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Kapitel 2

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„Ich eröffne die heutige Hauptverhandlung. Wir verhandeln gegen Volker Schmidt.“ Mit diesem Standardsatz des Schwurgerichtsvorsitzenden Dr. Gerd Hausmann wurde an jenem Montagmorgen pünktlich um 9 Uhr ein Prozess in Gang gesetzt, der alle Beteiligten sieben Monate lang in Atem halten sollte. Volker Schmidt war leichenblass, als er neben seinem Verteidiger auf der Anklagebank Platz nahm. Ein ziemlich hoch aufgeschossener, schmaler Mann, dessen jungenhaftes Gesicht im merkwürdigen Gegensatz zu seinem bereits schütteren, rötlichen Haar stand. Er wirkte gefasst, offensichtlich unbeeindruckt von der einschüchternden Umgebung des Schwurgerichtssaals, den der renommierte Gerichtsreporter des ‚Spiegel‘, Gerhard Mautz, einmal als den hässlichsten in Deutschland bezeichnet hatte.

Judith konnte dem nicht zustimmen. Was hässlich an ihm war, hatten verunglückte Renovierungsversuche dieser innenarchitektonischen Verkörperung einer Staatsmacht des 19. Jahrhunderts angetan. Das traf ganz bestimmt auf die nachträglich eingezogene Styropordecke des über fünf Meter hohen Raumes zu, von der die riesigen Bronzereifen der Kronleuchter an schweren Ketten herunterhingen. Ansonsten wirkte noch alles dem Zweck angepasst, der zur Zeit seiner Erbauung für das damalige Gerichtswesen Gültigkeit hatte: den Frevel an der Gesellschaft zu rächen und Abschreckung zu verbreiten. Ein Zeugnis der Rechtsgeschichte und darum von bleibendem Wert.

In imponierender Düsternis die Holzvertäfelung und die Aufbauten, die das Gericht über den Angeklagten erhoben. Buntglasfenster mit den Wappen der Städte des Einzugsbereichs sperrten das Sonnenlicht aus und verbreiteten einen sakralen Hauch. Rechtsprechung als Akt der Religiosität, zur Wiederherstellung der geheiligten Ordnung?

Den Gipfel für all das bildete jedoch, eingelassen in die Wand gegenüber dem Richtertisch, hoch über dem durch hölzerne Balustraden eingegrenzten Zuschauerraum, die Loge – eine Art von pervertiertem Chambre séparée. Hier konnte seinerzeit die Obrigkeit – überhöht vom gemeinen Volk und vor ihm verborgen durch einen dicken Plüschvorhang in inzwischen verblichenem Rot – jenem Bedürfnis nachgeben, das heute weitgehend durch Boulevardpresse und Privatfernsehen abgedeckt wird.

Und dabei fühlten sie sich zweifellos ebenso der gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet, wie die zahlreichen Zuschauer, die beim Prozess gegen Volker Schmidt neben den Pressevertretern die von der Strafprozessordnung geforderte Öffentlichkeit herstellten – freiwillig konfrontiert mit dem Verabscheuungswürdigsten, das unser Rechtsempfinden kennt: dem Mörder.

„Im Strafrecht spielt von alters her der Gedanke der gerechten Sühne, des Einstandes von Schuld und Strafe, eine entscheidende Rolle.“ Ein Satz des Rechtsphilosophen Helmut Coing. Hier bewahrheitete er sich in ganz besonderem Maße. Eine schöne junge Frau war umgebracht worden. Jahrelang hatte es so ausgesehen, als würde ihr Tod ungesühnt bleiben. Nun saß jemand auf der Anklagebank. Er verkörperte die einzige Chance, doch noch einen Schuldigen zur Rechenschaft ziehen zu können. Er musste einfach der Mörder sein.

Dachten alle so? Judith schaute sich um. Da war das Gericht – völlig unvoreingenommen, lediglich in Erwartung der Beweisaufnahme? Immerhin hatten Dr. Gerd Hausmann und seine Beisitzenden Richter Frank Büse und Dr. Klaus Fechner die Anklage von Staatsanwalt Manfred Lachmann zur Hauptverhandlung zugelassen. Lachmann, jung und zügig zum Oberstaatsanwalt aufstrebend, schien sich als Vertreter der angeblich objektivsten Behörde der Welt seiner Sache absolut sicher. Auf der Nebenklagebank der 46-jährige Julius Hillner mit seinem farblos wirkenden Rechtsanwalt Hermann Regener, einem Mann, dessen Name in Juristenkreisen bisher keinen Klang hatte. Wollte er sich mit diesem Prozess profilieren? Was mochte Hillner bewogen haben, für seine Sache keinen brillanteren Anwalt zu wählen? Er wirkte konzentriert, isoliert. Die Schwester seiner ermordeten Frau würdigte ihn keines Blickes. Warum das so war, sollte Judith während des gesamten Prozessverlaufs nicht in Erfahrung bringen.

