Читать книгу Wenn die Träume laufen lernen 2: LANZAROTE - Gabriele Ketterl - Страница 9
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»Kristen, Clive! Mann, ist das schön, euch zu sehen!«
Ich lief mit ausgebreiteten Armen auf die beiden zu, als sie gerade aus dem Jeep kletterten. Tim und Neill saßen im Führerhaus des Lastwagens, der das komplette Equipment transportierte. Auf Kristens Gesicht erschien ein erfreutes Lächeln.
»Cara, komm her und lass dich umarmen. Glaub mir, wir sind auch froh, endlich hier zu sein.«
Blass und müde sah sie aus, doch nach dem Stress der vergangenen Wochen war das kein Wunder. Sie hatten die komplette Strandhütte auf Ibiza ausräumen – ihre Wohnung ebenso – und alles in einen Container verstauen müssen, der nun darauf wartete, wieder ausgeladen zu werden.
Ich begrüßte auch Clive und die zwei Jungs, ehe ich Kristen unterhakte.
»Braucht ihr uns in der nächsten halben Stunde? Ich würde gerne dafür sorgen, dass die junge Frau hier einen anständigen Kaffee und etwas zu essen bekommt.«
Carlos und Clive wehrten sofort ab. »Nimm sie mit, du weißt ja, wo ihr Bungalow ist, dann kannst du Kristen alles zeigen, wir werden so lange auspacken. Wir fahren direkt zu eurem neuen Zuhause und sorgen für Ordnung.« Carlos‹ letzter Satz richtete sich an Clive, und so zog ich Kristen kurzerhand mit mir.
Im Restaurant stellte ich ihr Tino und seine Crew vor. Es war immer gut, wenn man als erstes den kennenlernte, der für das leibliche Wohl zuständig war.
Tino musterte Kristen aufmerksam. »Geht es dir nicht gut? Du siehst sehr erschöpft aus.«
Ich wunderte mich aufs Neue, dass immer die Kerle Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis an den Tag legten, denen man es am wenigsten zutraute.
»Mir geht es wirklich nicht besonders«, antwortete Kristen zu meiner Überraschung ehrlich. »Ich bin tatsächlich sehr erschöpft und müsste eigentlich endlich etwas essen, habe aber nur wenig Appetit.«
Tino kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Weißt du was, ich bringe dir erst einmal frischen Saft aus Mango und Papaya. Das regt den Magen an. In der Zwischenzeit mache ich eine leichte Gemüsesuppe mit ein wenig Gofio für dich. Das belastet nicht und kräftigt. Was meinst du?«
»Das klingt richtig gut. Vielen Dank, aber mach dir bitte wegen mir keine solche Mühe.«
»Das ist doch keine Mühe. Mache ich gerne. Cara, für dich Café con leche und ein bisschen Manchego-Käse und Serrano-Schinken?«
Ich grinste ihn breit an. »Du bist eindeutig Richards Schüler, das Gedankenlesen hat er dir auch beigebracht.«
»War in seinem Lehrauftrag inbegriffen.« Schmunzelnd eilte Tino in Richtung seines Herdes.
Wir zogen uns an einen Tisch weitab vom Trubel am Pool zurück.
