Читать книгу Curry, Senf und Ketchup - Friedrich Wulf - Страница 14
Elf
ОглавлениеNicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen. So ist der Tod an und für sich nichts Schreckliches, vielmehr ist die vorgefasste Meinung von ihm, dass er etwas Schreckliches sei, das Schockierende. Wir wollen daher, wenn wir durch etwas beunruhigt oder betrübt werden, niemals andere anklagen, sondern uns selber, denn es sind immer nur unser Meinungen über die Dinge und Ereignisse, die uns bekümmern.
Das waren so Gedanken, die Max zu spät auswendig gelernt hatte. Ob sie ihm wirklich geholfen hätten, als er sie am nötigsten gebraucht hatte, er zweifelte daran. Er glaubte stoisches Talent zu besitzen. Oder machte er sich etwas vor, wenn er die Reaktionen der Angehörigen nicht ertragen konnte.
Sie waren auf dem Weg zu Frau Liedvogel. Zumindest war jetzt klar, dass sie keinen Doppelmord aufzuklären hatten. Sie waren leichter zu lösen, denn es gab doppelt so viele Spuren und Fehler des Täters. Als Max sein Kommen bei Frau Liedvogel angekündigte hatte, klang sie heiser und gedämpft.
Cognac literweise wäre nicht stark genug, wenn die Todesmeldung von seiner Schwester käme. Max musste sich unbedingt mit Pillen, mit extrem starken eindecken. Ein Mittel, das die Wirkung von Alkohol verstärkte, hatte Max mal aus Finnland mitgebracht. Auch die Nebenfolgen waren beachtlich und sein Elend danach so einmalig, dass es in der Tat mit neuen Sorgen von den eigentlichen Sorgen ablenkte.
Im Wohnzimmer Professor Liedvogels hing ein Schwein über dem Sofa. Auf dem Tisch vor dem Sofa standen Kannen mit Tee und Kaffee.
„Nehmen Sie Zucker?“, fragte Hildegard Liedvogel.
„Nein danke“, sagte Max.
Sie füllte zwei gehäufte Löffel in den Tee für Max.
Frau Liedvogel nippte an ihrem Tee und schüttete drei Schlucke auf ihre Untertasse. Hin und her wanderte Clarissas Blick vom Schwein über dem Sofa und dem Mund an der Untertasse.
Nein, ihr traute Max es nicht zu, schätzte die Einflüsterungen seiner Intuition aber nicht als sonderlich vertrauenswürdig ein und dachte, wenn die Umstände passen, jeder und jede. Ihm wurde schweißheiß, wenn er die nächsten Angehörigen nach dem Alibi fragen musste. Dieses Mal hatte er Glück. Als Frau Liedvogel den Tee von der Untertasse geschlürft hatte, begann sie mit einer Geschichte, ganz so, als ob sie der Frage nach dem Alibi zuvorkommen wollte.
„Glauben Sie an Koinzidenzen?“, fragte sie?
„Koinzidenzen?“, fragte Max.
„Ja, zwei Lottogewinne in einer Woche oder beides gleichzeitig, Hals- und Beinbruch, wortwörtlich und gleichzeitig.“
„Wie, wie bitte?“
„Während ich in der Behandlung bin, wird mein Mann ermordet.“
„Ein Zufall ja.“
„Du liebe Zeit, das doch nicht, ich war ja nicht mehr in der Behandlung. Es war danach, schätze ich.“
„Sie waren auf dem Heimweg, oder schon hier?“
„Nein, eben nicht, noch immer in der Praxis, ich kam ja nicht raus.“ Max meinte ein klitzekleines Kichern gehört zu haben.
„Nicht aus der Praxis?“
„Ja, sie haben mich eingesperrt.“
„Ach was!“
„Ja ja!, das meine ich mit Koinzidenz!“
„Eingesperrt? Gegen Ihren Willen, ich meine...“ Wieder das kleine Glucksen.
„Nicht gegen meinen Willen, du liebe Güte, wo leben wir denn? Dr. Loch hatte es eilig. So was spürt man. Ich war seine letzte Patientin, und als ich raus wollte, war die Praxis abgeschlossen. Ein Versehen.“
„Wie?“
„Wie? Er wird den Schlüssel im Schloss umgedreht haben, so geht das.“
„Ich meine, wie ist das passiert?“
„Ich war noch zur Toilette.“
„Aber Sie hätten doch rufen oder anrufen können.“
„Meine Tochter hätte es telepathisch gemacht, die kann so was. Die hätte Dr. Loch zurück in die Praxis dirigiert mit ihrer Hexerei.“
„Haben Sie angerufen?“
„Meinen Mann hätte ich um die Zeit nicht erreicht und später sowieso nicht mehr. Und dann hat mein Kinder-Ich gewonnen. Ich kannte ja die Couch.“
Im Blick von Clarissa sah Max, dass er das Kichern von Frau Liedvogel nicht halluzinierte. Sie kicherte wirklich.
So perplex hatte Clarissa ihn noch nicht gesehen, seine Mundwinkel standen still, zuckten gar nicht vor nervösem Übermut.
