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2. Das Schweigen der Toten

66 nach Christus - Herbst (7. December)

Imperium Romanum – Exercitus Germania Superior

Legat Verginius Rufus mochte weder Trauerfeierlichkeiten noch zeigte er sich, bei derartigen Anlässen, den Göttern besonders zugeneigt. Er besaß seit längerer Zeit ein besonderes Verhältnis zu den ‚Dei Consentes’.

Nicht das er Jupiter oder den übrigen Göttern der erlauchten Runde irgendetwas übelnahm… Er glaubte nur nicht an deren Wirken, wie es jeder halbwegs guter Römer zu tun vorgab.

Verginius Rufus bestritt nicht die Notwendigkeit des Götterglaubens, verstand aber nicht, dass irgendwelche ‚göttlichen’ Erscheinungen sein Leben bestimmten. Eher billigte er den Einflüssen der Natur, seinem Willen, seiner Sturheit und Beharrlichkeit zu, dieses Leben angenommen zu haben.

Wie sollten zwölf Götter, und auch wenn es deren noch mehr wären, in jedem Augenblick des Lebens aller Römer, jeden Gedanken und jede Handlung lenken können… Schließlich hatte er selbst erfahren, dass es mehr als Römer auf dieser Welt gab. Jeder dieser Menschen gab vor, an irgend einen Gott zu glauben…

Die Römer an sich waren klug genug, fast Jedem seinen Gott zu lassen… Taten sie dies, weil sie davon überzeugt waren, dass es nur einen Gott geben konnte und sich dieser nur in den unterschiedlichsten Formen und unter abweichenden Namen zeigte? Wobei dieses ‚Zeigen’ wohl eher nur Wenigen beschieden schien, zumindest zu Lebzeiten…

Verginius Rufus glaubte auf seine Art. Bei den Göttern ging es doch genau darum. Doch warum sollte er auf Übernatürliches hoffen? Sein Glauben beruhte auf Hören, Sehen und Spüren.

Irgendwann, in seinem jüngeren Leben, stieß er auf den Widerspruch, der sich aus der Vielzahl der Götter ergab. Welchem Gott lohnte es sich zu huldigen? Jedem Gott, das würde kaum gelingen… Welcher der Götter stach hervor, dass sich eine Huldigung anbot? Er dachte lange darüber nach und entschloss sich allen Göttern zu huldigen. Nicht einem Einzigen, nicht einem oder mehreren Besonderen, sondern einzig den ihm bekannten und auch unbekannten Göttern in einer einzigen, in sich geschlossenen Einigkeit als Ganzes und damit allen gleichermaßen in deren Bekanntheit.

Merkwürdigerweise erlangte er damit Ruhe in seinem inneren Wesen. Er zeigte keinen Abscheu, hing aber auch nicht huldvoll an der Priester Mund. Die geforderte Unterordnung erbrachte er, legte keinen Wert darauf, Andere auf seinen Standpunkt aufmerksam zu machen und ließ sich auf keinen Fall in derartige Streitgespräche ein.

Verginius Rufus war, auch in dieser Hinsicht, ein Römer mit Verstand, darüber hinaus brachte er Verständnis Anderen gegenüber ein und billigte jedem Mann, Weib oder Kind den eigenen Glauben zu.

Er hielt auch nichts davon, mit den Göttern, unter dem von vielen Römern ausgenutzten ‚göttlichen Gebens und Nehmens’, ein Geschäft einzugehen… Was sollte es bringen, übernatürliche Kräfte zu einem geschäftlichem Abkommen zu verleiten? Ich gebe dir dies und will dann das von dir… Wie sollte dies im wirklichen Leben greifen? Er fand keine Entsprechung, dafür aber den einen Gott, der ihn selbst und nur ihn beschrieb. Es war sein eigener ‚Genius’!

