Читать книгу Allein geht's besser / Tapas, Träume und ein Macho / Paradies im zweiten Anlauf - Gabriele Ketterl - Страница 13
4. Hohe Wellen
ОглавлениеDie Mandarin Star war ein herrlicher alter Zweimaster, liebevoll restauriert und in ein stilvolles Ausflugsschiff für anspruchsvolle Gäste verwandelt. Für Alex’ Gruppe war das komplette Schiff angemietet worden, und nach einem ausgesprochen üppigen, vielseitigen Frühstück waren sie gemeinsam zum Hafen gelaufen und dort an Bord gegangen. Selbst die anspruchsvollen Jungbroker schienen endlich einmal zufrieden. Antonio und Juana, die liebenswerten Eigner der Mandarin Star, ließen keine Wünsche offen. Unter geblähten weißen Segeln fuhren sie hinaus. Nach etwa einer Dreiviertelstunde gingen sie in einer versteckten, kleinen Bucht vor Anker. Das Wasser war von einem kristallklaren Türkisblau.
„Señora, möchten Sie gerne schnorcheln? Wir haben alles, was Sie dafür brauchen, an Bord.“ Antonio lächelte Alex aufmunternd an.
Sie warf Holger einen fragenden Blick zu, den sie umgehend bereute. War sie denn nicht einmal mehr in der Lage, eine solch banale Entscheidung alleine zu treffen?
Da ihr Angetrauter eh nur mit den Schultern zuckte, fiel die Entscheidung sehr schnell.
„Sehr gerne sogar, es würde mir Spaß machen.“
Antonio reichte ihr eine Taucherbrille samt Schnorchel und Flossen. Lächelnd zog sie sich die dunkelblauen Ungetüme über. Sie passten perfekt.
„Vielen Dank, Sie haben einen guten Blick.“.
„Jahrzehntelange Erfahrung. Irgendwann erkennt man das einfach. Jetzt der Rest.“
Alex stülpte sich die Taucherbrille über den Kopf, zog alles zurecht und hob zuversichtlich den Daumen.
„Dann ab mit Ihnen ins kühle Nass.“ Er ließ eine Strickleiter für sie und die anderen, die auch gerne die Unterwasserwelt erkunden wollten, zu Wasser.
Aufgeregt kletterte Alex die wackelige Leiter hinunter und ließ sich ins Wasser gleiten. Es war so sauber und klar, dass man wunderbar weit sehen konnte. Neugierig blickte sie hinein. Direkt neben ihr schoss ein Schwarm bunt glänzender Fischchen vorbei, während etwas weiter unten ein riesiger Zackenbarsch seine Bahnen zog. Am Meeresboden entdeckte sie einige der erstarrten Lavaströme, die an Land teils bizarre Felsformationen bildeten. Hier im Meer waren sie ein perfektes Zuhause für Wasserpflanzen, und Alex glaubte sogar, Korallen zu sehen. Leider würde sie mit dem Schnorchel nicht so weit nach unten kommen, dafür fehlte es ihr an Übung. Aber alleine diese Schönheit aus der Ferne bestaunen zu dürfen, war ein Privileg.
Langsam zog sie ihre Kreise in den angenehm kühlen Fluten und genoss die Schönheit der Natur, die sich ihr neben den schillernden Farben der Fischschwärme im Spiel aus Lichtstrahlen und Schatten im Wasser zeigte. Als sich ein riesiger Umriss vom Meeresboden löste und ihr langsam näherte, erschrak sie kurzzeitig. Doch der eindrucksvolle Mantarochen glitt mit gleichmäßigen Schlägen seiner Flossen majestätisch an ihr vorbei. Unbewusst hielt Alex den Atem an. Welch ein herrliches Tier! Nur ungern kletterte sie zurück an Bord, doch Antonio und Juana wollten ablegen und zur nächsten Bucht weitersegeln. Hier gingen sie erneut vor Anker und an dem einsamen Strand wurde der Gruppe ein schmackhafter Lunch serviert.
Holger streckte sich neben ihr im warmen Sand aus. „Ich muss eingestehen, das ist eindrucksvoll“, ließ er mit Blick auf die in der sanften Dünung gemächlich vor sich hin dümpelnde Mandarin Star verlauten. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah hinauf in den blauen Himmel.
„Es freut mich, dass du deine Meinung geändert hast. Ich fühle mich gerade ein wenig wie in ‚Fluch der Karibik‘.“ Alex aß das letzte Stück Serrano-Schinken und spülte es mit einem Schluck Rotwein hinunter.