Ihr Mann war kaum kalt und die gluckste wie ein Frosch nach dem Laichen. Aber die Geschichte war so fantastisch, dass Clarissa nicht annahm, Hildegard Liedvogel würde ihnen einen Bären aufbinden. Ihr Abenteuer war viel zu leicht nachzuprüfen, und selbst wenn Hildegard Liedvogel nicht mehr alle Schweine im Rennen hatte, so blöd konnte sie nicht sein. Andererseits, wer ein lila Schwein über dem Sofa hängen hatte.
„Die Couch war bequem“, sagte Hildegard Liedvogel, „und das war doch mal was anderes, du liebe Zeit. Ohne Abenteuer verkümmerst du doch. Was hast du denn schon an Abenteuern heutzutage. Dass du auf dem Weg durch die Stadt in Hundekacke trampelst. Oder dass sich ein Bekloppter im Skilift neben dich setzt. Das ist mein großes Talent, müssen sie wissen, egal wo, im Bus oder im Zug, ich sitze kaum und schon kommt der Bekloppte und setzt sich neben mich. Da können zehn, zwanzig Plätze frei sein, aber nein, der Bekloppte, der...“
„Sie haben in der Praxis geschlafen in der Nacht, als ihr Mann...“
„Mein Mann erschossen wurde. Ja auf der Labercouch.“
„Ich habe wirklich gut geschlafen.“
Beim letzten Wort, wie schon einige Male zuvor, flippte ihr Daumen über Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand, als ließe sie ungeheuer geschwind eine Kette oder einen Rosenkranz durch ihre Hand gleiten.
Max blickte Clarissa an, die vor ihrer noch immer vollen Tasse saß, als ob sie fürchtete, Anthrax könne im Kaffee sein. Sie hob kaum merklich Achseln und Brauen.
Etwas war gründlich falsch an der ganzen Situation, in der Max sich befand, so verhielt sich keine trauernde Frau. Falsch! So hatte eine Trauernde sich nicht zu verhalten. Er dachte an seine Schwester, wie das wäre. So wenig berührt sein, konnte man doch gar nicht. War das Verhältnis zu ihrem Mann so mies gewesen?
„Vertrautheit erzeugt Verachtung“, hatte sein Vater immer gesagt. War sie etwa froh, dass sie ihn los war? Seine Tante Vera war nach dem Unglück aufgeblüht, hatte nach einem Jahr und fünf Monaten, fünf Jahre jünger, munterer und lebendiger gewirkt. Australien, China, Japan, Kanada seien jetzt dran, Afrika und Europa könne sie machen, wenn sie alt sei, hatte die 65-Jährige gesagt.
Max fragte sich, ob Frau Liedvogel noch nicht kapiert hatte, dass ihr Mann erschossen worden war, oder war sie bis in die Haarspitzen vollgedröhnt?
Sie mochte Anfang 50 sein, die Haut straff übers Gesicht gespannt, alterslocker am Hals. Ob sie noch attraktiv war, konnte Max nicht einschätzen, etwas Anziehendes fand er an jeder Frau. Manchmal waren es nur Klänge, das scheuernde Geräusch beim Überschlagen der Beine oder eine Stimme, die ihn erotisch aufschrecken ließen. Hildegard Liedvogels Worte klangen angeraut.
Woher stammte der kaum Knick zu nennende, keinesfalls hässliche, im Gegenteil durchaus gefällige, aber eben doch Knick in ihrer Nase? Hatte Liedvogel seine Frau geschlagen? Zum Gesicht und den sehr kurzen Ringellöckchen wollte die mürrische Oberlippe nicht passen. Berger, sagte sich Max und schüttelte seinen Kopf im Kopf, du sitzt hier nicht vor deiner Dichterkladde. Die mürrische Oberlippe, die streich mal wieder; ihre Oberlippe sagt über ihren Charakter ungefähr so viel aus wie das heisere Spektakel einer Elster im Gebüsch über die Entwicklung der Goldpreise.
„Solange Sie Löcher in die Luft starren, finden sie den Täter nie“, sagte Hildegard Liedvogel. „Was müssen Sie wissen, ich habe ja nicht endlos Zeit. Die Zimmer müssen hergerichtet werden.“
„Gut, gibt es irgendjemanden, der ein Interesse an seinem Tod haben könnte?“
Hildegard Liedvogel antwortete nicht sogleich, sondern schwappte Tee nach, warf ihn im Bogen in ihre Tasse, ungefähr so, wie James die Gläser von Mr. Winterbottom und Admiral von Schneider vollwarf.
„Ich höre wohl nicht recht, das meinen Sie doch wohl nicht ernst, oder?“, fragte Hildegard Liedvogel.
„Wieso?“
„Sind Sie bei der Polizei oder was?“
„Wie bitte?“
„Aber wohl längere Zeit nicht auf unserem Planeten gewesen?“ Sie ließ den unsichtbaren Rosenkranz schleifend durch ihre Hand laufen. Clarissa grinste Max an, als ob sie ahnte, was kommen würde.
