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Kapitel 1

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19. Mai 1989: „Erstmals in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik wurde gestern am Landgericht Dortmund ein Angeklagter aufgrund einer ganz speziellen, bisher nur in Amerika praktizierten Art des so genannten ‚Genetischen Fingerabdrucks‘ freigesprochen. Sieben Jahre lang stand der Student Volker Schmidt (28) unter dem schweren Verdacht, seine 22-jährige Wohnungsnachbarin nach einer Vergewaltigung bestialisch umgebracht zu haben.

Um ihn der Tat zu überführen, die eindeutig Züge eines Ritualmordes aufwies, bedienten sich die Strafverfolgungsbehörden modernster technischer Methoden. Wissenschaftler der Universität, des Landeskriminalamtes und von Scotland Yard erstatteten ihre Gutachten. Einen unwiderlegbaren Beweis für Schuld oder Unschuld des Angeklagten vermochten sie jedoch nicht zu erbringen. Die Spuren waren zu alt und im Ermittlungsverfahren nicht sorgfältig genug gesichert worden.

Noch während des Prozesses wurde jedoch im kalifornischen San Francisco das Verfahren der so genannten ‚Gen Amplifikation‘ entwickelt. Es versetzt die Experten in die Lage, auch nach langer Zeit noch ein einwandfreies, unverwechselbares Chromosomen-Muster zu gewinnen. Im Fall des deutschen Studenten stellten die amerikanischen Wissenschaftler jetzt, sieben Jahre nach dem Verbrechen, fest: Volker Schmidt ist als Spurenleger bei der Ermordung der Daria Hillner auszuschließen.“

Diesen Bericht hatte Judith vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben. Es kam selten vor, dass sie einem ihrer Artikel so viel später noch einmal Aufmerksamkeit widmete. Aber dies war schließlich ein besonderer Fall. Rein äußerlich schien inzwischen alles erledigt: ein Freispruch für den Angeklagten. Akten, die längst geschlossen waren. Aber auch ein Kind, das nie seine Mutter kennengelernt hatte. Merkwürdigerweise fragte sich Judith nur selten, was wohl aus Darias kleinem Sohn geworden sein könnte, der zwei Tage lang in seinem Bettchen unversorgt geblieben war – neben einer Leiche. In ihrer Vorstellung war er immer noch der elf Wochen alte Säugling – wie zur Zeit des entsetzlichen Geschehens. Eigenartig, konstatieren zu müssen, dass er inzwischen längst zu einem erwachsenen Menschen herangewachsen war.

„Sie denken zu wenig an die Opfer“, hatte ihr Staatsanwalt Manfred Lachmann einmal vorgeworfen. Stimmte das wirklich? War sie schon so abgestumpft? Immerhin hatte es Mordprozesse gegeben, an deren bitterem Ende sie den Urteilsspruch auf lebenslange Freiheitsstrafe ohne jedes Bedauern notierte. Meistens allerdings blieb – so grausam der gewaltsame Tod eines unschuldigen Menschen auch sein mag – eine Spur von Mitleiden mit dem Täter, dem das Schicksal häufig keine Chance gelassen hat.

Bei Volker Schmidt war das anders. Ihn prädestinierte nichts, aber auch gar nichts für so eine schreckliche Tat. Aber das alles wusste Judith noch nicht – damals, an jenem Montagmorgen im Oktober 1988, als der spektakuläre Indizienprozess vor dem Schwurgericht begann.

Wie immer vor wichtigen Verhandlungen stand sie, die ansonsten eher passionierte Langschläferin, schon nach dem ersten Weckerklingeln auf. Ein schöner Tag – nicht nur, weil die Sonne schien. Er würde nicht in Routine ersticken. Sie spürte es bereits, jenes Prickeln auf der Haut, das ihr so oft ein schlechtes Gewissen eintrug. War das nicht nackter Voyeurismus? Die Sucht, ins Leben anderer vordringen zu wollen und dennoch Beobachter zu bleiben? „Was wollen Sie? Das macht schließlich einen guten Journalisten aus“, pflegte Wolfgang Rufius zu beruhigen, wenn solche Bedenken zur Sprache kamen. Die Meinung eines Chefredakteurs – notgedrungen produktbezogen und positivistisch: Was zum Frommen der Zeitung ist, kann nicht schlecht sein.

