Читать книгу Mörderspur - Füssmann - Страница 6
Prolog
ОглавлениеEs ist nicht wahr, dass die Menschen die Wahrheit nicht erfahren wollen. Das größte Hindernis, das sich der Erringung der Erkenntnis entgegensetzt, ist vielmehr die feste Überzeugung. Dass man die Wahrheit bereits besitzt. In solchem Glauben genießt sowohl der Wissenschaftler als auch der Kriminalist oft das Vorgefühl hohen Glücks.“
So beschreibt es der amerikanische Psychoanalytiker Theodor Reik. Seine Studien zum Thema ‚Der unbekannte Mörder‘ befassen sich mit der Angst des Menschen vor einem unaufgeklärten Tötungsdelikt. Woher kommt dieser Eindruck des Unheimlichen, wenn ein Mord geschieht, dessen Täter nie entdeckt wird? Auch das Verbrechen an der jungen Daria Hillner, deren Leiche vor nunmehr drei Jahrzehnten gefunden wurde, lieferte nicht einmal nach Abschluss eines Gerichtsverfahrens eine Antwort auf diese Frage.
Die Zeit hat inzwischen den Mantel des Vergessens darüber gebreitet. Allerdings nicht für jeden. Es bleiben die Angehörigen des Opfers mit ihren verzweifelten Fragen. Aber auch der damals noch junge Mann, den die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zunächst in Untersuchungshaft und dann vor Gericht brachten. Erst nach einer Prozessdauer von zehn Monaten wurde er von dem Verdacht befreit, ein Mörder zu sein. So etwas kann man nicht einfach vergessen.
Auch Judith Faßberg ist dazu nicht in der Lage. Und das nicht nur, weil sie diesen Fall damals über Monate hinweg als Gerichtsreporterin begleitet hat. Wie keiner sonst war er auf besondere Weise mit ihrer Privatsphäre verknüpft. Ein Umstand, der ihr bis heute Angst macht. Zwar gelingt es ihr manchmal, diese Belastung abzuschütteln, aber über kurz oder lang drängt die Angst sich wieder hinein in den Alltag. Denn mit dem Sonntag hat die Angst nichts gemein. Sie gibt keine Ruhe und auch keinen Raum für Freude. Zuweilen genügt ein Schatten, in dem man eine Gestalt zu erkennen glaubt, eine Gestalt aus der Vergangenheit. Aber meistens bedarf sie keines Anlasses – nicht einmal der mausgrauen Tristesse eines Nebeltages. Sie ist ganz einfach da.
Rein äußerlich kann man natürlich Vorsorge treffen. So hat es Judith beispielsweise seit jenem schrecklichen Abend nie mehr versäumt, die Kette vor ihre Tür zu legen. Aber damit sperrt sie die Angst nicht aus. Unsicherheit gehöre zum Leben, sagt man. Aber darf sie denn zum Maß aller Dinge werden? Zuweilen, wenn sich die Erinnerung in Judiths Bewusstsein drängt, überfallen sie Zweifel. Haben sie damals nur Hirngespinste getrieben? Ungewissheit hinterlässt ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Sie ist eine Schimäre, die man besiegen muss, um zu verhindern, dass man von ihr besiegt wird.
Psychiater und Psychologen raten davon ab, Probleme zu verdrängen. Aber kann bloßes Rekapitulieren helfen? Judith versucht es immer und immer wieder. So als habe sie damals etwas übersehen und könne auf diese Weise dahinterkommen. Der Aktenordner mit den Berichten, die sie über den Fall Hillner geschrieben hatte, scheint ihr manchmal die einzige Konstante. Beim Lesen kann sie in Gedanken zurückwandern. Der Umgang mit Fakten vertreibt die Ängste. Er zwingt zur Logik.
Aber am Anfang ihrer Unterlagen steht bereits das Ende. Ein Ende, das möglicherweise nur scheinbar festgeschrieben wurde – durch ein Urteil vor nunmehr rund 25 Jahren.