„Sind Sie an seinem Tod interessiert?“, fragte sie Clarissa und nickte zu Max hinüber. „Behandelt er Sie respektvoll oder nur als Frau? Als Nachfolgerin kämen Sie wohl noch nicht infrage, sind zu jung, aber da ist doch sicher einer, der schon auf Ihren Job wartet. Lieber Herr Berger, sogar mein Sohn könnte ein Interesse haben am Tod seines Vaters.“
„Sie meinen, ihr Sohn könnte seinen Vater...?“
„Nein, natürlich nicht, du liebe Zeit, erstens ist er in New York und zweitens würde er nicht, niemals.“
„Aber sie haben doch gesagt.“
„Sie haben nach einem möglichen Interesse gefragt. Sie haben sich gestritten. Mein Mann wollte ihn sogar enterben.“
„Aber hatte er Feinde oder wurde er bedroht, Konflikte?“
„Dass mein Mann ermordet wurde, ist ganz unmöglich. Er hatte keine Feinde und wer keine Feinde hat, wird nicht ermordet, es sei denn von seinen Kollegen, die seine Feinde nicht sein sollten.“
„Aber waren?“
„Ja, waren, er ist jetzt ja tot.“
„Gab es Konflikte mit anderen Personen - aus dem Bekanntenkreis?“
„Ja, mit dem Postboten.“
„Dem Postboten?“
„Ja, mein Mann war sehr ordentlich, er konnte rasen, wenn die Zeitungen zerrissen waren oder wenn der Postbote Päckchen in den Kasten quetschte. So war er.“
„Der Postbote also“, sagte Max, „Haben Sie das?“ fragte er Clarissa.
„Sind Sie verrückt!?“, sagte Hildegard Liedvogel. Bevor sie weitersprach, nippte sie ein paar Mal am Tee.
„Der Postbote ist ein ganz lieber Kerl, der reißt keiner Fliege einen Flügel aus.“
Das reicht auch nicht, sie wachsen sofort wieder. Erschlagen sollte er sie, dachte Clarissa.
„Hatte er denn wirkliche Feinde, wirkliche Konflikte?“
„Sicher, Neider in der Uni. Bei seinem Erfolg, einmal im Monat ein Kongress, sein Name als Sonderankündigung. Und seine Gastprofessuren in Berkeley und Harvard. Da kriechen die Giftkröten aus ihren Tümpeln, du liebe Zeit.“
„An wen denken Sie?“
Hildegard Liedvogel winkte ab.
„Oh du liebe Zeit“, sagte sie, „mit den Jahren wechselten die Kröten, ich habe mir ihre Namen nicht gemerkt.“
„Ist ihm gedroht worden?“
„Er war immer so gutmütig.“
„Entschuldigen Sie Frau Liedvogel, wenn ich das frage. Hat ihr Mann, ich will mal so sagen, hat er in fremden Revieren gewildert?“
„Er ging nicht zur Jagd.“ Sie gluckerte.
„Ich meinte das nicht so wörtlich, ich meinte...“
„Ich weiß, was sie meinen“, sagte sie mit geschürzter linker Oberlippe.
„Mein Mann war ein schlauer Mann, er hatte es nicht nötig, sich bei anderen zu bedienen, du liebe Zeit, er war so gedankenreich, da brauchte er keine Gedanken zu klauen.“
„Ich meinte, bitte das richtig zu verstehen, hatte er was mit anderen...“
„Ach sie wollen wissen, ob er ein normaler Mann war - war er, war er.“
„Er hatte also Affären?“
„Das weiß ich doch nicht, mir hätte er das ja wohl nicht gesagt - oder? Erkundigen sie sich. Stellen Sie Nachforschungen an!“
„Können wir uns hier umsehen, im Arbeitszimmer Ihres Mannes?“
„Bitte, bitte, wo und solange Sie wollen. Mein Mann war ein sehr ordentlicher Mensch, schauen Sie sich um, ich muss die Zimmer für die Kinder herrichten.“
Fasziniert stand Max vor einer Bücherwand, wo alphabetisch geordnet Liedvogels Werke standen, neben den deutschen Ausgaben die Übersetzungen von Norwegen runter bis nach Italien und Griechenland. Mit einem Wort, seine Bücher lagen in sämtlichen germanischen und romanischen Dialekten vor. Verständnislos und mit anschwellendem Neid betrachtete Max dieses Musterzimmer professoraler Ordentlichkeit. Genies lebten im Chaos, das war ein Gesetz. Hier nur Pedanterie, und doch sollte Liedvogel etwas Geniales gehabt haben. Genies hielten sich auch nicht mehr ans Klischee.
Wenn dies ein Film wäre, dachte Clarissa, dann wäre der Papierkorb schön voll, richtig schön voll zum Wühlen, Ekeln und Finden, aber dies war kein Film.
„Und?“, fragte Max.
„Leer!“, sagte sie.
„Wonach suchen wir?“, fragte sie.