Welch kluge Männer besaß Rom, dass ihm dieser einzige Gott, der die Gesamtheit aller Götter in sich ebenso vereinte, wie alle guten und weniger guten Eigenschaften, die ihn, Lucius Verginius Rufus, und nur ihn selbst, auszeichneten…

Diesem Gott huldigte er in seinem weiteren Leben und erkannte, nach weit über fünfzig Lebensjahren, eine gute Wahl getroffen zu haben. Durch diesen Prozess seiner Suche fand er den Mittelpunkt seines Wesens im Inneren seiner körperlichen und auch geistigen Erscheinung. Sein Gott hieß ‚Genius’!

Aber die Trauer um die gefallenen Gefährten, das Erweisen der Ehre musste sein! An dieser Notwendigkeit ging kein Weg vorbei.

Ob Gerwin das wusste? Sicherlich kaum! Dennoch wagte er es, den Arm des Legat zu ergreifen und diesen in ein jämmerliches Grubenhaus zu bitten.

Verginius Rufus sah einen aufgebahrten Toten. Also trat er näher und erkannte das Antlitz.

Der Hermundure hatte bisher kein Wort über den Verlust dieses Mannes gesprochen… Inzwischen kannte er die Verbindung zwischen Gerwin, Amantius und Aulus Ligurius Crito. Er wusste, was der frühere Pilus Prior seiner Legion für Gerwin bedeutete… Dennoch ließ sich der junge Hermundure diesen Verlust nicht anmerken und auch keiner der lebenden Gefährten sprach über diesen Tod.

„Wirst du ihm seine Ehre zurückgeben?“ hörte der Legat hinter sich leise gesprochene Worte. „Er war zu keinem Zeitpunkt seines Lebens ein feiger Mann, der sein Leben wegzuwerfen beabsichtigte, weil ihn ein dummer, ehrgeiziger Versager in eine Pflicht zwang, die er freiwillig nie eingegangen wäre.“ fügte Gerwins Stimme leise an. „Aulus war mutig genug dem Mann zu begegnen, dem er seinen Untergang in Roms Legionen verdankte. Er traf Gaidemar, meinen Paten und Kriegsherzog meines Stammes! Er traf ihn in dessen Haus, auf dessen Land und war bereit, sich dessen Recht zu beugen… Nie sah ich Aulus zögern, wenn es galt, einen richtigen, einen notwendigen und wahrhaften Kampf auszuführen… Es war für ihn selbstverständlich, mit Paratus, Viator und Sexinius den Keil in die gegnerische Formation zu treiben.“

Gerwin zögerte. „Ich sah ihn nicht von meiner Position aus und griff deshalb erst ein, als ich Paratus in Bedrängnis bemerkte. Paratus konnte ich, so wie Viator im Vorbeirauschen, vor einer Gefahr im Rücken bewahren, für Aulus aber kam ich zu spät!“ Die Stimme des Jungen verschwand im Schmerz.

Erneut gefasst, erreichte den Legat die zuvor schon ausgesprochene Frage: „Wirst du ihm seine Ehre zurückgeben?“

„Ja, das werde ich!“ Sie schwiegen, bis Verginius Rufus sprach.

„Ich mag kluge und bescheidene Männer. Gaurus ist ein solcher Mann, aber auch ein sturer Bock, den man gelegentlich mit einer Peitsche streicheln muss, damit er begreift!“ Der Legat kratzte sich am vom Helm befreiten Kopf. „Crito war klüger. Sein eigentlicher Verbündeter war die Zeit. Nicht das er zögerte, wenn Schnelligkeit der Handlung gefordert war… Er neigte dazu, jede Entscheidung gut zu durchdenken. Entschloss er sich einmal, und das geschah nur auf Grund überzeugender Argumente, absoluter Notwendigkeiten oder im Zwang einer unglücklichen Lage, dann folgte er seinem Willen mit Härte, Unbeugsamkeit und Zielstrebigkeit…“ Der Legat wandte sich Gerwin zu.

