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1. Status quo und stille Träume

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Vaterstetten bei München, Juli 2016

So wütend wie am vergangenen Abend war Holger schon lange nicht mehr gewesen. Zuerst saß er nur schweigend und vor sich hinbrütend mit einer Zeitung in seinem Sessel.

Sein Sessel!

Alex hasste das Möbelstück mittlerweile abgrundtief. Dass sie dem Sitzmöbel damit schreckliches Unrecht tat, war ihr bewusst – irgendwie. Aber zu sehen, wie Holger jeden Abend darin saß und sie beobachtete, ließ ihre Magensäure rebellieren. Nach einer Weile, während sie bereits wie ein Derwisch durch die Küche wirbelte, um die Verspätung aufzuholen und ihm sein Abendessen einigermaßen rechtzeitig zu servieren, war er sehr bedächtig aufgestanden. Mit langsamen Schritten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, kam er zu ihr in die offene Küche und lehnte sich gegen den großen, gemauerten Torbogen.

„Du weißt, wie viel ich tagtäglich leiste?“ Sein Blick war eisig.

„Ich weiß es, es tut mir wirklich leid. Die letzten Kundinnen in der Boutique konnten sich wieder mal nicht entscheiden. Es ist kaum möglich, sie mitten im Gespräch aus dem Laden zu werfen.“ Vorsichtig ließ Alex die frisch panierten Seelachsfilets in die Pfanne gleiten.

„Herzlichen Dank. Also kommt mein Anrecht auf einen ruhigen Abend und ein pünktliches Abendessen an zweiter Stelle? Schön, dass du mich das wissen lässt, Alexandra.“ Holgers Blick hatte etwas Lauerndes.

„Ich bitte dich, ich mache das doch nicht absichtlich. Es passiert so gut wie nie, dass ich zu spät nach Hause komme.“

Ihr Mann lächelte. Sie kannte dieses Lächeln. Es war kalt, so kalt, wie der ganze Mann zu sein schien. „Alexandra, ich hatte dich gewarnt. Wenn du deine häuslichen Pflichten vernachlässigst, wird das Konsequenzen haben. Meine Zustimmung zu diesem seltsamen Arrangement mit Leonie habe ich damals nur unter Vorbehalt gegeben.“

Zustimmung, Vorbehalt. Ihre Hände hatten in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit gezittert, einer Mischung, die sie so sehr verabscheute. Was war aus ihr geworden? Aus der ach so starken und kreativen Alex? Aus der Alex, die so gerne lachte?

„Kleiderbügel? Schatz, ich habe lange Arme, aber so lang sind sie nicht.“

Alex erschrak, ihr Blick wanderte nach oben. Leonie balancierte todesmutig auf der vorletzten Sprosse der Leiter und warf ihr einen auffordernden Blick zu.

„Oh Mann, Leonie, entschuldige, ich war geistig gerade ganz woanders.“ Schuldbewusst hielt Alex mit der Rechten die Leiter fest und angelte mit der Linken einen Holzkleiderbügel aus dem Korb am Boden. Mit einem entschuldigenden Schulterzucken reichte sie ihn der Freundin. Leonie hängte die glitzernde Abendbluse auf den Bügel und platzierte sie inmitten des dekorativen Ensembles – einem an der Wand befestigten, handgefertigten Dekobaum, der direkt aus der Mauer zu wachsen schien.

„Wie sieht das aus? Kann ich es so lassen? Der Baum hat ein Vermögen gekostet, also sollte es auch ein echter Hingucker sein.“ Leonie lehnte sich zurück. Eine ausgesprochen dumme Idee, da sie um ein Haar das Gleichgewicht verlor, was Alex einen spitzen Schrei entlockte.

„Alex, ganz ruhig. Mir passiert nichts. Wenn ich falle, dann auf einen ausgesprochen gut gepolsterten Hintern mit wohlverpacktem Steißbein. Was ist denn heute wieder los mit dir?“ Mit besorgter Miene kletterte Leonie von der Leiter, trat zwei Schritte zurück und betrachtete mit schräg gelegtem Kopf das Gesamtkunstwerk, an dem sie in der vergangenen Stunde gearbeitet hatte. „Japp, das sieht sehr gut aus. Die zwei Riesen für den handgeschnitzten Baum haben sich ausgezahlt. So etwas hat nicht jeder.“ Sichtlich zufrieden drehte sie sich zu Alex um. „Und jetzt zu dir, junge Frau. Erzähl mir bitte mal, was dir heute über die Leber gelaufen ist. Die Laus muss ja gigantische Ausmaße gehabt haben.“

