmund, Himbeerschnütchen, Teeröschenblüte und auf ihrer Oberlippe hundert geschwätzige Furchen.

Das Steinbachsche Wohnzimmer überraschte. Es war ein minimalistisches Statement. Richtig, dachte Max, es gab ja mal eine Zeit, kaum mag man daran glauben, dass es sie gab, es gab eine Zeit, in der man das Sofa nicht nach dem Fernseher ausgerichtet hatte. Doch hier gab es weder ein Sofa noch ein Fernsehgerät. Gerade weil in dem Raum nur die nötigsten Möbel standen, fiel der suchende Blick sofort auf ein äußerst selbstbewusstes polychromatisches Großgemälde.

„Frau Steinbach, Sie können sich vermutlich nicht denken, weshalb wir hier sind?“

„Doch, doch, hat mein Mann schon wieder eine Bank ausgeraubt?“

„Wie? Ihr Mann...“

Begeistert betrachtete Max, wie flott die Mundknospe sich bewegte und die Fjorde auf ihrer Oberlippe lebendig wurden. Frau Steinbach lächelte, als sie erzählte, dass ihr Mann vor zwanzig Jahren oder so verhaftet worden sei. Vom erzählerischen Elan schien sie so begeistert, dass sie nicht danach fragte, ob Max und Clarissa die Geschichte hören wollten.

„In einem größeren Kreis hatte er gesagt, wenn du nicht reich geboren bist, gibt es nur wenige Chancen, dass du es wirst. Man kann z. B. eine Bank überfallen. Ein paar Tage oder Wochen später, ich weiß das nicht mehr so genau, ist dann die Kripo bei ihm aufgetaucht. So ein Typ mit Schnauzbart hatte wirklich eine Bank ausgeraubt. Irgendwer hatte meinen Mann angeschwärzt, er sähe so aus wie der Bankräuber auf dem Fahndungsfoto. Da sind die bei ihm erschienen. Er sollte dann gegenübergestellt werden. War völlig fertig. Freitags hatten die ihn für Montag geladen. Stellen Sie sich das mal vor, von Freitag bis Montag wartest du auf deine Verurteilung. Wenn die Bankbeamten bei der Gegenüberstellung einfach sagten, das ist er. Der hat uns am Morgen aufgelauert und das Geld rausgepresst, genau der Bursche mit dem Oberlippenbärtchen. Habe nichts essen können, mein Mann damals, Samstag nicht und Sonntag auch nicht...“

„Und?“, fragte Max.

„Mein Mann sei es nicht gewesen, sei zu klein.“

„Nein, Frau Steinbach wir kommen nicht wegen ihres Mannes. Sie kennen doch sicher die Liedvogels.“

„Ja, natürlich.“

„Sie kennen sie gut?“

„Gut, sehr gut, ich habe zu allen unseren Nachbarn ein gutes Verhältnis, ausgenommen vielleicht zu den Speckdrehers, die wohnen zwei Häuser weiter, schräg gegenüber, sie sollten sich das mal ansehen, allein schon...“

„Ist es ein freundschaftliches Verhältnis?“

„Zu den Liedvogels? Vielleicht nicht gerade freundschaftlich, aber… Wenn sie weg waren, habe ich die Post aus dem Briefkasten geholt, die Blumen im Garten gegossen.“

„Sie haben also einen Wohnungsschlüssel?“

„Nein, nur für die Haustür, dahinter ist eine Diele mit einer Tür zur Wohnung. Die Tür war immer verschlossen. Nehme ich an, hat mich ja nicht interessiert. Aber was ist denn mit den Liedvogels?“

„Wann haben Sie Hildegard Liedvogel zum letzten Mal gesehen?“

„Vorgestern im Rewe und ihn habe ich gehört, gestern. Als er wegfuhr.“

„Kann das nicht Frau Liedvogel gewesen sein?“

„Morgens um zehn, nein, nein. Sie fährt nicht, niemals morgens um zehn, das wüsste ich doch. Aber was ist denn nun?“

„Professor Liedvogel wurde erschossen.“

Die Überraschung teilte sich augenblicklich ihrem Kopf mit. Er ruckte und zuckte wie der Kopf einer aus dem Schlaf gerissenen Taube, als ob sich das Ereignis nicht schon längst herumgesprochen hätte.