»Erzähl, war es noch sehr anstrengend?«
»Hm, wie man es nimmt.« Kristen rutschte tiefer in ihren Stuhl und streckte seufzend die Beine von sich. »Es ist nie schön, zumindest für mich, einen Ort, an dem ich mich einigermaßen eingewöhnt habe, wieder verlassen zu müssen.«
Ich nickte. »Glaub ich dir sofort. Aber ich kann da nicht mitreden. Ich fühle mich überall wohl, wo meine neue Familie ist.«
Sie legte eine Hand auf meinen Arm. »Das ist auch das einzige Argument, das mich dazu bewegt, immer weiterzumachen. Clive freut sich darauf, die Surfschule zu übernehmen, er ist richtig aufgekratzt. Außerdem wusste ich, dass auch ihr alle hier seid. Also passt das schon irgendwie. Ich bin einfach nur müde. Wir haben geschuftet bis zum Umfallen, um alles pünktlich fertig zu bekommen.«
In diesem Augenblick kam einer der Kellner mit einem Tablett und zwei großen Gläsern an unseren Tisch. »Einmal frischer Obstsaft und ein Café con leche.« Er grinste mich herausfordernd an. »Soll ich raten, wer das Koffein braucht?«
»Wenn ich es intus habe, bekommst du die Antwort.« Ich nahm ihm das Glas ab und er reichte Kristen ihre Vitaminbombe. »Einmal kanarische Vitamine im Sammelpack.«
Sein Lächeln war so freundlich und herzlich, dass Kristen es erwiderte. »Vielen Dank, das kann ich brauchen.«
Während sie an ihrem Saft nippte, erzählte ich ihr, was sich bei und nach unserer Ankunft ereignet hatte. Ihr fassungsloser Gesichtsausdruck sprach Bände. »Unglaublich, was der Kerl sich herausgenommen hat. Ihr habt echt gute Arbeit geleistet, und wenn ich mir alles ansehe, dann macht es einen hervorragenden Eindruck.«
»Danke, wir sind auch ziemlich stolz darauf. Oh, da kommen deine Suppe und meine Tapas.«
Zwei Stunden später brachte ich Kristen zu ihrem neuen Zuhause. Der Bungalow lag direkt neben der Anlage, umgeben von einer halbhohen, weißen Mauer, und besaß einen schönen und zweckmäßig angelegten Garten. Statt Blumenbeeten sah man Kakteen, Palmen und die unverwüstlichen Bougainvilleen, die in leuchtendem Rot und Orange an der kompletten rechten Seite des Flachbaus in die Höhe wuchsen. Es gab eine große Terrasse, die von einer blaugrünen Markise beschattet wurde, und im Haus warteten fünf Zimmer darauf, bezogen zu werden. Die zwei Räume für Neill und Tim lagen im hinteren Teil und hatten ein eigenes Bad, was sowohl ihnen als auch Clive und Kristen eine angemessene Privatsphäre garantierte. Direkt an den Bungalow in Richtung Strand grenzte das fast neue Häuschen, in dem die Surfschule untergebracht war. Da die Jungs eh den ganzen Tag am Strand verbringen würden, war der Bungalow damit ein angemessenes Zuhause. Jaime hatte auch hier Wort gehalten.
Offensichtlich gefiel es auch Kristen, denn nachdem sie alles gründlich in Augenschein genommen hatte, zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Gut gegessen, vollgepumpt mit leckeren Vitaminen, von attraktiven Kerlen umarmt und geküsst, nun auch noch ein wirklich schönes Haus. Also ich bin zufrieden.«
Clive schloss seine Frau wortlos in die Arme. Ich konnte mir nur annähernd vorstellen, wie erleichtert er war.
An diesem Abend stellte Carlos Clive und die Jungs den Gästen vor. Clive erklärte in knappen Worten ihr Programm und entschuldigte sich dann bei den Gästen. »Für heute würde ich mich nun gerne zurückziehen, denn wenn ich nicht bald Schlaf bekomme, fallen mir morgen auf dem Brett die Augen zu. Das könnte problematisch werden.«
Wir lieferten eine hervorragende Karaoke-Show ab und kümmerten uns wie jeden Abend noch um die Gäste. Es war daher wieder einmal kurz vor Mitternacht, als ich mit Roberta und Rachel rechtschaffen müde nach Hause lief.
»Hast du Carlos gesehen?« Roberta klang zu unbeteiligt, als dass es eine bloße Frage sein konnte.
»Nein, und ganz ehrlich, ich kann auch nicht immer wissen, wo er ist. Also raus damit, warum fragst du?«
Meine Freundin seufzte herzerweichend. »Ich mache mir einfach Gedanken wegen ihm. Findest du nicht auch, dass er viel zu ernst ist im Augenblick?«
»Bingo! Aber das hat alles seine Gründe, Penny ist einer davon. Dazu kommt, dass er sich um seine Zukunft sorgt. Ich schätze, er wird seine Aufgabe hier verdammt ernst nehmen.«
Roberta blieb so abrupt stehen, dass Rachel um ein Haar in sie hineingelaufen wäre.