„Welcher meiner übrigen Pilus Prior, diesen verfluchten, mir aufgeschwatzten Primus Pilus einbegriffen, sollte ich dem Tribun Titus Suetonius an die Seite stellen? Ich überschätzte nicht Crito, sondern unterschätzte die Disziplin dieses guten Mannes und seine Hingabe an Rom… Zu spät erkannte ich den Hass, der den Tribun zur Rache antrieb…“

Verginius Rufus schien verlegen. Vor ihm stand sein Diener, den er längst als treu und zuverlässig erkannte, der ihm mehrfach das Leben erhielt und sich dabei nicht scheute, das Eigene dafür einzusetzen… Dieser junge Hermundure wog als Kämpfer nicht nur mehrere gute Männer auf, er war klug und bedächtig, mutig, entschlossen und letztlich sogar fähig, ein Gefecht zu organisieren sowie den Sieg zu gewinnen…

„Als du mir Crito als deinen Gefährten präsentiertest, erkannte ich meinen Fehler! Nicht Crito war die falsche Wahl, sondern Titus Suetonius! Crito hätte mir die Sklaven gebracht, aber nicht gewütet, wie es Titus tat… Crito wäre auch deinem Kriegsherzog nicht in die Falle gerannt…“ Der Legat schien in Erinnerungen einzutauchen.

„Als er dich auf der Flucht wahrnahm, zerbrach in ihm ein Traum, den ich kannte… Er war es, der mir die verfluchte Frage stellte, warum ausgerechnet er diesen tollwütigen Suetonius zügeln muss… Ich sagte ihm damals, weil er der Einzige sei, dem dies in meiner Legion gelingen könnte… Ich glaubte, dies war ein gutes Argument und sah, wie sich Crito davon überzeugen ließ… Deshalb bin auch ich voller Trauer.“

Das Schweigen währte. Verginius Rufus kämpfte einen aussichtlosen Kampf gegen sich selbst. Dann brach es aus ihm heraus.

„Nicht Viator und Paratus waren der Grund, euch ziehen zu lassen… Es war Crito! Er war der Kluge, der Bedächtige! Dort wo ich Viator und Paratus hinschicken konnte, Dinge mit dem Gladius zu regeln, würde er manches mit Klugheit und Geschick gewinnen, wo die Fäuste der beiden Anderen versagten… Ehren wir ihn, wie er es wirklich verdient…“ Verginius Rufus wandte sich dem Toten zu, schlug seine rechte Faust auf das Herz in seiner Brust und sprach: „Aulus Ligurius Crito, Pilus Prior der fünften Kohorte der Legio XXII Primigenia, blieb auf dem Feld der Ehre für Rom, Kaiser Nero und seine Legion! Ihn zeichnete Mut, Entschlossenheit, Klugheit und Treue aus!“

Gerwin merkte, wie sich der Legat entspannte.

„Wirst du diese Worte vor allen Legionären auch sprechen, wenn er auf dem Feuerholz liegt, Legat?“

„Ja, das werde ich!“

„Und Viator, Paratus und …“

„Nein!“ Die Antwort unterbrach, obwohl leise gesprochen, die weitere Frage Gerwins. Verginius Rufus drehte sich langsam um.

„Du bist ein überaus kluger, junger Mann. Ich schulde dir mein Leben… Du kannst von mir begehren, was du möchtest, sofern ich, und nur ich, es dir geben kann! Doch Roms Rechte bin ich nicht befugt zu beschneiden oder zu verbiegen… Es ist nicht mein Urteil, was dabei zählt… Viator weiß das!“

„Was Herr, ist mir entgangen?“ Gerwin spürte Wut aufsteigen.

Der Legat zögerte erneut, dann aber, nach erneuter Überlegung, sprach er: „Viator und Paratus flohen vom Schlachtfeld! Rom könnte Kämpfern wie diesen leicht verzeihen, denn nicht sie waren es, die versagten… Doch sie flohen und ließen Andere sterbend zurück. Alle diese gefallenen Gefährten fordern ihre Schuld ein. Die Schuld ist ein Leben!“ Der Legat versank in eigenen Gedanken.

