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Freiheit und absolute Unabhängigkeit

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Die Hauptkategorien, die wir bisher eingeführt haben – Identität versus Abspaltung oder Dissoziation –, sollten auf die allersimpelste Weise verstanden werden. Zunächst wollen wir diese Begriffe ihrer reichhaltigen Assoziationen entkleiden und sie nur benutzen, um die als Teile des Selbst akzeptierten Elemente von den nicht akzeptierten abzugrenzen, und wir halten diese Zweiteilung für eine schlichte, unkomplizierte Tatsache. Mit jeder der verschiedenen Identitäten geht jedoch eine andere Art einher, die Gesamtheit der Erfahrung zu strukturieren.

Konzentration auf den „Untergrund“-Typus

Man könnte all die vielfältigen Muster studieren, die sich aus den verschiedenen Identifikationen für die Erfahrung ergeben, aber wir werden uns hauptsächlich auf die Konsequenzen aus der Struktur konzentrieren, die wir mit dem Untergrundmenschen in Verbindung brachten, in der kein Teil des Selbst akzeptiert wird und die Identität gleichsam ein bloßer Punkt ist.

Einer der Gründe für diese Entscheidung ist die bereits angedeutete Möglichkeit, dass unsere Kultur die Ausprägung dieses Typus fördert. Tatsache ist aber auch, dass jedem Versuch, die Qualität echter Freiheit einzufangen, immer die Frage im Nacken sitzt: Ist das jetzt genug? Wäre das Zusammentreffen dieser Bedingungen ausreichend, um einen Menschen „wirklich“ frei zu machen? Diesen Typus zu studieren hat den Vorteil, dass im Falle einer vollständigen Dissoziation das Verlangen nach bedingungsloser und totaler Freiheit ans Licht kommt und Form annimmt. Deshalb liegen darin vielleicht Hinweise verborgen, was unter „wirklich frei“ und „absolut unabhängig“ zu verstehen sein könnte.

Wie sieht also die Psychologie dieser Minimal-Identifikation aus? Ein Merkmal ist offensichtlich grundlegend für diesen Typus: Es dürfte das unausweichliche und nahezu konstante Gefühl herrschen, dass die eigenen Qualitäten und Handlungen alle nur aufgesetzt sind, dass sie keiner tief verwurzelten, soliden Notwendigkeit erwachsen, sondern irgendwie zufällig sind. Man könnte unschwer auch ein ganz anderer sein, man ist lediglich aufgrund einiger zufälliger Umstände in diese statt in irgendeine andere Rolle gefallen.

Im Untergrundmenschen äußert sich dieses Gefühl der Inauthentizität als Klage, er „habe keine Eigenschaften“, was ihn zu dem Gedanken verleitet, es wäre doch so tröstlich und beruhigend, wenn er wenigstens ein regelrechter Taugenichts wäre oder zumindest eine Säufernase hätte. Ein Taugenichts zu sein würde seiner ganzen Existenz Kontur und Substanz verleihen – es wäre wie ein Beruf. Dieses Gefühl, keine Eigenschaften zu haben oder sie als fremd zu empfinden, so dass sie das Selbst nicht definieren können und es daher leer und farblos erscheinen muss, ist fast wie eine nochmalige Formulierung oder erweiterte Beschreibung dessen, was wir Nicht-Identifikation genannt haben.

