Читать книгу Wenn die Träume laufen lernen 2: LANZAROTE - Gabriele Ketterl - Страница 5
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Flughafen Arrecife, Lanzarote, 17. Oktober 1988
Bei Sonnenaufgang waren wir auf Ibiza an Bord der Fähre nach Mallorca gegangen, um rechtzeitig unseren Flug nach Lanzarote zu erreichen. Seitdem waren wir unterwegs und daher rechtschaffen froh, als unsere Maschine endlich auf dem kleinen, sympathischen Flughafen der Kanareninsel landete.
Müde setzte ich mich auf eine der Bänke in der Ankunftshalle und streckte meine Beine aus, während wir auf unser Gepäck warteten.
»Mannomann, bin nur ich so erschlagen oder geht es euch auch so?«
Silvie, meine deutsche Freundin und Teamkollegin, sprach wie so oft meine Gedanken aus.
»Lass es mich so ausdrücken: Ich habe mich schon fitter gefühlt.« Roberta, die trotz ihrer gerade einmal fünfundzwanzig Jahre nach den letzten Stunden ein wenig verknittert wirkte, reckte sich und gähnte herzhaft.
»Super. Da werden wir auf Ibiza abgezogen, um hier alle auf Vordermann zu bringen, und dann kommen wir hundemüde angekrochen.« Fernando, Rettungsschwimmer und Sonnyboy unserer Crew, ließ schmunzelnd seinen Blick über uns schweifen.
»Entschuldige bitte, aber nachdem ich heute Morgen um vier Uhr aus dem Bett geworfen wurde und seit geschlagenen dreizehn Stunden unterwegs bin, darf ich ja wohl müde sein.« Lise, unsere sonst allzeit gut gelaunte Holländerin, legte – nicht ohne zuvor herzzerreißend zu seufzen – ihren Kopf an die Schulter ihres Freundes Oliver.
»Leute, ich bin auch geschafft, aber das ist im Moment nebensächlich. Wir reißen uns bitte kräftig zusammen, denn ich schätze, keiner von uns hat Lust, im Halbschlaf aufzuschlagen, nicht wahr? Ich befürchte sowieso, dass man uns dort nicht allzu freundlich begrüßen wird. Schließlich kommen wir, um die anderen abzulösen.« Teamchef Carlos setzte sich neben mich und stupste mich aufmunternd an. »Das bekommen wir doch jetzt auch noch geregelt, nicht wahr?«
»Aber nur, weil du es bist.« Als ich das Team ansah, musste ich unweigerlich grinsen. »Hochmotivierte, hellwache Crew trifft am Einsatzort ein. Im Ernst, Leute, wir sollten dringend an unserem Erscheinungsbild arbeiten, ehe wir durch diese Pforte gehen.« Ich zeigte auf die Glastüren, die zum Ankunftsbereich führten.
»Na schön. Ausnahmsweise. Komm, Cara, wir machen den Anfang. Dort sind Toiletten, gehen wir uns restaurieren.« Lachend griff Roberta zuerst nach ihrer Tasche, dann nach meiner Hand und zog mich mit sich.
»Halt, Sekunde, ich mach mich auch besser frisch. Jungs, ihr achtet darauf, unsere Koffer vom Band zu pflücken, falls sie denn noch in diesem Jahrhundert kommen sollten, ja?« Silvie konnte sehr überzeugend sein, insbesondere wenn sie müde war.
Während wir nebeneinander vor den kleinen Spiegeln in der Damentoilette standen und versuchten, die diversen Problemzonen unserer Gesichter wieder in den Griff zu bekommen, sprach Roberta aus, was wir alle dachten.
»Ladys, mir graust vor dem Zusammentreffen mit diesem Clubchef. Nach allem, was Jaime erzählt hat, ist er ein … wie soll ich es nur höflich ausdrücken … Vollidiot.«
Lise, die es endlich hinbekommen hatte, sich für ein paar Minuten von Oliver zu trennen, stapfte durch die Tür, schob sich zwischen uns und musterte sich prüfend im Spiegel. »Ja, und wenn schon. Er ist doch nicht der erste Schwachkopf, den wir in den Griff bekommen müssen. Außerdem, wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir ihn nur noch drei Tage an der Backe, nicht wahr?«
Ich nickte, während ich mir die Lippen mit rosa Lipgloss betupfte. »Schon, aber ich befürchte, dass auch drei Tage unter den entsprechenden Umständen verdammt lang werden können.«
Roberta zog sich einen grobzinkigen Kamm durch die dunkelbraune Lockenmähne. »Hör bloß auf, den Teufel an die Wand zu malen.«
»Na, alle Mutmaßungen bringen uns kein Stück weiter. Es wird sein wie immer: Augen zu und durch.« Silvie band ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und blickte uns auffordernd an. »Na kommt, stellen wir uns der Herausforderung.«
Mittlerweile war unser Gepäck tatsächlich angekommen und die Jungs waren dabei, es auf mehrere Kofferwagen zu verteilen.
Carlos zog sich den Kragen seines dunkelblauen Jeanshemdes zurecht und musterte uns wohlwollend, als wir im Gänsemarsch zurückkehrten. »Wusste ich doch, dass ihr auch nach über dreizehn Stunden wieder in vollem Glanze erstrahlen könnt.«
Ich schenkte ihm ein breites Lächeln. »Wahre Schönheit kann eben nichts entstellen, nicht wahr?«
Grinsend zog er mich an sich. »Das sage ich doch immer.«
Carlos, Fernando, Andy und Oliver schoben die Wagen durch den Zoll und sahen sich suchend um. Wir hofften, dass man uns abholen würde, waren aber ob der für die dortige Crew unangenehmen Begleitumstände nicht sicher.
Ein paar Augenblicke später ertönte ein freudiger Ruf. »Da sind sie ja, meine Lieblingsverrückten!«
Sehr zu unserer Freude strebte ein großer, gut gebauter Mann auf uns zu. Seine kurzen schwarzen Locken waren akkurat wie immer geschnitten und auf dem braun gebrannten Gesicht zeigte sich ein strahlendes Lächeln. Sergio!
Unser einstiger Chef der Security aus dem Club Costa Azul in Puerto de la Cruz auf Teneriffa begrüßte uns sichtlich erfreut.