„Aulus gab sein Leben für Rom und seine Legion, selbst wenn er im Kampf für mich fiel! Seine Schuld ist beglichen… Er erlangte seine Ehre zurück! Viator und Paratus stehen weiter in der Schuld dieser Legion und diese Schuld erlischt erst mit deren eigenem Tod, oder an dem Tag, an dem der Letzte in der Legion, zum Tage ihrer Flucht Dienende, ausgeschieden ist… Es liegt nicht in meiner Macht…“ fügte der Legat dann nachdenklich, jedes Wort bewusst setzend, an. „Ich konnte eure Verfolgung einstellen, jede weitere Verfolgung untersagen, euch vor unlösbare Aufgaben stellen und dennoch besitze ich nicht die Macht, diese Schuld von den Schultern deiner Freunde zu nehmen…“

Sie verharrten in Schweigen, starrten sich an und auch wenn es ihn betroffen machte, konnte sich Gerwin den Argumenten nicht entziehen. Der Legat besaß recht! Die Legion, alle Legionen Roms und damit jeder einzelne Legionär besaß gegenüber Viator und Paratus das größere Recht.

„Und Sexinius?“

„… ist mit dem, was ich ihm gab, zufrieden. Er möchte nicht wieder in die Legion, was dann die Einnahme seiner früheren Stellung als Centurio beinhaltete… Es wäre ein Leichtes, diese Forderung durchzusetzen… Dann aber verlor Paratus die eine Hand und wer von uns weiß schon, wann diese Hand sein Fell rettet…“ Verginius Rufus versank in sich. „Außerdem will Sexinius nicht zurück!“ fügte er dann hinzu und setze auch fort: „Er besteht, auch mir gegenüber darauf, bei Viator, Paratus und dir zu bleiben, was immer auch geschieht… Als Speculator gibt er euch eine Handlungsfreiheit, die ihr nutzen könnt. Er erhält Sold und wenn er mehr davon braucht, muss er seinen Mund öffnen…“

„Herr, dennoch bleiben Viator und Paratus arme Hunde, dürfen jeden Dreck beseitigen und werden mit Nichtachtung, mit Ehrlosigkeit und weil sie keine einzige Münze Roms sehen, mit Armut gestraft… Meinst du, das ist gerecht? Mache sie alle zu Speculatores! Ich denke, dies sollte es dir wert sein…“

„Nein, Gerwin! Viator und Paratus müssten in die Bestandslisten eingetragen werden und wären damit erneut berufen. Das geht nicht! Dich könnte ich zum Speculator machen… Nur will ich das nicht! Verlasse ich diese Legion, musst du dann bleiben… Es wäre ein schlechter Zug von mir! Außerdem fällst du dann unter den Befehlszwang und dies würde dich eines Teils deiner außerordentlichen Fähigkeiten beschneiden… Schlag dir das aus dem Kopf und bringe es nie wieder vor mich!“ Zorn übermannte den Römer.

„Dann Herr, erhöhe Sexinius Wert in Roms Legion! Erhöhe ihn zum Centurio der Speculatores und erteile ihm eine Order, die ihm volles Recht zubilligt, egal was er im Interesse der Legion oder Roms ausführt. Damit bindest du auch Viator und Paratus ein, wenn du Sexinius die freie Anwerbung von Hilfskräften zubilligst!“

„Ich werde darüber nachdenken! Lass uns jetzt gehen und die Totenwache beginnen…“

„Herr erlaube, dass ich der Zeremonie fernbleibe… Ich trauere lieber auf meine Art um den verlorenen Freund!“

„Das überlege dir noch einmal… Es sind deine Legionäre, nicht nur deine Freunde, die um die Toten trauern. Sie achten dich! Auch wenn du keinen Rang trägst, gibt es in dieser Legion wohl keinen Mann, der nicht sofort deinem Befehl folgen würde… Diese Gunst setze nicht aufs Spiel…“

„Herr wenn du mich so aufforderst…“ Gerwin lächelte und sie bemerkten Beide, dass der Frieden zwischen ihnen einer erneuten Bewährung standhielt und die Verbundenheit, sowie das gegenseitige Vertrauen, eher gestiegen sind…

Gerwin nahm zur Kenntnis, dass der Legat seine Bedeutung innerhalb der Legion nicht nur wahrgenommen hatte, sondern diese auch noch zu steigern wünschte. Auf keinem Fall wollte Verginius Rufus, das Gerwin an Auctoritas verlor.