Aber dieser scheinbar simple Grundzug kann eine ganze Reihe von Konsequenzen haben. Nehmen wir zum Beispiel die Bosheit, die Dostojewskij seinem Untergrundmenschen zuschreibt, die Hand in Hand geht mit der Feindseligkeit, die er allen anderen entgegenbringt, und dem Hass, den er auf sich selbst hat. Man könnte diese Merkmale unmittelbar aus dem durch seine Identität erzeugten Freiheitsverständnis ableiten. Denn dieser Typus fühlt sich nur in einer völlig willkürlichen Handlung wirklich frei, wenn also die Handlung weder durch rationale Überlegung noch durch irgendetwas anderes in oder außerhalb von ihm ausgelöst wird. Die Kehrseite davon lässt uns ahnen, wodurch sein Selbsthass genährt wird: Wenn er sich nur in solchen Handlungen frei fühlt, dann muss er mit dem ständigen Gefühl leben, Opfer und Manipulationsobjekt zu sein. Niemand kann eine große Anzahl rein willkürlicher Handlungen ausführen; sie sind von Natur aus ziemlich selten. Die meiste Zeit wird er auf einen Impuls reagieren oder einer rationalen Überlegung gehorchen. Er muss über die Straße gehen und seinen Magen füllen. Und wenn er all das als heimtückischen Zwang empfindet, als etwas, das ihm aufgezwungen wird, etwas, das er nur tut, weil er nicht stark genug ist, ihm zu widerstehen, dann muss er zwangsläufig eine nicht enden wollende Verzweiflung empfinden. Die meisten Leute reagieren schon empfindlich, wenn auch nur kleine Elemente in ihrem Erleben den Unterschied verwischen zwischen dem, was sie wollen, und dem, was offensichtlich äußerlicher Druck ist – wenn sie nicht mehr wissen, ob sie ihrem eigenen Willen folgen oder dem eines anderen. Und doch würde sich diese Konfusion durch das gesamte Erleben dieses Menschen ziehen. Würde eine Situation von ihm die banalsten, natürlichsten Reaktionen verlangen oder würde er ein gewöhnliches, alltägliches Bedürfnis befriedigen, könnte er niemals sagen: „Ja, das habe ich gewollt.“ Die ruhige Abgeklärtheit solch einer bündigen Aussage wäre unerreichbar für ihn. Seine Welt wäre voller verborgener, höhnischer Mächte.

Auf diese Weise würde seine Feindseligkeit gegenüber allen anderen zu etwas Natürlichem, und so würde sich erklären, warum er seinen Spleen und seine Launenhaftigkeit an jedem auslässt, der ihm in die Finger gerät. Er fühlt sich ständig unter Druck gesetzt. Er sieht sogar hinter dem üblichen Austausch von Höflichkeiten eine Strategie, in der ein Teil seines Wesens von dem Bekannten aktiviert wird, den er grüßt, und der auf diese Art gegen seinen Widerstand eine kleine Nettigkeit aus ihm herauszwingt. Wenn er schon die Kleinigkeiten des sozialen Verkehrs so empfindet, dann gnade ihm Gott in komplizierteren Situationen. Was für eine Menge an Wut und Zorn muss sich, gespeist von einem unaufhörlichen Strom von Demütigungen, in ihm aufstauen. In seinen Augen besitzen alle anderen ein dämonisches Wissen über seine inneren Regungen, wodurch sie ihn immer dazu bringen können, ihren Willen zu tun. Was könnte sie auch daran hindern? Egal, welche Reaktion sie hervorrufen, sie wird nie das sein, was er will, denn jeder Einfluss, jede Ursache, jeder Grund ist eine Einmischung. Solch ein Mensch wird also genau wie der Untergrundmensch sein ganzes Leben lang hinter einem Schreibtisch lauern, um sich auf einen Bittsteller zu stürzen. „Ein einziges Mal jemandem meinen Willen aufzwingen“ – das ist vielleicht sein großer Traum. Er würde sich wie der Untergrundmensch den hochnäsigen, blasierten Schulkameraden von früher aufdrängen, obwohl er weiß, dass sie ihn verachten; und er würde es genau deswegen tun, weil er nicht eingeladen ist, und vor allem: eben weil sie ein Abschiedsessen geben, bei dem er auf groteske Weise fehl am Platz ist. Er wird alles tun, um das Wissen zu ersticken, dass er an einem Nasenring herumgeführt wird, den andere ihm eingehängt haben.