„Ich muss doch bitten“, sagte jemand hinter ihnen. „Mit der Black Pearl hat mein Schiff hoffentlich nicht viel gemeinsam.“
Alex wandte sich um und grinste ihren Kapitän an. „Ihr Deutsch ist verflixt gut, nicht wahr?“
Antonio zog amüsiert die Augenbrauen hoch. „Das kommt ganz darauf an, ob ich verstehen will oder nicht.“
Lautes Lachen antwortete dem charmanten Canario und Alex fühlte sich so leicht und glücklich wie schon lange nicht mehr.
Der zweite Abend begann vielversprechend. Mit Bussen ging es zu einem Fischerdorf in einigen Kilometern Entfernung. Dort war ein Lokal direkt am Strand exklusiv angemietet worden. Vier hervorragende Musiker sorgten für die passende Untermalung in dem urigen, weißgetünchten Gebäude mit seinen rustikalen Holzbänken, Tischen und Stühlen. Auf einem Grill vor dem Haus brutzelte frisch gefangener Fisch, daneben köchelte Paella in einer riesigen Pfanne und duftete himmlisch. Das Personal war herzlich und liebenswert, die Luft voller Blumenduft und Alex wähnte sich im Himmel.
Zu ihrem Bedauern teilten offenbar nicht alle ihre Begeisterung. Obwohl sie bei der Rückkehr von ihrem Segeltörn daran erinnert worden waren, für den Abend auf bequemes Schuhwerk zu achten, trugen einige Damen Pumps oder High Heels.
„Unmöglich! Eine Zumutung, uns in eine derartige Kneipe zu lotsen.“ Sieh einer an, Marissa konnte sich doch verständlich artikulieren. Es geschahen noch Zeichen und Wunder.
Alex, die neben Silke auf einer der Bänke vor dem Haus saß, verdrehte genervt die Augen. „Kann man der eigentlich irgendetwas recht machen?“
Silke zuckte die Schultern. „Na, auf dem Schiff heute war sie ganz friedlich. Ignorier sie, genau wie die anderen Spießer. Das ist das Vernünftigste, was du tun kannst.“ Zu einer Antwort kam Alex nicht mehr: Gitarrenmusik erklang und zwei Flamencotänzer tauchten auf, die eine dermaßen fesselnde Show boten, dass sie auch die letzten Nörgler zum Schweigen brachten.
Staunend verfolgte Alex die Darbietung und stellte fest, dass es einige ausgesprochen attraktive Männer auf dieser Insel gab. Der Größere der beiden faszinierte sie ganz besonders. Er war verflixt gut gebaut, die Muskeln exakt dort, wo sie sein sollten. Zudem besaß er ein dermaßen freches Grinsen, dass ihr warm wurde, als ihre Blicke sich trafen. Während er mit bemerkenswerter Eleganz seinen Flamencopart tanzte, versuchte Alex abzuschätzen, wie alt er sein mochte. In seine langen, schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare mischten sich einige graue Strähnen, die ihn nur noch interessanter wirken ließen. In dieser Hinsicht besaßen Männer Frauen gegenüber einen deutlichen Vorteil! Seufzend widmete Alex sich ihrer kühlen Sangria. „Ist das nicht unglaubliches Eye Candy? So ein Sahnestückchen.“ Silke wurde da etwas deutlicher und betrachtete den Tänzer. „Sieh dir nur sein Gesicht an. So was von edel. Ich würde sagen, arabische Vorfahren. Mann, der Kerl ist wahrlich eine Sünde wert.“
Alex musste ein Kichern unterdrücken. „Silke, du bist eine verheiratete Frau.“
„Ach, Alex, wach auf. Wir müssen zusehen, wo wir bleiben. Je schneller wir lernen, unser Leben auszurichten und mit den gegebenen Umständen klarzukommen, desto besser geht es uns. Also, darf ich nun bitte weiterhin diesen spanischen Halbgott anschmachten?“ Sie schwieg kurz. „Wobei ich glaube, dass seine Interessen eher in eine andere Richtung gehen.“
„Glaubst du, er ist schwul?“
„Alex, du Unschuldslamm, nein! Sieh doch mal zu ihm hinüber. Schnell.“
Unweigerlich huschte Alex’ Blick wieder zu den Tänzern, die ihre Darbietung soeben beendet hatten und den tosenden Applaus genossen. Der Blick des Tänzers traf ihren, und sie schaffte es nicht, wegzusehen. Warum zogen diese funkelnden dunklen Augen sie eine gefühlte Ewigkeit in ihren Bann?
