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Kapitel 3
ОглавлениеDie Sonne schien nicht mehr, als Judith das Gerichtsgebäude verließ. Oktoberkühle umfing sie. In der Redaktion dagegen ging es heiß her. Endspurtstimmung. Der Prozessbericht sollte Aufmacher werden. Obwohl es bereits kurz vor Redaktionsschluss für die erste Form war, nahmen sich die meisten Kollegen noch Zeit, Judith über ihre Eindrücke auszuquetschen. Ein Verbrechen hat eben auch Unterhaltungswert – natürlich nur für denjenigen, der nicht direkt davon betroffen ist. Wer könnte das besser wissen als eine Gerichtsreporterin, die dieser Erkenntnis täglich Rechnung trägt. So zeigte sich nicht nur Polizeireporter Uli Sol interessiert. Auch Helga Weber, die ungefähr zeitgleich mit Judith aus einer offenbar langweiligen Sitzung des Grünflächenausschusses der Stadt zurückkam, bekundete lebhaftes Interesse. „Mensch Judith, ich beneide dich. Während ich mich mit der Bedeutung des fünffingrigen Waldfarns für den Westfalenpark auseinandersetzen muss – oder war es der sechsfingrige? – geht es doch bei dir wenigstens noch um was.“
„Ja, um lebenslänglich“, konterte Rufius. Als Chefredakteur war er eher an einem reibungslosen Produktionsablauf interessiert als an langen Diskussionen. Der Producer schrie bereits nach dem Material. Alles haute in die Tasten. Die Telefone schrillten. Eine Tatsache, die Robert Merten zu dieser Stunde besonders hasste. Es war die Zeit für den Kommentar des Kulturredakteurs –und nicht die für Störungen.
Judith überlegte, wie sie Robert beibringen sollte, dass sie mit Dr. Mergentheim verabredet war. Hatte er sie nicht gestern Abend gebeten, mit ihm heute eine Vernissage von irgendeinem Künstler zu besuchen, den er für sagenhaft schlecht hielt? Auch das noch. Wenn er unsicher war, legte er immer besonderen Wert auf ihr zusätzliches Urteil. Judith hatte ein gutes Gespür für falsche Töne – im Leben wie in der Kunst. Robert wusste das und war außerdem der Meinung, dass es einfach dazugehörte, alles gemeinsam zu unternehmen.
Judith dagegen scheute eine allzu enge Bindung. Sie war jetzt 40 Jahre alt und nach ihrer Scheidung vor zwei Jahren endlich wieder unabhängig. Sie wollte nicht von einer Beziehung in die nächste rutschen, fürchtete allzu sehr, dass alles wieder enden würde wie gehabt. Sie waren sich nämlich zu ähnlich, dieser Robert Merten und ihr Ex-Mann – beherrschend, ein wenig egoistisch, und vor allem besitzergreifend. Auch aus ihren Katzen machte sich der eine so wenig wie der andere. Reibungspunkte genug also. Warum noch einmal von vorn anfangen, wo doch die erdrückende Zweisamkeit endlich überwunden schien? Vielleicht war sie wirklich nicht zum Zusammenleben geeignet, wie ihr Ex-Gatte einst feststellte – allerdings erst nach zehnjähriger Ehe und nachdem er die Liebe zu einer anderen Frau entdeckt hatte. Damals ein harter Schlag für Judith. Inzwischen hatte sie ihn überwunden – nicht zuletzt durch Roberts Hilfe. Ein Grund, dankbar zu sein. Außerdem war er ein brillanter Kopf, dieser Robert Merten, und so etwas hatte Judith schon immer magisch angezogen. Seine Interessen deckten sich weitgehend mit den ihren. Aber Gespräche über Kunst und Literatur können keinen Alltag ausfüllen. Sie relativieren sich in ihrem Wert, wenn am Morgen nach einer Nacht der romantischen Übereinstimmung nur die berühmte falsch ausgedrückte Zahnpastatube oder ein bisschen von der Katze verschüttete Milch als Diskussionsstoff übrig blieben. Judith wollte Robert nicht verlieren, aber sie wollte ihr Leben auch niemals wieder mit endlosen, fruchtlosen Streitereien belasten oder über jede Minute ihres Tun und Lassens Rechenschaft ablegen.
