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Die Menschen wollen „Freiheit“ – oder was sonst?

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Wollen die Menschen wirklich frei sein? Beispiele

Diese beiden Traditionen miteinander in Berührung zu bringen liefert uns keine Lösung, und unser Motiv, es zu tun, zielt auch auf eine andere Art von „Lösung“: nämlich ein paar festsitzende Dogmen über die Freiheit zu lösen, zu erschüttern. Aber die Vorstellung, dass man aus Mitleid Unterwerfung gebietet, könnte uns dennoch als grobe Übertreibung vorkommen. Wir zucken die Achseln. Wir wissen, dass die Menschen im Grunde Freiheit wollen.

Wirklich?

Dostojewskij ging es offensichtlich nicht um banale Entscheidungen. Der Großinquisitor sagt, dass es ihm um das Bedürfnis nach Wundern, nach dem Geheimnisvollen und nach Autorität geht; es war der Hunger nach einem Gegenstand der Verehrung, den er zu stillen versuchte. Aber ist dieser Hunger so groß? Ein Gradmesser seiner Intensität ist der schnelle Aufstieg der psychoanalytischen Bewegung. Sogar wenn wir den wissenschaftlichen Wert von Freuds Ideen außer Acht lassen (und die Tatsache ignorieren, dass viele sie dazu benutzt haben, sich zugunsten der Mysterien ihres eigenen Unbewussten aus der Verantwortung zu stehlen); sogar wenn wir nur die Popularität der psychoanalytischen Behandlung ins Auge fassen, bekommen wir eine Ahnung von diesem Hunger. Die bloße Tatsache, dass so viele Menschen es für nötig halten, ihr Leben einer Prüfung zu unterziehen, dass so viele sich gedrängt fühlen, intimste Dinge für eine Beurteilung offenzulegen, und vor allem, dass sie das trotz aller Zweifel und Bedenken tun, beweist die Realität dieses Bedürfnisses zu Genüge.

Oder nehmen wir den Totalitarismus: Wir wiederholen Formulierungen wie „Menschen brauchen eine Identität“ oder „Menschen müssen sich irgendwie definieren können“ wie geistesabwesend. Und doch sind diese Bedürfnisse so handfest wie die nach Sex oder Nahrung. Um ein Gefühl für ihre Realität und ihre Stärke zu bekommen, muss man sich daran erinnern, wozu Menschen fähig sind – den Hunger, die Strapazen und Frustrationen, die sie für ein „Etikett“, einen „Titel“, einen „Namen“ zu akzeptieren gewillt sind (für einen Anstecker am Revers) –, und wie für jemanden die ganze Tonlage und der ganze Rhythmus seines Lebens sich ändert, wie er plötzlich anders geht, weil es jetzt eine Formulierung oder ein Image gibt, die zu ihm passen.

Es ist gut möglich, dass die eigene Vorstellung davon, wie Totalitarismus entsteht, auf den Kopf gestellt wird, wenn man einmal konkret über dieses „Bedürfnis nach Identität“ nachgedacht hat. Gewöhnlich stellen wir uns vor, dass zwei gegensätzliche Kräfte am Werk sind: das Verlangen nach Freiheit und zum Beispiel die Angst, hungern zu müssen. Wir denken, dass diese beiden im Konflikt stehen und dass die Freiheit dabei manchmal den Kürzeren zieht. Aber eigentlich geht es oft gar nicht so vor sich. Wenn sich jemand einer stark reglementierten Gruppe anschließt, tut er das oft nicht aus einem wohlüberlegten Entschluss heraus. Da werden nicht zwei Dinge gegeneinander abgewogen. Der Drang geht allein in eine Richtung. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein, sogar der Euphorie. Man hat Unabhängigkeit gar nicht gesucht, man hat sich vor der Freiheit gefürchtet.