„Nach einem Eindruck!“, antwortete er.
„Soll ich“, fragte sie.
Max nickte und zog ein Buch aus dem Regal, das gar keines war. Einen Band mit Spiegelausgaben hielt er in den Händen, eingebunden. Er blätterte und fand, was er vermutet hatte. Liedvogel war eitel. Max hielt ausgewählte Spiegelausgaben in seinen Händen. In jedem Spiegel gab es entweder die Besprechung eines Liedvogelschen Buches, ein Interview mit ihm oder einen Aufsatz von ihm. In einem Interview mit Liedvogel las Max:
„Nein, das ist nicht meine Frage, denn die Frage nach den Inhalten ist sekundär. Viel bedeutender ist heutzutage die Frage nach der Stärke von Erregungszuständen. Wir alle sind Junkies. In der Wahrnehmung von Schreck und Bedrohung abhängig von der medialen Dosierung. Das Fernsehen übernimmt die Aktualisierung unseres Mitleids. Die Maschine rhythmisiert unsere Empathie. Und - genauso wichtig! Die Maschine schenkt uns Phasen der Apathisierung. Stellen Sie sich das als Wellenbewegung vor. Als vorläufiger Höhepunkt der Elfteseptember. Danach sinkt die Kurve sachte ab, bevor sie wieder ansteigt bei den ersten Bomben auf Afghanistan und den Tsunamitoten.“
Dass die Bücher nach ihrer Höhe sortiert waren, war ungewöhnlich, aber Macken würzten das Leben eben.
Wenn Max in dreißig oder so Jahren im Spiegel interviewt würde, ob er bei seinen Büchern und Papieren Ordnung halte, dann würde er gerne sagen können: „Nein, es ist ein einziges Chaos. Meine Wohnung kann außer mir niemand mehr betreten, überall Blätter, Entwürfe, Bücher, Zeitschriften. Die Papiere sind langsam über die Treppe nach unten gewandert und haben sich in der Wohnung darunter ausgebreitet, in der meine Frau und Kinder wohnten. Es gibt praktisch keinen Platz zum Sitzen mehr.“ Das wäre eine Geschichte, die er gern erzählen würde.
Und der Spiegel würde fragen: „Also ist doch was dran am Chaos der Kreativen?“ Worauf er nur nachsichtig lächeln und antworten würde. „Nennen sie es Chaos, nennen sie es Kreativität oder nennen Sie es Beseelung, was liegt am Wort?“
Max zog ein weiteres Buch aus dem Regal, auch dahinter weder Gin noch Whiskey oder Tresor. Nur Wand. Professor Liedvogel war also ein eitler und ordentlicher Mensch, aber unempfindlich gegen starkes Arom, denn es muffelte im Zimmer. War das noch Geruch oder schon Gestank? Max warf seinen Fünfer, die 68er Fehlprägung mit Kiesinger auf beiden Seiten, mal ohne Ohr, mal ohne Nase. Ohr fiel, Ohr stand für Gestank. Man gewöhnte sich an Gestank, das hier war jedoch zu penetrant, aber ohne augenfällige Quelle.
Auf dem Schreibtisch von Liedvogel lag leider kein Erpresserbrief, auch keine Drohkassette, nur das Übliche. Clarissa, die darauf wartete, dass der Bildschirm lebendig wurde, zeigte auf ein halbes Dutzend Fernbedienungen, die gereiht auf einem Samttuch lagen.
„Alles picobello“, sagte sie, „die Bedienungen liegen auf dem Kopf, warum?“ Max drehte eine Fernbedienung um, schaute auf die Tastatur, nahm eine weitere, stellte fest, welche Tasten am häufigsten benutzt worden waren und wusste, weshalb die Fernbedienungen auf der Nase lagen.
An der Wand hing eine farbliche Verrücktheit, signiert von einer Maja.
Max trat zurück, hoffte auf einen einleuchtenden Eindruck, machte einen Schritt vorwärts und legte den Kopf zur Seite. Etwas störte ihn; zugegeben er war ein Kunstbanause. Beuys hielt er für einen Fanatiker, wenn nicht Verrückten, zumindest Scharlatan. Das Ding an der Wand protzte mit viel Farbe, machte aber wenig Sinn: ein Herz, ein verdrehter Körper. Der Schinken im Wohnzimmer über dem Sofa war schon ein dicker Hund, so ein plumpes Schwein mit einem Heiligenschein über dem Scheitel. Aber sympathisch die Farbgebung des fetten Ferkels, die Schwarte ganz in kardinalspurpur.
Nicht eine Schreibtischschublade war verschlossen. Was Max dort fand, war so spektakulär, wie der Inhalt von Schreibtischschubladen eben war: Druckpapier, Radiergummi, Fotos, Uhu-Sticks und Klammern. Aufsätze und Referate von Studenten steckten in Hängeregistern. Die Spurensicherung würde sich freuen. Kopfarbeit war Knochenarbeit.
