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Fünf

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Max frottierte sich sorgfältig ab, der Mörder würde nicht auf ihn warten und dem Toten konnte es egal sein, wann er sich über ihn beugte.

Ein Mord in den Elfenbeintürmen also, unter den Eierköpfen oben auf dem Berg. Spitzenmilieu, aber miese Charaktere. Max bewunderte die Unerschütterlichkeit der Gerichtsmediziner. Sein Magen schrie nach einer Pizza oder einem Döner, aber sein Verstand sagte: nein! Jeder Bissen würde sich später rächen. Seine spezielle Diät: Morde.

Max zog sich an, ging zum Kühlschrank und überlegte, was sich anbot auf die Schnelle. Ein kaltes Stück Pizza oder Käse. Eine Gurke? Für solche Zwecke trug er in der linken Hosentasche ein Fünfmarkstück, eine 68er Fehlprägung. Auf beiden Seiten Kiesinger. Die Münze wirbelte durch die Luft: Ohr oder Nase. Dem einen Kiesinger fehlte die Nase dem anderen das Ohr. Die Nase entschied, was seinen Magen beruhigen sollte. Ein Fitzelchen vom zerfließenden Camembert ließ Max so sorgfältig auf der Zunge zergehen, als fürchtete er im Leben nichts mehr zu bekommen.

Der Ort bestimmte immer mit, wie gemordet und was aus den Leichen wurde. An der Uni war nicht mit aufgedunsenen Wasserleichen zu rechnen, immerhin. Gift oder Pillen waren ihm am liebsten. Eine saubere Angelegenheit. Die Hausmorde gingen auch noch, man nahm, was man zur Hand hatte: Messer, Axt oder Hammer.

Der Anfang seiner Arbeit war langweilig: Spurensuche, Zeugensuche, Motivsuche. Ihn trieb etwas anderes, der Augenblick nämlich, wenn er dem Mörder in die Fresse lächeln konnte. Die Morde mussten für ihn sichtbar werden, wie ein Film musste eine Folge von Bildern abrollen. Aus dem Wirbel des Werdens heraus mussten die Bilder sich sondern und lösen, die zeigten, wie etwas das wurde, was vorher nicht war. Sein Film begann am Ende, beim letzten Bild, beim Ermordeten auf dem Boden.

Mord auf leerem Magen, das war eine verfluchte Rücksichtslosigkeit. Andererseits war er froh noch kein volles Mahl im Magen zu haben. Spaghetti Bolognese oder Lasagne wären besonders übel.

Er musste achtgeben, dass das feuchte Früchtchen nicht zusammensackte, mit Blut und Hirn war zu rechen. Unzumutbar eigentlich für jeden Anfänger. Er war aufgewachsen mit verblutenden Menschen. Aber den Ekel, die Abscheu vor dem schmierigen Tod hatte er kaum mindern können. Andererseits wäre das eine Gelegenheit sie abzuschrecken, vielleicht kam sie zur Einsicht, dass die Mordkommission nichts für sie war. Problem gelöst, andererseits war da dieses dralle Donnerwetter.

Sie wolle unbedingt mit, deswegen habe sie sich ja schließlich für diesen Job entschieden, um Morde aufzuklären, hatte sie am Telefon gesagt. Und wenn sie Morde aufklären wolle, dann ginge das irgendwie nicht ohne Leichen ab. „Oder?“, hatte sie gekontert. Die Logik war auf ihrer, seine Stellung als Vorgesetzter auf seiner Seite.

Aber das hält die nicht aus, die bricht mir zusammen, dachte Max. Er kannte sie erst seit drei Tagen. Gut, wenn sie unbedingt wollte, sollte sie doch mitkommen und umkippen. Erfahrung macht hart, ob auch klug, das war eine ganz andere Frage.

Vor drei Tagen das Verhör des möglichen Vergewaltigers. Das war kein schlechter Anfang gewesen und jetzt ging es schon zu ihrem ersten Mordfall.

Clarissa betrachtete Berger aus den Augenwinkeln und fragte sich, als sie bei den Schuhen angekommen war, wovon er mit den spiegelnden Tretern ablenken wollte. Überhaupt traute sie einem Mann eigentlich keinen Geschmack zu in diesen Dingen, schwule Modedesigner mal ausgenommen, und folgerte, dass hinter seiner Fassadengestaltung entweder eine Frau oder professionelle Beratung steckte. Sie würde schon dahinter kommen.