„Dem gefällst du, Glückwunsch.“ Silke sah das ganz pragmatisch.
Es kostete sie eine Menge Überwindung, sich loszureißen. „Ich bin mit Holger hier, es gehört sich einfach nicht. Und was würde mir das schon bringen?“
Silke legte die Stirn in Falten. „Lass mich nachdenken. Es tut gut, es streichelt das Ego, es stärkt das Selbstwertgefühl … Noch Fragen?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Alex sah zurück zu den Tänzern, die sich noch einmal verbeugten und dann verabschiedeten.
„Schade.“ Alex blickte dem gut aussenden Spanier nach, bis er mit seinen Kollegen im Nebenhaus verschwand.
„Sag ich doch. Gucken darf man allemal.“ Silke gönnte sich einen großen Schluck Rotwein.
Verunsichert über das seltsame Gefühl in ihrem Bauch, riss Alex sich schleunigst zusammen. „Wo steckt eigentlich Holger? Ich dachte, ich sei in Begleitung hier.“
„Der spielt Seelentröster bei unserem unverstandenen Superstar. Da, sieh es dir an.“ Silke zeigte auf einen Tisch unter der gegenüberliegenden Pergola. Dort saß Holger an der Seite von Marissa und hörte ihr sichtlich angetan zu. Alex konnte zwar nicht verstehen, worüber sie sprachen, aber ihr genügte allein der Umstand, dass er Marissa mit seinen Blicken auszuziehen schien.
„Seelentröster ist gut, wozu braucht das Früchtchen bitte einen Tröster?“ Ärgerlich straffte sie ihre Schultern.
„Bleib ruhig. Jetzt nur nichts Falsches tun. Vielleicht tröstet er sie ja tatsächlich nur. Severin scheint auch nicht mehr ganz Herr seiner selbst zu sein.“
Tatsächlich. Erst jetzt, nachdem die Tänzer fort waren, nahm Alex ihre Umgebung wieder richtig wahr. Die Herren, und auch einige der Damen, hatten die Sangria wohl ein wenig unterschätzt. Severin konnte sich nicht mehr eigenständig auf den Beinen halten, und dem Rest der Mannschaft erging es kaum besser.
Alex schüttelte den Kopf. „Ich komme mir vor wie bei meiner Abschlussfahrt vom Gymnasium, aber damals waren es jugendlicher Leichtsinn und vor allem Achtzehn- und Neunzehnjährige, die sturzbetrunken herumhingen. Himmel, können die sich denn alle nicht benehmen?“
„Das wollen sie doch gar nicht. Du erinnerst dich? Mitnehmen, was geht, oder, um es profan auszudrücken: die Sau rauslassen. Die denken doch alle, dass sie nie wieder hierherkommen.“ Silke legte Alex sanft eine Hand auf den Arm. „Denk dir nichts dabei, morgen ist das alles vergessen.“
Alex beobachtete Holger und Marissa mit zunehmendem Unbehagen. „Schön wäre es, aber eigentlich sollte er sich um mich kümmern.“
„Das sollte Klaus auch.“ Silke deutete mit stoischer Miene auf ihren Mann, der gemeinsam mit einigen anderen und seinem Vorgesetzten den nächsten Krug Sangria in Angriff nahm.
Alex schüttelte angewidert den Kopf. „Und ich dachte immer, Holger mag das süße Zeug nicht.“
„Tja, da kommt es wohl immer darauf an, wer am zweiten Strohhalm hängt.“
Tatsächlich stand vor Holger und Marissa ein großes Glas mit zwei Strohhalmen, aus dem die beiden sichtlich gut gelaunt tranken.
„Nun reicht es mir, ich gehe da jetzt rüber.“
Silke erwischte gerade noch rechtzeitig ihren Arm. „Nichts da, die Blöße gibst du dir bitte nicht. Komm, wir machen einen Spaziergang und später holen wir uns noch eine Portion dieser leckeren Paella.“ Silke duldete keinen Widerspruch und zog Alex mit sich. Langsam und in Gedanken versunken gingen sie den schmalen Weg am Strand entlang und genossen den kräftigen Wind, der die wirren Gedanken aus dem Kopf pustete. Die kleine Promenade endete in einem Parkplatz mit der Statue eines Reiters in der Mitte. Interessiert versuchte Alex im Mondlicht, die Inschrift zu entziffern, als ganz in der Nähe die Tür eines Jeeps geöffnet wurde. Sie hatte zuvor nicht bemerkt, dass sie nicht alleine waren. Der schöne Flamencotänzer, nun in Jeans und einem grauen Shirt, warf eine Tasche in den Wagen und setzte sich ans Steuer. So viel zu ihrer Hoffnung, ihn noch einmal tanzen zu sehen. Das bedeutete dann wohl, dass er nicht nochmals auftreten würde. Empfand sie tatsächlich Bedauern, dass er schon aufbrach?
