Читать книгу Unverhältnismäßig. - Gabriela Hochleitner - Страница 9

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Kapitel 6

Schon am Tag darauf darf ich mir die Firma nach meinem Feierabend anschauen. Die nette Dame von der Zeitarbeitsfirma holt mich dafür sogar extra von zu Hause ab. Sie begrüßt mich herzlich und erwähnt auch gleich die Bushaltestelle nicht weit von mir, von der aus ich jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit fahren könnte. Bei dieser kurzen Entfernung würde mich das Busfahren nicht einmal 50 € im Monat kosten. Bereits auf der Fahrt zu der Firma erklärt mir Frau Schmidt so viel wie möglich, da es, wenn man ihrer Aussage Glauben schenken darf, in den Hallen gleich sehr laut werden soll.

„Der Verdienst steigt etappenweise von 1200 auf 1400 € nach zwei Monaten, nach weiteren vier Monaten auf 1600 € und nach einem Jahr auf 1800 € netto“, erzählt Frau Schmidt.

1800 €. Das hört sich für mich wie ein Traum an.

„Es wird in drei Schichten gearbeitet und es fahren immer Busse zu der Firma und zurück, du musst dir also keine Sorgen machen, wie du zur Arbeit und wieder heimkommst“, lächelt sie.

„Das hört sich sehr gut an“, entgegne ich.

Als wir angekommen sind, zeigt sie mir die Arbeitsbereiche, in die ich eingeteilt werden könnte, und erklärt mir, dass ich andere Bereiche lernen könnte, wenn ich an diesen hier mal eingearbeitet sei. Die Arbeit erscheint mir recht simpel: einige Maschinen bedienen, auffüllen, in andere Behälter oder andere Mengen portionieren. Bis jetzt klingt alles perfekt. Der Haken ist vermutlich der Schlafmangel durch die Schichtarbeit. Die Mitarbeiter, die dort arbeiten, sind alle blass, dürr und haben dunkle Augenringe und Ohrstöpsel in den Ohren. Laut ist es hier in der Tat. Viel Reden ist hier wohl nicht drin, aber das ist mir eigentlich lieber so, nach all der Zeit mit erzwungener Freundlichkeit am Telefon.

Ich bedanke mich bei der netten Dame, und frage mich, ob das Angebot ein Witz sein soll oder ob sie mir ernsthaft so viel mehr zahlen werden für einen so einfachen Job.

„Überleg es dir einfach und melde dich morgen bei mir. Wie lange wäre denn deine Kündigungsfrist?“

„Zwei Monate, allerdings habe ich noch etliche Überstunden, ich denke, ich könnte bestimmt früher anfangen.“

„Oh, das wär natürlich super, meld dich einfach morgen und dann reden wir weiter.“

Am nächsten Tag in der Arbeit bin ich extrem gut gelaunt. So gut gelaunt war ich mit Sicherheit die letzten Jahre nicht mehr. Mein Lächeln ist unübersehbar und ich kann auch nichts dagegen tun. Egal, wen ich aus dem Büro kommen sehe, bei jedem Einzelnen denke ich: und tschüss und tschüss und tschüss. Am liebsten würde ich vor Freude tanzen. Es ist zwar nicht leicht, einen Neuanfang zu machen, da meine Noch-Firma bisher die einzige Firma ist, die ich kenne, allerdings bin ich auch unendlich neugierig, wie mir der neue Job gefallen wird. Natürlich wird es anstrengend werden, es ist ja sehr laut und es gibt Schichten, aber es wird ja auch nicht für immer sein, sondern nur so lange, bis ich endlich jemanden kennenlerne, also vielleicht nur die nächsten fünf Jahre oder so. Ich nutze meine Mittagspause, um der netten Lady meine Zusage zu erteilen und eine Kündigung für meinen Job zu drucken. Wenn meine Berechnungen mit den Überstunden und dem restlichen Urlaub stimmen, dann ist die kommende Woche schon meine letzte Woche hier. So, unterschreiben. Ok und nun wird’s ernst. Mein Herz springt mir fast aus der Brust und ich spüre meinen Puls so deutlich im Hals pochen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich überhaupt sprechen kann. Aber jetzt oder nie. Ich drücke den Knopf, der mich mit der Abteilungsleitung verbindet, bereit, meinen Job zu kündigen. Los geht’s.