Es gab so Sätze und Fragen, die sie sich für ihre Arbeit bei der Mordkommission zurechtgelegt hatte: Wovon wollen die Leute ablenken mit dem, was sie von sich zeigen? Will er mit seinen schlabberigen Cordhosen vom Storchengang ablenken? Was soll das Sichtbare verbergen? Zwar flusenfreie Oberfläche, aber darunter ein chaotischer Geist?

Sie hatte Zeit und würde auch herausfinden, weshalb er so blass war und warum er jetzt Perlchen von seiner Oberlippe wischen musste. Er schwitzte.

Max konzentrierte sich ganz aufs Fahren, folgte den Lichtbalken der Scheinwerfer, als führe er auf Schienen.

Obgleich er ihr angespannt erschien, zuckten selbst jetzt Fältchen der Verschmitztheit in seinen Mundwinkeln, sozusagen um ihrer selbst willen, ganz ohne Wirkungsabsicht. Dass es so was noch gab. Berger tupfte seine Oberlippe trocken mit einem Stofftaschentuch. Clarissa machte einen kleinen Hüpfer in die Zukunft, in der sie sofort nach dem Taschentuch tauchen wird, sollte er es fallen lassen, um die Wette mit sich selbst zu gewinnen, dass in einer Ecke ein gesticktes MB zu finden war.

Clarissa war kalt vor Aufregung. Sie zitterte vor Anspannung und ein kalter Schweißtropfen rollte aus ihrer Achselhöhle. So lange hatte sie darauf gewartet, auf ihren ersten Mord.

„Sie halten sich zurück, bis die Leiche - ich möchte nicht, dass Sie umkippen“, sagte Max.

„Nur, wenn ich mitsehe, kann mir was auffallen“, sagte Clarissa.

„Stimmt“, sagte Max.

„Ich kann also mit?“

„Nein, Sie halten sich zurück.“

„Aber wenn ich nicht sehe, wie er ermordet wurde, dann kann ich nicht...“

„Was erwarten Sie?“

„Wo der Professor getroffen wurde.“

„Werde ich Ihnen sagen.“

„Was man sieht, ist tatsächlicher, vielfältiger, genauer...“

„Sie meinen blutiger...“

„Der Einschusswinkel, und so...“

„Kann man nicht sehen, müssen uns die Gerichtsmediziner liefern.“

„Wie er liegt und wo genau er getroffen wurde, wie er kuckt, vielleicht hat er den Täter noch erkannt.“

„Und das lesen Sie dann in seinen Augen?“

„Ja, schon möglich.“

Anders als seine Kollegen, die den Tod nur vom Hörensagen kannten, war Max mit dem Tod auf Du und Du aufgewachsen. Dennoch hatte er sich nicht an den Anblick von Toten gewöhnen können.

Blätter huschten über den Parkplatz wie tanzendes Getier. Max liebte den Herbst, wenn Regen gegen die Fenster pladderte, die Vögel verstummt waren und wenn an besonderen Tagen der Geruch von Kartoffelfeuern von der Egge herunter in die Stadt wehte.

„In welchem Zustand war der letzte Tote, den Sie gesehen haben?“, fragte Max.

„In gar keinem“, antwortet Clarissa.

„Hinweggeschlummert, ganz passabel anzugaffen?“

„Nein, ich habe noch nie einen Toten gesehen.“

„Dann bleiben Sie im Hintergrund. Sonst...“

„Ich möchte nicht geschont werden, bin ich bei der Mordkommission oder was? Ich werde es überleben.“

„Überleben, überleben! Sicher überleben, oder haben Sie einen Herzfehler?“

„Ich will keine schöne, sondern eine wirkliche Leiche“, sagte Clarissa.

„Bitte sehr“, sagte Max und Clarissa bemerkte, dass er schon wieder in die Innentasche seiner Jacke griff, zum dritten oder vierten Male.

Vor dem Hörsaal C2, gegenüber der Bibliothek, dröhnten Studenten im Pulk. „So was gibt es doch nur in drittklassigen Krimis, Mord in der Uni“, hörte Max eine Studentin sagen. Seine spitzen Ellbogen halfen ihm ganz ungemein, sich einen Weg durch die Meute zu bahnen. Max trat in den Hörsaal und fand sich am oberen Rand einer fensterlosen Betonschachtel. Über abfallende Stuhlreihen lief sein Blick zur Plattform hinunter. Eine Leinwand verdeckte einen Teil der graugrünen Tafel. Für diese Augenblicke hatten die Yogaübungen auch nicht geholfen, sich aber selbstständig gemacht als zweimalige, dreimalige tiefe Zwerchfellatmung.