„Da fährt er hin. Schade, diesen Anblick hätte ich mir gerne noch mal gegönnt.“ Silke sprach ihre Gedanken aus.
„Was hätte uns das denn genützt? Den sehen wir sowieso niemals wieder.“ Sie hörte selbst, wie enttäuscht sie klang. Er setzte zurück und fuhr kurz darauf nur wenige Schritte entfernt an ihr und Silke vorbei. Sie hätte schwören können, dass er lächelte.
Wütend schleppte Alex knapp drei Stunden später den vollkommen betrunkenen Holger auf ihr Zimmer. Ein von ihr eigentlich nicht gewünschtes Déjà-vu. Dass es ihr gelang, erstaunte sie selbst. Der Abend hatte in einem Fiasko geendet, das peinlicher nicht hätte sein können. Nur mit Hilfe der geduldigen Angestellten des Lokals war es ihr und Silke gelungen, die betrunkene Meute in die Busse zu verfrachten. Zwei der Damen mussten sich ihrer Übelkeit geschlagen geben und übergaben sich nach der Ankunft im Hotel lautstark in die Blumenrabatte vor der Empfangshalle. Alex kam aus dem Fremdschämen gar nicht mehr heraus.
Im Zimmer angelangt, schälte sie Holger aus seinen Klamotten und bugsierte ihn mühsam ins Bett, wo er sofort in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel. Alex duschte, zog sich ihr Nachthemd über und verkrümelte sich auch in dieser Nacht auf den Balkon. Es war bereits halb drei Uhr morgens, und bis auf das Bellen einiger Hunde und das Rauschen der Palmwedel im Wind war es absolut still. Nach dem betrunkenen Gegröle im Bus genoss Alex die Ruhe. Selbst jetzt war es noch warm, sodass sie sich auf eine der gepolsterten Liegen sinken ließ. Sie sah in den klaren Sternenhimmel und konnte es beim besten Willen nicht verhindern, dass sie sich nach dem Blick aus einem Paar fast schwarzer, funkelnder Augen sehnte.
„So sprich doch um Himmels willen etwas leiser.“ Holger rieb sich mit leidender Miene die Schläfen.
Alex betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Ja, er litt, verdient hatte er sich das allerdings redlich. „Tut mir wirklich leid. Ich flüstere doch sowieso schon. Du bist aber auch selbst schuld. Was musst du denn so viel von der Sangria trinken? Du weißt doch, dass da Wein, Obst und Likör gemixt werden.“ „Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst. Außerdem, so arg viel war das nicht.“ Holger warf ihr einen wütenden Blick zu.
„Da kann ich leider nicht mitreden. Irgendwann habe ich aufgegeben, dich und diese Marissa zu beobachten.“
Ein schräges Lächeln erschien auf den Lippen ihres Angetrauten. „Daher weht der Wind. Alexandra, du kannst doch nicht ernsthaft eifersüchtig sein? Das Mädel brauchte nur ein wenig Zuspruch, da Severin sich so abgeschossen hat. Außerdem hat sie viel Einfluss auf ihn. Mit der Kleinen auf meiner Seite habe ich quasi schon einen Fuß in der Tür des Abteilungsdirektors.“
Seltsam, sie hörte zwar seine Worte, aber irgendwie waren sie ihr heute egal. Das war auch gut so, denn ihr Mitleid mit dem „Mädel“ hielt sich in Grenzen. Ehe sie etwas Falsches sagte, schwieg Alex lieber. Sie blickte sich im Zimmer um. „Es hilft nichts, wir müssen uns beeilen. In einer halben Stunde geht es los und frühstücken möchte ich ehrlich gesagt schon noch.“
Holger verzog das Gesicht. „Allein beim Gedanken an Essen würgt es mich. Geh doch bitte alleine, ich glaube, ich kann noch nicht einmal den Geruch ertragen. Mir graut es bei der Vorstellung, nachher stundenlang in einem Jeep sitzen zu müssen.“
Alex griff nach dem Zimmerschlüssel. „Gut, dann gehe ich mal kurz und genieße Rührei mit Speck, Pilze, Baked Beans und heißen Kaffee.“ Sie hörte noch, wie Holger einen Klagelaut von sich gab, und verließ zufrieden das Zimmer.
