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Kapitel 5
ОглавлениеSpätestens nach der Mittagskonferenz wusste das ganze Haus Bescheid über die Wende im Fall Hillner. Kaum ein Kollege, der nicht interessiert war. Selbst aus der Wirtschaftsredaktion kamen sie angerückt und belagerten Judiths Schreibtisch. Kein Schwurgerichtsprozess hatte jemals beim Generalanzeiger ähnliches Aufsehen erregt. Die pure Möglichkeit, dass eine Mordanklage schon dem ersten Ansturm der Verteidigung eventuell nicht standhalten könne, lieferte die Basis für eine Flut von Spekulationen, die Judith kaum noch eindämmen konnte. Sie schien sogar Rufius überschwemmt zu haben, denn gegen 18 Uhr erschien er mit drei Flaschen Sekt unter dem Arm. Nicht die übliche Redaktionsbrause, wie Helga anerkennend feststellte. Der Chefredakteur hatte sich in Kosten gestürzt. Judith war die Einzige, die nicht mittrank. Ein wenig zollte sie noch immer ihren Tribut für die letzte Nacht. Dennoch stimmte sie dem Vorschlag der Kollegen zu, nach Redaktionsschluss den Abend – wie so oft – mit einem Wein in der Kantine zu beschließen. Die meisten Redakteure gingen nach Feierabend nicht direkt nach Hause. Es bedurfte immer einer Weile, um den Stress abzubauen, gemeinsam die gerade fertiggestellte Ausgabe zu diskutieren und vor allem auf die Konkurrenzzeitungen zu warten, die die Straßenverkäufer abends in den Kneipen anboten.
Die Kantine war in Wirklichkeit eine kleine Pizzeria unten im Gebäude des Generalanzeigers. Sie wurde so genannt, weil die meisten Redakteure hier zu Mittag oder zu Abend aßen. Annabella, die sizilianische Wirtin, kochte selbst und recht gut, obwohl manche ihrer Zusammenstellungen immer wieder Anlass zu Frotzeleien gaben. Sie nahm’s nicht krumm. Zwischen ihr und den Generalanzeiger-leuten herrschte ein freundschaftliches Verhältnis. Beim letzten Streik war sie sogar mit Wein und Bier vor den Toren der Druckerei erschienen – sicherlich ein eher von gesundem Geschäftssinn denn von gewerkschaftlichen Idealen getragener Solidaritätsbeitrag. Manche Redakteure rührte er jedoch so tief, dass sie ihr sogar die nächste Preiserhöhung ohne mit der Wimper zu zucken verziehen.
Obwohl nach Redaktionsschluss oft acht bis zehn Redakteure gemeinsam bei Annabella ihren Absacker tranken, gingen an diesem Abend nur Judith, Helga und Robert hinunter in die Kantine. Uli Sol, der ursprünglich auch mitkommen wollte, wurde durch ein brennendes Lagerhaus im Hafen davon abgehalten. „Polizeireporter ist ein toller Job“, meinte er, bevor er sich mit einem Fotografen auf die Socken machte, „man verdient viel Geld und hat nie Zeit, es auszugeben.“ Diese Art von pfiffiger Gelassenheit war es, die das Arbeiten mit ihm so angenehm machte. Ein beliebter Kollege ohne jegliche Allüren, niemals launisch und über einen ausgesprochen trockenen Humor verfügend. Bevor Uli Sol – kein Mensch wusste wie und warum – irgendwann bei der Zeitung landete, studierte er Theologie. Für einen Polizeireporter sicherlich eine merkwürdige Vorbildung. Der Generalanzeiger wusste jedoch den unschätzbaren Vorteil, dass Sol auch bei Kirchentagen hervorragend einsetzbar war, durchaus zu würdigen. Witzeleien über diese gelegentliche Art der Fremdarbeit nahm Uli ebenso grinsend zur Kenntnis wie den Jux, dem er sich üblicherweise ausgesetzt sah, wenn die Kollegen ihn als Torwart für sportliche Niederlagen seines Fußballvereins verantwortlich machten. Ein Mensch, der in sich zu ruhen schien.
An diesem Abend aber wirkte er nicht ganz so gelassen, wie man es sonst von ihm gewohnt war. Er hätte offenbar gerne noch mit Judith über den Fall Hillner diskutiert. Die Tatsache, dass er seinerzeit das Gutachten des Physikers Dr. Martin Mundt in seinem Bericht als absolut überzeugend dargestellt hatte, machte ihm zu schaffen. Obwohl Volker Schmidt bereits inhaftiert war, als Staatsanwaltschaft und Mordkommission ihre Sensation vor der Öffentlichkeit ausbreiteten, bedrückte ihn der Verdacht, möglicherweise durch unkritisches Verhalten Schaden angerichtet zu haben.