Vor einer Stunde noch hatte der Kerl da unten seine Studenten mit Weisheiten gefüttert. Zumindest konnte Max sicher sein, dass noch keine Maden in den Augenhöhlen wimmelten, noch keine Schnecken am schleimigen Fleisch saugten. Er fasste in die Tasche, nein, er hatte sie nicht vergessen wie beim letzten Male. So peinlich, so verdammt peinlich.

Einmal hatten sich Mäuse in die Bauchhöhle einer Leiche eingenistet. Oder hatte Benn ihm das erzählt? Entsetzlich, wenn Fliegenschwärme vom Unterleib aufstiegen und sich im matschigen Gesicht wieder niederließen. Zum Kotzen, wenn sie nur noch Stücke fanden, hier eine Hand und aus dem Tümpelschlamm zog man den abgetrennten Kopf, glitschig und angenagt.

Eine Leiche, in einer Plastikplane eingewickelt, hatte im flachen Wasser gelegen und vermutlich an besseren Tagen zu viele Horrorfilme gesehen. Jedenfalls ließ sie es sich nicht nehmen selbst jetzt noch als mausetotes Skelett ein übles Horrorklischee nachzuäffen, indem der rechte Knochenarm aus der klaffenden Plane hoch in die Luft griff, um dann klappernd auf dem Plastikwickel zusammenzuklappen. Grässlich!

Aber wenigstens war das Blut verschwunden, das verfluchte Blut, wenn die Leichen schon länger gammelten. Max fasste in die Innentasche seines Jacketts. Zum sechsten Mal. Clarissa hatte mitgezählt.

Max blickte zur Seite, schaute ihr in die Augen, sah ihren Willen und ihre zusammengepressten Lippen und wusste, was zu tun war, wenn sie schlappmachte. Einfach hinklatschte. Er würde vorgehen und sich die Sache ansehen. Wenn sie dann unbedingt wollte, sollte sie doch. Zwerchfellatmung, zweimal, dreimal.

„Ich winke Sie runter, warten Sie hier oben einen Moment“, sagte Max und nahm jede Stufe, als würde er zur Hinrichtung geführt. Die ersten zehn Sekunden oder so musste er überstehen, dann hatte er gewonnen, dann konnte er sich um die Details kümmern, und wenn er die Details hatte, konnten die Spurensammler den Rest erledigen.

Wenn dies ein Film wäre, dann würde die Kamera jetzt den gekrümmten Mann zeigen neben der Leinwand im Kreidestaub auf grauem Linoleumboden. Der Schwenk zurück zu Max läuft über die Seitentür. Das Leuchtschild darüber hängt an Strippen aus der Wand, steht auf dem Kopf: gnagsuatoN. Max zögert, bleibt auf halber Höhe stehen. Großaufnahme aufs Gesicht: käsig und glänzend, nervöse Mundwinkel.

Wieder Schnitt zum Toten auf dem Boden, die Haare kurz und dicht, nicht mehr dunkel, aber noch nicht völlig weiß, schon älter, aber noch nicht wirklich alt. Sein Kopf im Blut.

Maxens Blick auf die Leiche ist ein erzwungener, kein kalter Blick, während er um den fötalgekrümmten Körper herumschleicht. Er muss hinschauen. Ist sein Job Spuren zu finden. Er muss ganz dicht ran, sich neben die Leiche knien, sich über den Kopf beugen. Was hochkommt, würgt er zurück.

Aus dem Einschussloch war das Blut nach rechts über die Stirn und dann über die Backe zum Boden geflossen, war nicht mehr blutrot, sondern bräunlich, verkrustet. In den aufgerissenen Augen der Schreck. Oder? Oder Überraschung?

Max stand auf und wusste, dass er es heute nicht schaffen würde, zog die Tüte aus der Jackentasche und eilte zur Seitentür mit dem Schild: gnagsuatoN.