Gerwin ließ dem Legat den Vortritt beim Verlassen des Grubenhauses. Niemals würde einer der drei Gesprächspartner über das Gesprochene reden.

Der Legat besaß keine Veranlassung, über ihm eigene Bekenntnisse zu sprechen, Gerwin brachte keine allzu große Wirksamkeit seiner Absichten zum Erfolg und Aulus war tot. Er würde das Gehörte mit absoluter Sicherheit für sich behalten…

Das Schweigen der Toten war ewiglich!

Legat und Hermundure trennten sich.

Gerwin stieß auf seine Freunde und musterte diese.

„Was werdet ihr tun, wenn die Totenehrung beginnt?“

Viator zuckte mit der Schulter. „Ich denke, wir haben kein Recht uns unter die Mannschaft zu mischen… Vielleicht sollten wir uns damit begnügen, in einem größeren Abstand anwesend zu sein?“

„Warum?“ fragte Gerwin und blickte ihn starr an.

„Weil wir ‚Verlorene’ sind, weil wir eine Schuld tragen, die es uns unmöglich macht…“

„Aber ihr wart es, die den Gegner zersplitterten, ihr drangt in den Feind ein und es hätte auch euer Tod sein können… Viele der Milites haben euch im Kampf gesehen…“ sträubte sich Gerwin.

„… ist es aber nicht!“ Es war Paratus Stimme die jedes Aufbäumen oder Bedenken hinweg wischte. Diese Stimme entschied auch deshalb, weil sie in einer ernsten Erwägung nur selten zu hören war.

Gerwin begriff das Unabänderliche. Hatten doch beide Verlorene bestätigt, was zuvor auch der Legat erklärte. Viator und Paratus trugen gegenüber jedem Legionär der Primigenia eine Schuld, die erst mit deren Tod beglichen werden konnte.

Gerwin erfasste Zorn, weil diese, seine Freunde, den Sieg über die Feinde erzwangen. Sie kämpften dort, wo der Kampf entschieden wurde und wüteten in Nichtachtung für das eigene Leben… Auch diese Beiden waren zum Opfer bereit und jeder, der in ihrer Nähe kämpfte und überlebte, sah dies ebenso wie jeder sterbende Legionär. Warum galt dies, im Lager der Lebenden und auch der Toten, nicht als Beweis für Tapferkeit, Mut und Ehre?

Noch immer in Erinnerungen versunken, suchte er sich einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe der errichteten Holzstöße zur Verbrennung der Toten, setzte sich mit angezogenen Beinen und umfassenden Armen auf den breiten Stamm und legte seinen Kopf auf die Knie. Er wollte weder Sehen noch Hören und konnte sich dennoch nicht dagegen verwehren, dass seine Freunde neben ihm Platz nahmen. Es war ihre Gegenwart, die ihn aufnahm, seine Trauer verband und seine Wut dämpfte.

Er hörte den Aufmarsch der Kohorte, spürte das Schweigen der Männer und hob, weil er nicht wusste was vorging, seinen Kopf.

Sie hatten unbewusst einen guten Standort gewählt und konnten ihre Blicke auf alle zum Abbrennen vorbereiteten Holzstöße genauso einschwenken, wie sie diesen auch auf die Front der angetretenen Centurien zu richten vermochten.

Das Zentrum der Angetretenen bildeten die vier Centurien von Gaurus Kohorte, an beiden Seiten, von je einer Turma der Meldereiter flankiert. In der mittleren Centurie war ein Zwischenraum, den der Legat Verginius Rufus, der Pilus Prior Gaurus und der Signifer der Kohorte mit dem Signum, durchschritten. Ihnen folgten, in jeweils einer Reihe, drei Tubicines und drei Cornicines mit ihren Instrumenten. Die Gruppierung steuerte auf den mittleren Holzstoss, auf dem Aulus Ligurius Crito aufgebahrt war, zu und wandte sich zur breiten Front der Legionäre um. Dabei nahmen die Bläser des Cornu rechts und der Tuba links von Legat, Pilus Prior und Signifer Aufstellung. Jedweder Laut erstarb, als die Bläser ihre Instrumente hoben.