Max fuhr auf und blickte zum Monitor, wo eine nasalierende Männerstimme leierte:
Uldis Anders: „Okay. Ich wollte Sie nicht nach der Geschichte von Paderborn befragen, es hat mehr mit der erstaunlichen Geschichte ihrer Entführung durch Außerirdische zu tun. Nun, wo waren Sie, als das passiert ist Herr Husen?“
Norbert Husen: „Ich war mit meiner Frau Winni unterwegs - die auch in der Gegend von Paderborn lebt - direkt über der Garage haben wir eine winzige Wohnung. Und ör, ör draußen an dem Abend, ich war Metall suchen.“
„Was ist das?“, fragte Max und beugte sich zum Bildschirm. Im Gestank der beinahe noch warme Geruch von Clarissa nach Zimt, Vanille, Banane, Opium. Max schloss ein Momentchen die Augen: Nelken. Welch olfaktorischer Übermut im dunkelfauligen Gestank des Raums.
Kopf an Kopf starrten sie auf den Bildschirm. Hatte er es nicht gesagt, es musste ja so kommen, diese zärtlich-zittrige Nähe.
„Ich habe die letzte von Liedvogel benutzte Datei aufgerufen“, sagte Clarissa.
„Aber was ist das?“
„Ein Video, eine Art Talkshow glaube ich, unser Prof hatte Humor“, sagte Clarissa.
„Das soll humorvoll sein? Albern!“, sagte Max.
„Ich kuck mir das an“, sagte sie.
„Das ist Mist“, sagte er.
„Nein, ist witzig!“, konterte sie.
„Woher wissen Sie, dass das die letzte Datei war, die er benutzt hat?“
„Hier!“
Clarissa hielt das Video an, klickte auf Start und dann auf den Ordner Dokumente.
„Da, da sind sie aufgelistet.“
„Zeigen Sie mal.“
Maxens Hand stieß zur Maus hinunter. Sie war handwarm.
„Sie haben die oberste Datei in der Liste aufgerufen?“, fragte er Clarissa.
„Ja.“
„Und weil sie oben steht, meinen Sie, das wäre die letzte, die er benutzt hat?“
„Ja.“
„Schauen Sie sich die Liste mal genau an.“
„Sie haben recht, alphabetisch, schade!“
Max klickte auf die Datei mit dem Namen „Flusen und Fuseln“, war aber nicht so erfolgreich wie Clarissa, denn es erschien kein albernes Video auf dem Schirm, sondern ein Satz flimmerte für einige Sekunden über den Monitor und war dann wieder verschwunden. Die Datei war offenbar nicht zugänglich für Unbefugte. Max klickte noch einmal auf die „Flusen und Fuseln“ und las vor: „Ist immer ein schlimmes Zeichen, wenn Goldfische sich aufhängen.“
Clarissa lachte. Maxens Mundwinkel zuckten. Clarissa lachte lange und merkte sich: „Ist immer ein schlimmes Zeichen, wenn Goldfische Selbstmord begehen.“
Max klickte auf die Datei: „Elfterseptember Medien“. Wieder nur das Aufleuchten eines Satzes. Zu kurz. Noch ein Klick. „Rom wurde auch nicht an einem Tag niedergebrannt.“ Clarissa wiederholte den Satz und lachte. „Ein Schalk und Zyniker, aber witzig, wirklich witzig!“
Max war nicht in der Stimmung sich verarschen zu lassen. Sollten die Experten der eigenwilligen Rechenmaschine den Ulk austreiben. Clarissa grapschte nach der Maus und klickte zum Videospaß. Max spitzte die Ohren, während er wieder in den Schubladen kramte.
In dem Videosketch ging es um einen Kekskontrolleur, der offenbar von Außerirdischen entführt worden war.
Einige Male blickte Max von seiner Suche auf, sah den nasalierenden Keksbeißer in seinem Norwegerpullover mit Metalldetektor in den Händen und musste grinsen.
Norbert Husen: Nein, nein. Es war ein überirdisches, außerirdisches Objekt. Nicht-Metallisch, sonst hätte der Detektor sofort angeschlagen. Und, ör, ich fühlte mich seltsam ruhig, aber gleichzeitig schrecklich beunruhigt. Und ich wusste nicht, was ich machen sollte und es blieb einfach da, glühte gespenstisch... Das Ding schwebte da und ich fühlte so ein Heranwinken - mehr ein mentales Winken als ein physisches Heranwinken - und dann stieg aus der Kugel eine Kreatur und die - was soll ich sagen - zog mich mächtig an, fing an mich langsam in ihren Machtbereich zu saugen, allerdings nur mental.
Uldis Anders: Saugte an Ihnen nur mental?
Norbert Husen: Saugte mich mental in ihren Machtkreis und dann fiel ich in eine Trance und das nächste, was ich wusste - ich war wo anders.
Uldis Anders: Gut. Wie haben diese Kreaturen ausgesehen?
Norbert Husen: So ähnlich wie Otter. Die Gestalt wie Otter.
Uldis Anders: Und wie lange waren Sie auf dem Planeten?