„Was machst du da? Nicht!“, rief ihm Heugabel nach. „Die Klinke nicht anfassen!“ Max drehte sich nicht um, drückte die Klinke mit dem Ellbogen runter, verschwand in dem Gang hinter der Tür und kotzte im Rhythmus der hochkommenden Bilder in die Tüte: die schmerzkrumme Lage des Mannes, das Blutloch, die Glasaugen - sein Magen zog sich zusammen; Säure schoss hoch, verbrannte ihm die Speiseröhre; das Blut, das Blut - dann weitere harte Konvulsionen. Tomatenschalen, ein Apfelsinenkern, Camembert Schleim, ein Spritzer Kaffee und Schinkenfetzen im Wert von einem Eurozwanzig füllten die Tüte - alles in allem drei Euro und achtzig Cent an Nahrungsmitteln.

Als Max aus dem Gang wieder in den Hörsaal trat, hockte Clarissa neben der Leiche.

„Nichts berühren!“, rief er.

Sie schaute nicht auf, sondern schüttelte ihren Kopf sachte und lächelte nachsichtig.

„Interessant“, sagte sie, „schrecklich und interessant“.

„Hier“, sie stand auf und hielt ihm einen Kaugummi hin. Hatte sie etwa gesehen, dass er - oder gehört, vielleicht war es auch zu riechen, sicher es war zu riechen, Kotze süßsauer. Hatte er sie unterschätzt, sie schien ganz ruhig und gelassen neben dem Toten, aber die Wirkung konnte später einsetzen. Die Bilder fielen in den Schlaf ein, kamen zurück als wüste Traumgebilde.

„Hier, nehmen Sie schon, das beruhigt.“

„Nein, danke“, sagte Max.

Kauer kommen in den Himmel, Raucher in die Hölle, hatte ihre Mutter gesagt, sie aber sagte: „Kennen Sie die neusten Ergebnisse von Professor Linke aus Bonn? Sollten Sie ernst nehmen. Kluger Kopf, hat festgestellt, dass Kauen das Denkvermögen anregt“, sagte sie.

„Nein heißt nein“, sagte Max.

Dann eben nicht, dachte sie. Wahrscheinlich blieb Berger beim Nein, weil er nach seinem Kotzgang den bestimmt Auftretenden markieren wollte. Wo aber hatte er die Kotztüte gelassen? Vielleicht gab es im Gang eine Toilette oder einen Papierkorb, aber nein, dort würde die Spurensicherung darauf stoßen. War seine Jackentasche ausgebeult? Jedenfalls gab es keine Spritzer auf seinen blendenden Schuhen.

Hundert Leute oder so hatten gesehen, wie der Mord passiert war. Was blieb da noch für seine ausdichtende Phantasie, fragte sich Max. Der Hergang war also klar, jetzt noch die Motive und schon hatten sie den Täter. Die Schlauen waren die Dummen, wenn sie es ganz schlau anstellen wollten, das war eine eiserne Regel der kriminologischen Grunderfahrung. Ohne Ausnahme? Ja, ohne Ausnahme.

Was wusste Max über die Uni? Eine Ansammlung der besten Köpfe, allesamt den großen Ideen von Toleranz und Fairness verpflichtet, was sonst? Hier traf sich die Hirn-Elite des Landes, die kolossalen Geister auf ihren Gebieten, alle durch und durch beseelt von Forscherdrang und der Verwirklichung der großen Menschheitsideen. Nobelpreisaspiranten! Die Uni war der Tempel, in dem Verständnis und Redlichkeit florierten, wo man frei und friedlich diskutierte, beglückt darüber jeden Tag hundert neue Ideen kennenzulernen, weil man der eigenen überdrüssig war und es natürlich darum ging, sich gegenseitig mit argumentativem Elan zu begeistern und zu bereichern. Das war sein Ort! Warum war er kein Professor?

Max blickte auf die Leiche und dachte, jetzt aber mal zurück in die Wirklichkeit, zurück zur Erde, die Uni ist auch nur ein gigantisches Affenhaus. Vor ihm lag der Professor, gekrümmt, als hätte er Gift im Leib, ermordet von so einem Uniarsch.

In Wirklichkeit war das doch geistige Inzucht, was die hier trieben. Schreibst du gut über mich, schreibe ich gut über dich. Du, ich habe da einen Studenten, ein Kopf wie Adorno hieß es bei den Gesellschaftswissenschaftlern oder wie Einstein bei den Naturwissenschaftlern. Du hast doch da dieses Projekt, komm, komm, jetzt hab dich mal nicht so, da ist doch was zu machen. Sie arbeiten sich zu oder sie arbeiten gegeneinander. Wer sich durchsetzen will, muss sich absetzen, wer sich absetzen muss, braucht Gegner, wer keine hat, muss sich welche machen, damit seine Stimme gehört wird im hohen Geschwätz.