Judith hatte ihn zu beruhigen versucht: „Schau mal Uli, Journalisten können unmöglich wissenschaftliche Erkenntnisse überprüfen. Nicht einmal das Gericht kann das. Darum haben ja die Gutachter leider Gottes eine solche Macht. Du kannst mir glauben, selbst Schmidts Verteidiger hat sich von den Ergebnissen der Laser-Mikrosonden-Massenanalyse genauso überzeugen lassen, wie alle anderen auch. Er hat nur weitergebohrt, weil das nun einmal seine Aufgabe ist. Außerdem ist er ein schlechter Verlierer. Überhaupt – wer sagt dir eigentlich, dass die Sache wirklich so läuft, wie Dr. Mergentheim sich das vorstellt? Vielleicht zieht ja auch das Landeskriminalamt den Kürzeren.“
Als Judith dann mit Helga und Robert bei Annabella am Tisch saß, glaubte sie selbst nicht mehr an das, was sie dem Polizeireporter sozusagen als moralische Aufrüstung vermittelt hatte. Zu diesem Zeitpunkt allerdings entsprang ihre Unschuldsvermutung eher egoistischen Motiven als persönlichem Engagement. Wenn Volker Schmidt Daria Hillner doch getötet haben sollte, sah der Generalanzeiger mit seinem Aufmacher nicht allzu gut aus. Darüber aber wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nachdenken. Sie war ein wenig müde und fühlte sich ausgepumpt von der Hektik der Tagesarbeit. Sie hatte nur noch den Wunsch, ruhig mit Helga und Robert zu plaudern, Wein zu trinken und Spaghetti zu essen – mit viel Knoblauch und Peperoni.
„Auf uns“, sagte Helga wie zig Abende zuvor und hob ihr Glas mit dem angenehm trockenen Frascati, den Annabella zwar aus billigen Zweiliter-Flaschen servierte, der aber stets ausgezeichnet bekömmlich war. Robert zeigte sich von seiner besten Seite. Er ließ seinen Geist sprühen. Wenn er wollte, konnte er ein glänzender Unterhalter sein, dessen Gesprächsstoff meistens jene Mischung aus Witz und Kritikvermögen enthielt, die Judith zu allererst an ihm bewundert hatte, als sie – von einer norddeutschen Zeitung kommend – in der Redaktion des Generalanzeigers ihren Job aufnahm. Robert lebte damals schon etliche Jahre von seiner Familie getrennt. Judith war so eben in ihre Ehekrise geschlittert, aus der sie nicht mehr herausfinden sollte. Die Tatsache, dass sie sich sofort heftig in Robert verliebte, hatte damit nichts zu tun. Ihr Ehemann wollte sie verlassen, nicht sie ihn. Ob sie sich – wäre die Konstellation eine andere gewesen – auch in eine Affäre mit Robert gestürzt hätte? Diese Frage ließ sich im Nachhinein nicht endgültig beantworten. Judith neigte jedoch eher dazu, sie zu verneinen. Es schien ihr, als wäre sie zu dieser Zeit wenig risikobereit gewesen, was Beziehungen anbelangt. Eine Ehe schien ihr als etwas, das man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfe. Eine Meinung, die sie übrigens auch weiterhin vertrat – wenn auch in gemäßigter Form und dem Zusatz, dass für sie keine feste Bindung mehr infrage komme.
Dennoch konnte sie sich manchmal – vor allem an Abenden wie diesem – des Gefühls der Zusammengehörigkeit nicht erwehren. Was wäre denn wirklich, wenn niemand an ihrer Seite stünde? Niemand sich ihr verbunden fühlte, und sie ganz auf sich allein gestellt wäre? Nein, ein Stück Bindung sollte es schon sein, nur nicht allzu fest. Schließlich wurde Freiheitsberaubung sogar vom Strafgesetzbuch geahndet. Die Suche nach karierten Maiglöckchen. So jedenfalls bezeichnete Helga Judiths Unabhängigkeitsstreben. „Davon träumen wir alle“, pflegte sie zu sagen, „aber welcher Mann macht so etwas mit? Würdest du dich etwa ständig in die Ecke stellen lassen, aber bitteschön abrufbereit?“
Am Tisch flackerte die Kerze, ohne die bei Annabella nichts möglich war. Helga und Robert amüsierten sich über die letzte Inszenierung irgendeines Horvath-Stücks, die wohl gründlich daneben gegangen sein musste. Roberts geistreiche Spöttelei über die offenbar missverstandene Vorstellung von Volkstheater erheiterte Judith.