Norbert Husen: Ich war dort ungefähr vier Jahre - schien so, als ob ich vier Jahre dort..., aber ör eigentlich waren es nur drei Minuten nach unserer Zeit.
Uldis Anders: Auf welchem Planeten waren Sie? Mars, Pluto oder Venus?
Norbert Husen: Ikea. Das waren Leute, die vor Millionen von Jahren dort angekommen sind in Pappkartons und gezwungen waren sich selbst zusammenzubauen.
Uldis Anders: Ich schätze das erklärt die seltsame Form, ja?
Norbert Husen: Nun ja, sie hatten keine Gebrauchsanweisungen dabei.
Max stand aus der Hocke auf und streckte sich. Die Corbusier Liege reizte ihn und ein Momentchen der Meditation, ein bisschen Schaukeln mochte ihn auf neue Gedanken bringen. Behutsam ließ er sich in die Sitzmulde nieder, zog die Beine an, verlagerte seinen Oberkörper gegen den Rücken der Liege, fand dort nichts als Leere und plumpste nach hinten auf den Rücken, die Beine senkrecht in der Höhe. „Oh, oh, oh!“ Clarissa schaute sich um. Auf ihren Rohrkufen zurückgerollt, lagen beide nun auf dem Rücken: die Liege und Max mit ihr, dem in dieser Lage eine vollkommene Kerze gelang, die einem Kampfrichter mindestens die Haltungsnote von 9,8 abgenötigt hätte, selbst einem aus der DDR. Clarissa gab ihm 10.
Max ruckte mit dem Oberkörper nach vorn, aber die Rohrkufen wollten nicht zurückschwingen, er rubbelte mit seinen Hintern nach vorn, erfolglos. Ohne Mühe drückte Clarissa die Kerze aus Mensch und Liege zum Boden, so dass Max sich mit der eigensinnigen Liege arrangieren konnte und nach einem Weilchen nachdenklicher Stabilität sich zaghaft zu wiegen begann, indem er seinen Oberkörper ganz leise nach vorn beugte, ohne die Liege gleich wieder zu erschrecken und dann ganz sachte, sachte lehnte er sich zurück und schwang vor und zurück, schwang hin und her. Und mit dem meditativen Schaukeln kam im Nu auch ein schöner Gedanke: Die Welt ist Schwingung.
Aus den Lautsprecherboxen erklang die Fortsetzung des Sketches, dem auch Max jetzt lauschte und dem leisen Lachen von Clarissa, insbesondere Clarissas leisem Lachen.
Uldis Anders: Und was wollten die Kreaturen von Ihnen? Wollten Sie speziell was von Ihnen oder was über die Menschheit wissen, die Menschheit im Allgemeinen?
Norbert Husen: Ich glaube sie teilen meine Liebe für Metall, aber hauptsächlich ging es ihnen um ihr Museum da oben, alles über Rock ‘n’ Roll.
Uldis Anders: Rock ‘n’ Roll?
Norbert Husen: Ja, unser Rock ‘n’ Roll, und den einzigen Song, den sie jemals gehört haben, war von Manfred Mann. Und sie waren unsicher über den Text seines Hits. “There I was a-walking down the street going Doo Wah Diddy Diddy, Dum Diddy…“. Und ein Teil des Textes fehlte ihnen.
Uldis Anders: Ach ja!?
Norbert Husen: Sie kamen also nur bis: „Doo Wah Diddy Diddy, Dum Diddy“. Und sie wollten wissen, was danach käme.
Uldis Anders: Konnten Sie es Ihnen sagen?
Norbert Husen: Nein, ich kannte den Text überhaupt nicht. Sie waren also sehr unzufrieden mit mir, öh sie sind mit fast allem sehr unzufrieden da oben auf Ikea.
Uldis Anders: Wie haben Sie mit ihnen gesprochen. Sprachen sie deutsch?
Norbert Husen: Nein, sie denken, sie könnten sprechen und kommunizieren durch - durch Gedankenwellen, durch Schwingungen - zeitlose Äonen-Schwingungen.
Uldis Anders: Und Sie konnten die aufnehmen, oder?
Norbert Husen: Ich verstand, dass sie unzufrieden waren, mit dem, was sie hatten.
Uldis Anders: Jaaa... Äh, wie war die Atmosphäre auf Ikea?
Norbert Husen: Nun, ist sehr dünn. Sehr, sehr dünne Atmosphäre. Hätte ich nicht etwas Luft in meinem Pullover und in meinen Socken dabei gehabt, ich wäre ganz bestimmt erstickt.
Uldis Anders: Was für Nahrungsmittel haben sie. Essen sie?
Norbert Husen: Nein, sie halten Diät seit zwei Millionen Jahren. Sie essen nicht. Sie haben weder Mägen noch Münder, sie haben nur - nun, ich habe ihnen das Bild gezeigt - sie haben die Form eines Otters mit zwei Schlitzaugen. Ist also eine gute Sache, dass sie nicht essen, weil, sie haben einfach nichts, wohin sie die Nahrung stecken könnten.
Uldis Anders: Hat die Erfahrung Sie irgendwie verändert?