Fälscht sogar ihre Ergebnisse, die nobelgeile Brut. Ruhmekel ist ihnen ein Fremdwort, sind so scharf auf Publicity wie drittklassige Schauspieler im Dschungel, sind selbst auch so Schauspieler - eben nur auf einer anderen Bühne.

Obwohl Max wusste, was bei der Befragung der Zeugen herauskommen würde, musste er sie interviewen. Er hatte die Wahl, sich über die unnütze Notwendigkeit zu ärgern oder etwas daraus zu machen. Er entschied sich für die förderliche Vorstellung, dass Routinen nur noch stärker machten. Statt sich die gesammelten Märchen der Studenten anhören zu müssen, würde er seine künftige Beförderung für eine Kameraaufnahme des Mordes geben.

Doch das Spiel musste gespielt, Märchen wollten erzählt werden. Er war gespannt, ob die Elite besser fabulierte.

Links und rechts oben im Eingangsbereich des Hörsaals mussten die Beamten immer wieder neugierige Studenten und Professoren aus dem Hörsaal drängen. Die beiden Assistenten von Prof. Liedvogel hatten sich wie gebeten zurückgehalten, schauten sich die Arbeit der Spurenleser an und steckten ein paar Mal die Köpfe zusammen.

Die scharf hervorspringende Nase und das Kraushaar von Zimmermann erinnerten Max an jemanden, mit dem er mal zusammen gespielt hatte, damals in Damaskus. Als er die Stimme des Assistenten hörte, zuckte er zusammen, auch der näselnde Tonfall war ganz ähnlich. Unheimlich!

Kürzlich hatte Max sich Stings Konzert vom Elftenseptember angesehen und ganz nebenbei hatte er in den Tagebüchern von Thomas Mann geblättert und schließlich zum ersten Band gegriffen. Und auf welchen Tag fiel der erste Eintrag? Auf den 11. September, allerdings 1918. Unheimlich! Aber letztlich nur allzu menschlich, der Glaube an den unheimlichen Zufall.

„Sie sind also Assistenten bei Liedvogel und haben sich die Vorlesung angehört?“, fragte Max

„Nein!“ Chrissi Hains und Robert Zimmermann hatten gleichzeitig gesprochen.

„Ich bin studentische Hilfskraft“, sagte Chrissi.

„Und zusammen haben wir für Professor Liedvogel PC und Beamer bedient“, sagte Zimmermann.

„Gut, aber Sie wollten bei ihm promovieren, kennen ihn schon länger?“

„Ganz richtig“, antwortete Robert.

„Und Ihr Thema?“

„Über die Glorifizierung der Gewalt im Kino zwischen Katharsis und Mimesis“, sagte Zimmermann.

„Und worunter fällt das hier“, fragte Max und zeigte auf die Leiche. „Katharsis oder Mimesis?“

Zimmermann zog die Schultern hoch und Max hatte den Eindruck, dass Robert Zimmermann nicht nur wegen der fiesen Umstände kein Mann des Lächelns, geschweige des Lachens war. Zugleich zeigte sein Gesicht den quälenden Kampf mit dem Gedanken, das gibt’s doch nicht, dieser gelackte Bulle weiß doch wohl nicht, wovon ich rede. Machen die Medien denn nun alles gleich? Bildung für alle, selbst das gemeine Volk ist nicht mehr mit bloßen Wörtern zu blenden.

„Trotzdem ist die Realität längst nicht so hoffnungslos und finster, wie uns die Meinungsindustrie das vorgaukelt“, sagte Zimmermann.

„Was Sie nicht sagen“, sagte Max, „Schon mal was vom Elftenseptember gehört, schon mal im Krieg gewesen, in Israel?“

„Alles nur Beispiele für mediale Überhöhungen. Der Elfteseptember ist ein Ereignis, das man in einer Unfallstatistik des Landes gar nicht wahrnehmen würde. Zwei oder dreitausend Tote innerhalb eines Tages liegen innerhalb der natürlichen Varianz.“

Zimmermann sprach’s so unbeteiligt nüchtern, als ob er von einer zwanzig Zentimeter langen Pommes spräche, die eben durchaus noch innerhalb der natürlichen Varianz liegt der hundertzwanzig Millionen Fritten, die in Deutschland täglich verspeist werden.