Für manche Zusammenhänge akzeptieren wir das als Binsenweisheit. Wenn es um die biederen Bürger der amerikanischen Vorstädte oder um studentische Korporationen geht, braucht uns niemand daran zu erinnern, dass die Menschen im Allgemeinen „nicht auffallen wollen“, „irgendwie dazugehören wollen“, „akzeptiert werden wollen“, dass es für jeden einsamen Wolf ein Rudel gibt. Und doch fließen diese Selbstverständlichkeiten nicht in andere Kontexte ein. Praktisch jede abstrakte politische, philosophische oder moralische Diskussion über Freiheit geht vom Gegenteil aus: dass die Menschen Individualität und Freiheit wollen, dass nur Maßnahmen wie Unterdrückung und Gehirnwäsche diese Wünsche beschneiden können und dass der Mensch rebelliert, wenn man ihm keine Freiheit gewährt. Wieder haben wir dieselbe schizophrene Spaltung, und hier wird sie durch die Semantik verstärkt. Statt rundheraus zu sagen, dass der Mensch keine Freiheit will, sagen wir, dass er ein Gefühl der Solidarität und Gemeinsamkeit braucht oder – im schlimmsten Fall – dass er „konform gehen“, sich „anpassen“ will. Motive, die der Freiheit zuwiderlaufen, werden mit anderen Etiketten versehen, wodurch die Illusion aufrechterhalten werden kann, dass der Drang nach Freiheit uneingeschränkt und absolut ist. Dieses Schubladendenken wird bis ins Extrem verfolgt, so dass sogar historische und theoretische Erklärungsansätze für den modernen Totalitarismus sich streng daran halten. In der Analyse totalitärer Bewegungen lautet die Hauptfrage gewöhnlich: Was hat ein Volk an diesem Punkt dazu gebracht, seine Freiheit aufzugeben und sich einer diktatorischen Herrschaft zu unterwerfen? Aber das ist wahrscheinlich die falsche Frage. Sie geht davon aus, dass es eine natürliche Tendenz hin zur Freiheit gibt und dass die „Erklärung“ für den Totalitarismus im Endeffekt aus einer Liste der Repressalien besteht, die über diese Tendenz siegten. Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh daraus; wenn der Mensch im Allgemeinen die Freiheit nicht wünscht, dann muss die wichtige Frage vielleicht lauten: Was hat an diesem Punkt die Durchsetzung von Individualität und Freiheit geschwächt und erlaubt, dass der natürliche Drang nach Anpassung sich ungehindert entfaltete?

Zwiespältige Freiheit

Es gibt keinen Grund, warum wir von einem Mann, der seiner Pensionierung mit Bangen entgegensieht, nicht sagen sollten, dass er sich vor einer gewissen Freiheit fürchtet, oder nicht von einer Mutter, die sich an ihre Kinder klammert, dass sie an einer Form von Knechtschaft festhält. Diese Krisen sind teilweise deshalb so schmerzlich, weil man entdeckt, dass die Anforderungen des Berufslebens oder der Kindererziehung, die bis dato als Einschränkungen erlebt wurden, vielmehr dem Leben eigentlich Struktur und Zusammenhalt gegeben haben. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, die Gereiztheit, weil es keine äußere Instanz mehr gibt, die unsere Dienste verlangt, die ganze Erfahrung, nun „für sich selbst“ leben zu müssen – für nichts außer die Fortsetzung der eigenen Existenz –, all diese Dinge sind die Auswirkungen einer bestimmten Art von Freiheit. Sogar völlig übertrieben wirkende Aussprüche werden plötzlich plausibel, wenn sie in diesen Zusammenhang gerückt werden. Sartre hat gesagt, dass wir „zur Freiheit verurteilt“ sind, und in einem seiner Dramen (Die Fliegen) sagt Orest, dass die Freiheit ihn getroffen habe „wie der Blitz“. Würde man dies von einem Mann sagen, dessen Lebenswerk ihm gerade weggenommen worden ist, würden wir es sofort verstehen.

Ein letztes Beispiel. Betrachten wir einmal, wie wir für unser Handeln Rückendeckung und Unterstützung bei abstrakten Begriffen suchen. Wir haben die Neigung, „im Namen von irgendetwas“ zu handeln. Wenn nichts Plausibles zur Hand ist, halten wir nach windigen, fragwürdigen Ideen Ausschau; wir werden zu Bannerträgern des Fortschritts, der Aufklärung, der Ordnung, der Vernunft. Es ist, als bräuchten wir etwas, und sei es nur eine abgehalfterte Illusion, dem wir unser Handeln unterordnen können; etwas, das ihm den Anschein eines Instruments geben wird, das einem Zweck dient. Auch die Moral können wir aus dieser Perspektive betrachten und sie uns als eine Art letzter Zuflucht vorstellen: Wenn alles andere versagt, können wir immer noch ihre ehernen Kategorien beschwören und wenigstens im Namen des Guten handeln. Das ganze Phänomen stellt wieder eine neue Taktik dar, mit der wir die Freiheit vermeiden. Dass wir darin so erfinderisch sind und das Bedrohliche einer autonomen, nackten Tat mit solchen Verbrämungen verschleiern, zeigt, wie tief unsere Furcht vor der Freiheit wirklich sitzt.

Die Freiheit leben

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