Читать книгу Die Freiheit leben - Frithjof Bergmann - Страница 16
Das Lebensgefühl eines nach dem platonischen Konzept freien Menschen
ОглавлениеNun, da wir die grobe Skizze einer zweiten, ganz anderen „Theorie“ der Freiheit haben, können wir dieselbe Frage an sie richten, die wir weiter oben im Zusammenhang mit unserem ersten Beispiel gestellt haben. Dort sahen wir das extreme Beharren darauf, dass eine Handlung nur frei ist, wenn sie „völlig unabhängig“ ist, und wir wählten ein Element dieser allgemeinen Aussage aus, nämlich die Forderung, eine freie Handlung müsse gegen die Vernunft verstoßen, und fragten, wie ein Mensch seine eigene Vernunft erleben müsste, damit das so sei. Jetzt haben wir das genaue Gegenteil dieser These vor uns. Gemäß der jetzigen, philosophisch wesentlich angeseheneren Auffassung ist eine Handlung nur dann frei, wenn sie vernünftig ist (obwohl sie der Vernunft „gehorcht“), und wir sind unfrei genau dann, wenn gegen die Rationalität verstoßen wird, wir sind Sklaven, wenn eine Leidenschaft oder ein Gelüst uns zu irrationalem Verhalten führt.
Die Fragestellung
Die simpel klingende, jedoch entscheidende Frage lautet nun wieder: Was für eine Erfahrungsqualität bringt diese Position mit sich? Unter welchen Bedingungen wäre diese Doppel-These (wenn vernünftig, dann frei, wenn gegen die Vernunft, dann erzwungen) nicht nur plausibel, sondern auch wahr? Wie, kurz gesagt, müsste jemand seine eigenen Gedankengänge erleben, wenn er immer dann frei sein soll, wenn er ihnen gemäß handelt, und immer unfrei, wenn er gegen sie verstößt? Und weiter: Welche Einstellung gegenüber allem anderen, das eine Handlung verursachen kann (gegenüber Motiven, Leidenschaften, Wünschen usw.) muss jemand haben, wenn er immer unfrei ist, wenn diese anderen Kräfte ihn in Konflikt mit der Vernunft bringen?
Einige
Vorüberlegungen
Lassen Sie mich hier, bevor wir darauf antworten, schnell einwerfen, dass die fraglichen Thesen natürlich keineswegs auf Anhieb einleuchtend sind. Warum sollte eine Handlung „frei“ sein, bloß weil sie sich mit der Vernunft deckt? Oder „erzwungen“, weil sie irrational ist? Es ist keineswegs offensichtlich, weshalb solch eine Verbindung existieren sollte, weshalb das Eine auf irgendeine Weise das Andere beeinflussen sollte. Warum sollte es insbesondere unmöglich sein, dass die Gebote der Vernunft uns unterdrücken? Es ist ja ein wesentlicher Teil dieser Auffassung von Freiheit, dass das nicht geschehen kann, dass die Vernunft die Leidenschaften, den Willen und das Verhalten der gesamten Person beherrschen kann ohne das Risiko, dass das in eine Tyrannei umschlägt.
Wie außergewöhnlich diese Behauptung im Grunde ist, wird klarer, wenn wir uns daran erinnern, dass sowohl Hegel (in seinen frühen Schriften über das Christentum und auch in der Phänomenologie) wie auch Friedrich Schiller genau deshalb gegen Kants Ethik polemisierten, weil Kant auf eindeutigem Gehorsam gegenüber den Imperativen der „praktischen Vernunft“ bestanden hatte – natürlich vor dem Hintergrund der Auffassung, dass man durch diesen Gehorsam gegenüber der Vernunft frei sei. Hegel und Schiller argumentierten beide, dass Kant der Vernunft tyrannische Vollmachten eingeräumt habe; dass er den Menschen in zwei Teile gespalten und den größeren Teil in eine Sklaverei unter der Herrschaft der Vernunft verkauft habe. Weiterhin sagten sie, dass diese Form der Sklaverei besonders niederträchtig sei, weil durch sie der Mensch sich gegen sich selber wende und völlig entwürdigt werde, eine Hälfte Tyrann, die andere Hälfte Sklave.
„Platonische“
Freiheit: Vernunft als wahres Selbst
Aber zurück zu unserer Frage: Welche Erfahrung von Vernunft würde alle meine rationalen Handlungen frei erscheinen lassen? Wieder ist die Antwort nicht schwer. Es ist klar, dass das nur unter einer Bedingung der Fall ist: Ich müsste meine Rationalität (oder, wenn das klarer ist, die Gebote der Rationalität, wenn ich sie auf mich selber anwende) auf eine Art und Weise erleben, die das genaue Gegenteil zu unserem Untergrundmenschen ist – also nicht als unpersönliche Stimme, die mir fremdartige Befehle aufzwingt, sondern als genau das, was am wahrhaftigsten und authentischsten für mich spricht. Durch den Gehorsam gegenüber den Forderungen der Vernunft, wie sie auch aussehen mögen, bin ich nur dann frei, wenn die Vernunft und ich ein und dasselbe sind. Dann ist es offensichtlich unmöglich, dass sie mich unterdrückt.