Nur feministische Hardliner, dachte Clarissa, würden den ersten Stein nach Berger werfen, weil er nicht in Roberts Gesicht blickte. Stattdessen fummelten Bergers Augen an Chrissi Hains herum. Männer waren zu unempfindlich, um zu bemerken, wann es unerträglich wurde. Wahrscheinlich die Gene. Hier Zimmermanns Knautschgesicht, dort Chrissis Knutschmund. Sie konnte es den Genen nicht verdenken.

Von Robert Zimmermann erfuhren sie, dass Liedvogel seine Vorlesungen gern am Abend hielt, der Konzentration wegen. Die Aufmerksamkeit sei dann gebündelter, die Banalitäten des Tages lägen hinter den Studenten. Die Vorlesung habe den Titel. Ein scheuer Blick zur Leiche. Habe den Titel gehabt: „Die Form bestimmt den Inhalt. Untertitel: Alle Wirkung kommt aus dem Medium, was gesagt wird, ist gleichgültig.“

„Und das bedeutet auch was?“, fragte Max.

„Ist eine Verfeinerung und Ausarbeitung der Formel von McLuhan“, sagte Zimmermann.

„Dann ist ja alles klar“, sagte Max.

„The medium is the message?”, fragte Clarissa.

„Ja, was sonst?”

„Und was haben Sie gesehen?“, fragte Max.

„Also, ich denke der Mörder hat den Zeitpunkt genau abgepasst. Bevor Jules seine Opfer erschießt, trägt er ihnen einen Bibelspruch vor, erst dann schießt...“

„Jules, wer ist Jules?“, fragte Max.

„Ein Killer in Pulp Fiction, sagte Clarissa.

„Richtig“, schnarrte Zimmermann, „es ging in der Vorlesung um die Dekonstruktion dieser Szene. Professor Liedvogel hatte gerade die Analyse beendet und wollte sie noch einmal vorführen, als die Tür“, Zimmermann nickte zum gnagsuatoN, „aufging und der Mann hereinmarschierte und den Professor erschoss.“

„Würden Sie ihn wiedererkennen?“

„Nein, der Saal war verdunkelt, nur Liedvogel stand im Scheinwerferlicht.“

„Hat er noch irgendwie reagiert?“

„Nein.“

„Aus welcher Entfernung ist er erschossen worden?“

„Zwei oder drei Meter würde ich sagen.“

„Konnten Sie sehen, was er trug?“

„Ich konnte nichts sehen, ich wusste gar nicht, wohin ich sehen sollte.“

„Er trug einen Trenchcoat und es waren zwei Schüsse“, sagte Chrissi Hains.

„Das hast du gesehen?“, fragte Zimmermann.

„Gesehen und gehört.“

„Haben Sie ihn im Licht gesehen?“, fragte Max.

„Nein, nur im Halbdunkel, das hat ja gedauert, bis das Licht anging“, sagte Chrissi.

„Wieso gedauert?“

„Wir haben doch alle angenommen, das gehöre mit zur Vorlesung, dass er damit was demonstrieren wollte, ein Zeichen setzen, etwas zum Dechiffrieren“, sagte Zimmermann.

„Wie bitte, Sie haben nicht sofort das Licht angemacht, es gab keinen Tumult sofort?“

„Liedvogel war von unvorhersehbarer Kreativität, er gehörte zu den begeisternden Köpfen der Uni. Was da vor uns geschah, wäre eine Inszenierung, dachten wir. Ein extremer Kontrast zur Filmszene mit Jules und seinem Bibelzitat. Jules lässt sein stammelndes Opfer warten, es zittert, es wimmert. Weidet er sich an der Angst, weiden wir uns an der Angst, werden unsere sadistischen Impulse dekuvriert? Wir kennen solche Warte-Szenen natürlich auch um dem Helden eine Chance zu geben, damit er doch noch einen Ausweg findet. Aber nicht in Pulp Fiction, da sind zwei Experten, zwei Profikiller am Werk. Das Opfer wird Opfer, gnadenlos. Ben Elton macht sich übrigens in seinem Roman „Motormouth“ darüber lustig, dass die Film-Killer oft irrsinnig lange warten, bis sie ihren Job endlich erledigen. Palavern so lange herum, bis ihnen ein Stuhl ins Kreuz fliegt. Ben Eltons Killer schießt sofort und kommentiert dann: Weiß gar nicht, warum die im Film immer solche Faxen machen. Was wollte ich noch sagen?“, fragte sich Zimmermann. „Ach ja, ich dachte, Liedvogel habe sich einen Jokus erlaubt, wir konnten nicht ahnen, dass der Killer keine Faxen machte. Tür auf, ein paar Schritte, Kopfschuss. Und dann ruhig aus dem Saal spaziert. Echt wild.“