Neben den Nebenklägern saß der Psychiater Professor Dr. Horst Rothenberg. Das Ergebnis seiner Exploration des Angeklagten erwies sich als eher bedeutungslos für den Prozess. Er fand in Volker Schmidts Persönlichkeit keinerlei Hinweis auf eine geistig-seelische Abartigkeit. Die Tat bezeichnete er als wesensfremd. Aber was kann der Vertreter einer Wissenschaft ausrichten, deren Erkenntnisse sich zwangsläufig – anders als die der modernen Naturwissenschaft – eher konkreter Beweiskraft zu entziehen pflegen? Vor allem, da die Protagonisten des Fortschritts Volker Schmidt bereits schuldig gesprochen hatten.

„Unsinn“, behauptete Dr. Rüdiger Mergentheim, „irgendetwas in seinem Vorleben oder in seiner Art müsste es doch geben, was auf so etwas hindeutet.“ Er erzählte Judith, wie er Detektiv gespielt und ehemalige Freundinnen des Studenten befragt hatte. „Glauben Sie mir: nichts, rein gar nichts. Das ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht vorgekommen.“ Mergentheim war 50 Jahre alt und ein bekannter Strafverteidiger – bekannt für hoffnungslose Fälle und hohe Honorare. Ein verbissener Kämpfer und ein schlechter Verlierer. Für so manchen Kripobeamten bereits Garant für die Schuld eines Angeklagten – allein aufgrund der Tatsache, dass er eingeschaltet wurde.

„Haben Sie nach Verhandlungsschluss noch Zeit für einen Kaffee, ich muss Ihnen was erzählen“, fragte er Judith in einer Verhandlungspause. Sie verneinte: „Wie stellen Sie sich das vor? Ich muss in die Redaktion.“

„Na gut, wie wär’s dann heute Abend mit einem kleinen Essen bei Adamo?“ Judith reagierte bass erstaunt. Es war das erste Mal, dass er sie einlud. Nicht einmal, als sie damals, anlässlich ihrer Scheidung, in seiner Kanzlei in Tränen ausgebrochen war, hatte er ihr einen Cognac angeboten, obwohl Flasche und Gläser griffbereit auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen standen. Es musste ihn also diesmal etwas ganz Besonderes zu diesem, für ihn offenbar extremen Mittel gastlichen Einsatzes bewegen. Vermutlich die sprichwörtliche Wurst, mit der man nach dem Schinken wirft, und vor deren Tücken Judith einst von ihrer Großmutter häufig genug gewarnt worden war. Einerlei, Judith hätte ihm schon aus reiner Neugier ihre Zusage schlecht verweigern können, und so verabredete sie sich mit ihm für

20.30 Uhr in dem kleinen italienischen Restaurant direkt gegenüber vom Landgericht.

Aber noch lag ein langer Prozesstag vor ihnen. Zeit genug, sich erste Eindrücke zu verschaffen. Als Volker Schmidt durch die Armesündertür in den Schwurgerichtssaal geführt wurde, ging ein Raunen durch die Menge. Zwei Menschen im Zuschauerraum schienen in sich zusammenzusinken: Martha und Heinrich Schmidt, die Eltern des Angeklagten, die nicht dafür geschaffen schienen, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen – nicht einmal im positiven Sinne. Als sich das Blitzlichtgewitter der Pressefotografen auf ihren Sohn konzentrierte, schrumpften sie förmlich noch ein Stückchen. Volker Schmidt lächelte wie tröstend zu ihnen hinüber. Ihn fesselten keine Handschellen. Man hielt ihn zwar für eine Bestie, aber auf der Anklagebank, in der Arena gerichtlichen Spektakels, baute man nun einmal auf die Dompteurkünste der Justiz, die sich noch stets zugetraut hat, durch ihre Allmacht zähmen zu können. Und wenn nicht, dann waren da ja immer noch die Wachtmeister an der Tür, zwar meistens gelangweilt dösend in ihren schweren, ledergepolsterten Sesseln, aber immerhin anwesend.