Sie liebte es, morgens aufzustehen, wann sie es für richtig hielt. Im Bademantel zu frühstücken und das Mittagessen notfalls um 5 Uhr nachmittags einzunehmen. Zu lesen bis spät in die Nacht. Zeit zu vertrödeln. Stundenlang mit ihrer Freundin und Redaktionskollegin Helga Weber zu telefonieren oder ganz allein am Abend bei Kerzenlicht Champagner zu trinken, lediglich um einen ganz kleinen, persönlichen Erfolg zu feiern – ein bisschen berufliche Anerkennung oder auch nur ein mühsam aber richtig angebrachtes Regalbrett.
Seit sie allein in ihrer 80-Quadratmeter-City-Wohnung lebte, hielt sie viel von diesen winzigen Freuden des Lebens. Die Einrichtung hatte sie mit Bedacht ausgewählt, sozusagen als Kontrastprogramm zur früheren ehelichen Wohnung, seinerzeit männlich bestimmt und nicht ganz ohne falsche Töne. Da gab es beispielsweise ein auf dem Trödel erstandenes, altes Butterfass, das – Judith erschien es als Krone der Geschmacklosigkeit – in Mahagoni gebeizt als Schirmständer diente. Warum hatte sie sich das nur bieten lassen? Nun herrschte ihr Geschmack vor, obwohl sie einige Möbel aus ihrer Ehe mitgenommen hatte. Aber der englische Rosenholztisch vertrug sich ausgezeichnet mit der leichten Sitzgarnitur aus Korb und der konstruktivistischen Kunst an den Wänden. Sie, die früher niemals Zimmerpflanzen gemocht hatte, war nun stolz auf ihre riesigen Palmenkübel im Wohnzimmer, die in ihren Weidenkörben hervorragend mit dem Parkettboden harmonierten. Sie hatte soviel in die Wohnung investiert, dass sie nun eigentlichen recht sparsam hätte sein müssen. Aber auch daran war sie inzwischen gewöhnt. Sicherheit – auch finanzieller Art – gab es in ihrem Leben nicht mehr als allgegenwärtige Balancierstange, die man niemals losließ. Davon hatte sie sich längst frei getanzt. Ganz solo, nicht mehr im Pas de deux. Auch andere überzogen hin und wieder ihr Konto. Helga sogar ausgesprochen hemmungslos.
Robert war erwartungsgemäß nicht erbaut, als sie ihm nach Redaktionsschluss von ihrer Verabredung mit Mergentheim erzählte. „Wieso musst du dich immer vereinnahmen lassen? Wenn einer pfeift, dann springst du.“ Komisch, das gerade aus seinem Mund zu hören, aber so sah er die Dinge nun einmal. Echtes Interesse an einem Abend jenseits der ausgetretenen Pfade konnte er sich nicht vorstellen. Spontaneität schätzte er nur, wenn sie von ihm ausging. „Gut“, stimmte er schließlich grämlich zu, „treffen wir uns später bei dir zu Hause. Wann wirst du dort sein?“ Judith dachte an den Stress, der sie erwarten würde. An die Vorwürfe, wenn sie nicht pünktlich wäre. Nein, sie hatte nicht die geringste Lust auf all das. Der Prozesstag war anstrengend genug gewesen, obwohl Robert dieses „Herumsitzen im Gerichtssaal“, wie er es zu bezeichnen pflegte, niemals als harte Arbeit zu akzeptieren gewillt schien. „Wir sehen uns morgen in der Redaktion“, konterte sie nur kurz – und Robert war zu stolz, um dagegen zu argumentieren. Es kränkte ihn ohnedies, dass Judith ihm niemals ihre Haustürschlüssel überlassen hatte und es auch ablehnte, seine in Verwahrung zu nehmen. Ja, genau so drückte er sich stets aus. Er war überzeugt, sie schließe ihn mit dieser Weigerung aus ihrem Leben bewusst aus. Judith hielt das für eine ausgesprochen überflüssige Dramatisierung der Angelegenheit.
Inzwischen war seine Laune offenbar auf dem Nullpunkt angelangt. Da platzte Helga herein. Mit der ihr eigenen Gabe, dicke Luft grundsätzlich zu ignorieren, grinste sie Judith munter an und säuselte: „Ciao, mein Herz! Bis morgen und viel Spaß mit Dr. Mergentheim.“ Eine Bemerkung, die Robert veranlasste, die Achseln zu zucken und in stummer Ergebenheit hinter ihr herzutrotten – aus dem Zimmer und aus diesem Abend. Judith atmete erleichtert auf.