„Ermordet?“

„Ja.“

„Wer, wo, wie?“

„Deswegen sind wir hier, uns interessiert das Wer.“

„Das ist ja entsetzlich!“

„Wir können Frau Liedvogel nicht erreichen. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

„Nein. Sie meinen, sie ist auch ermordet?“

„Wir können sie nicht finden. Aber wir wüssten gerne alles, was Sie über die Liedvogels wissen. Gewohnheiten, Freunde, Bekannte, Kinder...“

Das Gespräch mit Frau Steinbach entwickelte sich zu einem Albtraum. Plappern war Max ein Gräuel; Gysi traute er nicht über den Weg und zu Friedmann fiel ihm nichts ein, außer: Vorsicht! Oder: Wer redet, will herrschen. Und wer herrschen will, der lügt. Und wer offensiv lügt, will ohne Rücksicht auf Verluste herrschen. Und wer Überflüssiges redet, sollte die Bastonade bekommen. Dichter, wirkliche Dichter in schweigsamen Stuben, das waren Leute nach seinem Geschmack.

Einige Male hätte er beinahe vor Schmerz aufgejault, weil Frau Steinbach um den heißen Brei herumschlich wie ein neurotischer Hamster. Das Knospenmündchen war völlig außerstande zwischen Bedeutendem und Unbedeutendem zu unterscheiden. Ihre ganze Liebe gehörte dem dummen Detail und der lahmen Bagatelle. Zwei geschlagene Stunden brauchten sie, bis sie mit ihr und einem halben Dutzend brauchbarer Fakten zum Liedvogelschen Haus hinübergingen. Auf den ersten Blick konnten sie nichts Auffälliges bemerken und für eine Hausdurchsuchung hatten sie weder einen Grund noch die Legitimation.

Zwei Kinder gab es, erfuhren sie von Frau Steinbach. Der Sohn Volker lebte in New York als Journalist. Die Tochter Mareike behandelte deutsche Touristen auf Mallorca mit medizinischem Wunderwissen, heilte mit Hauchtherapien wie Bachblüten oder auratischen Steinen. Sollte das ausnahmsweise nicht wirken, besann sie sich auf ihre Ausbildung als Physiotherapeutin und wurde handgreiflich. Wohlweislich fragte Max nicht nach, wieso Frau Steinbach vom Sohn die Handynummer, von der Tochter aber nur die Adresse hatte. Denn noch zwei weitere Geschichten über ihr Verhältnis zu Sohn und Tochter Liedvogel hätte er nicht ausgehalten.

Nein, Frau Steinbach war drüben bei den Nachbarn nichts Besonderes aufgefallen, der Professor und seine Frau lebten in Ritualen und Routinen wie andere Leute auch, vielleicht waren es keine normalen, meinte Frau Steinbach, aber eben doch so Routinen, man mache sich ja gar kein Bild davon, wie regelmäßig sich das Leben der Leute abspiele, nicht dass sie darauf besonders achte, Alltagstrott eben, sie wolle ja gar nicht von Macken sprechen. Andere Leute, andere Vorlieben, sage sie immer. Die Normalen, so wolle sie die mal nennen, die gingen morgens immer zur gleichen Zeit aus dem Haus, der Professor eben nicht, der sei mal um neun in die Uni gefahren, mal habe er erst am Nachmittag das Haus verlassen. Beliebt sei er nicht gewesen in der Nachbarschaft, nicht unbeliebt, nein, nein, das auch nicht, wenn einer nicht beliebt sei, dann bedeute das ja nicht, dass er unbeliebt sei, aber eben anders als die anderen, fremd, jaja, mit ihm sei man nicht warm geworden. Nein, warm habe man mit ihm nicht werden können, dazu müsse man ja wissen, was einer sich so denke, wenn er rede, aber wenn einer was rede und man habe den Eindruck, dass er ganz was anderes meine, das Gegenteil eventuell, ach, wenn es man bloß das Gegenteil vom Gesagten gewesen wäre, da hätte man ja noch was zu packen gehabt, aber nicht einmal das Gegenteil sei es gewesen vom Gemeinten, wie also solle man denn mit so einem warm werden, frage sie Herrn Berger.