Das erste Signal, welches ertönte, war der Laut der Tuba, die die erste Nachtwache ankündigte. Das nachfolgende Schweigen ging in die Töne der Cornicines über, der die Tonfolge des Angriffs blies. Letztlich trat der mittlere Cornicen einen Schritt vor, zog eine Bucina von seinem Rücken und blies das Signal zur Wachablösung.

Es waren Gaurus Worte, die den Göttern den Dank für den Sieg bezeugten und für die gefallenen Helden um würdige Aufnahme baten.

Gerwin hörte dem Pilus Prior nicht richtig zu. Seine Gedanken schweiften ab in Erinnerungen. Vor seinem inneren Auge entstanden Begegnungen, die sich in seinen Kopf eingebrannt hatten und er hörte Worte, die einstmals Aulus zu ihm sprach. Der Schmerz des Verlustes überrollte ihn und er bemerkte, dass er diesen Schmerz bereits schon einmal erlebte. Es war der Augenblick des Todes seiner Eltern, der sich in den Vordergrund drängte. Gerwin verglich und stellte keinen Unterschied im erlitten Schmerz fest und weil ihn dieser Gedanke unvermittelt traf, erkannte er, was er durch Aulus Tod verlor…

Es war die Erkenntnis eines Verlustes, der dicht an den Schmerz heranreichte, den er beim Tod seiner Mutter empfand.

Um jedweder Gefühlsregung vorzubeugen, die er in sich aufzukeimen spürte, stand er auf und streckte sich. War diese Geste auch scheinbar unpassend, folgten ihm seine drei Gefährten in der Bewegung und hörten danach gemeinsam die Worte des Legatus.

„Ehren wir die im Kampf Gefallenen!“

„Es gibt im Tod keinen Unterschied zwischen dem Miles Legionarius, einem Centurio oder einem Legat! Es ist der Tod, der sie gleich macht! Unter unseren Opfern aber befindet sich ein Mann, der eine Schuld trug, die kein Milites vergisst, solange ein solcher Mann lebt!“

„Einst gehörte dieser Mann einer Vexillation an, deren Ende unglücklich ausging und von da an galt der Mann als ‚Verlorener’. Weil er als einer der Letzten vom Schlachtfeld wich und einem besseren Feind nicht auch noch sein Leben darbieten wollte, nahm er eine Schuld auf sich, die er gegenüber den Helden der vergangenen Schlacht nun beglich.“ Des Legats Blick glitt über die Formation.

„Aulus Ligurius Crito war zu keinem Zeitpunkt ein Feigling oder Verräter, obwohl er die schimpflichste Tat vollzog, die ein Legionär begehen konnte. Er verließ lebend ein Schlachtfeld… Aber nicht um sich zu verbergen, zu verkriechen oder um zitternd im Verborgenen um sein Überleben zu fürchten… Nein! Er kehrte zurück und bot sich mir an, dorthin zu gehen, wo er seine Schuld, so denn die Götter ihm günstig gestimmt waren, begleichen konnte. Er übernahm, mit noch anderen Verlorenen, Missionen in Feindesland, zu denen kaum ein anderer Mann bereit gewesen wäre…“ Der Legat prüfte die Minen der Angetretenen, inwieweit die Männer seine Worte aufnahmen.

„Viele…“ Der Legat setzte eine Pause zwischen seine Worte. „… oder auch nur Wenige, sahen den Augenblick seines Todes. Sie sahen einen Mann in Würde sterben und waren es nur Wenige, so sollte uns deren Zeugnis ausreichen. Unbestritten ist, dass Crito in der Spitze unseres Vorstoßes in die feindlichen Linien seine Schuld verlor! Wer von euch wagt es, meine Worte zu bezweifeln? Er trete vor die Front!“

Diese Aufforderung war ein Wagnis, dass nur ein einziger Mann zerstören konnte. Der Legat ging dieses Wagnis ein. Er verfolgte noch eine weitere Absicht, für die er die Hinnahme der Männer einfordern musste. Also lauerte er auf den einen Mutigen, der sich gegen ihn zu stellen wagte…

Es gab diesen ‚Einen’ nicht!