Andererseits werden all meine Abweichungen vom Kurs der Vernunft nur unter der Bedingung durch mich erduldete Zwänge sein, dass das, was sie auslöst, irgendwie etwas anderes ist als ich. Alles, was mit der Vernunft nicht im Einklang ist, das gegen sie wettert, muss von mir abgespalten sein, muss etwas sein, das mir im Weg steht und mit dem ich konfrontiert bin. Dann werde ich in all den Fällen, in denen etwas anderes als die Vernunft sich durchsetzt, das Opfer sein.
These: Jede
Freiheitsdefinition zieht eine
bestimmte
Erfahrungsqualität nach sich
Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen diesem Konzept der Freiheit und dieser strukturellen Aufteilung der Erfahrung ist eine einfache logische Verbindung. Sie wäre sogar dann stichhaltig, wenn niemand jemals diese Idee der Freiheit vertreten hätte. Und sie allein ist für unsere Unternehmung entscheidend. Die Tatsache, dass alle möglichen Variationen dieser Sichtweise in der Geschichte der Philosophie eine Rolle gespielt haben (und man könnte neben Platon, Rousseau, Kant oder Hegel noch andere nennen), und dass sie darüber hinaus einer Bedeutung von Freiheit entspricht, die in der Alltagserfahrung und -sprache häufig auftaucht, macht dieses Beispiel enorm interessant. Aber die sich entwickelnde Hauptargumentation hängt nicht von diesem Punkt ab. Sie befasst sich nur mit dieser Sichtweise als einem allgemeinen Typus. Natürlich erscheint diese Sichtweise in den verschiedenen historischen Philosophien nicht in solch simplen, holzschnittartigen Grundzügen. Aber die Details, wie Platon oder Rousseau („volonté générale“) oder Hegel die Grundzüge dieses „Modells“ gestalteten und modifizierten, wie auf seinem Schachbrettmuster die Kontroversen zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit, zwischen Freiheit und Willkür ausgetragen wurden, werden wir diskutieren, wenn wir darauf vorbereitet sind. An diese Stelle möchte ich nur ein Beispiel anführen, um anzudeuten, wie viel Erklärungspotential in diesem von uns postulierten Muster steckt.
Beispiel Platon
Betrachten wir Platons bekannte Hierarchie der menschlichen Fähigkeiten, in der der Vernunft der höchste Platz zugewiesen wird, weil sie den Menschen über den Rest der Natur hinaushebt und nur ihr umfassender Gebrauch den Menschen wirklich menschlich macht. Hier ist die Vernunft die Quintessenz des Menschlichen; die Emotionen und der Körper gehören definitiv zu einer niedrigeren Ebene. Diese Einstellung gegenüber der Vernunft entspricht ganz klar der Grundannahme, die wir hinter der allgemeinen Auffassung von Freiheit, wie sie in Sokrates’ Paradoxon steckt, selbst schon entdeckt haben. Das könnte man einerseits als eine Art Bestätigung betrachten. Wir argumentierten, dass eine bestimmte Auffassung von der Freiheit eine gewisse Art und Weise voraussetze, wie man die Vernunft erlebt, und nun stellt sich heraus, dass Platon, der bezüglich der Freiheit dieser Auffassung war, auch die entsprechenden Ansichten über die Vernunft vertrat. Es ist ein wenig, als hätten wir eine Vorhersage gemacht, die sich jetzt bewahrheitet. Aber wir könnten es auch als eine Erklärung betrachten, die uns ein tieferes Verständnis Platons liefert. Wir können jetzt sehen, wie zwei scheinbar getrennte Teile seines Denkens zusammenpassen. Dass der Vernunft die Spitzenposition in der Hierarchie der Bestandteile des Menschen zugewiesen wird, steht nun im Zusammenhang mit der These, dass der Mensch nie frei ist, wenn er bewusst eine böse oder irrationale Tat begeht. Diese beiden Behauptungen können nun als Ausdruck ein und derselben grundlegenden Sichtweise betrachtet werden.
Um den springenden Punkt an der Sache noch zu betonen und zu erhärten, könnten wir ein einfaches Diagramm zu Hilfe nehmen. Der Kern der Argumentation war bis jetzt die These, dass man die Vernunft als sein wahrstes und intimstes Selbst erleben muss, wenn alle rationalen Handlungen frei sein sollen, und dass im Umkehrschluss alle anderen Elemente einer Person, wie etwa Wünsche, Körperliches oder Leidenschaften, als „fernstehend“ erlebt werden müssen, wenn alle durch sie ausgelösten Handlungen als erzwungen gelten sollen.
Wir können das mit zwei konzentrischen Kreisen darstellen (siehe Diagramm). Zunächst könnten wir einfach sagen, dass dies das Selbstbild, oder besser die Identifikation repräsentiert, die durch diese Auffassung von der Freiheit – von uns bis Platon zurückverfolgt – vorausgesetzt wird.