Alex konnte sich das Kichern angesichts Leonies Gesichtsausdrucks nicht verkneifen. „Ach, Leonie, du kennst die Laus doch.“

„Oh ja, die kenne ich allerdings.“ Leonie pustete sich energisch eine Strähne ihres dunkelbraunen langen Haares zurück, die sich aus dem Dutt gemogelt hatte, den sie im Geschäft gerne trug. Mit energischen Bewegungen zupfte sie ihre weiße Bluse zurecht und zog den Gürtel in Form, der ihrem Ensemble aus eleganter Bluse und gekonnt zerrissener Jeans das gewisse Etwas verlieh. „Und ich frage mich, wie lange du diese Psychospielchen noch mitmachen willst.“

„Psychospielchen?“ Alex verstand nicht so recht, worauf die Freundin hinauswollte. „Er ist überarbeitet und daher andauernd gereizt.“

„Blödsinn!“ Leonie drehte sich schwungvoll um und stöckelte, nun wieder in ihren halsbrecherischen High Heels, in Richtung der kleinen Teeküche, die gut verborgen hinter einer römisch anmutenden Säule lag. Überhaupt war die Boutique ein Gesamtkunstwerk aus Säulen, einer uralten Anrichte, die Leonie vom Flohmarkt nach Hause gekarrt und in elegantem Silberton zu neuem Leben erweckt hatte, und sehr edlen Holzregalen. Die Blumenarrangements darauf waren ihr eigenes Werk. Im Vorbeigehen warf Alex einen stolzen Blick darauf. Zugegeben, so etwas hätte sie verflixt gerne öfter gemacht.

„Tee oder Schnaps?“ Leonie war ab und an einfach nur himmlisch.

„Tee, vielen Dank, obwohl ich das andere dringender brauchen könnte.“

Während Leonie vorsichtig den Tee in zwei Tassen goss, warf sie Alex einen ungehaltenen Blick zu. „Du weißt, was ich mit Blödsinn meine, ja? Überarbeitet, dass ich nicht lache. Zusammen mit ein paar überkandidelten und überbezahlten Kerlen mit dem hart verdienten Geld anderer Menschen zu spielen ist für mich nach wie vor kein Beruf. Sie produzieren nichts, bringen nichts Konstruktives zustande. Aktienhandel ist der Tod unserer Wirtschaft. Shareholder-Value – dafür werden zahllose Arbeitsplätze geopfert und den Firmen eine solide Basis entzogen, das ist lächerlich! Broker sind die Möchtegern-Supermodels unserer Gesellschaft. Überbewertet und letztendlich vollkommen sinnfrei. Ähnlich wie Unternehmensberater, die ganze Firmen in den Bankrott treiben. So was braucht kein Mensch.“

„Autsch! Das war böse.“ Alex nippte vorsichtig an dem Darjeeling.

„Mag sein, aber ehrlich und wahr.“ Leonie stellte ihre Tasse behutsam auf dem Tresen in der Teeküche ab und warf einen Blick in den Verkaufsraum, aber um die Mittagszeit war es immer ruhig. Morgens und ab drei Uhr nachmittags ging es dafür rund.

„Gestern war ich aber auch wirklich spät dran. Ich muss einfach mehr auf die Zeit achten.“ Alex starrte in ihre Tasse.

„Was siehst du denn da drin? Die mickrigen Überbleibsel deines Selbstbewusstseins? Das kann so viel nicht mehr sein, nicht wahr, meine Liebe?“ Leonie wusste genau, wo es wehtat.

„Nicht nett! Immerhin arbeite ich jetzt wieder. Das ist, zumindest sehe ich das so, ein Schritt in die richtige Richtung.“

„Aber sicher doch. Drei Mal die Woche darfst du arbeiten, wie gnädig. Wenn er sich sonst nicht aufführen würde wie das letzte Arschloch, würde ich ja gar nichts sagen, aber so tut es mir echt leid. Er hat doch nur zugestimmt, weil ich dabei war und es ihm peinlich gewesen wäre, dir vor mir eine Szene zu machen. Immer schön den Schein wahren. Vollhonk!“

