Читать книгу Die hohe Kunst des Schneckenzerschneidens - Gabi Eichl - Страница 7
Оглавление„Bleiben Sie bitte sehr realistisch“
Irmgard Mellendorf-Sittler saß vor ihrem Tablet. Vor sich die Kanne mit der Lastrumer Mischung, ihrer bevorzugten Kräutertee-Sorte, die sie nach der fünften Tasse zuverlässig in den Schlaf wiegte. Sie hatte erst zwei Tassen getrunken und grübelte über der Frage: „Wie würden Sie Ihr Aussehen beschreiben?“ Nebenbei lief eine ihrer Lieblingsserien, die sie jederzeit in der erforderlichen Tonlage mitsprechen konnte. Sie hatte den Hinweis zur Beantwortung der Frage wieder und wieder gelesen: „Bleiben Sie bitte sehr realistisch. Unserer Erfahrung nach führen Beschönigungen gerade an dieser Stelle zu unschönen Real-Erlebnissen.“ Real-Erlebnisse! Irmgard Mellendorf-Sittler erschauderte bei dem Gedanken an Real-Erlebnisse. Was für ein kantiges Wort, das gleichzeitig so süße Verschlingungen in sich barg.
„Bleiben Sie bitte sehr realistisch.“ Das sagte sich leicht. Sie war etwas füllig geworden in den vergangenen Jahren. „Etwas füllig“, so nannte sie selbst es. Die alten Schulfreundinnen, die kaum weniger auf die Waage brachten, hatten andere Ausdrücke, die nicht besser waren. Die eine nannte sich munter „ein wenig barock“, die andere behauptete mit breitem Lachen: „Ich halte mein Gewicht seit Jahren.“ Wie sie dazu nur lachen konnte … Irmgard hatte sich an jeder Diät jeder Frauenzeitschrift abgearbeitet und einmal sogar eine Saturnologin zu Rate gezogen, der sie drei Wochen lang geglaubt hatte, der Saturn mache in seinem dritten Mond grundsätzlich dick. Es gelte also, den Saturn in seinem dritten Mond zu meiden. Was nichts anderes hieß, als dass man sich in der letzten Juli-Woche eines jeden Jahres aufzulösen hatte, denn nur so war der dritte Saturn-Mond zu umgehen. Heute konnte sie darüber bitter lachen. Wie viel die Saturnologin ihr abgenommen hatte, wussten bis heute nicht einmal die dicken Freundinnen.
„Vollschlank.“ Dieses grauenhafte Wort wurde ihr in der Auswahl angeboten. Sie schrieb stattdessen nach einigem Überlegen unter „Sonstige Merkmale“ mutig: „Ich halte mein Gewicht seit Jahren.“ Dann wurde nach Haar und Haut gefragt. Mein Gott, das Haar. Es war einmal füllig gewesen. Dunkel. Lang. Verführerisch. Alles vorbei. Sie hatte heute Mühe, es so zu kämmen, dass es einigermaßen natürlich fiel. Was taten nur andere in ihrem Alter? Setzten die eine Perücke auf? Sollte sie sich eine solche anfertigen lassen? Für alle Fälle? Und wie bewältigte man ein Real-Erlebnis mit einer Perücke? Sie gab nach einer Weile ein: lang, dunkel. Niemand konnte von ihr verlangen nachzuzählen, ob es mehr dunkle oder mehr graue Haare waren.
Die Frage nach der Haut: Grundgütiger, sie hatte die Haut einer Fünfzigjährigen. Punkt. Was sollte sie da hinschreiben? Es war nicht einmal eine Multiple-Choice-Frage. Keine Vorlagen. Da konnte man nur alles falsch machen. Sie entschied, die Frage offenzulassen. Inzwischen hatte die vierte Tasse Lastrumer Mischung sie in ihrer Gewalt.
„Ich geh´ jetzt ins Bett“, schrie sie nach einer weiteren halben Stunde das Tablet an. Löschte das unvollständige Profil. Löschte die App. Und als sie am nächsten Tag mit einer Uralt-Freundin telefonierte, sagte sie: „Die C. hat sich schon wieder auf so einem Dating-Portal angemeldet. Mir wär´ das viel zu blöd. Nur gut, dass wir keinen mehr suchen.“