Norbert Husen: Ja. Ein Erlebnis wie das – ja was glauben Sie denn, ein Erlebnis fürs Leben war das, ein Lebenserlebnis sozusagen – das prägt, hat mich zum Nachdenken gebracht und mir ist klar geworden, ganz klar, ich bin mir bewusst geworden wie unbedeutend, wie unendlich unbedeutend...
Max hielt mit dem Schaukeln inne und horchte, wartete auf die Antwort, aber weil der Entführte nicht weiterkam, sprang Uldis Anders ein: „Wie unendlich unbedeutend wir sind.“
Norbert Husen: Nein, nein, ganz und gar nicht, ich meine, wie unbedeutend sie sind.
Uldis Anders: Vielen Dank, Herr Husen.
Neben der Liege lag ein Roman. „Die Entdeckung der Currywurst.“ Max schlug das Buch auf und las: „Siehste, sagte sie, schüttete etwas Curry in die heiße Pfanne, schnitt dann mit dem Messer eine Kalbswurst in Scheiben hinein, sagte Weißwurst, grausam, und dann noch süßer Senf. Sie schüttelte sich demonstrativ: Brrr, klackste Ketchup in die Pfanne; rührte; gab noch etwas schwarzen Pfeffer darüber und schob dann die Wurstscheiben auf den gefältelten Pappteller: Das is reell. Hat was mitm Wind zu tun. Glaub mir scharfer Wind braucht scharfe Sachen.“
Er legte das Buch wieder zurück und erhob sich ganz vorsichtig aus seiner labilen Liege, hockte sich hinter einen Rollcontainer neben dem Schreibtisch, durchsuchte die Schubladen von unten nach oben, fand nichts Bemerkenswertes und öffnete die oberste ohne Spannung, der Inhalt könnte eine Spur oder etwas Aufregendes über Liedvogel enthalten. Und doch steckte eine Überraschung darin, die ein Sonderplätzchen in seiner Schublade mit dem Schildchen „Menschliches allzu Menschliches“ bekommen würde.
„Schauen Sie sich das mal an“, rief er zu Clarissa hinüber.
„Das ist ja eine elende Sauerei“, sagte Clarissa.
Sie starrten auf ein halbes Dutzend Äpfel in unterschiedlichen Verrottungszuständen. Aus einem Prachtexemplar, nun dunkelbraun und mit Schimmelstippen übersät, sinterte gelblicher Saft. Sie standen vor einem Rätsel und hatten zugleich das Rätsel des fauligen Gestanks gelöst.
„Vielleicht wirkt der Geruch beruhigend“, meinte Clarissa.
„Oder stimulierend“, sagte Max.
„Seine Tochter ist doch so eine esoterische Wunderheilerin. Womöglich Spezialistin für Heilungen mit der freundlichen Hilfe von fauligen Ausdünstungen“, sagte Clarissa.
Der Verkehr steckte im Regen fest. Meter um Meter näherten sie sich der Wilhelmstraße.
„War für seine Frau ganz natürlich, dass die Schublade immer mit solchen Äpfeln gefüllt sein musste. Empfand offenbar keinen Widerspruch zur sonstigen Ordnungsliebe des Professors“, sagte Clarissa.
„Wollen Sie damit was sagen oder nur was sagen?“, fragte Max.
„Außen hui, aber die Nase polymorph pervers“, sagte Clarissa.
Clarissa brauchte den Seitenblick von Max nicht zu erwidern, um zu wissen, dass seine Mundwinkel spöttisch zuckten. Er hielt die halbreligiösen Torheiten des Wiener Scharlatans für das, was sie waren: Albernheiten für Pubertierende.
„Wer fauligen Geruch liebt, an dem muss nicht notwendigerweise selbst etwas faul sein“, sagte er.
„Wir nehmen uns morgen diesen Jäger vor, bei dem die beiden vorgestern zu Abend gegessen haben.“
„Wegen der Waffen, weil ein Jäger Waffen hat?“
„Nein, weil wir irgendwo anfangen müssen. Und in der Uni müssen wir Liedvogels Neider finden, „sagte Max“, die Leute, die ihm was schulden, die Studentinnen auf seinem Schreibtisch. Wem er die Karriere verbaut hat.“
Murmelnd fuhr Max fort: „Wollte er sich mit den Äpfeln antreiben? Nach dem Motto, nutze den Tag, warte nur, balde faulest du auch?“
„Das ist doch krank“, sagte Clarissa.
„Wir müssen schnellstens herausfinden, mit wem er umgeht, wen er kennt, betuppt und ausbeutet, daraus lassen sich Motive ableiten.“
„Die Talksituation in dem Video war irgendwie nicht echt“, sagte Clarissa.