„Leonie!“

„Ach, hör auf, ist doch wahr. Wo sind wir denn? Du warst, ach Quatsch was sag ich, du bist so verdammt gut in deinem Job, und dann gibst du alles auf, um ihm den Weg zu einer kometenhaften Karriere zu ebnen? Du könntest inzwischen wahrscheinlich eine der gefragtesten Dekorateurinnen des Landes sein. Was du alleine damals bei dem Wettbewerb für die schönsten Hochzeitsfeiern an Blumenschmuck gezaubert hast, war atemberaubend. Du hast ein dermaßen tolles Händchen dafür. Und jetzt beschränkt es sich auf eure Dachterrasse und ein paar Blumenkübelchen in der Wohnung.“

Alex seufzte und verstaute ihre Tasse in der Spülmaschine. „Wenn er doch so empfindlich ist und eine Allergie gegen Hausstaub und Blumen hat …“

„Allergie? Der hat keine Allergie, sonst könnte er keinen einzigen Garten betreten. Der hat lediglich einen an der Klatsche und steht auf diese kühlen, sterilen Räume. Passt ja auch zu der Spaßbremse.“

Das dezente Bimmeln des Windspiels über dem Eingang unterbrach ihre Unterhaltung. Zwei Stammkundinnen traten ein und lenkten Alex’ und Leonies Aufmerksamkeit zurück auf das Geschäft.

Während Leonie die beiden Damen charmant und routiniert wie immer bediente, räumte Alex die neuen Hippieblusen in das Regal. Vintage war eindeutig dieses Jahr angesagt. Ein Modetrend, den sie liebte, dem Holger aber nichts abgewinnen konnte. Obwohl die Stücke wirklich gut an ihr aussahen. Probehalber hielt sie sich eine der Folkloreblusen vor den Körper und betrachtete sich im Spiegel: die langen dunkelblonden Haare mit den Highlights, dazu das schmale, dezent gebräunte Gesicht, die leicht schräg stehenden, blaugrünen Augen und ihr Mund, von dem eine Zeichenlehrerin einst behauptet hatte, er sähe aus wie eine Schwalbe. Eigentlich ein durchaus passabler Anblick, wäre da nicht dieser traurige Zug um den Mund, der eines Tages einfach da gewesen war. Was sie auch versuchte, ob Cremes oder Lotionen, er verschwand nicht. Mehr Lachen hätte eventuell geholfen, nur worüber? Holger ließ ihr nicht viele Möglichkeiten.

„Das schaut sehr gut aus, Frau Stahl, Sie mit Ihrer Figur können so was tragen. Ich würde darin wie eine alternde, übergewichtige Zigeunerin aussehen.“

Schmunzelnd blickte Alex zu der älteren Kundin hinüber. Man kannte sich, so war das nun einmal hier auf dem Land. Frau Hauck war die Leiterin des örtlichen Kirchenchors, dem Alex dank ihrer nicht existenten Sangeskünste entkommen war und der von den Damen des Ortes als Nachrichtendienst genutzt wurde. Alex konnte damit entspannt umgehen, da sie kaum Gesprächsstoff bot. „Danke für die Blumen, Frau Hauck. Ich würde es gerne tragen, aber mein Mann ist kein großer Vintagefreund.“

Die Chorleiterin zuckte die Schultern. „Ja und? Er soll’s auch nicht anziehen, sähe ja nun wirklich seltsam aus, nicht wahr?“

Alex stellte sich ihren stets gut gekleideten Mann mit seiner akkuraten Frisur in einer Hippiebluse vor und fand das sehr erheiternd.

Eine gute Dreiviertelstunde später verließen die Kundinnen schwer bepackt die Boutique. Frau Hauck warf Alex zum Abschied einen aufmunternden Blick zu. „Ich würde mir das Teil gönnen. Es steht Ihnen wirklich hervorragend.“

„Womit sie recht hat“, sagte Leonie. „Sie passt perfekt zu dir. Allein schon die Puffärmel und die Stickerei – wie für dich gemacht. Los, nimm sie mit. Für dreißig Europäer ist sie dein.“

Alex warf einen Blick auf das Preisschild. „Aber sonst geht’s dir gut? Du kannst mir nicht einfach fünfzig Euro schenken.“

„Herzilein, schon mal was von Einkaufspreis gehört? Und nun will ich rein gar nix mehr hören. Pack sie ein, sonst schicke ich sie dir.“ Leonie ließ in solchen Situationen nicht mit sich handeln.

„Vielen Dank, du bist ein Schatz.“ Erfreut betrachtete sie ihren Neuzugang.