„Wir müssen mit den anderen Zeugen sprechen, gibt es eine Teilnehmerliste?“

„Nein, ist eine freiwillige Vorlesung.“

„Wer hat einen Groll auf den Professor?“

„Das ist jetzt wohl die Frage nach den Feinden, wie?“, fragte Zimmermann. „Und ich dachte das hörst du nur in miesen Krimis, aber nein, ich wüsste nicht, nein Feinde hatte er nicht. Glaube ich nicht.“

„Konkurrenz?“

„Brauchte er nicht zu fürchten, er trat im Rundfunk und Fernsehen auf.“

„Also Neider?“

„Die hat jeder.“

„Auch der Penner in der Westernstraße?“, fragte Clarissa.

„Klar! Der Kumpel, mit dem er das Erbettelte auf dem Marienplatz versäuft, hat wärmere Schuhe und keine Eiterbeule am Arsch“, sagte Zimmermann.

„Was haben Sie als Assistent eigentlich für eine Aufgabe? Ich meine, was tun Sie für den Professor? Ich meine, haben sie für ihn getan?“ fragte Max.

„Man arbeitet ihm zu.“

„Sie kopieren für ihn und machen Telefongespräche, also eine Art Sekretär.“ Zimmermann blieb ernst und korrigierte, dass er das sicherlich nicht tue, er beteilige sich an den Forschungsvorhaben des Professors, indem er zum Beispiel Literatur sichte und Thesen entwickle, die dann in gemeinsame Aufsätze einflössen.

„Sie meinen der Professor benutzt Ihre Weisheiten um seine Karriere zu schmieren?“

„Nein, nein das habe ich so nicht gesagt, das ist üblich, dass man zuarbeitet, so läuft der Betrieb.“

„Dass die Assistenten ausgebeutet werden?“

„Habe ich nicht gesagt, kam nicht vor bei Liedvogel, war immer fair, ein fairer Doktorvater war Professor Liedvogel.“

„Dann noch eine Bitte, stellen Sie uns die Teilnehmer der Vorlesung zusammen. So komplett es geht.“

Die Spurenhunde fanden keine zweite Patronenhülse. Es könne ja sein, dass der Killer zweimal an exakt der gleichen Stelle in den Kopf geschossen habe, kommentierte der Gerichtsmediziner Maxens Frage nach einer zweiten Einschussstelle.

„Herr Zimmermann, noch eine Frage. Können Sie uns sagen, ob die Seitentür immer offen ist?“

„Ich glaube schon. Sie wird selten benutzt.“

„Wohin führt der Gang?“

„Zu einer Treppe und dann nach oben in die Eingangshalle.“

„Man braucht also keinen Schlüssel oder besondere Kenntnisse um den Weg zu finden.“

„Nein, darauf kann jeder kommen.“

Männerarroganz, das war die ganz alltägliche Männerarroganz, die Berger zur Schau stellte und mit keinem Wort danach fragte, ob ihr was aufgefallen sei. Wortlos stelzte Berger vom Hinrichtungsort durch die Uni, quer über den Parkplatz zum Wagen, aber im Schummerlicht der Unigänge zwitscherten seine Mundwinkel, als ob er sich amüsierte wie ein bekiffter Clown.

Sie würde nichts sagen, nahm Clarissa sich vor. Gefragt wollte sie werden. So viel Respekt erwartete sie von diesem Kerl, nicht weil ihr etwas Besonderes aufgefallen wäre, sondern weil Berger nicht wissen konnte, dass ihr nichts Besonderes aufgefallen war. Und was sie von der Sache hielt, das wollte sie auch loswerden und sie wollte auch wissen, was er sich so zusammenreimte, aber er schien so sehr mit sich beschäftigt, dass sie nicht wagte, ihn anzusprechen. Als sie absehen konnte, dass die Fahrt nur noch 10 Minuten dauern würde, sagte sie sich, dass es eine Zeit gab zum Schweigen und eine Zeit zum Reden.

„Das ist ein kurioser Fall, finden Sie nicht auch?“

„Es gibt keine anderen.“

„Ich meine, besonders bizarr.“

„Ach was!“, sagte Max.

„Ich fand, er sah erstaunt aus“, sagte Clarissa.