„Es ist eine Minute nach der Mittagspause, Anna, was kann denn jetzt schon so wichtig sein?!“, quietscht die Abteilungsleiterin ins Telefon.

Ich versuche cool zu bleiben: „Kommst du bitte hoch in mein Büro? Ach ja, und nimm den Büroleiter mit. Dankeschön“, singe ich ins Telefon und lege auf, bevor sie antworten kann, so wie sie es vermutlich 2000-mal in der Vergangenheit bei mir gemacht hat.

Es dauert noch keine zwei Minuten, da höre ich die beiden schon im Gang diskutieren, was denn mein Problem sei, begleitet von dem stampfenden Gestöckel meiner Chefin. Tief durchatmen Anna, du schaffst das, sie sind nicht mehr deine Chefs und sie werden bald weniger verdienen als du. Du bist jetzt der Tiger. Sie die Mäuse. Ein Mantra, das ich mal gelesen habe und das mir gerade etwas Kraft verleiht.

Die Tür fliegt auf und die Abteilungsleiterin kreischt schon los, was mir denn einfalle, einfach aufzulegen. Der Chef steht stirnrunzelnd mit verschränkten Armen und vorwurfsvollem Blick dahinter und schüttelt den Kopf: „Sagen sie mal, was ist mit Ihnen denn los?“

In diesem Moment bin ich der Ruhepol selbst und sitze völlig entspannt vor den beiden hysterischen Herzinfarktrisikofällen.

„Meine Kündigung ist mir heute eingefallen“, sage ich lächelnd und schiebe ihnen meine frisch gedruckte, frisch unterzeichnete Kündigung rüber.

So sieht also Schockstarre aus, denke ich mir. Fassungslos darüber, wie ich auf die Idee kommen kann, diesen „super“ Job zu kündigen, starren sie auf das Blatt Papier und fangen an herumzustottern.

„A … Anna, das ist jetzt ein Witz, oder? Überleg dir das nochmal!“

„Nein.“

Sie schauen sich an und gehen kurz auf den Gang, um sich zu besprechen, und treten danach ganz leise und sogar mit Anklopfen wieder herein.

„Hereeeeeiiiiin“, sage ich fröhlich.

„Also Anna, ich glaube, da gibt es ein kleines Missverständnis.“

„Ich glaube nicht. Ich habe gekündigt und laut meinen Berechnungen ist nächste Woche dank meiner vielen Überstunden meine letzte Arbeitswoche. Könntet ihr mir das bitte schriftlich bestätigen?“

„Anna, hör mal, wir würden uns gerne um 15 Uhr kurz mit dir im Besprechungsraum zusammensetzen und das Ganze besprechen, ok?“

„Ok“, sage ich ganz gelassen, schließlich ist es sinnlose Zeit, die mir ebenfalls bezahlt wird.

Sie kuschen aus dem Büro und ich fühle mich wie die Königin der Welt, als könnte ich alles schaffen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so genial gefühlt habe. So befreit.

15 Uhr im Besprechungsraum.

Alles klar, da warten die zwei Osterhasen auf mich. Mal seh’n, was sie zu sagen haben.