„Was soll daran echt sein, ist nie echt, ist immer gestellt, gemacht, abgesprochen und verlogen, die Wirklichkeit noch mal verbogen.“
„Jaja, aber ich meine, ich hatte das Gefühl, die war noch unechter, nur das Spiel einer Talkshow, ich weiß nicht, eine simulierte Talkshow, aber ich weiß nicht wieso.“
„Aber Sie haben sich ganz köstlich amüsiert?“
„War witzig, absurd, ich finde verrückt gut, wie der Hörsaal als Tatort verrückt gut war. Der Ort war dem Täter wichtig“, sagte Clarissa.
„Eine öffentliche Hinrichtung!“
„Abschreckung!“
„Wer abschrecken will, braucht einen Empfänger, einen der mitkriegt, dass es ihm an den Kragen gehen soll, ein Bekennerschreiben mit einer Drohung, haben wir aber alles nicht, noch nicht.“
„Und wenn’s so wäre, dann müssten wir mit weiteren...“
„Sprechen Sie nicht weiter!“, sagte Max und dachte an die Folgen für seine Karriere. Wenn er den Täter schnell fing, war das nützlich, wenn er einen Massenmörder im Nu hinter Gittern brachte, war das sogar noch nützlicher.
„Halten Sie!“, rief Clarissa.
„Wieso?“
„Jetzt halten Sie doch schon.“
„Was ist denn?“, fragte Max.
„Dort kucken Sie!“
Ein Punk oder ein Rocker oder sonst ein Clown mit gepanzerten Stiefeln trat die Fensterscheibe eines Juweliergeschäftes ein. „Besser Panzerglasscheiben als zerbrechliche Köpfe“, sagte Max. „Da müssen wir doch!“ Clarissa blickte Max an, machte die Tür auf. „Warten Sie, wir sind Mord. Wollen Sie den Kollegen die Chance vermiesen, sich auszeichnen zu können?“ Solange der den aufgebrachten Juwelier nicht erschoss, solange war ihm das schnuppe. Max war zwar nicht mit allen ideologischen Weihwassern der Sechziger und Siebziger gewaschen, doch bei dem Juwelier glitzerte der Kapitalismus besonders vorwitzig. „Das glaube ich jetzt nicht“, sagte Clarissa, die abwechselnd Max anschaute und dann wieder über die Schulter zum Schaufenstertreter.
In solchen Lagen konsultierte Max seine Fehlprägung aus dem Jahre 1968. Ohr oder Nase?
„Hier“, sagte er, „Nase, und wir lassen den Punkrocker laufen oder Ohr, wir holen ihn uns.“ Die Nase fiel, sie fuhren davon. Später erschlug der Punkrocker den Juwelier, wurde von einer Streife gefasst und brummt jetzt seine Strafe ab. Bergers Gewissen blieb unbelastet, denn eingespannt in seinen eigenen Fall, bekam er nichts davon mit. Der Zufall entlastet, der Zufall belastet, dieses Mal meinte Frau Fortuna es gut mit ihm.
Ermittlungszeiten waren nicht nur die schwersten Zeiten, sie erleichterten auch, weil sie die Wahrnehmung veränderten, weil seine Horizonte sich verschoben. Max schluckte eine Pille, sein kleiner Helfer. Was ihn eben noch bedrückte, rückte in den Hintergrund oder kribbelte irgendwo am Rande weiter. Die Aufklärung und die Verhinderung eines weiteren Mordes waren im Augenblick das drängende Thema seines Bewusstseins, eingebettet in seine Grübeleien, wie er die nächste Beförderungsstufe nehmen konnte.
Egal wie sehr die Lösung des Mordfalles in den nächsten Wochen oder Monaten seinen Horizont auch bestimmen würde, immerzu lauerte in irgendeinem abgelegenen Winkel seines Hirns die Angst um seine Schwester. Die Angst war ein immer agiles Monster, jederzeit bereit ihm in den Nacken zu beißen, wenn sein Bewusstsein erschlaffte.
Über den Gedanken, der Mörder könnte jederzeit wieder morden, verblassten die Sorgen um seine Schwester und über die Sorgen um seine Schwester vergaß er zeitweilig die Gefahr, die vom Mörder ausging.
Aber der Mord bot auch eine Chance. Ein rasch gelöster Fall war die beste Voraussetzung, mal wieder auf sich aufmerksam zu machen. Aufstieg durch Leistung und Erfolg, so sollte es sein, nicht durch Taktieren und Lavieren. Kein Bühnenspiel vor den Vorgesetzten. Ihn ekelten Kollegen, die krochen.
Eine Zeit lang war Max in keine Pizzeria mehr gegangen und schließlich war er auch nicht mehr an Pizzerien vorbeigefahren. War absurd. In Paderborn war der Tod kein Dauergast in Restaurants wie in Jerusalem. Der Mensch gewöhnte sich eben nicht an alles, sondern das Unbewusste war unablässig tätig wie ein grabender Maulwurf.
Mit dem meistgefürchteten Anruf wäre er mit einem Mal von den Ängsten um seine Schwester befreit. Ein entsetzlicher Gedanke. Mit dem Tod der Schwester würde das Leben wieder leichter, keine Frage, nicht sofort, aber auf die Dauer gesehen. Keine Angst mehr, weil der Grund fehlte. Schauderhaft!