Der sei anders, sie wolle ja gar nicht sagen, dass er eine Macke habe oder mehrere, obwohl es Leute gebe in der Straße, die auch das behaupteten, weil die nicht nachdächten. Macken habe doch jeder. Dass der nichts vom Fernsehen halte, das könne sie wirklich gut verstehen, das meiste sei ja wirklich Mist, aber der Professor habe sich eben beruflich damit beschäftigt und überhaupt kein gutes Haar an irgendeiner Sendung gelassen. Dass Professoren kritische Menschen seien, das würde sie ja noch verstehen, aber dass man deswegen so ganz aufs Menschliche verzichten müsse, Fernsehen sei doch menschlich allzu menschlich, das könne sie irgendwie nicht verstehen. Dieses Nachfragen von dem, das habe einen auch ganz meschugge gemacht, man habe schon den Eindruck gehabt, als würde er sich über die Menschen erheben wollen, am Ende habe man gar nicht mehr gewusst, wo einem der Kopf stehe, so habe der gefragt, wie ein dummes Kind habe man sich da gefühlt am Ende. Ein paar Mal habe sie sogar eine Vivimed nehmen müssen, weil ihr der Kopf brummte. Sei doch wirklich nicht normal, wenn einer vorm Fernsehen sitze mit dem Kleincomputer auf dem Schoß und sofort seine Kommentare tippe. Was er für ein Professor sei, ja, das habe sie auch gern gewusst, Medientheoretiker sei er gewesen, was immer das nun wieder sei.

Ob seine Frau ihn verstanden habe, das würde sie im Übrigen auch bezweifeln. Die sei ja auch in psychiatrischer Behandlung gewesen und lebe sehr - und habe sehr zurückgezogen gelebt. Eine melancholische Frau noch immer, obwohl schon lange in Behandlung. So was sehe man ja, das sehe man ja durch die stille Pillenoberfläche hindurch. Ihr könne man da nichts vormachen. „Mir macht so leicht keiner was vor“, sagte sie das ein ums andere Mal.

Wie andere Leute eben auch sei der Professor regelmäßig spazieren gegangen, hier die Straße runter und dann sei man ja auch schon auf dem Feldweg, der am Haus vom Regenbogen Schorsch vorbeiführe. Sei ein wunderlicher Kauz, der zum Professor gepasst habe, sie würde ja nicht sagen, dass sie befreundet gewesen seien, aber da habe es irgendeine gemeinsame Wellenlänge gegeben. Ein Chaot sei das und sie misstraue allen Chaoten. Manchmal sei der Professor auch mit einer Tüte zurückgekommen, ja wenn sie das jetzt so bedenke, dann sei der vielleicht gar nicht spazieren gegangen, wenn er mit einer Tüte zurückkam, dann habe er was abgeholt. Schon komisch. Vielleicht sei es sogar sinnvoller, allen Systematikern zu misstrauen.

Der Sohn komme sehr selten, könne man ja verstehen - Amerika - das sei kein Katzensprung, aber die Tochter sei regelmäßig in Deutschland, einmal die Woche oder so.

Beim Professor habe noch immer Licht gebrannt, wenn sie und ihr Mann ins Bett gegangen seien. Seine Frau habe Migräne gehabt, sei unruhig gewesen und morgens um vier Uhr schon wieder wach. Auch deswegen sei sie wohl in psychiatrischer Behandlung. Nein, deswegen sei sie nicht den ganzen Tag über zu Hause geblieben, morgens so zwischen zehn und elf habe sie Frau Liedvogel häufig im Einkaufsmarkt getroffen.

Auf jedes Stichwort, das Max ihr gab, antwortet Frau Steinbach mit unerträglicher Ausführlichkeit, weshalb er sich hütete allzu oft nachzufragen.

„Sie sagten, Frau Liedvogel habe es nicht leicht gehabt? Wie meinen Sie das?“

„Ich konnte es ihr ansehen. Mir macht ja keiner etwas vor! Wissen Sie, ich weiß doch, was ich sehe. Sie war doch immer ein bisschen hektisch mit gerötetem Gesicht. Nein, nein, das habe ich gesehen, dass die es nicht leicht hatte und montags kaufte sie immer den Spiegel. Und die Korrespondenz hat sie auch erledigt, zumindest einen Teil.“

„Und vor zehn, was haben Sie vor zehn bemerkt?“

„Nichts! Vor zehn regte sich bei denen nichts. Professoren brauchen ja nicht so früh raus, können ja die Nacht zum Tag machen. Obwohl, einmal da hab ich die beiden - ja genau, da musste ich morgens noch den Mülleimer rausstellen. Den Wecker hatte ich mir extra gestellt, da bin ich um halb sieben raus und da kamen die gerade mit dem Auto an, sonst schlaf ich ja bis acht. Acht Stunden braucht man ja, damit man geistig beweglich bleibt.“