Wenn das die Ursache für seinen ihn zum Außenseiter machenden Hass auf andere sein könnte, könnte es auch die Quelle für seinen Selbsthass sein. Auch der könnte sich durch den Ort erklären lassen, den er seinem „wahren Selbst“ zuweist. Wenn er andere hasst, weil sie ihn in allen Situationen tyrannisieren, dann hasst er sich, weil er das zulässt, weil er unfähig ist zu größerem Widerstand, kurz gesagt, wegen dem, was ihm als seine unerträgliche Schwäche vorkommen muss. Das Ausmaß der Schwäche, die er in sich selbst sieht, lässt sich an der Tatsache ermessen, dass er sogar seine eigenen Gedanken als objektive Kräfte erlebt. Sie sind nicht seine Gedanken. Von seinem Standpunkt aus gesehen gibt es einen anderen, der unablässig Gedanken auf ihn abfeuert, und ihr Ergebnis unterliegt nicht seinem Willen. Um ein kurzes Beispiel zu geben: Gegen Ende des zweiten Kapitels von Teil II des Romans beschreibt der Untergrundmensch die Momente unmittelbar vor seinem unerwünschten Besuch bei den Schulkameraden, die er hasst und fast ein Jahr lang nicht gesehen hat. „Während ich zu Simonow in die vierte Etage hochstieg, überlegte ich mir, dass ich ihm gewiss zur Last fallen würde und mein Besuch also sinnlos war. Aber da derlei Erwägungen wie zum Tort bei mir immer damit endeten, dass ich mich noch mehr angespornt fühlte, mich in zweifelhafte Situationen zu begeben, ging ich hinein.“9 Das ist eine Situation, wo er eine in ihm vorgehende Überlegung beobachtet und weiter sieht, welchen Effekt diese Überlegung bei ihm auslöst.

… Selbsthass …

Man könnte sagen, dass dieser Typus die Umkehrung eines Stoikers darstellt. Die Stoiker versuchten, den Wechselfällen der Existenz die Stirn zu bieten und zumindest ihre eigenen Reaktionen auf sie unter Kontrolle zu bringen. Jeder Mensch hatte in seinem eigenen Geist sein eigenes Königreich. Aber es gibt überhaupt keinen Ort, den dieser von sich selbst entfremdete Mensch sein Eigen nennen könnte und über den er Macht hätte.

Das wirft ein Licht auf die merkwürdige „Passivität“, über die sich Menschen mit solch einer Identität beklagen. Der Untergrundmensch beschreibt seine „Unfähigkeit zu handeln“ sehr ausführlich. Angeblich sieht er bei jeder Frage zu viele Aspekte. Jedes Motiv wird geprüft, bis es sich sozusagen in seine Bestandteile auflöst. Jeder Zweifel wird gehätschelt, so dass sein Geist nie das Gleichgewicht, die Stabilität gewinnt, um eine echte Handlung auszuführen. Aber ist ein klares Bewusstsein des eigenen Selbst so lähmend, und ist er, um hier einmal nachzuhaken, in der Tat so „passiv“? Befindet er sich nicht vielmehr in einer andauernden Hetze pausenloser Beschäftigung? Und lautet deshalb die eigentliche Frage nicht vielmehr: Was gibt diesem Menschen die Illusion, dass er zur kleinsten Handlung unfähig sei? Sein eigentlicher Anklagepunkt ist nicht, dass er nicht handeln kann: Er besteht vielmehr darin, dass keine seiner Handlungen ganz ihm gehört; er hat nie das Gefühl, dass er es ist, der sie ausführt. Um ihn herum flammen sie auf, passieren, lassen ihn zurück, und dann verfolgt er sie. Sein Gefühl der Passivität könnte sich deshalb direkt aus der „Transzendenz“ ableiten, die er seinem „wahren Selbst“ zuweist. Man könnte sagen, dass er etwas Unmögliches verlangt. Er hat alle Antriebe, die möglicherweise ein Handeln hervorrufen könnten, objektiviert und von sich abgespalten. Er ist der reine Zuschauer, der astrale, körperlose Beobachter. Somit betrachtet er alles, was eine Handlung auslösen könnte, als eigentlich nicht zu sich gehörig, und was er als zu sich gehörig betrachtet, kann keine Handlung auslösen. Er muss sich als passiv empfinden. Aber der Grund dafür liegt nicht in einer übertriebenen Bewusstheit. Er liegt tiefer und ist zugleich zwingender: Angesichts seines Selbstbildes ist es unausweichlich. Es folgt einer gradlinigen Logik der Elimination.