„Ich musste pausenlos an einen alten Schlagermissgriff denken. Erinnert ihr Euch? ‚Es geht eine Träne auf Reisen>‘, so hieß er doch, oder?“ Robert intonierte eine längst vergessene Melodie.
Das Gespräch zwischen Helga und ihm brandete an Judith vorbei. Nur Fetzen davon drangen in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich zu Hause, wie eingehüllt in einen warmen Mantel, gewoben aus Freundschaft und der beruhigenden Wirkung des Alkohols. Satt und zufrieden – auf eine fast archaische Weise bedürfnislos.
Und dann ging die Tür auf. Der Mann, der hereinkam, änderte alles – allein durch sein bloßes Erscheinen. Als er an den Tisch trat, schien es Judith, als nehme er ihr den Mantel, der sie vor wenigen Sekunden noch gewärmt hatte, einfach weg, um ihn an die Garderobe zu hängen. So als wollte er Platz schaffen für die eigene Person.
„Grüß’ dich“, sagte Robert fröhlich zu dem hageren 1,90-Meter-Mann mit dem kräftig angegrauten und dennoch jungenhaft wirkenden Haarschopf. Er stellte ihn den beiden Frauen vor: „Das ist Michael Morgenthal, der Maler, dessen schreckliche Ausstellung ich mir gestern Abend zumuten musste. Ich vergaß euch zu sagen, dass wir hier verabredet sind.“
Die Augen des schlaksigen Typen in Jeans und abgewetztem Lederblouson waren eisblau – und sie konzentrierten sich sofort auf Judith: „Schade“, sagte er, „dass Sie gestern nicht mitkommen konnten. Vielleicht hätten Sie meine Bilder anders beurteilt als Robert.“
Robert? So weit waren die beiden also schon – der angeblich so schlechte Maler und sein gnadenloser Kritiker.
Morgenthal schien die unausgesprochene Frage zu ahnen: „Wir haben gestern noch einen Zug durch die Gemeinde gemacht und sind in atemberaubenden Schickeria-Kneipen gelandet. Ich weiß nur noch, dass mein letzter Cocktail so blau war wie ich selbst.“
Cocktailbars gab es nicht viele in der Stadt und Robert hatte sie stets weiträumig umfahren, wie er sich auszudrücken pflegte. Er war nicht gerade der Typ des Gesellschaftslöwen und hatte sich all die Jahre sogar standhaft geweigert, Judith zum Presseball zu begleiten. So klang seine Erklärung auch ein wenig lahm, als er sagte: „Na ja, wir hatten schließlich eine bedeutende Auseinandersetzung zu führen. So etwas geht nur mit Strömen von Alkohol, wenn man sich nicht endgültig verkrachen will.“
„Nicht verkrachen ist gut“, lachte Morgenthal, „wissen Sie, was er über mich und meine Bilder gesagt hat?“
Robert antwortete prompt, bevor eine der beiden Frauen überhaupt eine Chance zu irgendeiner Mutmaßung hatte: „Es handelt sich um unsägliche Produktionen eines allenfalls mittelmäßigen Handwerkers, der auf der Masche des Esoterikwahns reitet, um ins Geschäft zu kommen. Man kann sich des Wunsches nicht enthalten, die Nebel von Avalon mögen gnädig diese unentschuldbare Verschwendung von Farbe und Leinwand verhüllen.“
Judith schluckte: „Hast du das etwa geschrieben?“
„So ähnlich“, erklärte Robert freimütig, während Michael Morgenthal offenbar unbeeindruckt lachte und behauptete, darauf müsse man unbedingt gemeinsam einen Grappa trinken.
„Der Vogel scheint mir, hat Humor“, kommentierte Helga trocken.