Das kleine italienische Restaurant, in dem Judith sich mit dem Rechtsanwalt verabredet hatte, lag nur gut einen Steinwurf von der Redaktion des Generalanzeigers entfernt. Das war ihr gerade recht. Sie liebte keine langen Fußwege durch die nächtliche City, die durch ihre Rauschgiftszene berüchtigt geworden war. Ihre Erfahrungen als Gerichtsreporterin hatten sie zwar nicht ängstlich, aber vorsichtig werden lassen. Man musste die Gefahr nicht gerade suchen. Auf dieser kurzen, belebten Wegstrecke konnte ihr sicher nichts passieren, auch wenn Dr. Mergentheim – und davon musste man ausgehen – sie nicht nach Hause bringen würde. Er war nicht gerade ein Muster an Höflichkeit, aber das hätte auch gar nicht zu ihm gepasst. Dazu wirkte er viel zu spontan. Seine Ausbrüche im Gerichtssaal wurden in Justizkreisen kolportiert, und auch seine Ehefrau hatte Judith in diesem Zusammenhang einmal erzählt, wie sie ihn kennen- und lieben gelernt hatte: „Als Referendarin war ich in einer Verhandlung, in der er Verteidiger war. Plötzlich geriet er in Wut. Er zog seine Robe aus, knüllte sie zusammen und schleuderte sie vor den Richtertisch. Da dachte ich: Das genau ist der Mann, den du willst.“ Es schien, als habe sie es nicht bereut, und das nicht nur aus finanziellen Gründen. Mergentheim war sicherlich ein vermögender Mann, aber er schnurrte auch um sie herum wie ein verliebter Kater. Seine Robe gab immer noch Anlass zu gelegentlichem Gesprächsstoff. Sie war so ausgefranst, dass man zweifellos keinem Irrtum unterlag, wenn man mutmaßte, es handele sich noch um eben dieselbe, die damals seine Ehe begründet hatte. Inzwischen war er Vater von drei Kindern, von denen zwei bereits studierten. Den „Kittel“ aber, so seine Bezeichnung, schleuderte er immer noch in den Gerichtssaal – jedenfalls ab und zu.
Gelegentlich ärgerte sich Judith über ihn, weil er so unverfroren sein konnte. Meistens aber mochte sie ihn und bewunderte seinen Einsatz als Verteidiger, wenn auch einer seiner Kollegen einmal von ihm behauptet hatte, er begründe seine Erfolge weniger auf Aktenkenntnis als auf Genialität. Das war eigentlich kritisch gemeint, aber Judith sah es eher als Kompliment. Sie konnte sich nicht erinnern, dass bei Gericht schon einmal Fleißkärtchen verteilt worden waren, und sture Paragrafenhengste gab es ohnedies mehr als genug.
Schon von Weitem sah sie Mergentheim im verglasten Vorbau des Restaurants an einem der rosa eingedeckten Tische sitzen. Selbstverständlich hatte er nicht auf sie gewartet und bereits Rotwein geordert, obwohl sie pünktlich war. Er studierte eifrig die Speisekarte und wäre sicherlich schon beim Essen gewesen, wenn sie sich auch nur ein wenig verspätet hätte. Immerhin aber sprang er eilfertig auf, als sie den Raum betrat. Pietro freute sich wie immer, denn Judith und ihre Freunde kamen oft zu ihm zum Essen. Er fragte, ob sie einen Champagnercocktail zum Auftakt wünsche, und sie stimmte aufgeräumt zu. Der Abend erschien ihr plötzlich in einem hellen Licht. Das schöne Ambiente – alles in Weiß und Rosa mit viel Glas – regte nicht nur ihren Appetit an. Judith speiste gern in ansprechender Umgebung. Pietro hatte vielleicht, gemessen an seiner Küche, nicht das allerbeste italienische Restaurant in der Stadt, wohl aber, was die Ausstattung anbelangte. Manche seiner Kollegen schreckten weiß Gott nicht vor Geschmacklosigkeiten zurück. Bei ihm dagegen ersetzten interessante Theaterfotografien an der Wand die übliche Darstellung des Kolosseums.
Dass Mergentheim sich von solchen Äußerlichkeiten leiten ließ, hielt Judith für unwahrscheinlich. Ihn hatten wohl eher praktische Überlegungen bewogen, diesen Treffpunkt auszuwählen. Seine Praxis lag direkt nebenan. Dennoch war er hier keineswegs so bekannt wie Judith. Normalerweise pflegte er während der Arbeit seine kulinarischen Bedürfnisse in der nahe gelegenen Pommesbude zu befriedigen. An diesem Abend wählte er auf Judiths Vorschlag hin Lammfilet mit Gorgonzola als Hauptgericht. Als Pietro mit der Weinkarte kam, winkte er schon ungeduldig ab. Er hatte es eilig, zur Sache zu kommen. Beim offenen Roten ließ er denn auch sofort die Bombe platzen: „Es gibt ein neues Gutachten des Landeskriminalamtes und das fegt die Rückschlüsse von Dr. Mundt total vom Tisch.“ Er schob Judith einen Aktenordner zu, der die Unterlagen vom LKA enthielt.