»Leute, es ist echt schön, euch zu sehen. Es wird Zeit, dass ihr kommt, ehrlich.«
Carlos umarmte Sergio herzlich. »Hombre, das ist ja mal eine schöne Überraschung. Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest.«
»Damit bist du nicht alleine. Bis vor einer Woche wusste ich das auch nicht. Jaime versucht aber einiges, um den Club wieder in den Griff zu bekommen. Es blieb ihm keine andere Wahl.«
Carlos Miene verfinsterte sich zunehmend. »So schlimm?«
Sergio runzelte die Stirn. »Schlimmer.«
Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jeans. »Super, das klingt ja so richtig ermutigend.«
»Cara, mi chica! Komm her, lass dich drücken.«
Während Sergio mir liebevoll die Luft aus den Lungen presste, mobilisierte ich meine letzten Atembestände. »Immerhin hat der Kerl dich geschickt, um uns abzuholen.«
»Das kannst du getrost vergessen, Cara. Er hätte niemanden geschickt. Der überhebliche Lackaffe bildet sich ein, das missverstandenste Wesen der westlichen Hemisphäre zu sein, und hasst euch schon im Voraus. Nur weil ich von Jaime wusste, wann euer Flug ankommt, sind Alexandro und ich hier. Ich hab mir den Kleinbus eines Freundes ausgeliehen und Alex kümmert sich um eure Koffer. Jetzt kommt erst einmal mit raus.«
Sergio dirigierte uns durch die Halle nach draußen, was bei der überschaubaren Größe des Flughafens kein Problem war, und brachte uns zu einem Parkplatz. Dort wartete Alex, an einen uralten Pick-up gelehnt, und wurde – vor allem von den Mädels – sofort ins Herz geschlossen. Ungefähr einen Meter achtzig groß, schwarze Wuschelmähne, derer Herr zu werden er wohl schon lange aufgegeben hatte, Jeans, Turnschuhe, ein knallgelbes T-Shirt und dazu ein fröhliches Grinsen im Gesicht, begrüßte er uns. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Waschechter Canario, was?«
»Mutter aus China, Vater aus Gran Canaria, da kommt dann eben so was wie ich raus«, schmunzelte er.
Während Sergio und Andy ihm halfen, unser Gepäck zu verstauen, stellte er sich als Sergios rechte Hand vor.
»Wisst ihr, eigentlich hatte mich Robert Croyden als seinen Fahrer eingestellt, aber den Zahn hat ihm Sergio sofort nach seiner Ankunft gezogen.«
Ich glaubte kurz, mich verhört zu haben. »Sagtest du als sein Fahrer? Spinnt der Typ?«
Alex zuckte die Schultern. »Er behauptet, da hier alle auf der falschen Seite fahren, wäre das für ihn lebensbedrohlich. Der Kerl weigert sich, mit dem Auto zu fahren. Jetzt, nachdem ich bei der Security bin, fährt seine Hochwohlgeboren nur noch Taxi.«
»Das kann ja heiter werden.« Carlos strich sich durch die langen, dunklen Haare.
Sergio wuchtete den letzten Koffer auf die Ladefläche des Pick-ups. »Da kannst du Gift drauf nehmen. Vor zwei Tagen hat er drei der Reinigungskräfte rausgeworfen, da sie sich geweigert haben, andauernd den Dreck aus den Umkleideräumen und Unterkünften seines Animationsteams zu beseitigen. Wartet ab, bis ihr seht, in welchem Zustand die Anlage ist. Es ist unfassbar.«
Wir kletterten in den Kleinbus und fuhren los in Richtung Puerto del Carmen.
Ich lehnte meinen Kopf an die Seitenscheibe und versuchte, so viel wie möglich von der vorüberziehenden Landschaft zu sehen. Die Insel war komplett anders als Teneriffa oder Gran Canaria. Karg und tatsächlich schwarz präsentierte sich unser neues Zuhause. Doch schon nach wenigen Minuten gelang es mir, in den bizarren Felsen und Lavaformationen eine wilde Schönheit zu entdecken. Dank des kanarischen Künstlers César Manrique, der auf der Insel lebte und sich mit Vehemenz dafür einsetzte, dass Lanzarote nicht »kaputtgebaut« wurde, gab es keine hohen Hotelkästen. Weiße, maximal zweistöckige und an die Umgebung angepasste Anlagen schmiegten sich in die Landschaft. Blaue und grüne Fenster, Balkone und Türen lockerten das Bild auf. Die tiefstehende Sonne tunkte die schwarzen Felsen so wie die weißen Häuser in warmes, goldenes Licht. Da ich ein sehr spontaner Mensch war, traf ich meine Entscheidung in Sachen Lanzarote ebenso spontan.
Ich mochte die Insel.
»Bisschen steinig, was? Etwas mehr Grün könnte nicht schaden.«
Aha, Silvies Begeisterung hielt sich noch in erträglichen Grenzen.
Sergio warf ihr im Rückspiegel einen wissenden Blick zu. »Das dachte ich zuerst auch. Aber wenn du genau hinsiehst, erkennst du, dass die Insel ihren ganz eigenen Charme hat. Zugegeben, es dauert ein bisschen, aber Lanzarote kann recht überzeugend sein.«
Silvie warf einen weiteren zweifelnden Blick aus dem Seitenfenster. »Das bleibt abzuwarten.«
Die Fahrt von Arrecife nach Puerto del Carmen dauerte nicht lange. Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir den Flughafen verlassen hatten, bog Sergio in eine breite Auffahrt ein, fuhr auf einen freien Parkplatz und stellte den Motor ab. Ich erspähte die Jeeps sofort. »Ah, immerhin habt ihr die gleichen Autos wie auf Ibiza und Teneriffa.«
»Nun ja, im Prinzip haben wir das schon. Nur haben sich die Herrschaften entschlossen, dass die Jeeps nur für die Leitung und das edle Animationsteam sind. Wenn einer von uns mal rasch irgendwo hinmuss, hat er gefälligst sein Privatfahrzeug zu nehmen.«
Carlos schüttelte den Kopf. »Langsam reicht es mir alleine schon von deinen Erzählungen. Ich werde zunehmend wütend.«
Ich zog amüsiert die Augenbrauen hoch. Das könnte interessant werden. Ein wütender Carlos war für die Gegenseite nicht wirklich wünschenswert.
Wir kletterten aus dem Auto, während Alex unsere Koffer auslud und vor die Rezeption stellte. Noch immer ließ sich kein Mensch blicken und langsam kochte uns allen die Galle über. Müde wie wir waren, auch noch komplett ignoriert zu werden, war doch zu viel für unser Nervenkostüm. Carlos schob die Ärmel seines Hemdes nach oben, was seine martialische Lederbandsammlung bestens zur Geltung brachte, stapfte die drei Stufen zur Rezeption hoch und öffnete die Doppeltür aus blau und grün gestrichenem, schwerem Holz.