„Ich weiß, dafür habe ich auch ein Attentat auf dich vor. Letzte Nacht sind bei dem Hagel meine beiden Blumentröge draußen vor den Schaufenstern in die Knie gegangen. Wärst du so lieb und würdest sie für mich neu bepflanzen? Wenn ich das mache, wird das immer so eine Art Tante Ernas Grabschmuck.“

Alex schüttelte lachend den Kopf. „Na, so schlimm ist es nicht, aber klar, natürlich mache ich das, sehr gerne sogar. Darf ich frei wählen oder hast du Wünsche?“

„Sie haben freie Hand, Gnädigste.“ Leonie versank in einen Hofknicks.

„Doofe Amsel.“ Alex verpackte kopfschüttelnd ihre neue Bluse, legte das Geld in die Kasse und warf einen nervösen Blick auf die Uhr.

„Mann, es ist gerade mal fünf. Wann kommt seine Herrlichkeit denn nach Hause?“

„Punkt sieben, und dann sollte das Abendessen auf dem Tisch stehen. Ich kann das schon nachfühlen, auch wenn du wahrscheinlich gleich wieder lospolterst. Er steht Tag für Tag im Konkurrenzkampf, und wenn er seine Quoten nicht bringt, ist er schnell weg vom Fenster. Erst wenn er den nächsten Schritt geschafft hat und Abteilungsleiter ist, kann er ein wenig durchatmen. Das war damals ja auch unser Plan. Ich halte ihm den Rücken frei und er festigt seine Position in der Bank. Okay, dass es so lange so gehen würde, war nicht geplant, zugegeben.“

Alex wurde von einer Kundin unterbrochen, die sich am Vortag ein teures Cocktailkleid hatte zurücklegen lassen. Sie war knapp zwei Stunden mit ihr beschäftigt und fast überzeugt gewesen, dass es vergeblich war. Nun stand die Kundin tatsächlich mit entschuldigendem Lächeln in der Boutique.

„Erinnern Sie sich an mich? Ich möchte das Kleid gerne doch mitnehmen, es ist einfach zu schön.“

Erfreut holte Alex das mit silbernen Ornamenten bestickte Modell aus dem Lager. „Da hätten wir das schöne Stück. Ich packe es Ihnen gut ein, damit es heil bei Ihnen zu Hause ankommt.“

Knapp tausend Euro wechselten den Besitzer und Leonie sah sehr zufrieden aus. Die Kundin erhielt noch einen passenden Seidenschal als Geschenk und verließ glücklich die Boutique.

„Damit hast du dir die Bluse erst recht verdient, schon klar?“

Alex nickte. „Ja, jetzt kann ich damit leben. Ist es okay, wenn ich heute um halb sechs gehe? Ich möchte einkaufen und alles vorbereiten.“ Sie sah, dass sich Leonies Gesicht verdüsterte, und fuhr schnell fort. „Das hat nichts mit modernem Sklaventum zu tun, Leonie. Ich möchte ihm einfach keinen Grund geben, etwas gegen meine Arbeit bei dir zu sagen, nachdem wir uns endlich darauf geeinigt haben. Ich bin so gerne hier.“

„Ganz toll, was soll ich jetzt für ein Gegenargument anbringen?“ Leonie stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie nachdenklich. „Alex, ich bin ratlos. Auf der einen Seite weiß ich, dass es bei euch wohl einmal Liebe war, auf der anderen ist das, was ich seit ein paar Jahren miterlebe, eine Zweckgemeinschaft, die vor allem ihm nützt. Ich will mich nicht noch weiter aus dem Fenster lehnen, ich häng eh schon freifliegend in der Luft, aber eines sollst du wissen: Ich bin immer für dich da, okay?“

Alex umarmte die fast zwanzig Zentimeter kleinere Freundin so fest, dass die leise japste.

„Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht erdrücken. Aber es ist schön zu wissen, dass es dich gibt.“

„Schon gut. Na los, mach dich vom Acker. Ich will nicht schuld an eurem nächsten Wortgefecht sein. So wie ich dich kenne, fährst du morgen in der Früh sofort in den Blumenmarkt. Soll ich dir Geld mitgeben?“

„Nicht nötig, ich kauf erst mal ein und dann gibst du es mir, wenn ich fertig bin und es dir gefällt.“ Alex nahm ihre Umhängetasche sowie die Tüte mit der Hippiebluse und verschwand mit einem letzten Lächeln.