Am Buffet lud sie sich ihren Teller voll. Da weder Silke noch Klaus zu sehen waren, ging sie auf die Terrasse und nahm an einem Zweiertisch Platz.
„Guten Morgen, Lady. Na, wie war es gestern beim kanarischen Abend?“ Der junge Kellner vom ersten Dinner strahlte sie an.
Alex konnte gar nicht anders, als zurückzulächeln. „Es war sehr schön. Die Musik, das Lokal, das Essen, aber auch, dass es so nah am Meer war. Wirklich wunderschön.“ Sie runzelte leicht die Stirn. „Wenn manche Menschen sich benehmen könnten, wäre es gleich noch schöner gewesen.“
Er winkte ab. „Ach, ein paar sind doch immer dabei. Hauptsache, es hat Ihnen gefallen.“ Er musterte ihr Frühstück. „Was möchten Sie trinken? Café con leche und einen frisch gepressten Orangensaft, wie klingt das?“
„Das klingt hervorragend.“
Wenige Minuten später standen ein großes Glas mit dampfendem Milchkaffee und eine Karaffe mit süßem Orangensaft vor ihr.
„Guten Appetit und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Beim Galaabend heute sehen wir uns wieder.“ Grinsend verbeugte er sich
„So lange müssen Sie arbeiten? Das ist hart.“
Sein Lächeln vertiefte sich. „Wenn mich dafür so ein schöner Anblick erwartet, arbeite ich doch gerne vierundzwanzig Stunden am Tag.“
Weg war er und ließ Alex mit einem breiten Lächeln zurück. Während sie ihr Frühstück genoss, grübelte Alex zum wiederholten Mal über ihre Beziehung nach. Solche Komplimente wie eben sollten von Holger kommen. War es denn so schwierig? Wenn andere sie attraktiv fanden, was stimmte dann nicht mit ihrem eigenen Ehemann? Noch wichtiger erschien ihr die Frage, warum sie sich immer wieder verunsichern ließ. Sie lud sich eine Portion Bacon samt Rührei auf die Gabel, betrachtete sich das eine Weile und steckte es dann entschlossen in den Mund. Es schien ihr an der Zeit, ein wenig Selbstbewusstsein an den Tag zu legen.
Noch immer nachdenklich, aber wenigstens satt und zufrieden erreichte sie ihr Zimmer, um sich für die Jeepsafari umzukleiden. Holger saß bereits in einer knielangen blauen Leinenhose, weißem Polohemd und Segeltuchschuhen auf dem Balkon im Schatten des Sonnenschirmes.
„Du bist ja für deine Verhältnisse richtig leger gekleidet. Steht dir gut.“
„Ich kann schon, wenn ich will. Das solltest du wissen. In einem Anzug fühle ich mich eben einfach wohl.“ Er seufzte. „Nach zwei Mineralwasser und einem Aspirin geht es auch meinem Kopf langsam wieder gut. Vielleicht wird diese Fahrt doch nicht ganz so schlimm.“
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es wird toll, du wirst schon sehen.“
Welcher kleine Rebell in ihr erwacht war, konnte sie nicht genau sagen, aber sie ging zum Schrank, angelte die Hippiebluse und ihre geliebten Jeans heraus und schlüpfte hinein. Ja, so fühlte sie sich wohl. Nun noch die bequemen petrolfarbenen Converse und alles war gut.
„Im Ernst? Mein Gott, Alexandra, du bist doch kein Teenie mehr. Willst du mich wirklich vor den anderen blamieren?“
Kurzfristig drohte ihre gute Laune sich in Luft aufzulösen, dann aber nahm sie sich zusammen, verknotete die Schnürsenkel und hob ihren Blick. „Nein, bin ich nicht. Aber eine erwachsene Frau, die durchaus selbst bestimmen kann, was sie anzieht. Für so einen Ausflug ist das ein perfektes Outfit. Wenn andere glauben, in Designerkleidern in Jeeps sitzen zu müssen, bitte. Ich jedenfalls muss das nicht.“ Sie ließ ihm keine Chance zu antworten, sondern ging ins Bad und zauberte sich mittels Haarspange eine lockere Hochsteckfrisur. Nun noch ihre silbernen Ohrhänger und fertig war das Ausflugsoutfit.
