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Andere Muster der Identifikation und ihnen entsprechende Lebensgefühle

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Minimal-Identifikation und ihre Konsequenzen: Aggression …

Obwohl sich dem noch leicht andere Merkmale hinzufügen ließen, sollte dies genügen, um das generelle Muster zu skizzieren, das solch eine „Rühr mich nicht an“-Identität mit sich bringt. Es geht um die Logik eines Typus und nicht um ein spezielles Beispiel im Besonderen. Dass es dabei Übereinstimmungen mit Dostojewskijs Untergrundmensch gibt, ist uns natürlich willkommene Bestätigung, aber nichts könnte uns ferner liegen als die Idee, dass Dostojewskji die Krankengeschichte eines sich nicht identifizierenden Individuums geschrieben habe. Die Zusammenhänge, die wir verfolgt haben, sollen einen Idealtypus im Sinne Max Webers darstellen: Sie sollen empirische Beispiele erhellen, aber es wird davon ausgegangen, dass alle Realität – und alle Literatur – mehr ist als die Verkörperung abstrakter Muster.

Identifikation mit der Vernunft

Entsprechende Strukturen ließen sich für alle anderen möglichen Identifikationen entwickeln. Im Falle einer Identifikation mit der Vernunft könnte man wieder näher auf die Auswahl der Handlungen eingehen, für die Verantwortung übernommen wird. Wenn diese Identität gegeben ist, hält man sich alle vernünftigen, sorgsam ausgeführten Handlungen zugute, während man sich von den weniger schmeichelhaften distanziert. Die Dynamik verläuft also genau in die entgegengesetzte Richtung: Wir haben gesehen, dass die Identifikation mit dem Punkt-Subjekt das eigene Selbstwertgefühl entweder abwärts treibt oder in einen sich stetig vergrößernden Zwiespalt. Glaubt man jedoch, dass die eigenen schlechten oder irrationalen Handlungen nicht ganz zu einem gehören, dann würde dies offensichtlich einen Aufwärts-Schub bringen. Dessen nützliche Effekte würden sich auf den sozialen Organismus ausweiten, denn vom kulturellen Standpunkt aus erhalten „vernünftige“ Handlungen nun die zusätzliche Auszeichnung, „frei“ zu sein und das wirkliche Selbst tätig werden zu lassen, was natürlich als Anreiz wirken würde. Am bedeutsamsten ist aber, dass die mit dieser Identität einhergehende Grundhaltung radikal anders wäre; man könnte sie mit der eines Ritters vergleichen, der die Burg seiner Rationalität gegen alle Angriffe von außen verteidigt. Die Welt ist kein Spiegelkabinett mehr, in das diejenigen mit einer Punkt-Identität eingeschlossen sind. Sie ist nun hell erleuchtet und mit Dingen ausgestattet, die sind, was sie sind. Wenn man auch nicht alles völlig versteht, gibt es doch nichts, was ein ewiges Rätsel bliebe: Nichts verbirgt sich im Dunkel, das nicht durch mehr Licht enthüllt werden könnte. Es ist eine kriegerische Welt mit einem klaren Frontverlauf: Der Ritter kann sich nur eines Versagens schuldig machen – er kann zu schwach sein und seine Vernunft fallen sehen. Man könnte sagen, die Identifikation mit dem verborgenen Subjekt schafft eine Welt der Furcht und Zweideutigkeit und der anderen „existenziellen“ Kategorien; die Identifikation des „wahren Selbst“ mit der Vernunft erzeugt die Welt eines Lessing oder Voltaire.