Für ihn war es, in diesem Augenblick, bedeutungslos, ob diese Einheitlichkeit im Denken und Fühlen seiner Legionäre seiner Person, seinem Können oder seiner Funktion als ihr Legat geschuldet blieb… Es war genauso unwichtig, ob sich ein Widerspruch, in einer möglichen Angst vor Gerwins Zorn verlor oder ob der eine Mutige die Rache der anderen Verlorenen fürchtete… Sie entschieden sich in seinem Sinne und nicht ein Einziger begehrte auf.

„Crito war nicht der Einzige der einstmals verlorenen Söhne, der dort den Tod zum Feind trug! An seiner Seite kämpften auch Andere, die gleich ihm, nach der Befreiung von einer Schuld suchten, die ihnen ein Anderer aufgebürdet hatte…“

Verginius Rufus vermied sowohl die Namen dieser erwähnten Männer, als auch der, die er als Schuldige eines vergangenen Kampfes glaubte, ausgemacht zu haben.

„Diese Männer kämpften nicht weniger mutig, nicht weniger entschlossen und suchten nicht weniger nach der Tilgung ihrer Schuld… Aber sie überlebten, weil die Götter dies so entschieden… Wer von euch wagt es, meine Worte zu bezweifeln? Er trete vor die Front!“

Erneut scheute Verginius Rufus dieses Risiko nicht. Er wusste aber auch, dass eine dritte Herausforderung anders ausgehen konnte. Also wandte er sich seinem eigentlichen Ziel zu.

„Die, die dort neben dem früheren Pilus Prior Aulus Ligurius Crito kämpften, konnten, auch wenn sie erneut überlebten, keine Feiglinge sein!“ Bewusst vermied er an dieser Stelle das Wort ‚Verräter’, denn dies könnte zu Irritationen beitragen.

„Mögen diese Männer einst aus einem Kampf als ‚Verlorene’ hervorgegangen sein, bezeugten sie mir bereits in der jüngeren Vergangenheit und euch Allen im letzten Kampf, hier an diesem Ort, dass sie zu keiner Zeit Feiglinge waren und sind! Vielleicht kämpften Geister der Vergangenheit an eurer Seite und erfochten mit euch diesen Sieg! Mögen sie Geister aus Fleisch und Blut sein, ist ihr Einsatz dann nicht noch höher zu bewerten?“

Die Front der Legionäre von Gaurus Kohorte stand und wankte nicht. Vielleicht dachte der Eine oder Andere, dass ihm das gleiche Glück zu Teil werden könnte, sollte er selbst einmal in eine unwürdige Situation geraten… Dieser Legat aber zeigte mit seinem Auftritt, welche Macht er verkörperte und welche Gerechtigkeit ihn auszeichnete. Er achtete die Überlebenden, deutete auf den Willen der Götter und stellte sich vor die Front, die die Schuld dieser Verlorenen einfordern durfte. Er ergriff Partei und forderte alle Übrigen auf, ihm dabei zu folgen. Darüber hinaus wies er einen Weg im Umgang mit diesen einst Verlorenen, die er durch seine Auslegung zu ‚Geistern der Vergangenheit’ machte und so, zumindest zu einem Teil, von ihrer Last befreite.

Das nachfolgende Schweigen schien entweder die volle Zustimmung zu finden oder auch zu lähmen…

Es war Sexinius der das Besondere des Augenblickes empfand.

„Gehen wir und bezeugen den Gefallenen den Teil unserer Schuld und die Ehrung ihrer Verdienste!“

Und er ging, zuerst von Viator gefolgt, dann von Paratus. Auch Gerwin schloss sich an. Sexinius wählte den kürzesten Weg, und schritt von der Seite kommend, auf den Holzstoss des Freundes zu.

Der Legat, der diese Bewegung am Rande seines Sichtfeldes bemerkte, griff nach des Pilus Priors Arm und gebot ihm damit Einhalt.