Judith scheuchte Kater Mao aus der Duschkabine und versuchte, seine Gespielin Li dazu zu bewegen, das Badetuch freizugeben. Sie würde wieder Katzenhaare mit sich herumschleppen, konstatierte sie resignierend. Irgendwie passend, denn unter anderem waren es ja auch Katzenhaare, die Volker Schmidt mehr als sechs Jahre nach der Tat überführen sollten – „zwei gebänderte Katzenhaare“ und ein Zwölftausendstel einer Jeansfaser, gefunden an der Leiche der Daria Hillner im Mai 1982.

War so etwas überhaupt möglich? Dr. Martin Mundt vom Institut für Medizinische Physik der Universität zeigte sich absolut sicher: „Volker Schmidt muss Kontakt mit der nackten Leiche gehabt haben“, hieß es in seinem Gutachten. Es bildete die Grundlage für die Anklage. Sie lautete auf Mord.

Judith erinnerte sich noch genau an jenen Tag, als Polizeireporter Uli Solf in die Redaktion gestürmt war. Der Producer hatte die ganze erste Seite kippen müssen. Der Fall Daria Hillner wurde Aufmacher. „Stell dir vor“, hatte Uli zu Judith gesagt, „ein paar Fasern, die man nicht einmal mit einer Lupe ausmachen könnte, geschweige denn mit bloßem Auge. Und nun ist er dran – nach sechs Jahren. Ist das nicht fantastisch?“

Fantastisch? Für wen? Volker Schmidt war einen Tag vor Weihnachten festgenommen worden. Judith kramte in den geistigen Restbeständen, die ihr vom Jurastudium übrig geblieben waren. „Indizien sind alles, was zum Beweis dient, aber noch nicht Beweis macht“, hatte sie aus Julius Glasers Handbuch des Strafprozesses von 1883 gelernt. Für Uli Solf alte Kamellen. Judith gab nicht auf: „Na, dann denk mal an Professor Ponsold und seinen Kälberstrick. Gutachter haben mehr Menschen auf dem Gewissen, als sich manche Leute vorstellen können.“

Aber die Kollegen ließen sich nicht beirren. Uli schon gar nicht. Ihn hatten die Argumente von Staatsanwalt Manfred Lachmann und Kriminalhauptkommissar Erwin Reiser bei der Pressekonferenz absolut überzeugt. „Es ist faszinierend, was mit so einer Laser-Mikrosonden-Massenanalyse alles möglich ist“, berichtete er.

Dieselbe Ansicht, wenn auch widerstrebend, vertrat übrigens sogar Volker Schmidts Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Rüdiger Mergentheim. Judith, die in jahrelanger Zusammenarbeit gut mit ihm bekannt geworden war, hörte erstaunt, wie er in die allgemeine Gutachtereuphorie einstimmte. Irgendwo, so meinte er allerdings, müsse ein Haar in der Suppe sein. Das erschien nicht weiter erstaunlich, denn schließlich hielt er alle seine Mandanten aus Prinzip für unschuldig. Selbst wenn sie mit einer rauchenden Magnum 45 in der Hand neben einem erschossenen Opfer angetroffen wurden. Die Chancen standen also schlecht für Volker Schmidt. Ein Umstand, der Judith zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum bedeutungsvoll erschien. An diesem Fall interessierte sie zunächst nur die berufliche Herausforderung. Ein Mörder sollte überführt werden – allein mithilfe der Wissenschaft.