„Hallo Anna, also falls das vorhin eine überstürzte Reaktion war, würden wir sagen: Ok, Schwamm drüber, vergessen wir das Ganze.“

„Nö. Das war schon echt mein voller Ernst. Ich weiß, es ist unvorstellbar für euch, denn es gibt offensichtlich keinen besseren Job weit und breit als diesen, aber doch, ich hab’s getan. Ich habe gekündigt. Voll Ernst.“

„Ok, also du hast bereits einen anderen Job angenommen?“

„Richtig, jetzt sind wir beisammen.“

„Wenn dir die Firma mehr Geld bietet … Wir wären bereit, dir mehr zu bieten. 1500 netto wären drin. Das hättest du nächsten Monat schon auf dem Konto.“

„Nicht nötig, aber danke.“

„Bietet dir die Firma denn noch mehr? Wir müssten uns dann nochmal beraten, vielleicht ginge noch ein Tankgutschein oder Ähnliches.“

„Nein, ich verdiene dort weniger.“

Nach einer weiteren Schocksekunde, in der sie nach Fassung ringen, fragt die Abteilungsleiterin nach: „Weniger als 1500 meinst du?“

„Nein, weniger als meine 1300 jetzt.“

Sie verstehen die Welt nicht mehr, und ich bin absolut glücklich und schadenfroh über ihre dummen Gesichter.

„Anna, wir könnten dir versprechen, dass du mit Sicherheit nur noch deinen Freitagsdienst machen musst, nie mehr den der anderen, du würdest die 1500 € bekommen, wäre das denn nichts?“

„Nein, danke, passt schon“, sage ich, stehe auf und schiebe meinen Stuhl wieder brav an den Tisch. Ich verlasse mit einer Leichtigkeit den Raum, die ich so schon lange nicht mehr kannte, und lasse die verdutzten Gesichter zurück. Was für ein Tag.

Ich fahre vollkommen beflügelt nach Hause. Nun geht es endlich bergauf. Auf dem Nachhauseweg hole ich mir die Verträge für die neue Firma ab und unterzeichne diese nach gründlichem Durchlesen, denn ich lasse mich jetzt nämlich nicht mehr verarschen.

Ich schicke Caro eine ewig lange Sprachnachricht und frage, wie ihr Date mit Flo gelaufen sei. Sie antwortet ebenfalls per Sprachnachricht und ich kann ihr strahlendes Gesicht nicht nur hören, sondern förmlich vor mir sehen.

„Es war echt so schön, Anna, wirklich. Wir sind ewig lange am See entlanggegangen und haben viel geredet. Er ist total cool und sieht vieles ähnlich bzw. genau wie ich. Er hatte schon gefragt, ob ich noch mit zu ihm wolle, aber als ich nein gesagt habe, meinte er auch gleich, dass er mich noch gar nicht gehen lassen wolle. Voll süß, wir haben uns jetzt für Samstagnachmittag in ’nem kleinen Café verabredet. Weißt du, was das heißt? Das zweite Date, in ALLER Öffentlichkeit, ich freu mich schon total und bin voll positiv überrascht ... Ich schick dir ein Foto, was sagst du zu ihm?“

Sie schickt mir zwei Fotos von ihm, eins am See mit ’nem Hund und eins in ’nem Audi. Er wirkt echt freundlich und auch optisch würden die zwei bestimmt mega gut zusammenpassen. Die schlanke Blondine und der Prinzenrolle-Prinz mit breitem weißem Lächeln, freundlichen Augen und dunkelblonden Haaren, hochgestylt, geföhnt, whatever.

Ich antworte per Sprachnachricht: „Wow, das klingt ja wirklich super, ich freu mich total für dich, du hast das echt verdient nach der ganzen Scheiße immer, wirklich. Na, da bin ich gespannt, was du Samstag dann erzählst. Vielleicht sollte ich mich da auch anmelden, wenn das so gut klappt. Ich drück dir die Daumen und wünsch dir ganz viel Spaß.“

Sie schreibt zurück: „Ja total, also wir seh’n uns dann Samstag, dann gibt’s das Update. :D Bis dann Pupsi.“

„Bis dann. :D“

Ich freue mich total, endlich mal wieder gute Neuigkeiten in unserem Leben. Ich fühle mich, als würde es nun endlich mal bergauf gehen für uns zwei. Endlich.

Freudestrahlend und zufrieden lasse ich mich ins Bett fallen und ehe ich mich versehe, bin ich vollkommen friedlich eingeschlafen.

Unverhältnismäßig.

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