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Die Geschichte vom einsamen Dorf

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Vielleicht gibt uns eine kleine Geschichte ein paar erste, ungefähre Vorstellungen von dem Weshalb und Wozu dessen, was hier folgen soll:

Stellen wir uns ein sehr abgelegenes, tadellos ordentliches Dorf vor. Alles ist im rechten Winkel, nichts ragt irgendwie störend hervor. Die Menschen, die es bewohnen, sind viel kultivierter als gewöhnliche Bauern. Vor Hunderten von Jahren haben sie schon sehr leise und melodisch gesprochen, und nun haben sie einen Grad der Verfeinerung erreicht, der nahezu völlige Stille gebietet. Fast ihre gesamte Kommunikation geht mit Hilfe ausgesucht subtiler ritueller Gesten vor sich. Zum Beispiel gibt es mindestens hundert verschiedene Arten, die Augen vor der Sonne zu schützen, und jede davon hat eine eigene Bedeutung.

Im Zentrum dieses Dorfes steht ein alter strohgedeckter Tempel, und in diesem Tempel hängt ein enormer Gong aus poliertem Messing, so groß wie die Oberfläche eines Teiches. Wenn irgendetwas geschieht, was das ganze Dorf betrifft, wenn der Fluss über die Ufer tritt oder ein Feind die Grenze überschritten hat oder eine Heuschreckenwolke das Land überschattet, dann rennt jemand zum Tempel, und nach Monaten oder manchmal Jahren würdevoller Strenge und Stille ertönt das Dröhnen dieses Gongs. Nach der langen Stille trifft dieser Lärm sie wie ein Schlag. Manche – zugegeben die Kultiviertesten – fallen zu Boden, den Kopf in den Armen bergend. Die Übrigen zittern so, dass sie nicht einmal mehr die Gesten ihrer Taubstummensprache ausführen können, und bei diesem Lärm zu flüstern ist sinnlos. Das macht es jedem sehr schwer herauszufinden, warum der Gong geschlagen worden ist, und so wird das Dorf zur leichten Beute jeder Gefahr und jedes Feindes.

„Freiheit“ ist nicht der höchste,

letzte, absolute Wert

Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass uns der Klang der „Freiheit“ so betäubt wie der Gong jene Bauern. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, etwas, das die vielfältigen Defizite unserer Gesellschaft zusammenfasst, dann hat die Formel, dass wir „unterdrückt“ seien, dieselbe Wirkung wie in unserer Geschichte das Dröhnen des Gongs: Sie füllt unsere Ohren, bis wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wider das bessere Wissen, dass das vielleicht ein Fehlurteil ist, dass es jedenfalls keine zentrale Rolle spielt oder nicht die Diagnose ist, die wir brauchen, beendet diese Formel mit ihrer Wucht sofort die Möglichkeit echten Nachdenkens. Und das Gleiche geschieht, wenn wir wissen wollen, welches Ziel wir uns stecken, in welche Richtung wir gehen sollen. Auch dann sagt uns die Antwort „größere Freiheit“ nichts. Wieder hören wir nur Gedröhn. Alle machen mit und formen wie betäubt das Wort mit ihren Lippen nach, aber jeder meint etwas anderes, und es wird keinerlei Intelligenz oder Information ausgetauscht.

Es sollte klar sein, dass es nicht die Absicht dieser Untersuchung ist, die Idee der Freiheit mit dem berühmten Körnchen Salz zu würzen oder eine weitere Definition aus dem Hut zu zaubern, was Freiheit „wirklich“ bedeutet. Sie ist vielmehr durch den starken Verdacht motiviert, dass der Begriff der Freiheit zum Nachdenken nicht taugt. Der Versuch, zu einem sinnvollen Verständnis sozialer Angelegenheiten zu gelangen, hat sich in den Fallstricken dieser Idee verfangen. Eine theoretischer Orientierungsrahmen für die Gesellschaft oder den Staat lässt sich auf dieser Basis nicht aufbauen. Es geht deshalb nicht darum, über Wert oder Unwert der Freiheit zu diskutieren. Stattdessen möchten wir den Weg für die Erkenntnis bereiten, dass solch ein intellektueller Wettstreit fehl am Platz ist, dass er ein sinnloses und ermüdendes Tauziehen darstellt. Das Ziel ist also, kurz gesagt, genau das Gegenteil davon, in den Diskussionen um die Freiheit Stellung zu beziehen. Es besteht eher darin, eine Art des Nachdenkens vorzubereiten, die nicht den Spagat zwischen diesen beiden Gegenpolen machen muss.

Ein neuer

Orientierung­s-

­rahmen ist nötig

Das heißt nicht, dass viele der Dinge, die unter der Idee der Freiheit vertreten, verfochten und gedacht wurden, nicht gut und großartig gewesen wären oder dass, im selben Sinne, vieles von dem, was auf den Nenner „Unterdrückung“ gebracht wurde, eigentlich nicht schlecht gewesen sei. Es heißt vielmehr, dass diese Idee nicht mehr als Bewertungsbasis dient und wir deshalb ein neues Koordinatensystem brauchen, in dem die Dinge ihren Platz finden. Es heißt, dass die alten Gründe nichtssagend geworden sind und wir neu nachdenken müssen, wo hinten und vorn, wo oben und unten ist.

In der gegenwärtigen Situation mangelt es vielen sozialen Theorien an Selbstvertrauen. Die meisten von uns haben eine vage und dumpfe Ahnung, dass die Grundlagen schwanken, dass wir keinen festen Boden unter den Füßen haben und wir deshalb nach immer neuen Strohhalmen greifen. Es gibt wenig Eigenständiges, kaum wagemutige Vorstöße. Es zeichnet sich keine echte Struktur ab, die ihr eigenes Gewicht tragen, geschweige denn neue Orientierungslinien vorschlagen (und zu gewichtigen Schlussfolgerungen führen und sie stützen) könnte. Die eigentümliche Doppeldeutigkeit der Idee der Freiheit hat zu dieser Lähmung beigetragen, weil sie einerseits ein Ziel und einen Rahmen postulierte, andererseits aber so problematisch ist, dass sie weder Orientierung noch einen schlüssigen Sinnzusammenhang liefern kann. Wir kommen über ein kasuistisches Blindekuh-Spiel nicht hinaus. Die Idee der Freiheit ist bis jetzt wie eine Haube, die den Falken des Gedankens auf dem Lederhandschuh hält. Denn sie gibt uns die Illusion, dass wir ein Ziel haben, dass es bekannt ist, dass es dafür einen Rahmen gibt und wir alles richtig verstehen – und deshalb werden die großen Fragen gar nicht erst gestellt.

1 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1927, S. 49.

2 Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Essen: Arbeiterpresse-Verlag, 1994, S. 252.

3 Julep ist das sprichwörtliche Getränk der Plantagenbesitzer des amerikanischen Südens.

Die Freiheit leben

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