Sexinius führte die ihm Folgenden vor den Legat, wartete bis alle Übrigen neben ihm standen, führte seine rechte Hand mit einem Schlag auf die linke Brust zum Herz. Es war, als wäre dies ein Schlag von drei Männern, denn Viator und Paratus ahnten wohl, was der Gefährte bezweckte und folgten im gleichen Atemzug seinem Willen.

Gerwin zögerte nicht und dennoch kam seine Ehrerbietung gegenüber dem Legat etwas später und in anderer Form.

Zuerst kreuzte er seine Arme und beugte dann sein Haupt. Er verharrte.

Für alle Legionäre deutlich sichtbar, kreuzte auch der Legat seine Arme vor der Brust, beugte sein Haupt und verharrte gleichfalls. Verginius Rufus ehrte den jungen Hermunduren durch das Nachahmen von dessen Handlung und glaubte damit, dem Anspruch des Hermunduren entsprochen zu haben.

Im Aufrichten sah Gerwin, wie des Legat Handlung seiner Vorgabe gefolgt war. Er blickte dem Römer in die Augen und wusste sofort, dass dieser ihm etwas zu geben bereit war, was mehr als Anerkennung und Achtung bedeutete. Es war eine Bezeugung seines Dankes, der auch nicht vom Dank Roms zu trennen war, wenn er in einem solchen Anlass zum Ausdruck gebracht wurde. Darüber hinaus verlieh ihm der Legat Macht!

Gerwin spürte es sofort. Es war kein Laut, kein Wort, keine Bewegung, die diese Macht auslöste, übertrug oder empfing. Es war nur ein Gespür…

„Herr, erlaube, dass wir unseren gefallenen Freund würdigen?“ bat Gerwin so laut, dass es alle Angetretenen hören konnten. „Es ist uns eine Ehre an eurer aller Seite gekämpft zu haben. Deshalb Herr, erlaube uns auch die übrigen Gefallenen zu ehren und den Überlebenden für ihren Mut und deren Entschlossenheit zu danken…“

Woher hatte dieser junge Kerl nur so viel Würde, eine Gelegenheit zu nutzen, die er niemals hätte voraussehen können. So wie dieser Gedanke Verginius Rufus Empfindungen streifte, verkündete er laut: „Gewährt!“

Das Schweigen hielt sich in den Reihen, als sich Gerwin und seine Begleiter vor Aulus Holzstoss aufbauten, ihre Ehrenerweisung in gleicher Art vollzogen und dann dies an jedem einzelnen Totenholz vollzogen.

Der Vorgang währte einige Zeit, doch die Front blieb stumm und ergeben. Die Legionäre würdigten den jungen Hermunduren und schlossen dessen Begleiter in ihre Empfindungen mit ein. Trotzdem blieb die Schuld der Verlorenen, auch wenn die davon betroffenen Männer, durch den Willen des Legat, zu ‚Geistern der Vergangenheit’ aufstiegen.

In der Zeremonie folgte das Töten der Opfertiere. Gaurus hatte zwei Ochsen aufgetrieben, die er höchst selbst mit seinem Pugio, den Göttern übergab. Noch voller Blut, wischte er sich seine Lorica sauber und überließ den dafür ausgewählten Männern das Herrichten des Totenmahls.

Mit einer Armbewegung forderte er zum Anzünden der Todesfeuer auf und schon bald stiegen Flammen gen Himmel und der Gestank verbrannten Fleisches breitete sich aus.

Genau dies war der Augenblick, den die Männer erst auskosteten, denn diese Ehrung hatten ihre toten Gefährten verdient. Dann aber würde der Gestank so nachgiebig seinen Tribut fordern, dass es besser wäre, die Formation aufzulösen und sich in größerem Abstand zu den brennenden Holzstößen niederzulassen.

Bis zur Einnahme des Totenmahls würde noch einige Zeit vergehen. Es machte nichts, denn die Legionäre übten sich in Geduld, stand einem Jeden doch ein Stück Fleisch aus den geopferten beiden Ochsen zu.

Die Legende vom Hermunduren

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