Zwei Straßen weiter betrat sie den teuren Feinkostladen, in dem es Holgers Lieblingsspeisen gab, und kaufte dünn geschnittene Lendensteaks, Pfifferlinge und alle Zutaten für einen knackigen Salat. Kaum zu Hause, lüftete sie die Wohnung, saugte gewohnheitsmäßig durch alle fünf Zimmer, öffnete die Schiebetüren zum großzügigen Balkon, fuhr die elektrische Markise aus und deckte den Tisch. An diesem Abend erwarteten Holger zarte Lendensteaks in Pfifferlingrahmsoße, selbst gemachte Linguine mit frischen Kräutern und dazu ein aromatischer Blattsalat.

Als er einige Minuten nach sieben die Wohnung betrat und sah, dass alles fertig war und Alex soeben die Flasche Rosé in den Eiskübel auf dem Balkon stellte, war er sichtlich erfreut.

„Das sieht ja traumhaft aus, meine Liebe. Ich wasche mir nur rasch die Hände und ziehe ein Poloshirt an. Ich beeile mich.“ Er küsste sie auf die Stirn und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.

„Hetz dich nicht, Schatz, ich habe die Teller vorgewärmt, damit es nicht kalt wird.“

Während er im oberen Stockwerk ihrer Penthouse-Wohnung verschwand, lief Alex in die Küche, um die restlichen Schüsseln zu holen. An Tagen wie diesem keimte in ihr die Hoffnung auf, dass ihre Ehe doch noch zu retten war. Allein dieses Lächeln, in das sie sich vor über fünfzehn Jahren verliebt hatte, war schon einiges wert. Wäre es nur nicht so rar geworden.

Holger genoss sein Abendessen sichtlich und sparte nicht mit Lob für ihre Kochkunst. Zum ersten Mal seit Tagen führten sie bei Tisch ein entspanntes und interessantes Gespräch. Sein Tag in der Bank war erfolgreich gewesen und es gab große Abschlüsse zu feiern. Außerdem war eine Aktie, auf die er – wie er selbst eingestand – sehr wagemutig gesetzt hatte, durch die Decke gegangen und die Anleger hatten enorme Gewinne einfahren können. Während Holger voller Begeisterung von Börsenkursen und Aktienpaketen erzählte, kam Alex unweigerlich Leonies Aussage vom Nachmittag in den Sinn. Sie hätte Holger gerne von ihren Verkaufserfolgen berichtet, wusste aber leider nur zu gut, dass er diese nicht ernst nehmen würde. Für ihn war das eine Spielerei und er ignorierte komplett, dass Leonie mit ihrer Boutique, die ausschließlich Kleidung aus geprüfter Quelle anbot, ein zwar kleines, aber sinnvolles Rad im Uhrwerk der Wirtschaft darstellte. Sie musste sich zusammenreißen, um Holgers nun sehr ausufernd werdenden Ausführungen wieder zu folgen.

„Nach dem Erfolg von heute stehen die Chancen optimal, dass ich auch dieses Jahr wieder im Top-Seller-Kreis bin. Morgen werden die Sieger für die diesjährige Reise bekannt gegeben.“ Er füllte sein Weinglas erneut und prostete ihr zufrieden zu. „Ich denke, du kannst dir schon einmal Gedanken darüber machen, was du dieses Jahr alles mitnimmst.“

Das waren gute Nachrichten. Erfreut strahlte sie ihn an. „Das wäre wirklich schön. Habt ihr schon gehört, wohin es gehen soll?“

Holger spießte etwas Feldsalat auf und steckte ihn sich in den Mund. „Da wir schon seit einem Jahr immer wieder möglichst unauffällig die Kanalinseln ins Gespräch bringen, hoffen wir darauf. Es ist ein kleines Paradies mit herrlichen Golfplätzen.“ Mit aufmunterndem Lächeln schob er seinen leeren Teller zurück. „Das wäre doch auch etwas für dich, oder? Dort soll es eine unglaubliche Blumenvielfalt geben, also wirst du während der ganzen Reise voll in deinem Element sein.“

„Kanalinseln klingt wirklich gut. Die Vegetation dort soll subtropisch sein oder so ähnlich.“ Leonie zog eine Grimasse. „Sagen sie zumindest im Discovery Channel.“

