Читать книгу Curry, Senf und Ketchup - Friedrich Wulf - Страница 6
Drei
ОглавлениеMax schloss die Augen. Wieder hatte er es nicht geschafft. Die Wasserstrahlen prasselten in sein Gesicht, doch den Moment der perfekt gerundeten Perlen hatten seine blöden Augen nicht mitbekommen. Seit er die Filmszene gesehen hatte, trainierte er das Kunststück. Ein Kommissar stand unter der Dusche, hob den Blick und aus dem Duschkopf quollen Wasserperlen, dann die Kamerafahrt ins Gesicht, die geschlossenen Augen, das rinnende Wasser.
So sehr Max sich bemühte, seinen Augen die extreme Zeitlupe beizubringen, ein paar Jahre würde er dazu wohl noch benötigen. Nicht allein des ästhetischen Reizes wegen, auch in seinem Job wäre der genaue Blick von Vorteil. Doch der hübsche Perlenspuk war natürlich nur ein technischer Zauber und gehörte eben zum Privileg der Medien mit Bildern zu lügen.
Die Augen noch immer geschlossen, hielt Max sein Gesicht in die Brause, bis die gespannte Stirn weich und geschmeidig wurde, herabtropfte und im Abfluss davon gurgelte. Ohne Dusche wäre das Leben ein Irrtum, dachte er mit ironischen Fältchen in den Mundwinkeln.
Mit einem Ruck drehte Max seinen Rücken ins Wassergeprassel. Er wollte das Bild nicht mehr sehen, aber es hatte die Drehung mitgemacht: Blut und Fleischfetzen in der zerbombten Pizzeria. Am Abend nach dem Attentat hatte seine Schwester am Telefon gelacht: „So schlimm ist es nicht, wirklich nicht. Das sind nur deine Vorstellungen und die Medien, die blähen alles auf. Das weißt du doch, die Medien lügen. Ich fühle mich sicher.“ Max rieb den Schrecken aus seinen Augen. Die Medien ja, die logen, aber nicht die Bomben.
Das Hirn ist immer nur fähig eine Vorstellung zu halten, sagte er sich und hörte den kehligen Gebetsruf auf dem Basar in Damaskus. Doch wohin er seine Fantasie auch schickte, die Schreckvisionen verfolgten ihn, ungebeten, ungerufen, überraschend. Auch in seine Nachtstunden blitzten die blutigen Bilder. Er wunderte sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können. Und immerfort am Vergangenen zu hängen: Mochte er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette lief mit. Es war ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kamen die Gedanken doch noch als Gespenster wieder und störten die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend fielen Bilder aus den Alben der Zeit, flatterten fort - und flatterten plötzlich wieder zurück, ihm in den Schoß. Beneidenswert das Tier, es frisst, es weiß nicht was gestern, was heute war, läuft umher, ruht, verdaut, frisst wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tag, kurz angebunden mit seiner Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig.
Mit geradezu teuflischer Heimtücke ergriff sein Hirn jeden beliebigen Eindruck, um ihn mir nichts dir nichts mit den Gefahren für seine Schwester in Israel zu verbinden. Vom herbstlichen Regen sprang seine Angst zu Monika in die noch immer sommerwarmen Gassen, durch die Menschen sich drängten. Nicht mehr so viele, aber noch immer viel zu viele. Am harmlosen Bus konnte Max nicht vorbeigehen. Seine Fantasie ließ sofort Scherbenwolken vor seine Füße klirren. Ein Lieblingssong im Radio und schon war er schweißnass. „The room was humming harder as the ceiling flew away…” Die Angst um seine Schwester war kreativ, lag immerzu auf der Lauer, um aus harmlosen Situationen entsetzliche für seine Schwester zu machen.
Eingehüllt in dampfende Wärme, rollte Max seine knochigen Schultern im trommelnden Wasser, nahm den Brausekopf aus der Halterung und richtete den Strahl in seinen Süden, behutsam, um den Schlafenden nicht zu wecken.
Wie das gut gehen sollte mit dem jungen Ding, war ihm ein komplettes Rätsel. Ihre Brüste, Donnerwetter! Ganz ruhig! Das Handgelenk wird nicht strapaziert. Einmal gesehen und schon waren die Vorstellungen und ganz handfeste Reaktionen da. Mein lieber Scholli! So schnell wie möglich musste er sie wieder loswerden, bevor es ernst wurde, bevor ein langwieriger Mordfall sie aneinander kettete. Sollte Hollerkoop doch kollern.
Die einfachen Bösen, die verrückten Bösen und die zufällig Bösen würden in naher Zukunft nicht aussterben, sinnierte Max. Wenn die Welt aus den Fugen geraten ist, muss ich sie wieder einrenken. Kein übler Job. Eigentlich konnte er es an Glückseligkeit mit den Göttern aufnehmen.
Und was machen Sie so? Nun ja, ich bin Welteneinrenker, von Beruf Welteneinrenker. Wenn ich sie wieder eingerenkt habe, sind die Ermordeten noch immer tot, aber die Täter sind hinter Gittern.
Dass die Opfer nicht heulten und klagten, war ein Vorteil, anders als die Angehörigen, gegen deren Schmerz er sich versteinern musste.
Die Menschen mochten den Gedanken an die Sterblichkeit partout nicht. Wie er die Flachköpfe liebte, die ihnen das vorwarfen: Verdrängt werde der Tod in unserer Gesellschaft. Beim nächsten Mal würde er die Pistole ziehen, wenn einer die Leier drehte.
„Halten Sie die dumme Schnauze! Das ist die große Gesundheit, nicht an den Tod denken zu wollen. Ich will Ihnen mal sagen, worauf es ankommt. Nehmen Sie das Leben ernst! Wie schauerlich achtlos gelebt wird, das ist eine Schande! Es kommt darauf an, die Gedanken an das gute Leben hundertmal bedenkenswerter zu machen als ans blödsinnige Ende. Und hier noch eine Zugabe vom klugen Rühmkorf: Und am Ende sehnst du dich dann nach den Tagen, die du jetzt so lieblos verabschiedest. Lernen Sie den Satz auswendig und handeln Sie danach!“
Mindestens einmal in der Woche nahm Max sich vor, bewusster zu leben, achtsamer wahrzunehmen, sich im Genießen höherer Genüsse zu üben. Er wollte Feinschmecker werden und Musikkenner und Weinschmecker, ja, es kam darauf an seine Sinne so fein zu schleifen, dass sie noch dort wahrnahmen, wo nur spezialisierte Fledermaus- oder Hundesinne wahrnehmen konnten. Es galt die physikalischen Grenzen der Sinne zu überschreiten, dazu gehörte auch, das Gras wachsen zu hören.
Telefongezeter stoppte das Fließen seiner Fantasien.
„Wo?“, fragte Max.
„Ach was? Jetzt also auch dort?“
Max trat noch einmal unter die Dusche: heiß, kalt, heiß, kalt. Als er sich bückte, um einen ergrauten Blütenkorb aus der Abflussöffnung zu entfernen, war es eine nahezu farblose, der Kanalisation entstiegene Riesenspinne.