„Fertig. Wir können dann gehen.“ Ohne ihn weiter zu beachten, nahm Alex ihren Rucksack, steckte die Kamera hinein und öffnete die Tür. „Bitte beeil dich, du erklärst doch andauernd, dass man die anderen nicht warten lassen sollte.“
Sie hatte gar nicht so falsch gelegen. Auch dieses Mal erblickte sie Designerkleider in ihrer Gruppe. Immerhin gab es auch Shorts und sogar eine Jeans, aber trotzdem waren die Damen perfekt gestylt.
„Lustig, oder? Aber die werden schon sehen, was sie davon haben.“ Silke, in schwarzer Caprihose, Ballerinas und pinker Sommerbluse, hakte sie kurzerhand unter und zog Alex zu den Autos. Sie schafften es, sich einen Geländewagen zu teilen. Der Fahrer, ein freundlicher Canario, sprach perfektes Englisch, und so verstanden alle, was er ihnen während der ersten Etappe der Fahrt erzählte. Vor allem Alex hing gebannt an seinen Lippen. Die Geschichte der Insel interessierte sie, zudem konnte er herrliche Anekdoten zum Besten geben.
Sie fuhren über die Autobahn nach Norden und begannen von dort aus die Insel zu erkunden. Es ging von Las Palmas aus nach Telde, Vega de San Matteo und Santa Brigida. Anschließend machten sie in einem herrlichen Bergdorf Rast, das den Namen Teror wahrlich nicht verdient hatte. Von dort aus ging es nach einer Käse- und Honigverkostung weiter durch menschenleere Täler und Schluchten. Alex und Silke kamen aus dem Fotografieren kaum mehr heraus. Hinter jeder Biegung, jeder Kurve erwartete sie ein atemberaubender Anblick auf eine traumhaft schöne Natur, auf Bergmassive und Pinienwälder. Es duftete nach Kräutern und dem Harz der Bäume. Im Städtchen Tejeda erwartete man sie mit frisch gebackenen Leckereien, Dessertwein und duftendem Kaffee. Auf dieser Fahrt schienen sich tatsächlich alle recht wohl zu fühlen. Zumindest erblickte Alex nur zufriedene Gesichter. Selbst Holger schien sich mit der Tour angefreundet zu haben.
„Nette Ausblicke. Das Panorama hier ist gar nicht schlecht.“ Aus seinem Mund ein großes Lob.
Gran Canaria gefiel Alex immer besser: Dörfer wie aus einem Werbeprospekt, bildhübsch und teils verträumt, teils lebendig und fröhlich. Die Bauweise der weißen Häuser, die aus Lavasteinen aufgeschichteten Mauern, terrassenförmig angelegte Felder, die man den Bergen abgetrotzt hatte und auf denen Weinstöcke und Obstbäume gediehen – all das begeisterte sie.
Über das geschichtsträchtige Dorf Fataga, in dessen Nähe die letzte große Schlacht der Ureinwohner, der legendären Guanchen, stattgefunden hatte, ging es über holprige Pisten zu ihrem letzten Ziel, dem Bergdorf Mogán. Alex freute sich ganz besonders auf diesen Ort. Dort sollte es gut erhaltene Häuser geben aus Tagen, in denen die Inseln noch in ihrem wohlverdienten Dornröschenschlaf gelegen hatten, dazu viele Wandbilder und herrlich bepflanzte öffentliche Plätze.
In Mogán angekommen, steuerten sie zuerst ein inseltypisches Lokal an, die Casa Enrique, wo ein liebevoll angerichtetes Tapasbuffet samt Weinverkostung wartete. Der Innenhof des Restaurants war mit Korbmöbeln bestückt, im Hintergrund spielte leise Musik. Neben einem fröhlich vor sich hinplätschernden Springbrunnen stand ein pyramidenförmig aufgebautes Süßspeisenbuffet. Alex fing die Atmosphäre mit ihrer Kamera ein und ließ sich einige sehr schmackhafte Tapas auf der Zunge zergehen.
In ihrem Rücken erklang eine nicht eben leise Stimme. „Deine Frau hat einen sehr seltsamen Geschmack. Hat sie solche modischen Rückfälle in die 70er öfter?“
Alex schluckte ihren Ärger über die abfällige Bemerkung mühsam hinunter. Marissa wusste wirklich nicht, wann man besser schweigen sollte. Noch viel mehr ärgerte sie jedoch die Tatsache, dass Holger, anstatt sie zu verteidigen, seufzend antwortete, dass das leider öfter der Fall wäre. Früher hätte er auf ihrer Seite gestanden. Was war nur los mit ihm? Hier schien ein klärendes Gespräch dringend angeraten.