»Guten Abend! Gleich mal aus Prinzip: Diese Tür steht in den Costa-Azul-Clubs von sieben Uhr am Morgen bis zehn Uhr in der Nacht offen, okay?«
Ui, er war richtig in Fahrt. Neugierig folgten wir ihm, als er in der geräumigen Eingangshalle verschwand.
Hinter dem geschwungenen Tresen am Empfang saß eine blonde Frau.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie, dass die Tür offenbleibt«, sagte sie mit ausgesprochen giftigem Unterton. »Erstens haben das nicht Sie zu entscheiden und zweitens zieht es dann, also bleibt sie geschlossen.«
Ich zog eine schmerzliche Grimasse. Fehler, blöder Fehler!
Carlos wandte sich ihr mit nachsichtiger Miene zu. »Zum Mitschreiben, junge Frau. Die Türen bleiben offen. Wenn du frierst, dann zieh dich warm an. Das würde ich dir ab heute sowieso empfehlen. Und außerdem habe ich das sehr wohl zu entscheiden. Ich bin Carlos, das sind Caroline, Silvie, Roberta, Lise, Andy, Fernando und Oliver.« Er zog uns nach vorne. »Wir sind das von Jaime angekündigte Team aus Ibiza. Und nun würde ich eigentlich ganz gerne mit Robert sprechen.«
Zwar starrte sie Carlos mit einer Mischung aus Faszination, Neugier und Zorn an, schaffte es aber tatsächlich, zügig zu antworten.
»Robert lässt sich entschuldigen, er musste zu einem Geschäftsessen nach Puerto del Carmen. Leider werdet ihr hier warten müssen.«
Carlos trat an den Tresen, stützte sich mit den Ellbogen auf und beugte sich vor, sodass sein Gesicht ganz nah an ihrem war.
»Das glaube ich kaum. Jaime hat unsere Ankunft mehrmals angekündigt, soweit ich informiert bin, und vertraue mir, das bin ich fast immer. Ferner hat Mercedes angeordnet, dass unsere Unterkünfte pünktlich bereitstehen. Daher wirst du nun deinen Noch-Chef sofort anrufen, wo auch immer er ist, und dafür sorgen, dass er innerhalb einer halben Stunde hier aufschlägt. Währenddessen sorgt jemand dafür, dass wir unsere Studios beziehen können. Habe ich mich nun auch für dich verständlich ausgedrückt?«
Das Ja kam dem Fauchen einer wütenden Katze recht nah. Immerhin umrundete sie tatsächlich den Tresen, erblickte Sergio und knurrte ihm zu, er solle uns ins Restaurant führen und dafür sorgen, dass wir etwas zu essen bekämen. Sie würde sich um die Unterkünfte und alles andere kümmern.
Sergio legte eine Hand hinters Ohr. »Verzeihung?«
Langsam lief die Dame so hochrot an, dass ich begann, mir Sorgen um ihren Blutdruck zu machen.
»Würdest du sie bitte ins Restaurant bringen?«
Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf den Lippen des Sicherheitsmannes. »Jetzt habe ich es verstanden.« Er wandte sich uns zu und machte eine einladende Geste. »Kommt mit, ich habe auch noch nichts gegessen. Bis die das hier auf die Reihe bekommen, könnt ihr euch schon mal die beiden Restaurants ansehen.«
Neugierig schloss ich zu Sergio auf. »Wie sind denn die Restaurants hier? Was gibt’s in den zwei unterschiedlichen?«
Er wandte sich mir mit trauriger Miene zu. »Kurzversion: bescheiden und das Gleiche. Kommt einfach mit.«
Er lief mit Carlos voraus und wir folgten, während wir die Umgebung eingehend musterten. Das, was wir zu sehen bekamen, bestätigte unsere schlimmsten Befürchtungen. Nicht abgeräumte, schmutzige Tische im Poolbereich, überfüllte Aschenbecher, und obwohl es schon dunkel wurde, waren die Matten am Pool noch nicht weggeräumt. Papierkörbe quollen über von Müll, sodass Verpackungen und leere Zigarettenschachteln daneben auf dem Boden lagen. Die Gäste, die uns über den Weg liefen, sahen in den seltensten Fällen wirklich glücklich aus.
Das Restaurant, in das Sergio uns führte, war das Hauptlokal der Anlage. Eigentlich schön ausgestattet, mit – den Inselfarben geschuldet – grün-weißen Holzmöbeln und leuchtend grünen Tischdecken, über die weiße Tischläufer gelegt worden waren. Doch fehlten uns die sonst bei Costa Azul gewohnten, liebevollen Details. Keine schönen Windlichter auf den Tischen und anstatt der frischen Blumen lieblose Plastikteile in billigen Glasbehältern. Meine Stiefelsohlen klebten schon nach wenigen Augenblicken am Boden fest. Vorsichtig hob ich einen Fuß an.
»Igitt, haben die hier schon mal was davon gehört, dass man Böden wischen kann?« Ich war schlicht fassungslos.
»Das ist noch gar nichts, wartet, bis ihr das Essen probiert habt. Und wenn ihr was Nettes erleben wollt, dann kommt doch einmal mit. Dort hinten sind die Tische für die Herrschaften aus dem Animationsteam. Ihr werdet viel Freude mit ihnen haben.«
Er führte uns zu einem kleinen Durchgang zwischen zwei schmalen Säulen, die, ähnlich wie auf Ibiza, zu einem abgetrennten Bereich für die Crew führten. Auch hier fand man die »Kastenbauweise«: eine weiße Mauer mit zahlreichen Aussparungen, in denen auf Ibiza und Teneriffa wahlweise kleine Laternen mit Kerzen, Windlichter oder andere Dekorationsgegenstände standen. Hier fanden wir, zu unserer Überraschung, volle Aschenbecher und schmutzige Gläser.
»Ausgefallene Dekoideen, das muss man ihnen lassen. Nicht unbedingt alltäglich.« Roberta rümpfte deutlich angewidert ihr hübsches Näschen.
»Ja, nicht wahr? Sie geben sich wirklich Mühe.« Sergio ging voran in den hinteren Bereich.
Dort saßen an zwei Sechsertischen vier Leute – drei Männer und eine junge, schwarzhaarige Frau –, die uns missmutig entgegenblickten. Natürlich auf Englisch erfolgte dann auch prompt die zu erwartende, ausgesprochen freundliche Ansage.