… Gefühl der

Inauthentizität …

Zu sagen, dass er überhaupt keine Handlung als die seine erlebt, wäre natürlich etwas übertrieben. Es gibt Ausnahmen, nämlich die willkürlichen, launenhaften Handlungen. Diese jedoch betrachtet er als die seinigen genau deshalb, weil sie keine Grundlage zu haben scheinen. (Natürlich haben sie objektiv gesehen wahrscheinlich ihre Gründe, aber uns geht es nun um sein Erleben.) Das zeigt seinen Selbsthass noch einmal aus einer anderen Perspektive. Bedenken wir, dass er nur seine willkürlichen Handlungen für sich beansprucht und sich von all denen mit echten Motiven distanziert. Das bedeutet, dass er sich auf vernünftige Taten nie etwas zugute hält, sondern nur für verrückte, zweckfreie Verantwortung übernimmt. Wenn man die Handlungen, die man sich auflädt, auf diese Weise aussucht, muss die Last einen in die Knie zwingen.

Aber seine Selbstwahrnehmung ist noch komplexer und lehrreicher. Sie ist zutiefst ambivalent oder, genauer gesagt, sie kippt von einem Extrem ins andere. Und auch dieser Aspekt des Syndroms lässt sich durch den Ort erklären, an dem die Grenze zwischen dem Akzeptierten und dem Abgespaltenen gezogen wird. Eine ausführlichere Beschreibung der komplizierten Struktur, die seinen Anfällen von Selbstbeschimpfung zugrunde liegt, müsste bei dem Paradox seines monströsen Größenwahns beginnen. Karen Horney hat einmal gesagt, dass der Neurotiker sich selbst als Gott betrachtet, und etwas Ähnliches muss vorliegen, wenn das Selbst sich mit einem „Großen Subjekt“ identifiziert, das alle Erfahrung beobachtet. Wenn nämlich das „wahre Selbst“ nur der ungreifbare, postulierte Punkt ist, von dem aus das Erleben gesehen wird, dann kann keine Schwäche und kein Versagen im eigenen Verhalten je dieses Selbst modifizieren oder beflecken. Nichts kann es je zwingen, aus seiner Höhe herabzusteigen, und so bleibt es gottgleich und unantastbar. Die Gesamtheit der eigenen konkreten, ungelösten Existenz verbindet sich nicht mit der unbefleckten Essenz des eigenen Wesens. Sie wird als missgestaltete und trügerische Hülle abgetan, während der Kern unschuldig und makellos bleibt. Und dennoch steht ihm genau diese Makellosigkeit unausweichlich als alles übersteigender und hoffnungslos hoher Maßstab gegenüber. Weil seine Erfahrung sein eigentliches Selbst nie befriedigt, bleiben dessen Ansprüche absolut, und daraus entsteht sein Selbstekel. In den Stunden, in denen er sich selbst nicht genügend erniedrigen kann, hält er die Realität seiner alltäglichen Erfahrung gegen diesen unmenschlichen Maßstab, und dann findet er sich selbst natürlich so minderwertig, dass er sich wie eine „Maus“ oder bloßes „Ungeziefer“ vorkommt. Die Momente, in denen das Pendel in die andere Richtung schwingt, wenn er von den Höhen seiner wahnwitzigen Arroganz auf die anderen herabsieht, stellen in dieser Interpretation nur die Kehrseite desselben Musters dar: In ihnen vergleicht er nicht sich selbst, sondern andere mit seinem absoluten und sakrosankten „wirklichen“ Selbst.

… Neurotisches extremes Schwanken zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen

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