Kurz darauf standen Holger und einige seiner jungen Kollegen dann bereits wieder, wild über neue Anlagemöglichkeiten spekulierend, an der Bar. Silke saß mit Klaus etwas abseits und redete mit ernster Miene auf ihn ein. Alex überlegte. Ehe sie sich hier langweilte, wollte sie lieber das Dorf erkunden. Herumsitzen konnte sie noch den ganzen Abend. Sie sagte rasch Holger Bescheid, der ihre Mitteilung, sie werde spazieren gehen, lediglich mit einem ungnädigen Blick kommentierte. Na bravo, der Herr schwelgte schon wieder in Geschäften. Das musste nun wirklich nicht sein.
Alex trat vor das Lokal und atmete tief ein. Die Luft flirrte vor Hitze. Herrlich, so mochte sie es. Sie schulterte ihren Rucksack, nahm die Kamera in die Hand und stiefelte los.
Zuerst ließ sie sich einfach nur treiben, schlenderte durch schmale Gassen und landete schließlich an einer Kirche, vor der ein stilvoll angelegter Platz zum Bleiben einlud. Blumenbüsche in Lila, Rot und Rosé rahmten schmiedeeiserne Bänke ein, die sich unter einem weißen Säulengang aneinanderreihten. Die Fensterläden der Häuser waren zum Schutz gegen die Hitze geschlossen, nur wenige Menschen begegneten ihr. Sie grüßten freundlich und lächelten ihr zu. Am Kirchplatz fotografierte Alex ein altes terracottafarbenes Haus, das mit seinen grellgrünen Türen und umrankt von einer gelben Kletterpflanze ausgesprochen hübsch aussah. Sie durchquerte einen kleinen Park, an den sich ein Bauwerk mit dem klangvollen Namen Club Tahoma anschloss, das sie an eine Hacienda erinnerte. Dahinter befand sich eine Sackgasse, begrenzt von einer aus Lavasteinen errichteten Mauer. Sie war gut zwei Meter hoch und weiß getüncht. Kunstvolle Mosaike waren darin eingearbeitet. Alex lichtete eins nach dem anderen ab. „El Rincon de Mima“, entzifferte sie auf einem leicht verwitterten Schild. Es war hier so still, dass sie im Park hinter sich die Vögel zwitschern hörte. Voller Staunen blickte sie sich um. Seit langer Zeit hatte sie sich nicht mehr an einem ihr fremden Ort so wohl und geborgen gefühlt. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, in die Casa Enrique zurückzukehren, und so ging sie an dem Gebäude vorbei in Richtung Ortsausgang.
Zu ihrer Linken entdeckte sie ein bemerkenswertes Haus in leuchtenden Farben, die Art Bodega. Der Schriftzug auf dem Schaufenster verriet, dass das Café über eine Terrasse mit Aussicht auf die Berge verfügte und handgearbeitete Keramik zum Verkauf anbot. Es war ihr mit dem kunstvollen Mosaik und der liebevoll handgemalten Speisekarte an der Wand sofort sympathisch und zog sie geradezu magisch an. Direkt neben dem Eingang befand sich ein schmiedeeiserner Ständer mit kunstvoll gestalteten Postkarten. Perfekt für Leonie! Alex packte ihre Kamera in den Rucksack und arbeitete sich gewissenhaft durch das Angebot. Am liebsten hätte sie von jedem Motiv eine Karte mitgenommen, so schön waren sie. Landschaftsbilder, kleine Fincas, Strände, Dörfer oder einfach nur ganz besondere Häuser. Daneben gab es feste Pappkarten mit eisernen Kunstwerken darauf. Vor allem ein bunter Leguan begeisterte Alex. Schwer beladen ging sie zum Tresen, von dem aus ihr ein junges Mädchen freundlich entgegenblickte. Nicht ganz so freundlich oder gut gelaunt schien ein großer, breitschultriger Mann zu sein, der mit dem Rücken zu ihr in dem zur Terrasse führenden Gang stand und lautstark telefonierte. Was er von sich gab, war nicht gerade jugendfrei.
„Ignorieren Sie ihn am besten. Das ist unser Chef. Er telefoniert mit seinem kleinen Bruder. Der muss ab und an von ihm eingefangen werden, sonst wird er übermütig.“ Die Angestellte zwinkerte Alex zu und nahm ihr das Kartenpaket aus den Händen.