»Ey, ihr müsst hier raus. Essen für Gäste ist vorne.«
Carlos lächelte den Sprecher sehr freundlich an und aktivierte umgehend sein Englisch. »Hombre, für den Fall, dass ich Gast wäre, hättest du jetzt ein ziemliches Problem. Diesen Ton gegenüber Gästen will ich ab sofort nie wieder, und zwar wirklich nie wieder hören. Ist das klar? Und ehe jetzt dumme Fragen kommen: Ich bin Carlos Hernandez, das hier ist das Team aus Ibiza, wir sind müde, hungrig und angesichts dessen, was wir hier bereits erleben durften, sehr ungehalten. Daher setzen wir uns jetzt an den anderen Tisch und morgen unterhalten wir alle uns sofort nach dem Frühstück.«
»Ey, Robert hat keine Besprechung angesetzt. Also was soll das?«
Manche Menschen wurden einfach dumm geboren und vergaßen im Laufe ihres Lebens noch die Hälfte.
Carlos stand mit nur einem Schritt neben dem Knaben, dessen rotblonde Haare in alle Windrichtungen abstanden und der es – wie auch die anderen – wohl nicht für nötig erachtete, auch nur einen Hauch an Höflichkeit an den Tag zu legen.
»Wenn ich sage, morgen ist Teammeeting mit allen, dann wird das nicht infrage gestellt, haben wir uns verstanden?«
Offenbar sah der junge Mann Carlos nun erst richtig an, denn er wurde zunehmend kleiner in seinem Stuhl. »Schon gut, Mann, könnte aber schwer werden, weil wir ja beschäftigt sind.«
»Irrtum, mein Freund. Jeder, der morgen nicht um Punkt zehn Uhr hier ist, kann gerne sofort seinen Koffer packen. Dann spare ich mir die Erklärungen, was mir auch entgegenkäme. Und jetzt ist die Diskussion beendet. Ihr gebt bitte den anderen aus eurem Team Bescheid, alles klar?« Ohne die Antwort abzuwarten, kam Carlos zu uns zurück. »Das wäre geklärt. Wenn sie morgen kollektiv ihre Koffer packen, wäre ich nicht traurig.«
Sergio nickte heftig. »Glaub mir, die Gäste und das restliche Personal auch nicht. Die führen sich auf, als wären sie Superstars. Sonderbehandlung, spezielles Essen, Reinigung ihrer Wohnungen und so weiter und so fort. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie beliebt die hier sind.«
»Reinigung der Wohnungen? Leute, wir machen echt was falsch.« Ich schüttelte entsetzt den Kopf.
Carlos legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. »Wir machen alles richtig, vertrau mir, Cara. Und nun sehen wir uns mal das Büfett an, ich bin gespannt.«
Als wir alle zwischen den Tischen hindurch zu einem der beiden am Rand des Restaurants aufgebauten Büfetts liefen, wurden wir von allen Seiten neugierig gemustert. Vor allem die Damen betrachteten Carlos, Fernando und Oliver mit großen, sehnsüchtigen Augen. Andy fiel wohl flach, da er Silvies Hand nicht einmal jetzt losließ.
Ratlos standen wir kurz darauf vor den Tischen und musterten mit fragenden Blicken das Angebot.
Pommes, panierte Schnitzel, panierter Fisch, Dosengemüse – und das auf den Kanaren! – Pommes, Würstchen, Fisch in seltsamer, brauner Sauce, Pommes, Gemüsesuppe, Tomatensalat, Gurkensalat, grüner Salat, Paprikastreifen, Hühnchen in roter Sauce. Oh, hatte ich die Pommes schon erwähnt?
Ich war so frei, mir einen Löffel zu holen und von den Saucen zu kosten. Sie unterschieden sich tatsächlich lediglich in der Farbe, abgesehen davon schmeckten sie leicht salzig und schlicht neutral.
»Bäh, das gibt’s doch nicht. Wir sind hier auf den Kanaren, wo ist das leckere Essen? Wo ist das Reisgericht, wo die Suppen, die Saucen, wo der gegrillte Fisch? Habe ich was verpasst?« Meine Begeisterung ob des Angebotes hielt sich in Grenzen.
Sergio zuckte die Schultern. »Cara, das wird alles auf Anweisung unseres Chefs zubereitet. Angeblich ist das kanarische Essen unverträglich für Touristen, also speziell für Engländer.«
»Unverträglich? Ich glaub es ja nicht. Der Kerl hat doch wirklich ein Rad ab. Außerdem gibt’s hier auch Deutsche und Italiener, oder?«
Fernando brachte es auf den Punkt. »Das nutzt alles nichts, wenn ich nicht bald was zwischen die Zähne bekomme, muss ich mich anderweitig orientieren.« Sein Blick ruhte nachdenklich auf Robertas Hals.
Die grinste lediglich. »Nimm dir Schnitzel und Pommes und dann iss schweigend.«
Nando drückte ihr einen Kuss auf die Wange, schnappte sich einen Teller, belud ihn, wenn auch mit zweifelndem Blick, mit Schnitzel und fettigen Pommes, dekorierte das Ganze mit Paprikastreifen und ging zurück zu den Crewtischen.
Ich entschied mich für frittierten Fisch mit Gurkensalat und beschloss, eher wenig Hunger zu haben.
Wenig später saßen wir in unserem Refugium und aßen sehr ruhig unser Abendessen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.
»Sergio, wer ist denn hier der Küchenchef?«
»Tino, ein echt netter Kerl, aber demotiviert wie die Hölle.«
»Ist er Spanier?«
»Besser! Canario.«
Ich schob mir den letzten Bissen meines gewöhnungsbedürftigen Dinners in den Mund, ehe ich die Gabel zur Seite legte.
»Carlos, Sergio, wenn ihr fertig seid, wollen wir dem Küchenteam mal einen Besuch abstatten? Ich denke je früher, desto besser.«
»Absolut deiner Meinung.« Carlos würgte seinen letzten Bissen hinunter, spülte mit eiskaltem San Miguel nach und stand auf.
Gemeinsam mit Sergio machten wir uns auf den Weg in die Küche. Mochte das Restaurant nicht der Hit sein, so überraschte uns die Küche positiv. Alles blitzte und blinkte und, was uns am meisten überraschte: Es roch appetitlich. Erstaunt sah ich mich um. Die Blicke des Personals waren nicht besonders freundlich.
Aus dem hinteren Küchenbereich schälte sich ein großer Kerl in einer weißen Kochjacke. Sein halblanges, dunkelbraunes Haar hielt er mit einem schwarzen Bandana in Schach und an den Unterarmen erspähte ich ausgesprochen interessante Tattoos. Mit leicht zusammengekniffen Augen kam dieses ansehnliche Exemplar von einem Mann auf uns zu.
