Читать книгу Die Kinder der Agnes Kaitner: Wildbach Bergroman - G. S. Friebel - Страница 6

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O ja, es gab sie immer noch, die ganz große Armut! Überall ist sie noch zu finden. Auch in Österreich. Und ganz besonders da, wo der Tourismus nicht hinkommt, wo die Felder steinig und die Höfe klitzeklein sind. Man kann schon sehr arm sein und sich das letzte aus den Rippen pressen, schuften, bis einem der Schweiß den Rücken herunterrinnt, und dann hat man am End’ doch nur ein paar Schillinge in der Tasche. Und sie reichen nicht vorn und auch hinten nicht. Man muss sich nach der Decke strecken und kärglich sein Leben fristen. Solange der Acker noch Kartoffeln gibt, da braucht man nicht zu verhungern, das stimmt schon.

Ein Stück Fleisch auf dem Tisch, nun, das kann man sich vielleicht am Sonntag leisten, und dann ist es auch so klein, dass man es schier nicht sieht und der Magen spürt es kaum. Und dann das Haus! Es ist nicht groß und hübsch, nein, sollte sich wirklich in diese Gegend einmal ein Urlauber verirren, so würd' er nicht staunend und bewundernd stehenbleiben. Vielleicht doch, um zu sehen, wie wirkliche Armut noch aussieht und denkt sich dann, hab ich es doch gut, dass ich nicht so kärglich leben muss, und dann beschleunigt er die Schritte und sieht sich lieber andere Häuser an, mit prachtvollen Balkonen und Blumenkästen davor.

Alles ist alt, verfallen, das Holz schreit nach Farbe. Die Fenster sind vom Alter schon ganz schräg, und die Tür schließt auch nicht mehr richtig. Oben auf dem Söller fehlt schon das Dach.

Gleich neben der Haustür ist das Holz aufgeschichtet, so, dass man es schnell im Winter hereinholen kann. Wenn der Stoß recht hoch ist, das heißt, wenn der reiche Bauer erlaubt hat, im Wald alles Holz holen zu dürfen, was am Boden liegt, also, wenn der Stoß bis an den Söller reicht und diesen noch von unten ein wenig stützt, ja, dann kann man rechnen, dass man im Winter nicht frieren muss. Aber das ist auch keine Selbstverständlichkeit.

Hinter dem kleinen Bauernhaus liegt noch der schiefe Schuppen mit dem wenigen Gerät für die Landwirtschaft. Es reicht ja auch, und es wird immer wieder geflickt.

Man besitzt eine Kuh und die ist so mager und dürr, dass die Leut in Aflenz schon sagen, durch deren Rippen kann man das Vaterunser beten.

Ja, und dieses Häuschen, es klebt mit dem Rücken an einer steilen Felswand, und das ist auch noch ein Glück, so hält es noch immer die harten Winterstürme aus. Der Berg hält sozusagen schützend die Hand über die Winzigkeit von Behausung. Einmal, das war vor fünf Jahren, da war hier eine Lawine heruntergekommen. Den Bewohnern war in der Nacht das Herz vor Schreck fast stehengeblieben. Aber der Berg hat eine lange Zunge, die hängt über das Haus und so ist die Lawine darübergerutscht und das Haus wurde nicht getroffen. Damals, da hatte die alte Therese die letzten Schillinge genommen und davon eine Kerze gekauft und sie der Jungfrau Maria in der Kirche gestiftet. Der Sohn Franzi hatte gemurrt und gemeint: »Sie hat doch nicht geholfen, das war allein der Berg. Das ist reine Geldverschwendung, Mutter.«

»Bub, versündige dich nicht«, hatte die Mutter erschrocken gerufen.

Aber der Franzi Kaitner hatte nur böse aufgelacht. Er hatte mit der Kirche wenig im Sinn. Er war verbittert und verstockt und aufsässig. Er hasste die Armut abgrundtief und fluchte viel, wenn er sich abrackern musste. Nur abends, bei der winzigen Lampe am Tisch, da holte er dann sein Schnitzmesser hervor und säbelte an einem Stück weichen Holzes. Das war seine Lieblingsbeschäftigung, und darin fand er die Erlösung von der harten und mühsamen Arbeit. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er groß und stark wie ein Baum und konnte wohl schuften.

Therese konnte wirklich froh sein, dass sie diesen Buben noch hatte. Die anderen Kinder waren alle vorzeitig gestorben. Da war der böse Weltkrieg gewesen, und man konnte sich nicht so um die Kinder kümmern und sich selbst auch nicht schonen. Drei waren gleich nach der Geburt gestorben. Und sie hatte noch nicht mal eine Träne darüber vergossen. Als man sie auf den Gottesacker trug, die kleinen weißen Särge, da hatte sie gedacht: Jetzt haben sie es doch viel besser. Was hätte ich ihnen denn schon bieten können? Nichts, arm und verzweifelt wären sie gewesen, und als Erwachsene hätten sie sich als Magd verdingen müssen.

Die Leute aus Aflenz hielten sie für kalt und hart. Aber sie konnten eben nicht begreifen, wie das ist, wenn man als Mutter vor den Kindern steht, die bettelnden Augen sieht, und ihnen nur so ein kärgliches Mahl vorsetzen kann.