»Bitte korrigier mich, aber seit wir hier sind, werde ich das dumme Gefühl nicht los, dass der alte Carlos auf Ibiza zurückgeblieben ist.«
Erst als sie es sagte, wurde mir bewusst, dass sie wahrscheinlich Recht behalten würde.
»Jetzt, wo du es schonungslos offen wie eh und je, aussprichst … ja, du liegst wahrscheinlich richtig. So habe ich das noch gar nicht gesehen.«
»Dazu bist du ihm zu nah. Tritt mal – geistig – einen Schritt von ihm zurück und sieh ihn dir an. Die Leichtigkeit, mit der er bisher durch sein Leben gegangen ist, die ist weg. Zumindest nehme ich sie nicht mehr wahr.«
Rachel zwirbelte nachdenklich ihre langen, schwarzen Haare. »Aber er ist doch total freundlich und nett zu allen.«
Roberta zog die Schultern hoch. »Tja, du hast ihn ja auch früher nicht gekannt. Sicher ist er lieb und nett, doch ein Teil von ihm ist schlicht nicht mehr da und das ist traurig.«
»Wenn ich etwas tun kann, dann lasst es mich bitte wissen, ja?« Der Gesichtsausdruck unserer neuen Kollegin war hilflos.
Ich tätschelte ihr tröstend den Rücken. »Keine Bange, alles wird wieder gut. Das war schon immer so und wird auch dieses Mal wieder so sein. Lasst uns schlafen gehen. Morgen steht gleich in der Früh Aerobic für dich an, Rachel, und Badminton am Nachmittag für uns, holde Lady.«
»Selber Holde. Gut, gehen wir. Schlaft schön und süße Träume ihr Lieben.« Roberta entschwand mit majestätischem Winken.
Wir trollten uns in unsere Unterkünfte. Während ich duschte und zeitgleich mein Studio lüftete, huschten seltsame Gedanken durch meinen Kopf. Tatsächlich war ich mir keinesfalls sicher, dass alles wieder gut werden würde. Nächstes Jahr wurden es vier Jahre, die ich auf den Inseln war. Gut, ich liebte mein Leben, ich fühlte mich sehr wohl und die tiefe und ganz besondere Beziehung zu Carlos war mir stets ein fester und sicherer Anker. Wie aber würde meine Zukunft aussehen? Ob ich es wollte oder nicht, im nächsten Jahr feierte ich meinen siebenundzwanzigsten Geburtstag. Ich verstand Carlos, der kurz vor der Dreißig stand, durchaus. Er war zu intelligent, um einfach so weiterzumachen wie bisher. Bald würde der Tag kommen, an dem wir auf der Bühne nicht mehr die vor Energie, Elan und Witz sprühende Truppe sein würden. Die Jungen waren irgendwann an der Reihe; Zwanzigjährige, hungrig nach Leben, so wie wir alle es gewesen waren, als unsere Laufbahn bei Costa Azul begonnen hatte. Angst musste ich zwar keine haben, denn Jaime hielt nicht damit hinter dem Berg, dass er mich, auch aufgrund meiner Ausbildung, bei Costa Azul behalten wollte. Doch dass mein Leben sich in Zukunft ändern würde, musste ich wohl oder übel akzeptieren.
Ich bemerkte, dass ich schon viel zu lange unter der Dusche stand, stellte das Wasser aus, trocknete mich ab und schlüpfte in meine Schlafklamotten. Als ich die Badezimmertüre öffnete, war mir klar, dass das Lüften vergebene Liebesmühe gewesen war. Der Geruch von Carlos‹ Coronas schwebte in meiner Wohnung, er selbst saß auf dem Balkon und streckte mir lächelnd eine Hand entgegen.