»Perdon, aber ich mag es eigentlich nicht, wenn Gäste hier hereinkommen. Gibt nur Ärger.«
»Halt die Luft an, Tino. Das sind Cara und Carlos, zwei aus dem Team, das unsere Helden hier ablösen soll.« Sergio schob mich grinsend nach vorne. »Sag hallo zu Cara, Tino.«
Der musterte mich einen Augenblick neugierig, dann reichte er mir die Hand. »Hallo zu Cara, Tino.«
Lachend ergriff ich die dargebotene Rechte. »Hola, Tino, ich freue mich.«
Carlos wurde ebenfalls wesentlich freundlicher willkommen geheißen. »Ihr müsst entschuldigen, aber ich habe schon befürchtet, es wäre wieder jemand aus dem Dunstkreis unseres geliebten Chefs, der irgendwelche dummen Extrawünsche hat.«
»Keine Extrawünsche, außer vielleicht Cara. Der hat das spanische Element beim Büfett gefehlt, weißt du?« Carlos schüttelte Tinos Hand, während sein Blick durch die Küche huschte. »Aber ich verwette meinen Hintern darauf, dass es hier nach Tortilla und frischer Salsa duftet.«
Tinos Lächeln wurde noch ein wenig breiter. »Gut geraten, hombre. Glaubst du im Ernst, wir essen das Zeug, das wir für die Gäste kochen müssen?«
Ich verstand nur noch Bahnhof. »Warum macht ihr es dann?«
»Weil seine Durchlaucht uns damit gedroht hat, uns alle zu feuern, wenn wir nicht diesen geschmacklosen Mist fabrizieren.«
»Der spinnt doch. Richard würde den Typen übers Knie legen …« Weiter kam ich nicht.
»Sagtest du Richard? Der Richard, der vor drei Jahren noch in Puerto de la Cruz war?«
Ich nickte. »Ja, der ist jetzt Küchenchef auf Ibiza.«
Nun strahlte Tino. »Bei ihm habe ich gelernt. Wenn der sähe, was ich hier koche, würde er mich steinigen.«
Carlos wiegte bedächtig seinen Kopf hin und her. »Wenn wir das Zeug morgen wieder essen müssen, kann ich das gerne für ihn übernehmen.«
»Stopp! Tino, du sagst, dass du es nur auf Anweisung von Croyden machst? Also nicht wegen motzender Gäste?« Ich sah Licht am Ende des Tunnels.
»Exakt. Ich koche hier übrigens nicht, ich quäle Lebensmittel.«
»Ab heute nicht mehr. Wenn du einverstanden bist, legen wir sofort gemeinsam einen Speiseplan für die nächsten Tage fest. Wenn du bei Richard gelernt hast, dann kennst du seine Gerichte, oder?«
Tino nickte sichtlich begeistert.
Ich war zufrieden. »Gut, dann setzen wir uns jetzt irgendwo hin, gerne draußen an einen der Crewtische, und schreiben die Speisenfolge auf, okay?«
»Nichts mit draußen, das dürfen wir nicht. Aber das ist gut so. Leute, kommt mit, wir haben da hinten echt gute spanische Tortilla und sehr leckere, pikante Salsa. Na, Lust?«
Und ob ich Lust hatte.
Kurz darauf saßen auch Fernando und Roberta bei uns, während Tino und ich mit Feuereifer die Abfolge der Gerichte durchgingen, die Richard in den letzten Wochen aufgetischt hatte.
»Grillabend ischt eine gute Idee.« Mit vollem Mund zu sprechen war zwar nicht die feine englische Art, aber es schmeckte dermaßen gut, dass mir keine andere Option blieb.
Schon nach einer Viertelstunde stand fest, was in der kommenden Woche auf dem Büfett zu finden sein würde. Tino strahlte regelrecht, wurde aber kurzfristig doch sehr ernst.
»Und ihr seid sicher, dass ich nicht gefeuert werde? Ich brauche diesen Job nämlich.«
»Keine Angst, hier fliegt niemand außer denen, die das hier alles zu verantworten haben.« Carlos klang überzeugend.
Der glückliche Koch steckte seine Liste ein und lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück. »Leute, ich bin so froh, dass ihr da seid.«
Carlos schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Das glaube ich dir aufs Wort.«
Wir verließen die Küche, um festzustellen, dass das Restaurant beinahe leer war. Auch von Lise, Silvie, Andy und Oliver fehlte jede Spur.
Sergio bemerkte unseren ratlosen Blick. »Heute ist die Wahl zu Mr. und Mrs. Costa Azul. Das ist noch das Lustigste, was die Crew zustande bringt. Geht doch mal hin, ich sehe inzwischen nach, ob Robert endlich da ist. Von selbst kommt der nie hierher, den muss ich holen.«
Carlos wehrte ab. »Lass gut sein. Wir gehen nach vorne ins Büro. Ich habe keine Lust, hier vor Gästen auszurasten.«
Sergio zog eine amüsierte Grimasse. »Gutes Argument.«
Draußen sammelten wir unsere vier Mitstreiter wieder ein, die sich in der Zwischenzeit einen groben Überblick über die Anlage verschafft hatten.
»Es ist ein Trauerspiel. Wir müssen wirklich sofort was unternehmen, das sieht hier aus wie ein einer Jugendherberge, ganz ehrlich, das ist unglaublich.« Silvie sah aufgebracht aus und ich verstand sie vollauf.
Wenige Minuten später liefen wir, gemeinsam mit Sergio, der sich das Schauspiel wohl nicht entgehen lassen wollte, zurück zur Rezeption und damit zu Robert Croydens Büro. Carlos öffnete die Tür zum Allerheiligsten, ohne auf die hyperventilierende Blondine am Empfang zu achten, und uns blieb kurzfristig die Spucke weg.
Der noch amtierende Clubchef saß in einem Ledersessel, dem man schon auf die Entfernung ansah, dass er teuer war. Bei unserem Eintreten erhob er sich und umrundete den ausladenden Schreibtisch. Robert war geschätzt einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, trug ein meerblaues Sakko, einen schwarzen Rollkragenpullover, eine enge, schwarze Hose, dazu blaue Wildlederslipper. Sein, pechschwarzes Haar war, wohl mit Gel und Haarspray, in Rod-Stewart-Manier frisiert. Das schmale Gesicht strahlte eine Arroganz aus, die für eine ganze Delegation von Wirtschaftsbossen ausgereicht hätte. Die Mundwinkel nach unten gezogen, musterte er uns aus hellblauen Augen mit sichtlicher Abscheu.
»Darf ich annehmen, dass ich dem angekündigten Costa-Azul-Team aus Ibiza gegenüberstehe?«
Carlos straffte die Schultern, verschränkte die Arme und legte den Kopf leicht schief. »Ja, das dürfen Sie.«
Ich nahm an, dass es einen guten Grund gab, dass er auf Spanisch antwortete.