Auch die Angeklagten müssen heutzutage nicht mehr auf der kargen Holzbank im ursprünglich für sie durch Barrieren abgetrennten Raum hinter ihrem Verteidiger Platz nehmen. Volker Schmidt saß neben Dr. Mergentheim, wie alle anderen vor ihm auch, denen hier in den letzten Jahren der Prozess gemacht wurde. Seine Stimme klang klar und deutlich durch das Mikrofon. Ja, er werde sich äußern – zur Person. Zur Tat könne er nur sagen: Er habe sie nicht begangen.

Nach Verlesung der Anklageschrift berichtete Volker Schmidt aus seinem Leben: Abitur, Zivildienst, Jahre des Jobbens und der Selbstfindung. Danach Beginn eines Jurastudiums. „Pass ’ mal auf, der windet sich da raus. Der hat ja schließlich gelernt, wie der Hase läuft.“ Volkes Stimme aus dem Zuschauerraum hinter den Pressebänken. Aber Volker Schmidt war erst im zweiten Semester. Es hieße die Juristerei zu unterschätzen, wolle man bereits jedem Anfänger die Beherrschung aller ihrer Finessen zutrauen. Die Tatsache aber, dass seine Studienwahl auf den Zeitpunkt nach jenem Ereignis fiel, das sein Leben so oder so auf Dauer prägen sollte, schien ihn zusätzlich verdächtig zu machen.

Sein Verhältnis zu Frauen sei im Allgemeinen eher unverbindlich gewesen, berichtete Volker Schmidt dem Gericht. Mit seiner Freundin habe er später sogar darüber gelacht, dass die Kripo ausgerechnet ihn für Jack the Ripper halte. Es sei ihm komisch vorgekommen, denn als Pazifist liege ihm jede Gewaltanwendung fern. Daria Hillner habe er nur ein einziges Mal bewusst wahrgenommen, als er ihr eines Tages im Hausflur begegnet sei. Er habe niemals ein Wort mit ihr gewechselt, geschweige denn jemals ihre Wohnung betreten.

Und doch fand sich damals an der Innenseite seiner Jeans eine mit bloßem Auge nicht wahrnehmbare Faser ihrer pinkfarbenen Baumwollhose, die ihr Mörder ihr gewaltsam mit einem Messer vom Leib getrennt hatte.

Am Nachmittag sagte Daria Hillners 29-jährige Schwester vor dem Schwurgericht aus, wie sie zwei Tage lang versucht hatte, die junge Frau telefonisch zu erreichen. Schließlich sei sie mit ihrem Ehemann und einem Bekannten zur Wohnung der Hillners gefahren, weil sie sich Sorgen gemacht habe. Daria sei schon Tage zuvor – seit ihr Ehemann in Paris weilte – ängstlich und nervös gewesen. Julius Hillner hätte an diesem Wochenende zurückkommen sollen. Darum sei es ihr unwahrscheinlich erschienen, dass seine Ehefrau nicht zu Hause sein sollte.

Die Haustür sei – wie tagsüber üblich – unverschlossen gewesen. An der Korridortür hätten sie dann bereits das Wimmern des Säuglings gehört. Voll böser Ahnung sei sie in eine Kneipe auf der anderen Straßenseite gelaufen, um die Polizei zu alarmieren. Während sie dort gewartet hätte, seien einige Gäste hinauf zum Penthouse gerannt, wo zwei Männer inzwischen die Tür aufgebrochen hatten. So kam es, dass etliche Leute bereits bei der Leiche waren, bevor die Polizei eintraf – ein Umstand, der später die Spurensicherung erheblich durcheinanderbringen sollte.

Die 29-Jährige zeigte sich überzeugt, dass der Angeklagte der Mörder ihrer Schwester sei. Jahrelang, so berichtete sie im Zeugenstand, hätten in unregelmäßigen Abständen immer wieder rote Rosen auf Darias Grab gelegen. Sie habe überall nachgefragt, aber nie herausgefunden, von wem sie stammten. Erst mit der Verhaftung Volker Schmidts, rund fünf Jahre nach Darias Tod, habe diese unheimliche Erscheinung aufgehört.

Ein Raunen ging durch den voll besetzten Schwurgerichtssaal. Mochte auch das Gericht diesem merkwürdigen Detail keine Bedeutung beimessen, für die Zuhörer war es ein eindeutiger Schuldbeweis, und die Presse hatte ihre Schlagzeile. Auch Judith erwähnte in ihrem Bericht vom ersten Prozesstag die Rosen auf dem Grab der Ermordeten. Kein Journalist, der sein Handwerk versteht, würde sich solch eine Story entgehen lassen – so voller Mystik, wie aus einem Gruselkrimi.

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