Читать книгу Die Freiheit leben - Frithjof Bergmann - Страница 13
2
Eine Theorie der Freiheit
ОглавлениеWir müssen nun eine andere Gangart einschlagen. Bis jetzt haben wir nur hinter einige allgemein verbreitete Grundannahmen Fragezeichen gesetzt und Terrain abgesteckt, das unsicher und problematisch ist. Von nun an werden wir jedoch methodischer und in einer systematischeren Reihenfolge vorgehen, denn es soll nun eine Theorie der Freiheit entwickelt werden.
Eine Meta-Theorie der Freiheit
Es sollte klar sein, dass das Thema unserer Theorie in gewisser Hinsicht nicht Freiheit selbst sein wird. Das Ziel wird sein zu erklären, welche Ansichten in Bezug auf die Freiheit bisher vertreten worden sind. Bis jetzt umschwirren uns diese in verwirrender Vielfalt. Die Absicht ist nun, eine Abstraktionsstufe höher zu steigen und die Logik und Gesetzmäßigkeit ans Licht zu bringen, die diese unterschiedlichen Interpretationen leitet, die ihre verblüffende Vielgestaltigkeit ordnet. Was wir vorlegen wollen, ist deshalb in diesem Sinne eine Art Meta-Theorie der Freiheit.
Ausgangspunkt: Ein weit verbreitetes Lebensgefühl
Ich werde mit einer gelebten Erfahrung anfangen, teilweise auch deshalb, um den kommenden höchst abstrakten Überlegungen einen konkreten Bezugspunkt zu geben, aber auch aus anderen Gründen, die gleich klar werden sollen: Es gibt Momente, in denen wir das Gefühl haben, dass unser wirkliches Leben noch nicht begonnen hat. Unsere gesamte Vergangenheit scheint eine lange Theaterprobe gewesen zu sein. Mehr oder weniger sieht es aus, als sei bis jetzt alles nur „hypothetisch“ gewesen, nur eine von vielen Möglichkeiten, die wir in Erwägung gezogen haben; dass es nicht das letzte Wort ist und von der uns zur Verfügung stehenden Zeit noch nichts verbraucht ist. Manchmal fühlt es sich auch so an, als seien wir selbst gar nicht aktiv gewesen, steckten gar nicht richtig „in“ unserem Leben, sondern hätten es nur beobachtet wie Zuschauer – den unpersönlichen Ablauf eines Zusammenspiels der Kräfte. Es ist, als hätte ein hölzerner Doppelgänger von uns all die Vorgänge durchlebt, die unsere Vergangenheit darstellen, und das, was wir wirklich sind, hätte sich indessen die ganze Zeit geduldig im Abseits gehalten und gewartet, dass es an die Reihe kommt. Nur ein plötzlicher Auftritt würde unser Selbst – so lange hinter den Kulissen verborgen – endlich auf die Bühne befördern. Und das wäre dann unsere erste wirkliche Handlung, eine Art Geburt, der lange aufgeschobene Anfang unseres wirklichen Lebens.
Was nötig ist, um ihn herbeizuführen, darüber gehen die Meinungen ziemlich auseinander. Manchmal scheint es, als sei es wunderbar einfach. Wir haben das Gefühl, als könnte sich von einem Atemzug zum nächsten alles ändern, als würde ein neuer innerer Wille genügen, als müsste man nur nicken, Ja sagen, und der Vorhang würde sich öffnen. Viel öfter jedoch scheint es entmutigend schwierig. Alle gewöhnlichen Maßnahmen scheinen unzureichend. Es ist, als müssten wir einen absolut neuen Anfang machen, der hier aber nicht stattfinden kann, sondern nur auf irgendeiner anderen Seite, auf die wir erst gelangen müssen; als wenn dieser neue Start von allen Bindungen an die Gegenwart befreit werden müsste, weil jegliche Kontinuität mit der Vergangenheit ihn korrumpieren würde. Dann malen wir uns phantastische Fluchtmöglichkeiten aus, ersehnen uns das Leben eines Vagabunden, eines Einsiedlers oder wollen in die Fremdenlegion eintreten. Es scheint uns, als könnte nur solch ein drastischer Schnitt, paradox und verrückt, wie er ist, nur etwas so Wildes und Unerhörtes endlich „real“ sein, als würde nur solch ein weitreichender Akt das eigene verborgene Selbst endlich zum Vorschein bringen.
Ein entfremdetes Selbst
Die Beklemmung und die rastlose Suche nach einer unerreichbaren Entschlossenheit, die diese Erfahrung begleiten, werden plausibel, wenn wir die Art und Weise betrachten, in der das Selbst sich unvermeidlich konzeptualisiert, wenn es ins Spiel kommt. Wenn die Erfahrung intensiv ist, fühlen wir uns von allem, was wir sind, abgeschnitten. Nicht nur unsere Vergangenheit, sondern sogar unsere momentanen Gedanken und Gefühle scheinen irgendwie weit weg zu sein, fremd, wie etwas, was wir beobachten. Wenn aber so viel „abgespalten“ und zum „Objekt“ gemacht worden ist, dann bleibt für das beobachtende Selbst nicht mehr viel übrig. Wenn das Selbst sich von den Elementen abtrennt, die es konstituieren, dann reduziert es sich auf etwas Substanzloses, auf nicht mehr als einen Punkt – den Punkt, von dem aus der Rest gesehen wird. Die Basis, von der aus ich dann wahrnehme, der Bereich, von dem ich das Gefühl habe, das „bin wirklich ich“, ist dann fast auf null geschrumpft, und dementsprechend wird deshalb das Gefühl der Isolation und des Mangels absolut.