„Dr. Erika Steiner-Wiesemann?“, fragte Judith, „hat die nicht schon vor sechs Jahren dafür gesorgt, dass die Ermittlungen gegen Schmidt eingestellt wurden? Sie sehen doch, was das gebracht hat.“
„Nein“, konterte Mergentheim, „diesmal setzt sie sich ganz neu mit den Thesen von Mundt auseinander und verdammt sie in Grund und Boden. Das Gutachten wurde übrigens vom Gericht in Auftrag gegeben, nicht von mir.“
„Meinen Sie, die haben auch ihre Zweifel?“
Mergentheim schüttelte den Kopf: „Kann ich mir nicht vorstellen. Die wollen nur sichergehen. Und wie sieht es bei Ihnen aus? Das haben Sie doch wohl auch nicht erwartet. Aber passen Sie mal gut auf, ich setze nämlich noch eins drauf.“
Es war wie in einem Theaterspiel. Jetzt hatte er Judith das Stichwort gegeben und grinste wie Mephisto in sich hinein, während er den letzten Bissen des Lammfilets mit Rotwein hinunterspülte. „Möchten Sie noch ein Dessert?“, fragte er Judith scheinheilig – so, als sei das Thema Mordprozess für ihn eigentlich beendet. Judith schüttelte den Kopf, was sich auf das Dessert bezog, und insistierte, wie von ihr erwartet: „Was haben Sie vor?“
„Ich habe beantragt, von dem an der Leiche und auf dem Bettlaken gefundenen Sperma einen genetischen Fingerabdruck erstellen und mit dem des Angeklagten vergleichen zu lassen.“
Judith schluckte und griff nach ihrem Glas. Ein appetitliches Thema. In ihrem Kopf tickte es: Wenn Volker Schmidt dazu seine Zustimmung gegeben hatte, musste er entweder verrückt oder unschuldig sein. Mergentheim beobachtete sie wie die Schlange das Kaninchen und zwirbelte an seinen Augenbrauen. „Trinken wir noch einen?“, fragte er betont beiläufig.
Judith war wie elektrisiert. Einen Freispruch vom Vorwurf des Mordes hatte es zwar schon hin und wieder gegeben, aber sie selbst kannte so etwas nur vom Hörensagen. Wie würde er ausgehen, der Streit der Gutachter? Musste die Wissenschaft, die Volker Schmidt hinter Gitter gebracht hatte, auch für seine Rehabilitierung sorgen? So ohne Weiteres würde die Staatsanwaltschaft sicher nicht mitspielen. Mergentheim war optimistisch: „Wenn einer fair spielt, dann ist es Lachmann.“
„Sind Sie da so sicher?“
„Warten wir’s ab. Außerdem bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Lesen Sie nur, was die Steiner-Wiesemann schreibt. Sie wirft dem Mundt klipp und klar vor, unwissenschaftlich gearbeitet zu haben. Ihr Gutachten lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.“
„Ja, aber vielleicht will sie jetzt nur nicht klein beigeben, nachdem sie schon damals davon ausgegangen ist, dass die Beweise nicht ausreichen würden“, überlegte Judith immer noch skeptisch. Mergentheim schüttelte den Kopf: „Sie argumentiert absolut überzeugend und geht dabei Punkt für Punkt auf Mundts Ausführungen ein. Lesen Sie erst einmal selbst. Vorher ist jede Diskussion zwecklos. Möchten Sie noch einen Grappa?“
Judith stimmte immer noch gedankenverloren zu. Mergentheims Großzügigkeit kannte heute offenbar keine Grenzen. Pietro freute sich wie ein Stint, denn er präsentierte gern sein Grappa-Sortiment, das beachtlich war – legte man nicht gerade italienische Verhältnisse zugrunde. Mit jenem Lokal in den Ligurischen Bergen, in dem Judith einmal mit der vierzigfachen Spielart dieser Schnapssorte konfrontiert worden war, konnte er nicht konkurrieren. Das hätte sich einfach nicht rentiert. Pietros Meinung nach ließ die Ess- und Trinkkultur der Deutschen generell zu wünschen übrig. Sie hielten stur daran fest, die Spaghetti als Hauptgericht anzusehen und stopften ohne Unterlass Pizzen in sich hinein, als handele es sich um eine Küchenkreation von Lukull persönlich.