„Wer? Zimmermann?“

„Nein, der Ermordete - Liedvogel.“

„Ach was!“, sagte Max, der sich zur Windschutzscheibe vorbeugte und mit zusammengekniffenen Augen in den schwarzen Nebel starrte, wo seitwärts versetzt ein roter Klecks mit jedem Wimpernschlag seine Gestalt wechselte, sich ausdehnte und wieder auf Fußballgröße zusammenschrumpfte. Als die Ampel auf Grün sprang, ließ er sich wieder zurück in den Sitz fallen und folgte dem Licht der Scheinwerfer und hoffte, dass die Dinge und Autos bald wieder Umrisse bekommen würden. Dass die Farben keine Substanz hatten, störte ihn nicht in der Nebelnacht.

„Ja, erstaunt sah er aus, als hätte er den Mörder gekannt und ihn gefragt: du?“

„Das haben Sie in seinem Gesicht gesehen?“

„Vielleicht hatte er ja auch noch so eine Rückschauvision oder hat noch so über der Szenerie geschwebt und sich gewundert, was die so machten oder eben nicht machten.“

„Genau“, sagte Berger, „das glaube ich auch, genau so wird es gewesen sein, man ist zwar auf der Stelle tot, wenn einem das Hirn durchlöchert wird, aber den Kindheitstraum vom Fliegen und Schweben, den erfüllt man sich bei dieser Gelegenheit noch schnell. Endlich der heitere Blick eines Halbgottes auf das Gewusel hinunter, ja das sind erfüllte Träume, sind finale Traumerfüllungen.“

Mein lieber Mann, dachte Clarissa, du armer Ironiker, so leicht lass ich mich nicht ins Bockshorn jagen.

„Aber ungewöhnlich ist doch ein Mord vor Publikum, finde ich. Der Mörder hätte es sich doch eine Nummer einfacher machen können, meine ich. Der Zimmermann hatte recht, also wenn ich einen, mal angenommen, ich wollte jemanden umbringen. Ich würde ihn so unauffällig und flott erledigen wie nur möglich.“

„Genau, genau das hat unser Mörder geschafft“, sagte Max.

„Ja“, sagte Clarissa, „ja aber - aber ja.“ Sie schwieg.

„Dass er es so gemacht hat, wie er es gemacht hat, hat natürlich auch Zeichencharakter“, sagte Max.

„Jetzt reden Sie wie Zimmermann. Sie meinen, er wollte was damit demonstrieren, dass er vor hundert Leuten einen angesehenen Wissenschaftler einfach umbringen kann und dann verschwindet er holterdiepolter.“

„Eben nicht holterdiepolter“, sagte Max.

„Sie meinen, er hätte gewusst, dass sie ihm nicht alle gleich hinterher?“ fragte Clarissa.

„Wieso reden Sie eigentlich immer von dem Täter - ?“, fragte Max.

„Wie, was - Zimmermann hat das doch gesagt und die Hains auch“, konterte Clarissa.

„Und was die erdichten, das glauben Sie?“

„Wie, was die erdichten?“

„Es war fast dunkel im Raum.“

„Ja stimmt“, sagte Clarissa und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, „aber etwas demonstrieren wollte der Täter, ich meine die Täterin, sie wollten was demonstrieren.“

„Ich habe nicht davon gesprochen, dass es zwei waren“, sagte Max.

„Ach, Sie bringen mich durcheinander, aber was wollten sie demonstrieren?“

„Ich höre“, sagte Max.

„Das sage ich Ihnen morgen“, sagte Clarissa, „bis jetzt haben wir ja noch nichts, so gut wie nichts.“

„Täter, die viele Spuren hinterlassen, sind harmlos“, sagte Max.

„Wer keine hinterlässt, ist also gefährlich?“

„Wenn ich das wüsste“, sagte Max, „aber es ist gut möglich, ich hätte ihn gern schon gestern gefasst“, sagte Max.

„Aber da hatte er doch noch gar nicht ...“

Max hielt den Wagen vor Clarissas Wohnung an.

„Wäre aber vermutlich ganz im Interesse von Liedvogel gewesen, meinen Sie nicht auch?“

„Ja, sicher, aber man kann doch nicht vorher wissen...“

„Deswegen müssen wir ihn kriegen, weil wir erst nach der nächsten Tat wissen, dass er eine zweite und dritte und vierte, was weiß ich, plant.“

Curry, Senf und Ketchup

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