Judith nippte an ihrem Schnaps und ärgerte sich über Robert. Es erschien ihr unmöglich, einen Menschen derart herunterzuputzen und anschließend mit ihm offensichtlich Freundschaft zu schließen. Eine für Robert ohnedies unangemessen rasche Reaktion. Außerdem fühlte sich Judith hinters Licht geführt. Robert hatte anscheinend deshalb ihr spätes nach Hause kommen am gestrigen Abend wider alles Erwarten mit keinem Wort erwähnt, weil er es gar nicht mitbekommen hatte. Er selbst war ja die ganze Nacht nicht in seiner Wohnung gewesen. Sie spürte ein unorthodoxes Gefühl des Grolls. Merkwürdig. Da hatten sie es das erste Mal praktiziert, dieses so oft herbeigeredete und angeblich doch so heiß gewünschte sich gegenseitig von der Leine lassen. Und nun war es auch nicht richtig. Judith, die es doch selbst so hasste, über ihr Tun und Lassen Rechenschaft abzulegen, fühlte sich auf einmal düpiert.
„Sie sind Gerichtsreporterin?“ Morgenthals Frage schien von weither zu kommen, aber eine Sekunde später war Judith wieder hellwach, als ihr so eigentümlich faszinierendes Gegenüber sagte: „Robert hat mir erzählt, dass Sie den Prozess gegen Volker Schmidt bearbeiten. Wussten Sie, dass Daria Hillner meine Nachbarin war?“
„Haben Sie die Frau gekannt? Wie war sie? Kennen Sie vielleicht auch Volker Schmidt?“ Judith erschien die eigene Stimme schrill vor Anspannung.
„Ich muss Sie enttäuschen. Ich glaube, ich habe keinen von beiden je gesehen. Als der Mord passierte, muss ich wohl nicht zu Hause gewesen sein. Ich erinnere mich nicht mehr genau nach der langen Zeit. Jedenfalls habe ich nichts davon mitgekriegt. Aber natürlich bin ich an dem Fall besonders interessiert. Das ist man doch immer, wenn eine so schöne Frau in unmittelbarer Nachbarschaft auf so grausame Weise umgebracht wird.“
„Woher wollen Sie wissen, dass sie schön war, wenn Sie ihr nie begegnet sind?“
„Trauen Sie mir etwa nicht?“ Morgenthal lachte – auf eine sympathisch offene Art, wie Judith fand. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch schöne Zähne.
„Das sollten Sie aber. Das Aussehen des Opfers ist schließlich kein Geheimnis. Oder haben Sie vergessen, dass Sie noch zur Prozessankündigung in der letzten Woche ein Bild von Daria veröffentlicht haben? Ich bin ein eifriger Leser des Generalanzeigers und werde in den nächsten Wochen noch eifriger werden.“
„Sind Sie wirklich so sehr an Daria Hillner interessiert?“, fragte Helga.
„Nicht unbedingt an Daria Hillner, aber an dem Prozess. Stellen Sie sich vor, ein Mensch, der in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelebt hat, dem Sie vielleicht, wenn auch unbewusst, beim Brötchenholen begegnet sind, wird plötzlich zum Mörder. Eine Vorstellung, die ganz automatisch Furcht und Mitleid erregt – wie in einer griechischen Tragödie. Man kann sich der Faszination des Grauens meistens nur schwer entziehen. Sie haben doch sicher auch Lessings Hamburgische Dramaturgie gelesen.“
Ein kulturelles Stichwort, auf das Robert automatisch reagierte – wie ein Pawlowscher Hund: „Dann wird es dich sicher interessieren, dass Volker Schmidt vermutlich unschuldig ist.“
Judith nahm Roberts Einmischung übel. Wieso maßte er sich an, Schlussfolgerungen aus Fakten zu ziehen, die er nur aus dritter Hand kannte?
Michael Morgenthal zog die rechte Augenbraue in seinem hageren Gesicht hoch, in das sich tiefe Falten eingekerbt hatten. Judith ertappte sich bei der Überlegung, wie alt dieser Mann wohl sein mochte, 40, vielleicht sogar 50? Warum interessierte sie das überhaupt?
Seine eisblauen Augen hatten sich wieder auf sie fixiert: „Ist das wahr? Dann wird dieser Prozess ja noch spannender als ich dachte. Sie müssen mich ständig auf dem Laufenden halten.“
„Sagten Sie nicht, Sie seien Generalanzeiger-Leser?“ wehrte Judith halbherzig ab und nippte an ihrem Frascati. „Außerdem ist die Verhandlung öffentlich.“
„Das schon, aber stundenlang im Gerichtssaal zu sitzen, dazu fehlt mir die Zeit. Und außerdem: Denken Sie, ich gebe mich allein mit der Zeitungslektüre zufrieden, nachdem ich Sie kennengelernt habe? Auch mir als journalistischem Laien ist klar, dass Reporter niemals alles schreiben können, was sie wissen. Und genau an diesen unveröffentlichten Details bin ich interessiert. Ich glaube, wir werden uns in Zukunft ganz häufig treffen.“
„So, glauben Sie.“ Judiths Ton war etwas harsch. Sie stürzte den beachtlichen Rest in ihrem Weinglas so heftig in sich hinein, als handele es sich um Wasser.