Alex stellte die Holzsteigen mit den Blumen vorsichtig ab, um nichts zu verschmutzen. „Na, wenn die das sagen, dann muss es ja stimmen. Auf jeden Fall müssen sie traumhaft schön sein. Ich bin ja schon froh und glücklich, dass sich auch Holger darauf freut. Er ist sich gestern eigentlich sicher gewesen, dass er wieder dabei sein wird. Seine Laune war schon seit Langem nicht mehr so gut wie gestern. Es war beinahe wie früher.“

„Beinahe?“

„Na ja, früher konnte ich auch von mir und meinen Erfolgen oder wenigstens von dem, was ich den Tag über erlebt habe, erzählen. Das verkneife ich mir mittlerweile lieber oder wähle sehr vorsichtig aus, was ich sage. Für ihn ist eigentlich nur noch die Bank wichtig.“

Leonie lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte mit gerunzelter Stirn die Arme vor dem Körper. „Du erwartest jetzt keine Antwort, oder?“

„Lieber nicht, ich glaube eh, ich weiß, was du sagen würdest.“ Alex klemmte sich die kleine Gartenschaufel unter den Arm und nahm die erste Blumensteige auf. „Ich geh mal und tue das, was ich am besten kann.“

„Verschwinde, ehe ich dir dermaßen die Leviten lese, dass dir Hören und Sehen vergeht. Ich zaubere uns in der Zeit einen schönen Milchkaffee, das kann ich nämlich ganz gut.“

Während Alex die jeweils gut zwei Meter langen hölzernen Kästen mit frischen Blumen bepflanzte, grübelte sie unaufhörlich über alles nach, was Leonie ihr in den vergangenen Wochen immer wieder vorgebetet hatte. Es stimmte ja alles, jedes einzelne Wort, aber was hätte sie denn tun sollen? Behutsam nahm sie ein blaues Stiefmütterchen und setzte es neben die Weihrauchpflanze mit ihren grün-weißen Blättern. Direkt daneben pflanzte sie zwei lila Sonnenwenden, wohlriechende Vanilleblumen sowie eine sattrosa Abelie ein und strich fast zärtlich über die gewellten Blütenblätter. Dazwischen noch ein kleiner Zierfarn und eine rotbraune Schokoladenblume, die herrlich zart duftete. Alex trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Ein wunderschöner und so gar nicht alltäglich bepflanzter Trog strahlte ihr entgegen. Doch, sie konnte es noch immer. Und es machte sie glücklich. Fast als ob Erde und Pflanzen ihr Kraft geben würden. Zufrieden kehrte sie nach einer guten halben Stunde zurück in den Laden.

„Fertig! Komm, schau es dir an. Ich bin neugierig, ob es dir gefällt.“

Leonie trabte prompt nach draußen und kam umgehend zurück. „Genial. Das ist wunderschön geworden, du hast es einfach drauf. Immerhin etwas, das noch beim Alten geblieben ist.“

Alex nahm schmunzelnd ihren Kaffeepott entgegen und nippte zufrieden am leckeren Gebräu. „Ja, es gibt da ein paar Konstanten in meinem Leben. Du und Blumen, ihr gehört einfach dazu.“

„Wie kann man nur so unglaublich dämlich sein? Ich fasse es nicht. Mehr als ein Jahr lang Andeutungen zu machen können wir ja wohl kaum. Diese beiden dummen Ziegen aus der Eventabteilung schaffen es doch gerade einmal, eine Neckermannreise eigenständig zu buchen. Zu dumm zum Zuhören.“

Holger schimpfte wie ein Rohrspatz, seit er nach Hause gekommen war. Nachdem am Nachmittag die Top-Seller 2016 vorgestellt worden waren und der Chef alle in den Besprechungsraum gebeten hatte, war die diesjährige Destination bekannt gegeben worden:

die Kanarischen Inseln!

„Aber vielleicht gefällt es dir ja doch dort. Es ist schön auf den Kanaren“, versuchte Alex, ihn zu beruhigen.

„Dieses Juwel des Massentourismus? Mach dich nicht lächerlich. Warum nicht gleich Benidorm? Ich fasse es nicht.“

Sie verkrümelte sich mit dem Geschirr vom Abendessen in die Küche, stellte den CD-Player an – leise natürlich, Holger mochte keine laute Musik – und begann, die Spülmaschine einzuräumen. Sollte er doch noch ein wenig weiternörgeln, sie freute sich. Ganz egal wohin, Hauptsache, ein paar Tage weg.

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