Daria Hillner wurde rund sechs Jahre vor Prozessbeginn tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihre Schwester hatte die Tür aufbrechen lassen, nachdem sie dahinter das hilflose Wimmern des Säuglings alarmiert hatte. Man fand die Leiche der jungen Frau auf dem Messingbett – mit Händen und Füßen an alle vier Pfosten gefesselt. Oberkörper und Hals wiesen zahlreiche Messerstiche auf. Aber das Grauenvollste war wohl die Art, wie der tote Körper hergerichtet worden war. Wer Daria Hillner auch immer umgebracht haben mochte, er hatte ihr langes, dunkles Haar kunstvoll mit einer in Streifen gerissenen Strumpfhose verwoben, die ihr – wie auch die übrige Bekleidung – mühsam mit einem Messer vom Leib geschnitten worden war. Auf dem Brustkorb der Toten lag eine aus blauer Wolle gewebte Folkloretasche, deren Bommel später im Gutachten und Gegengutachten noch eine große Rolle spielen sollten.

Daria Hillner war nicht nur eine besonders schöne, sondern auch eine lebenslustige Frau. Ihre kurze Ehe mit dem wesentlich älteren, etwas undurchsichtigen Julius Hillner, galt als gescheitert. Es soll tätliche Auseinandersetzungen gegeben haben. Aber Julius Hillner hatte für die Tatzeit ein Alibi. Der Immobilienkaufmann hielt sich aus geschäftlichen Gründen in Paris auf.

Die Hillners bewohnten ein luxuriös, wenn auch offenbar nicht gerade geschmackvoll eingerichtetes Penthouse in einem riesigen Bau mit zahlreichen Mietparteien. Niemand kümmerte sich dort um den anderen. Dass auch zwei Callgirls hier ihrem Gewerbe nachgingen, stellte sich erst im Prozess heraus. Einer der vielen Mieter: Volker Schmidt. Der damals 21-Jährige lebte mit seiner heroinabhängigen Freundin zusammen – und er hatte im Gegensatz zu den anderen Hausbewohnern kein Alibi.

Seine Beziehung zum Rauschgiftmilieu – wenn auch eher indirekter Art – reichte schon aus, um ihn für alle Biedermänner suspekt erscheinen zu lassen. Kriminalhauptkommissar Erwin Reiser war der Biedermann schlechthin. Und ein Ehrgeizling obendrein. Für ihn galt Volker Schmidt von vornherein als Täter. Selbst als die Akten im Mordfall Hillner zunächst geschlossen werden mussten, weil die Beweise nicht ausreichten, blieb er am Ball.

Bei der Kriminalpolizei bekommt jeder nicht gelöste Fall einen Paten, der die Angelegenheit im Auge behält, sie immer parat hat, falls sich eventuelle Parallelen im Zuge anderer kriminalpolizeilicher Ermittlungsarbeit auftun. Erwin Reiser übernahm die Patenschaft für den Fall Hillner nur allzu gern – vor allem, weil er die Angelegenheit bereits für geklärt hielt. Selbstverständlich tat er mehr als das Übliche. Wie ein Jagdhund verfolgte er sein Wild – immer in der Hoffnung, es eines Tages doch noch zu stellen. „Dich kriege ich, und wenn es das Letzte ist, was mir gelingt“, pflegte er Volker Schmidt anlässlich der vielen Vernehmungen zu versichern, zu denen der Student im Laufe der Jahre immer wieder ins Polizeipräsidium zitiert wurde.

Und dann kam der große Tag des Erwin Reiser. Bei einem Besuch im Rechtsmedizinischen Institut der Universität lernte er sein wissenschaftliches Pendant kennen: Den engstirnigen, ehrgeizigen Physiker Dr. Martin Mundt, der durch seine Rückschlüsse aus den Ergebnissen der Laser-Mikrosonden-Massenanalyse den Anstoß gab für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, an deren Ausgang das Wohl und Wehe von Menschen geknüpft war.

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