Zu ihrer Überraschung lachte Robert: „Komm Schatz, was hast du denn auf einmal? Normalerweise bist du doch immer froh, wenn du jemanden hast, mit dem du stundenlang deine Fälle bereden kannst. Michael werden wir ohnedies nicht mehr los. Der ist ja nicht einmal durch eine vernichtende Kritik abzuschrecken.“
Judith fühlte sich, als habe sie selbst den allerletzten Strohhalm verloren, an den sie sich klammern konnte. Die eisblauen Augen in dem Gesicht auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen.
„Ich hoffe, Sie lassen mich nicht einfach im Regen stehen, nur weil der Mann in ihrem Leben nicht viel von mir und meiner Arbeit hält?“ Morgenthals Stimme klang rau, angekratzt von unzähligen Gauloise, die er offenbar eine an der anderen anzustecken pflegte. Judith erschien das alles wie aus einem kitschigen Film. „Das kann doch nicht wahr sein“, dachte sie wütend.
Als Annabella nunmehr rigoros auf ihrem Feierabend bestand und sich nicht einmal mehr auf einen einzigen Espresso einlassen wollte, war es Judith ganz recht. Was geschah hier eigentlich – mit Robert, mit ihr?
„Mein lieber Scholli“, flüsterte ihr Helga in ihrer direkten Art beim Herausgehen zu, „bist du dir eigentlich klar darüber, was hier vorgeht?“ Judith zuckte die Achseln. Helga schnalzte mit der Zunge und schüttelte ihr weises Haupt: „Menschenskind, da macht dir ein Mann Avancen, den keine Frau von der Bettkante schubsen würde, und ihr merkt es nicht einmal – du und dein schlauer Robert.“
Die beiden, nach Helga Webers unmaßgeblicher Meinung so Ahnungslosen, legten den Katzensprung von der Kantine bis zu Judiths Wohnung schweigend zurück. Robert hatte offenbar nicht den leisesten Zweifel, dass er in dieser Nacht bei Judith willkommen war. Schließlich konnte er nicht mehr Auto fahren. Damit schien ihm der Zugang zu seiner eigenen Wohnung quasi automatisch verbaut. So einfach war das – unausgesprochen, aber doch verabredet.
Die Katzen quäkten bereits vor der Korridortür und hatten sich für ihre Vernachlässigung bitter an Judith gerächt. Zwei Saftgläser aus dem Küchenregal lagen zersplittert am Boden. Robert goss sich noch einen Cognac ein, während Judith die Scherben auffegte und die Zimmertiger fütterte.
Später, im Bad, fühlte sie eine kleine, hässliche Genugtuung. Es war ihr eingefallen, dass sie gestern neue Bettwäsche aufgezogen hatte – Satinbettwäsche, die Robert nicht ausstehen konnte, weil sie ihm zu fludderig war. Warum diese Nickeligkeit?
Robert hatte ihr ebenfalls einen Cognac eingeschüttet und eine Zigarette angezündet. Er erwartete sie damit im Schlafzimmer. Sie fühlte sich ein bisschen beschämt, als er sie sanft küsste und zu sich aufs Bett zog.
In dieser Nacht schliefen sie miteinander und ihre gegenseitigen Berührungen hatten die gewohnte Wirkung. Auf ihre Körper jedenfalls konnten sie sich verlassen. Die biochemische Reaktion setzte prompt ein. Als sie nachließ, hatte sich neben der körperlichen Befriedigung auch jenes Zusammengehörigkeitsgefühl wieder eingestellt, das mit dem Auftritt von Michael Morgenthal für die letzten beiden Stunden unterbrochen gewesen war. „Wenn du möchtest, kannst du ja morgen früh länger schlafen“, schlug Judith vor, die stets um 9 Uhr im Gericht sein musste, während für Robert die Redaktionszeit frühestens um 11 begann.
„Nein“, brummte er, und rollte sich in seiner typisch embryonalen Schlafhaltung zusammen, „nein, mein Schatz, ich hole die Brötchen.“