»Guten Abend, meine Kleine. Ich habe gehört, dass du noch duschst. Da dachte ich mir, fünf Minuten in Ruhe und eine letzte Zigarette an diesem Tag müssten noch drin sein.«
»Na gut.« Ich musterte ihn mit schief gelegtem Kopf. »Carlos, du siehst verdammt müde aus.«
»Das bin ich, und nun komm schon her.« Er zog mich auf seinen Schoß und reichte mir ein Glas Kakao. »Nachher Zähneputzen nicht vergessen.«
Ich strich ihm eine seiner langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Spießer!«
»Sei nicht so frech. Aber ja, irgendwie hast du Recht. Langsam werde ich spießig. Nur weiß ich nicht, was ich dagegen tun sollte.«
Ich trank einen kleinen Schluck und sah ihm in die Augen. »Es ist normal. Würden wir nicht nachdenklich werden, würden wir uns auch keine Gedanken um unsere Zukunft machen. Dann wären wir keinen Deut besser als die ganzen abgestürzten Existenzen am Rande des Hippiemarktes, oder die Typen, die auf dem Sonntagsmarkt in Santa Cruz verzweifelt auf alten Gitarren klimpern und irgendwelche noch älteren Songs zum Besten geben, in der Hoffnung, ein paar Peseten im Hut zu haben. So wollen wir alle nicht enden. Ist schon lustig, dass ich gerade vorhin unter der Dusche darüber nachgedacht habe.«
Carlos streichelte mir sanft über die Wange. »Das ist mein kluges Mädchen, ich habe nichts anderes von dir erwartet.« Gedankenverloren drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Nur, leichter macht es das auch nicht. Solch wunderbare Jahre, wie wir sie hatten, möchte man auf immer festhalten.«
»Wohl wahr, nur geht das eben leider nicht, wie wir ja schon festgestellt haben.«
Er zog mich noch enger an sich und ich fühlte, wie sein Herz schlug. »Nein, das können wir nicht, und das macht mich derzeit einfach nur traurig.«
»Ach nun komm, traurig zu sein bringt uns auch nicht weiter.«
»Sicher nicht, aber ich kann nicht anders.«
Vorsichtig stellte ich mein leeres Glas auf dem Tisch ab. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und steckte meine Nase in seine Haare. »Was kann ich tun, damit du wieder lächeln kannst?«
»Du hast mir die letzten Jahre immer ein Lächeln geschenkt, du warst die Sonne in meinem Leben. Sieh lieber zu, dass du dieses Lächeln nicht auch noch verlierst. Dich unglücklich zu sehen wäre ein bisschen zu viel für mich.«
»Carlos, du spinnst. Du weißt, so lange du in meiner Nähe bist, kann ich gar nicht traurig sein.«
»Stimmt nicht. Jetzt gerade bist du es, und versuch gar nicht erst, das Gegenteil zu behaupten. Du weißt, dass ich dich zu gut kenne.«
»Erwischt.« Ich hob meinen Kopf und streichelte sanft sein Gesicht. »Gut möglich, dass die Zukunft mir ein wenig Angst macht. Aber das bekommen wir alles in den Griff.«
»Das will ich hoffen. Und nun wird geschlafen, es ist weit nach Mitternacht.« Er küsste mich auf beide Wangen und ganz kurz und zart auf die Lippen, dann stand er mit mir zusammen auf und stellte mich vor sich ab. »Gute Nacht, Cara. Träum etwas Schönes.«
Ich war verwirrt. »Bleibst du nicht hier?«
»Nein, corazón, ich muss ganz früh raus. Morgen steht um acht Uhr ein Telefonat mit Jaime an und ich muss den Plan für die kommende Woche ausarbeiten. Wir sind auf einem verdammt guten Weg mit dem Club, und das muss so bleiben. Wir sehen uns morgen.«
Ehe ich antworten konnte, war er schon elegant und geräuschlos wie eh und je über die Brüstung auf seinen Balkon gesprungen.
Ich lag wohl richtig. Es waren neue Zeiten angebrochen.
Noch nachdenklicher als zuvor schlich ich ins Bad, putzte mir die Zähne und kroch in mein Bett.