Therese war auf ihre Art und Weise stolz und zeigte nie, wie schrecklich arm sie war. Sie wollte keine Almosen. Nein, solange sie noch gesunde Glieder hatte, um sich abrackern zu können, würde sie bis aufs Blut schuften, um dem Boden das abzugewinnen, was sie zum Leben brauchten.

Zwei weitere Kinder starben, als sie um die drei Jahre alt waren. Still und ohne zu klagen, waren sie dahingewelkt. Und so war zum Schluss nur der Älteste geblieben, der Franzi, und jetzt war er ein großer stolzer Bub geworden. Er konnte zupacken und der Mutter die Arbeit abnehmen. Wenn er nur mehr Lust gehabt hätte.

Therese machte sich Sorgen um ihren Buben. Immer hatte er andere Gedanken im Kopf. Gedanken, die für seinen Stand sich nicht geziemten. Man müsste demütig bleiben, bescheiden. Und sie sah es auch nicht gern, wenn er da an einem Stück Holz rumfuhrwerkte. Lieber sollte er nach den Schäden am Haus schauen und zusehen, wie man ein loses Brett annagelte. Ja, als er eines Tages mit dem Schnitzmesser heimgekommen war, da hatte es böse Worte gegeben. Die Mutter hatte arg geschimpft. So viel Geld für solch unsinniges Zeugs auszugeben. Sie hatte lange und laut gekeift, bis es dem Sohn zu viel geworden war und er zurückgeschrien hatte: »Du machst noch so lange, bis ich fortlaufe von hier und in der Welt mein Glück mache. Was hab ich bloß davon,

dass ich bei dir bleib? Nichts gönnst einem, gar nichts! Geh ich etwa in die Wirtschaft und versauf das Geld? Kauf’ ich mir vielleicht Tabak? Den ganzen Tag schufte ich meinen Rücken krumm und tu alles, was du willst, und was hab ich davon? Nicht mal eine kleine Freude gönnst du mir.«

Nach diesen Worten war sie dann endlich still geworden und sagte sich, ich darf nicht mehr so hart zu ihm sein. Sonst läuft er mir wirklich davon. Und was ist dann? Wer melkt dann die Kuh, zieht den schweren Pflug über das Land?

Ihre schmalen Lippen waren noch schmaler geworden und sie hatte dann geschwiegen. Und mit der Zeit fand sie es dann auch gar nicht so schlecht. Er schnitzte Schüsseln, die man gut gebrauchen konnte; denn das Steingutzeug zerschlug sich so schnell und ein Bord für die Töpfe schnitzte er auch. Zwar mit viel zu viel Firlefanz, wie die Mutter sich sagte, aber sie schwieg und brachte auch nicht ein Danke über die Lippen.

Nein, Höflichkeit und Liebe, die kannte man in diesen Stuben nicht.

Die Kaitners wohnten in einem kleinen Seitental von Aflenz. Ein paar kleine Äcker gehörten zu dem Anwesen, Aflenz selbst war nicht groß. Die Anwesen der annähernd tausend Einwohner lagen weit verstreut in den Bergen. Eine Straße ging vorbei, direkt nach Mariazell. Dorthin strömten die Fremden. Dort ließen sie auch ihr vieles Geld.

So lebten sie also und rackerten sich ab. Therese konnte sich nicht mehr so gut bücken, wie es früher der Fall war. Und so musste der Sohn sich allein um die Landwirtschaft kümmern und die Mutter versorgte den Haushalt. Aber da gab es auch nicht viel zu versorgen. Da war die Stube, da spielte sich alles ab, Küche und Wohnraum in einem. Dann gab es einen kleinen Vorratsraum und

hoch drei kleine Schlafstuben. Dann die Diele mit dem Kuhstall. Einst hatten sie sogar mal drei Kühe besessen. Aber das war schon lange her.

Die zweite Kuh hatten sie verkaufen müssen, als der Vater gestorben war, um ihn würdig unter die Erde zu bringen. Damals, da hatten sie immer gesagt, im Frühjahr gehen wir uns dann wieder eine neue kaufen. Aber das war nun schon drei Jahre her und sie hatten nur noch immer diese eine, und sie gab so wenig Milch und auch solch magere, dass man sie nicht zur Sammelstelle tragen konnte.

Einen Teil der Kartoffeln und vom Mais konnte man verkaufen. Aber das war auch bitter wenig und es reichte grad für die Ausgaben, die man nun mal hat, Steuern, Strom, Wasser und solch Kleinigkeiten wie Salz, Zucker und was man so in der Küche noch brauchte. Hin und wieder langte es auch mal für ein Kleidungsstück.

Kein Wunder, dass der junge Sohn unzufrieden war und sich weit fort sehnte. Er sagte sich immer, draußen in der Welt, da kann man sein Glück machen. Hier nicht, hier, da versauert man ja richtig. Und er schwor sich, wenn die Mutter erst mal auf dem Gottesacker liegt, dann schliess ich die Tür ab, nehme den Rucksack und wandere fort. Dann hält mich nichts mehr, gar nix. Eines Tages, wenn ich reich geworden bin, dann komm’ ich wieder und zeig den Dörflern, dass ich es zu was gebracht hab, dann werd’ ich die alte Kate abreißen und ein schönes stolzes Haus hinbauen.

Ja, so dachte er, wenn er auf dem Feld war. Von diesen Gedanken aber wusste die Mutter nichts.

Die Kinder der Agnes Kaitner: Wildbach Bergroman

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