Croyden fuhr sich nervös durch den schwarzen Schopf. »Könnten wir bei Englisch bleiben? Dann ginge es schneller.«
Carlos runzelte die Stirn. »Seltsam, dass Sie das sagen. Eigentlich ist es bei uns Pflicht, die jeweilige Landessprache des Clubs, in dem wir arbeiten, in Wort und Schrift gut zu beherrschen. Schon nach den ersten Eindrücken, die wir uns verschaffen konnten, werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie ernst zu nehmende Probleme mit der kanarischen Lebensweise haben. Bitte, korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.«
Ich muss zugeben, ich starrte noch immer diesen Ersatz-Elvis für Arme an und war vollkommen perplex wegen seines überheblichen Auftretens. Jemand wie Robert Croyden war mir auf Clubseite noch nie über den Weg gelaufen. Sein Blick irrte zu mir und ich runzelte verärgert die Stirn. Arroganz bei hohler Fassade war etwas, das ich gar nicht ausstehen konnte.
Er fing sich rasch und antwortete, wie zu erwarten, auf Englisch. »Sie irren sich tatsächlich. Ich kann Spanisch, muss aber zugeben, dass ich meine Muttersprache bevorzuge. Da auch mein Team bis auf die Küchencrew, die Rezeptionisten und die Security aus England kommt, sehe ich hier kein Problem. Mir erschließt sich auch nicht, warum ein derartiges Aufheben um den Club gemacht wird. Gut, wir haben Anfangsschwierigkeiten, doch die gibt es überall.«
»Anfangsschwierigkeiten? So nennen Sie das, was hier vor sich geht?« Carlos schüttelte mit fassungsloser Miene den Kopf. »Leiden Sie unter einer Augenkrankheit? Wann sind Sie das letzte Mal durch den Club gegangen? Ein vermüllter Poolbereich, überquellende Papierkörbe, Auflagen, die am Abend noch auf den Liegen sind. Essen, das schlicht grauenhaft ist und Restaurants, die den Charme einer englischen Bahnhofshalle aufweisen, wobei ich hier eventuell der Bahnhofshalle Unrecht tue. Dazu schmutzige Böden und schmutziges Geschirr dort, wo Blumen oder Kerzen sein sollten. Die Erklärung dafür würde mich tatsächlich interessieren.«
»Das kann ich gerne erklären. Fragen Sie doch Ihre Freunde aus der spanischen Putzkolonne, die sich weigern, ihrer Arbeit nachzukommen.«
Nun mischte sich Sergio in das Gespräch ein. Beleidigungen und unhaltbare Schuldzuweisungen mochte er überhaupt nicht.
»Wundert es Sie denn, dass sie sich weigern? Es ist nicht die Aufgabe des Reinigungspersonals, Ihren und den Dreck Ihres Animationsteams zu beseitigen.«
Croyden musterte ihn mit Verblüffung im Blick. »Und wer, bitteschön, soll dann bei uns putzen?«
Sergio verdrehte nur die Augen. »Nun, bei Ihnen wird die ganz normale Reinigung durchgeführt wie auch in allen anderen Apartments, allerdings ohne Sonderaufgaben und Sonderwünsche. Ihr Team aber putzt gefälligst selbst. Wo kämen wir denn da hin?«
Die Augen des Clubchefs weiteten sich ungläubig. »Mein Team ist ausgezeichnet und engagiert sich überdurchschnittlich. Es ist absolut unmöglich, dass es putzen soll.«
Carlos‹ Lächeln hatte etwas Väterliches. »Glauben Sie mir, das sollen sie. Was glauben Sie, wer bei uns die privaten Unterkünfte des Teams sauber macht? Wir selbst. Wir sind ebenso Angestellte wie das Küchenteam, die Reinigungstruppe und die Gärtner. Ich glaube, ich spinne. Hier gibt’s keine Starallüren.«
»Ja, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Aber in unserem Team sind alle gleich, wir haben keine Stars. Allerdings hege ich den Verdacht, dass es sowieso keinen Unterschied mehr macht, egal was ich sage.« Croyden ging zurück zu seinem Sessel und ließ sich darin nieder. »Ich werde übermorgen von hier verschwinden, ich habe es nicht nötig, mich wie einen Anfänger behandeln zu lassen. Meine Leute werden heute noch einmal ihr Bestes geben und morgen gerne dazu bereit sein, Sie und Ihre Crew einzuarbeiten. Wir sind auf den morgigen Abend schon sehr gespannt. Denn mein Team hat heute seinen letzten Auftritt.« Lächelnd lehnte er sich zurück.
»Ihr Abschied von hier ist eine sehr gute Entscheidung. Ich habe weder Lust noch Muße, mit Ihnen zu diskutieren. Auf eine Einweisung durch Ihr Team können wir dankend verzichten.« Carlos wandte sich an Sergio. »Hombre, bist du so gut und rufst die entlassenen Reinigungskräfte an, um ihnen zu sagen, dass sich hier einiges ändert? Ich bitte sie alle morgen um zehn Uhr zu einer Teambesprechung in den abgetrennten Crewbereich im Restaurant. Würdest du das bitte für mich übernehmen?«
Sergio nickte. »Aber sicher doch. Geht klar.«
»Gut, das Küchenteam weiß schon Bescheid, damit wäre alles in die Wege geleitet.«
Er drehte sich leise seufzend zu Croyden um. »Nun wäre es wirklich freundlich, wenn uns jemand zu unseren Unterkünften führen könnte. Ich denke, wir sind alle müde und würden gerne zur Ruhe kommen. José, unser zweiter Rettungsschwimmer, kommt erst übermorgen. Also bitte nur für uns, wobei Silvie und Andy zusammenwohnen wollen, ebenso wie Lise und Oliver. Für Roberta, Cara, Fernando und mich bitte Einzelstudios, vielen Dank.«
Croyden nickte hoheitsvoll, wedelte in Richtung seiner nun im Türrahmen wartenden Angestellten und bellte die ärgerliche Anweisung, eine Mitarbeiterin der Rezeption anzuweisen, uns unsere Zimmer zu zeigen. An uns gewandt fügte er hinzu: »Sie können von Glück sagen, dass wir nicht ausgebucht sind, sonst hätten wir ein Problem.«
Carlos zog nur eine Augenbraue hoch. »Glauben Sie mir, auch das wird sich demnächst ändern.«
Aus dem Büro, das neben dem des Clubchefs lag, kam eine kleine, schüchterne Spanierin. »Ich habe alle Schlüssel hier, wir könnten los.«
»Na, worauf wartest du denn dann?« Mit deutlich angesäuerter Miene lehnte Croyden sich in seinem Ledersessel, den er nicht mehr allzu lange würde genießen können, zurück.