Identifikation mit der Gesamtheit

des Selbst …

Das Muster, das der Akzeptanz der gesamten eigenen Person zugrunde liegt, ließe sich ebenfalls auf dieselbe Art und Weise entwickeln. Nun lastet das ganze Gewicht jeder Handlung auf dem Handelnden. Lob oder Tadel, Ruhm oder Schande fallen ihm nicht nur für das zu, was seine Vernunft ausgewählt hat, es reicht, dass die Tat aus irgendeinem seiner Wesenselemente entsprungen ist. Dass er etwas nicht gewusst hat, nicht beabsichtigt hat, dass er getäuscht wurde, genötigt wurde – nichts von all dem zählt als triftige Entschuldigung. Eine erste Andeutung, welche Konstellation die „aristotelische“ Identifikation nach sich zieht, könnte deshalb ein Vergleich mit Ödipus bringen. Diejenigen, die ihr gesamtes Selbst akzeptieren, hätten einen Begriff von „Verantwortung“ ähnlich dem seinen, denn Ödipus tötet seinen Vater, ohne ihn zu kennen, heiratet seine Mutter, die er für die Königin eines fremden Landes hält, unternimmt alles, um seinen Schicksal zu entgehen – und blendet sich doch selbst als Strafe für Taten, die vorherbestimmt waren.

… als

Voraussetzung des Tragischen

Man könnte darüber spekulieren, ob das Vorhandensein dieser Identifikation vielleicht eine Voraussetzung für das Tragische ist. Vielleicht erfordert der Geist der Tragödie die Unterwerfung unter ein Paradox: dass man Taten, für die man keine Entscheidung getroffen hat, dennoch voll und ganz als die eigenen akzeptiert. Wenn dem so ist, dann ist vorstellbar, dass die Einführung einer viel vorsichtigeren und restriktiveren Idee von „Verantwortung“ – wo eine Handlung beabsichtigt worden und ihre Konsequenzen bekannt gewesen sein müssen, wo man sich für sie, in himmelweiter Entfernung von irgendeiner Vorherbestimmung, entschieden haben muss, um für sie „verantwortlich“ sein zu können – eine fundamentale und umfassende Veränderung bewirkte, eine, die unter anderem das Verfassen von Tragödien schwieriger machte.

Identifikationen sind selbst-

reproduzierend

Ein Grundzug ist all den verschiedenen Identifikationen gemeinsam: Ihre Dynamik ist zyklisch oder selbstbestätigend. Der aktuelle Moment der Erfahrung wird in jeder so umstrukturiert, dass die Identifikation, die für diese Sichtweise der Dinge verantwortlich ist, dadurch ständig reproduziert und verfestigt wird.

Das Gefühl der „Passivität“, das die Nicht-Identifikation typischerweise begleitet, veranschaulicht das besonders gut. Hat das Subjekt einmal begonnen, seine Erfahrung auf eine bestimmte Weise zu strukturieren, muss es sich passiv fühlen, aber das Gefühl der Passivität verstärkt wiederum die Nicht-Identifikation: Das in jedem Moment überwältigte Selbst zieht sich noch weiter zurück.

Auf der einen Seite beeinflusst dies die Art und Weise, in der diese Identifikationen als Erklärungen dienen. Die Ursachen eines Syndroms wie das des Untergrundmenschen müssen nicht primär in seiner frühen Kindheit gesucht werden. Der ursprüngliche Impuls war vielleicht nicht mehr als eine winzige Akzentverschiebung, aber diese anfänglich kleine Verschiebung löste einen sich ständig ausweitenden Prozess aus, der von seinem eigenen Schwung vorangetrieben wurde. Der ursprüngliche Grund ist deshalb für die gegenwärtige Situation vielleicht ziemlich belanglos, denn die Kraft, die die Nicht-Identifikation am Leben erhält, geht nicht auf lang zurückliegende Ereignisse zurück, sondern leitet sich unmittelbar aus der Interpretation der Gegenwart her.

Mögliche Schlussfolgerungen für die Psychotherapie

Dieser Denkansatz ließe sich weiter verfolgen: Eine Neurose wäre aus dieser Perspektive gesehen ein sich radikal selbst fortschreibendes Muster; und der Kontrast zwischen der Betonung der Vergangenheit und dem Augenmerk auf die unmittelbare Gegenwart ist natürlich relevant für den Unterschied zwischen klassischer Freudscher Psychotherapie und anderen Therapieansätzen, etwa die von Fritz Perls oder Ronald D. Laing. Aber andere Aspekte sind für unser Thema wichtiger.

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