„Völlig richtig“, sagte Max. Sie bedankten und verabschiedeten sich von Frau Steinbach. Fünf bis sechs Stunden schlief Max in guten Nächten. Kein Wunder, wenn sein Verstand lahmte und seine Augen ihm kunterbunte Streiche spielten. Die Augen würde ein fähiger Optiker schon wieder richten und eines Tages würde er auch seinen Verstand wieder agil machen. Klavierspielen sollte gut sein und Joggen oder Jonglieren. Andererseits -, wurde überbewertet der Verstand, das Glück lag bei den Debilen und Senilen, sie hatten keine Ahnung von ihrem Zustand.

Clarissa öffnete die Wagentür und blieb stehen. Ihre Hände auf Brusthöhe gehoben, vorgestreckt, schüttelte sie vor Abscheu ihren Kopf.

„Was ist?“, fragte Max.

„Die oder ich, da steige ich nicht ein. Nicht, solange die schwarzen Biester da drin sind. Niemals!“

Zwei Fliegen hatten sich im Wagen verirrt. Erbarmungswürdige Herbstgeschöpfe matt und lustlos schwirrend suchten sie vergeblich das Weite vor der Windschutzscheibe. Die schweißwarme Herbstluft hatte kaum hinreichend Spannkraft die schwachen Summer zu tragen.

„Keinen Meter fahre ich zusammen mit dem Ungeziefer.“

Da hockte sie sich über die Leiche wie ein abgebrühter Gerichtsmediziner, betrachtete Liedvogel solange, bis jedes blutige Detail saß und hier verhielt sie sich wie ein hysterisches Hühnchen wegen zweier Fliegen.

„Nun steigen Sie schon ein“, sagte Max.

„Ich nehme den Bus.“

„Das ist lächerlich!“

„Ich besuche Sie dann im Krankenhaus, die übertragen alle Seuchen dieser Welt. Nee! Machen Sie was, entweder die oder ich.“

Menschen hatten Macken. Wurden von ihnen terrorisiert. Aulburs Tochter Lena ernährte sich ausschließlich von Kartoffelpüree und Schokolade. Das war hirnrissig und vermutlich nicht sonderlich gesund, aber eben nur eine relativ harmlose menschliche Verirrung. Schlimm wurde es erst, wenn die Macken aufs Wohlleben der Mitmenschen übergriffen oder die Nachforschungen behinderten.

Wortlos öffnete Max die Türen und wedelte die Fliegen mit einer Zeitung hinaus.

„Tut mir leid Herr Berger, ich leide an Entomophobie.“

„Ein schönes Wort.“ Ein weiteres Wort für seine Liste. Unter den Phobien gab es eine Reihe von Wohlklingern (Ergophobie, Euphobie, Gamophobie Gerascophobie), die er nicht nur ihres Wohlklangs wegen sammeln wollte, sondern auch wegen der Affinität von Phobien zu Gewalttaten.

„Schönes Wort, scheußliches Leiden“, sagte sie.

„Fliegen sind harmlos, aber das werden Sie wissen.“

„Harmlos? Fliegen sind die schlimmsten Keimüberträger. 70 % aller Krankheiten können nicht geheilt werden, weil Fliegen mit ihren Bazillenrüsseln in Wunden herumstochern, weil sie überall ihre Eier ablegen, ihre Punktscheiße klebt hier und da und dort auf der Wurst. Krabbeln sofort in die feuchten Öffnungen von Toten. Eier ablegen in Augen, Nasen und Mündern, Maden machen. Fortpflanzung bis es nur noch Fliegen gibt. Ekelhaft, krallen sich in die Haut mit ihren Kotfüßchen.“

Aus den Augenwinkeln heraus sah er ihre Hände geballt vor die Brüste gepresst.

„Sind für tausend Krankheiten verantwortlich: Malaria, Cholera, Adipositas, Adidas, Ruhr, Pest, Aids, was weiß ich denn. Nichts Gefährlicheres als Fliegen auf der Welt. Afrika - der Kontinent der Fliegen, der Kontinent der Krankheit, ein Kontinent beherrscht von Fliegenschwärmen. Wo Fliegen herrschen, herrscht der Tod!“

Zum Teufel, dachte Max, sie hatte ja Recht, solange sie in dem Wahn lebte.