Die junge Frau stellte sich uns als Martha vor und lief dann schweigend voraus zu dem Gebäude, in dem unsere Studios im zweiten Stockwerk des linken Flügels lagen. Alle hatten hübsche Balkone, auf denen man es sicherlich, sobald man sie ein wenig aufhübschte, gut würde aushalten können. Wie zu erwarten war, sorgte Carlos dafür, dass unsere Wohnungen nebeneinander lagen. Auf meiner anderen Seite quartierte sich kurzerhand Fernando ein, dann folgte Roberta. Die etwas größeren Apartments für Silvie, Andy, Lise und Oliver lagen unter den unseren im Erdgeschoß. »Ey, Leute, macht bloß nicht zu viel Krach da oben.«
Ich kratzte nachdenklich mein Kinn. »Komisch, gerade in letzter Zeit habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, einen Stepptanzkurs zu machen.«
»Wage es!« Wenn Silvie müde war, wurde sie seltsam. Immerhin konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen.
Martha musterte uns mit großen Augen.
»Verzeihung, kann ich noch etwas für Sie tun?«
Carlos nickte lächelnd. »Ja, als erstes kannst du damit aufhören, uns zu siezen. Dann könntest du bitte dem Rest des Teams aus der Verwaltung mitteilen, dass ich morgen gerne mit allen reden würde. Abgesehen davon möchte ich euch morgen Abend alle zu unserer Show einladen. Da wir vorab einige Ankündigungen machen, wird’s wohl neun Uhr, bis wir anfangen.«
Die junge Frau errötete unter Carlos‹ lächelndem Blick bis in die Haarspitzen des gepflegten, schwarzen Pagenkopfes. »Ja, das mache ich sehr gerne.«
»Fein.« Carlos nickte zufrieden. »Dann würde ich nur gerne noch wissen, woher wir etwas zu trinken bekommen können. Etwas trocken hier.« Sein Blick fiel auf den noch ausgeschalteten, leeren, offenstehenden Kühlschrank.
Martha grinste uns alle breit an. »An der Poolbar gibt’s Getränke, aber wenn ihr wollt, haben wir vorne in der Rezeption auch Mineralwasser und Softdrinks.«
Fernando seufzte. »Danke, Poolbar klingt schon mal prima.«
»In Ordnung, dann gehe ich jetzt zurück ins Büro. Wenn etwas ist, ruft mich bitte einfach an. Die Nummer steht auf dem Telefon da hinten.«
Sichtlich erleichtert, dass wir offenbar einfacher zu handhaben waren als unsere anderen Kollegen, eilte Martha davon.
»Okay, Leute, für heute lassen wir es gut sein. Wir richten uns bestmöglich für die erste Nacht ein. Es wäre schön, wenn wir uns morgen alle um neun Uhr beim Frühstück treffen könnten, um schon mal Pläne zu schmieden.«
»Geht klar.« Alle waren sehr flott und wie von Zauberhand verschwunden.
Schmunzelnd blickte ich zu Carlos auf. »Na, dann wollen wir mal zusehen, dass es hier etwas wohnlicher wird, nicht wahr?«
Er strubbelte mir durch die Haare, ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und verzog mich in mein neues Zuhause.
Neugierig sah ich mich genauer um. Die Küchenzeile wurde von einer Theke, an der drei hohe Stühle platziert waren, vom Wohnraum getrennt. Das angenehm breite Bett stand links an der Wand neben dem Bad und wurde von einer halbhohen, weißen Mauer abgeschirmt. Im Wohnbereich gab es eine hübsche, hellgrüne Sitzgruppe mit Sofa, zwei Sesseln und einem schmalen, weißen Couchtisch. Gegenüber dem Eingang zum Bad fand sich ein weißer Einbauschrank und neben dem Bett eine Kommode, die gleichzeitig als Nachtschränkchen diente. In der Küche erwarteten mich zu meiner großen Freude ein offenbar neuer Gasherd und eine Auswahl an Geschirr und Gläsern in grünweißen Schränken. Das Bad war sauber und geräumig. Allerdings würde ich wegen mangelnder Ablageflächen ein Regal besorgen müssen. Im Großen und Ganzen fühlte ich mich spontan wohl. Also packte ich meine Utensilien aus. Meine bunte Decke landete auf dem Bett, mein riesiger, pinkfarbener Wecker auf dem Nachttisch und mein herzförmiger, rosa Blechaschenbecher auf dem Balkontischchen. In Rekordzeit verstaute ich meine Klamotten im Schrank und verteilte meinen Kosmetikkram im Bad. Meine Zigarettenschachtel flog gezielt in einen der Stühle auf dem Balkon und meine Bilder standen wenig später auf der Küchentheke und dem Couchtisch.
Ein wenig atemlos sah ich mich um. Ganz nett, noch ein wenig kahl, aber das würde schon werden. Allerdings verspürte ich jetzt zwei Bedürfnisse: duschen und ganz dringend etwas trinken. Ich weihte zügig meine Dusche ein, die mittels einer Glaswand auf der Badewanne geschützt war. Interessantes Konstrukt.
Als ich aus der Dusche kletterte, fühlte ich mich wieder halbwegs menschlich. Ich hörte nebenan Carlos rumoren, doch der sollte sich erst einmal einrichten. Also zog ich eins meiner Hippiekleider an, fuhr mir schnell mit der Bürste durch die Haare, schlüpfte in meine Cowboystiefel, schnappte mir den Schlüssel und verschwand nach draußen. Die Show war fast zu Ende und das war gut so, denn die wenigen Augenblicke, die ich mitbekam, zeigten mir, dass die britischen Kollegen es schätzten, die Gäste vorzuführen. Eine absolute Unmöglichkeit, die Jaime, der Chef von Costa Azul, niemals dulden würde. Seufzend trollte ich mich an die Poolbar, wo mir der genervt-gelangweilte Blick des Barkeepers begegnete.
Verdammt! Musste denn hier ein jeder miese Laune an den Tag legen? Na warte. Ich trat an den Tresen, legte meine Hände darauf und strahlte den Mann an.
»Einen wunderschönen guten Abend. Ich bin Caroline und gehöre zum neuen Team. Zum einen wollte ich mich vorstellen und zum anderen bin ich am Verdursten.« Ich blickte ihm auffordernd in die Augen.
Na also, ging doch. In dem soeben noch verkniffenen Gesicht vollzog sich eine positive Wandlung. Die schwarzen Augen unter dem Lockenschopf wurden kurzfristig etwas größer, dann verzog sich der Mund zu einem Lächeln.
»Zum einen freut mich das sehr und zum anderen wollen wir doch schnell für Abhilfe sorgen. Ich bin Lucio, hola Caroline.« Er streckte mir eine schlanke Hand entgegen und drückte meine sympathisch kräftig.
»Schön, dich kennenzulernen, Lucio. Aber mal im Ernst, guckst du immer so finster aus der Wäsche?«
Lucio zog eine lustige Grimasse. »Eigentlich nicht. Aber sieh dich doch um. Hier herrscht eine dermaßen komische Stimmung, dass einem das Lachen vergeht.«
Ich folgte seinem Blick und musste ihm wohl oder übel zustimmen.
»Hat was. War das schon immer so?«
»Nein, erst seit ein paar Wochen, als der Chef so viele gefeuert hat, um seine eigenen Leute reinzubringen. Die scheinen zu denken, dass das hier ihr privates Hotel ist. Hast du dir die Show angesehen? Also ich war zuvor in Playa de las Américas auf Teneriffa. Jaime hätte das Team dort auf der Stelle rausgeworfen, wenn es gewagt hätte, solche Qualität abzuliefern.« Er stupste mir leicht gegen den Arm. »Aber ich mache mir eher Sorgen um dich. Wie war das mit dem Verdursten?«
Ich lächelte ihn dankbar an. »Stimmt, da war etwas. Könnte ich bitte zuerst einmal kalte Milch mit Licor 43 haben und dann eine Flasche Mineralwasser?«
»Mit dem größten Vergnügen. Ihr seid heute angekommen, oder? Euer Ruf eilt euch voraus. Die alte Belegschaft setzt große Hoffnung in euch, ich hoffe, ihr wisst das?«
»Wissen wir, und wir werden alles tun, um euch nicht zu enttäuschen. Kommst du morgen früh um zehn Uhr auch zum Meeting?«
Lucio krauste die Nase, was ausgesprochen nett aussah. »Uns hat mal wieder keiner was gesagt. Eigentlich muss ich erst um zwölf da sein, aber das lasse ich mir nicht entgehen. Wo denn?« Er kippte einen guten Schuss Likör in die Milch und hielt mir das Glas grinsend entgegen. »Lass es dir schmecken.«
Zweifelnd blickte ich auf die Mischung. »Danke, aber ich glaube, das trinke ich im Apartment, denn bei dem Mischungsverhältnis weiß ich nicht, ob ich anschließend noch dorthin finde. Und wegen morgen: Das Treffen ist im Restaurant, im Teambereich.«
Er sah mich mit großen Augen an. »Im Ernst? Wir dürfen in das Allerheiligste? Ich sehe schon, es brechen neue Zeiten an.«
Schmunzelnd griff ich nach der Flasche Mineralwasser, die er mir entgegenhielt. »Darauf kannst du dich verlassen.«
»Sollte mich und die anderen freuen. Gute Nacht, Caroline.«
»Cara, mich nennen alle nur Cara, also du auch … und keine doofen Randbemerkungen.«
Lucio lachte schallend. »Ich werde mich zurückhalten. Schlaf gut, Cara.«
»Danke.« Ich wandte mich um und sah, wie Fernando, die Hände in den Taschen seiner ausgewaschenen Jeans versenkt, auf die Bar zusteuerte. »Hey, Lucio, dir wird nicht langweilig werden. Da kommt Fernando. Ich ahne schon jetzt, dass ihr viel Spaß zusammen haben werdet. Er hat es faustdick hinter den Ohren.«
Nando war bei uns angelangt und schüttelte anklagend den Kopf. »Cara, meine Ernsthaftigkeit und meine Seriosität suchen ihresgleichen, also keine falschen Anschuldigungen, bitte.«
Ich drehte mich grinsend zu Lucio um. »Nutz es aus, so lange er Seriosität noch problemlos aussprechen kann.«
Fernando schaffte es, mich zu umarmen, ohne dass ich meinen Drink verschüttete, dann trollte ich mich und überließ die beiden ihrem Schicksal. Im Davongehen hörte ich Lucios fröhliche Stimme. »Also echt, Leute, ich glaub, ich mag euch.«
Wieder in meinem neuen Refugium angelangt, machte ich den Kühlschrank an, legte das Mineralwasser hinein und sah mich um. Ein Anfang war gemacht. Eilig schlüpfte ich in mein Schlafshirt. Ich angelte in meiner Umhängetasche nach meinem Feuerzeug, nahm meinen Cocktail und ging auf den Balkon. Die beiden Stühle waren dankenswerterweise mit Polstern bestückt und daher ziemlich bequem.
Ich kickte meine Stiefel von den Beinen und legte die Füße auf der Balkonbrüstung ab. Vorsichtig trank ich einen Schluck meines kühlen Getränks. Es war mehr oder weniger eine Eins-zu-eins-Mischung, schmeckte aber nichtsdestotrotz sehr lecker. Seufzend zündete ich mir eine meiner Marlboro Lights an und entspannte mich zum ersten Mal an diesem langen Tag. Eine halbe Stunde später waren mein Glas leer und zwei Zigaretten geraucht. Das Rauschen des Meeres, auf dessen vom Mond beschienene Wogen mein Balkon mir freien Blick gewährte, hatte eine einschläfernde Wirkung. Ich verzog mich nach drinnen, putzte mir müde die Zähne und wollte soeben die Balkontür schließen, als von nebenan ein dunkler Schatten heranhuschte und direkt vor mir stehen blieb.
»Carlos! Bist du lebensmüde? Wir haben vorne eine Tür, das weißt du, oder?«
Er grinste nur. »Lebensmüde? Im ersten Stock? Cara, traust du mir gar nichts mehr zu?«
Mein Seelenfreund trug nur eine schwarze Schlafanzughose aus Wildseide und sein strahlendes Lächeln. Sein langes Haar war noch leicht feucht von der Dusche und er duftete wundervoll nach seiner Moschuslotion. Liebevoll schob er mich zurück ins Zimmer und schloss die Balkontür.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich in der ersten Nacht in der Fremde allein schlafe?«
Prustend lachte ich los. »Fremde?«
»Na ja, immer eine Sache des Standpunktes, mi vida. Und jetzt ab ins Bett mit uns, morgen wird ein anstrengender und langer Tag.«
Ehe ich reagieren konnte, nahm er mich auf die Arme, trug mich zu meinem Bett und setzte mich sanft darauf ab. Ich krabbelte unter die Decke. Er folgte mir auf dem Fuße, knipste die Lampe auf der Kommode aus, drehte sich zu mir um und nahm mich in die Arme.
»Willkommen auf Lanzarote, mi corazón.«