Clarissa blickte ihn von der Seite an, fasziniert von einem centgroßen Stoppelfleck. Ein haariges Krabbeltier, ein rötlicher Käfer am Kinn, eine achtbeinige fuchsige Spinne.

„Die weiß nichts“, sagte Clarissa nach einer Weile.

„Sie meinen, ich, ich weiß nichts“, sagte Max.

„Nein, die Steinbach wusste nichts.“

„Sie wusste eine Menge“, antwortete Max.

„Sie wissen schon, was ich meine.“

„Ach was!“

„Was sie wusste, war ja nichts“, sagte Clarissa. „Waren nur Belanglosigkeiten, Alltäglichkeiten. Sie nimmt die Oberfläche der Dinge und Ereignisse für bare Münze. Sie wissen schon, eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose. Frau Professor fährt keinen eigenen Wagen bedeutet doch nicht nur, dass Frau Professor keinen Wagen fährt. Am Geld würde es ja wohl nicht scheitern.“

„Mit einem Wort“, fragte Max, „Sie halten die gute Frau Steinbach für eine Existenz ohne Hintergedanken?“

„Ist das von Ihnen?“, fragte Clarissa.

Immer häufiger verlief die Welt in Bergers Augen. Die Dinge erschienen, als ob sie mit Wasserfarben gemalt seien, die im Regen zerliefen. Max zwinkerte, er beugte sich zur Windschutzscheibe, er riss die Augen auf und kniff sie zusammen, bis er schließlich den Wischiwaschifleck des Bushalteschildes entdeckte. Die Weltkonturen verwackelten, als würde er sie durch sich kräuselndes Wasser sehen. Stand der Bus noch oder fuhr er schon an? Halt gab seinem Blick das CDU-Gebäude. Auch wenn es keine Konturen mehr zeigte, wusste er, dass es stille stand und der Bus also anfuhr, es also sinnvoll war nicht zu überholen. Für einen Moment schloss er feste die Augen.

„Nein“, sagte Max mit geschlossnen Augen, „die Existenz ohne Hintergedanken ist aus einem Roman von Vivian Darkbloom.“ „Angeblich habe Frau Professor es nicht leicht, wusste die Steinbach. Das ist doch was, oder?“

„Und in der Wohnung war sie“, sagte Clarissa.

„Sie sei nicht drin gewesen“, sagte Max.

„Eine Lüge“, sagte Clarissa.

„Ach was“, sagte Max.

„Ja“, sagte Clarissa, „haben Sie das nicht gesehen?“

„Was?“

„Wie die Oberfläche sich kräuselte?“

„Sich die Oberfläche kräuselte“, fragte Max.

„Ja, das Gesicht wurde ganz flüssig, warf Wellen. Erst vibrierten die Nasenflügel, dann verschluckte sie das Kirschmündchen und auf ihrer Oberlippe schwirrten die Schnurrhärchen wie bei einer elektrischen Zahnbürste. Wären da die Knochen nicht gewesen, ins Hirn hätte man ihr schauen können, so transparent wurde ihre Haut.“

„Sie hat die Beine übergeschlagen, als sie das erzählte“, sagte Max.

„Na, sehen Sie“, sagte Clarissa. „Die ganze Figur von der Lüge elektrifiziert.“

„Und was halten Sie davon, Frau Liedvogel habe es nicht leicht gehabt?“, fragte Max.

„Es gibt da mehrere Möglichkeiten. Ein Hirngespinst von Frau Steinbach, also nix dran. Oder ihre Witterung ist ganz richtig, kann ja sein. Aber dann fragt sich noch immer, ob sie zu ihrem richtigen Gefühl auch die richtigen Gründe unterstellte. Da müssen wir ansetzen und deswegen mit dem Psychiater sprechen. Warum braucht Frau Liedvogel einen Psychiater?“

„Ja“, sagte Max, „das ist doch was! Die Kinder müssen kontaktiert werden. Hausdurchsuchung morgen. Wir brauchen jetzt Spuren, den Lebenshintergrund von Liedvogel.

„Und wer ist dieser Regenbogen Schorsch, den er häufig besuchte?“, fragte Clarissa.

„Wohl nur ein weiteres Prachtexemplar aus dem Menschenzoo“, sagte Max.

Curry, Senf und Ketchup

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