„Ich glaube, auf Ärger mit Ihrem Chef würde ich es ungern ankommen lassen.“ Neugierig schielte Alex zu dem wütend gestikulierenden Mann hinüber.
„Der ist schon ganz in Ordnung. Ab und an ein wenig brummig, aber immer da, wenn man ihn braucht. Und im Ernst, Sebastian ist wirklich manchmal schwierig. Nur sagt ihm das sonst keiner, weil er alle um den Finger wickelt. Brauchen Sie auch Briefmarken?“
Um ein Haar hätte Alex die letzte Frage nicht mitbekommen. Sie war viel zu fasziniert von der tiefen Stimme des Besitzers. Selbst wenn er wütend war, klang sie noch angenehm.
Leider beendete der Chef des Cafés nun sehr ungehalten das Gespräch.
„¡Este chico me vuelve loco!“
Er steckte das Handy in die Tasche seiner Jeans und verschwand mit großen Schritten hinter einer Tür neben dem Tresen. Prompt wurde es im Café wesentlich heller, da nun die Sonne ungehindert durch die Terrassentür schien.
„Wow, das nenn ich Temperament. Und ja, ich hätte gerne Briefmarken.“
Die junge Frau musterte sie sichtlich vergnügt. „Ja, Marcos hat mehr als genug davon. Dabei sollte er heute eigentlich etwas ruhiger sein. Schließlich hat er letzte Nacht bei drei Flamencoshows getanzt.“
„Sekunde, sagten Sie Flamencoshows? Hat er zufällig auch in Puerto de la Aldeia getanzt? Wir hatten da letzte Nacht eine Veranstaltung samt richtig schöner Show.“
Nun war der Blick noch amüsierter. „Ja, soweit ich weiß, schon. Dort ging seine Tour letzte Nacht los. Er macht das nur noch nebenbei. Einfach so aus Spaß.“
„Also mal ehrlich, wenn er derjenige ist, dem ich zugesehen habe, dann ist er verdammt gut.“
„Das ist Marcos in allem, was er tut. Er ist ein ziemlicher Perfektionist. Gott sei Dank erwartet er das nicht von seinem Umfeld.“
„Da haben Sie Glück. Mein Mann erwartet das auch von allen anderen.“
Das Mädchen grinste breit. „Herzliches Beileid.“
Schmunzelnd nahm Alex das Päckchen entgegen. „Vielen Dank.“
Die nette Angestellte tippte heftig auf den Tasten einer altertümlich anmutenden Registrierkasse herum, die quietschend aufsprang, zählte das Wechselgeld ab und reichte es Alex. „Sie müssen unbedingt noch raus auf die Terrasse, der Blick ist atemberaubend. Jetzt gerade ist bis auf zwei Biker niemand da.“
Alex bedankte sich erfreut und eilte hinaus, um den angepriesenen Blick noch kurz zu genießen, ehe sie wieder zurück ins Restaurant musste. Kaum im Freien, stockte ihr der Atem. Der Ausblick war schlicht gigantisch. Das Tal von Mogán bis zu den Ausläufern des Barranco lag vor ihr im Sonnenschein. Weiße Häuschen tupften die Hänge, Ziegen blökten auf den Weiden, zahllose wilde Blumensträucher verwandelten das Tal in eine Märchenwelt. Begeistert trat Alex an die Brüstung und sog diesen Anblick in sich auf. Ganz langsam glitt ihr Blick über die Umgebung. Himmel, war das schön! Einmal ganz abgesehen davon, dass dieser gut aussehende Tänzer von letzter Nacht anscheinend der Chef hier war, gefiel ihr das Dorf auch noch ausnehmend gut und sie hätte sich am liebsten auf einen der Bistrostühle gesetzt. Plötzlich stach ihr etwas ins Auge. Links von ihr schmiegte sich eine kleine Finca an den Hang. Die Straße, die sie zuerst entlanggelaufen war, führte direkt dorthin. Das Gebäude zog Alex geradezu magisch an, ohne dass sie wusste, warum. Rasch verabschiedete sie sich von der freundlichen Bedienung, packte ihre Einkäufe in den Rucksack und lief los.
Das Haus lag an der Biegung der Straße. Schon am Gartentor drohte sie zu scheitern. Ein großer Stein versperrte den Eingang und sollte wohl deutlich machen, dass Besucher nicht erwünscht waren. Vorsichtig sah Alex sich um. Noch immer waren die Straßen fast wie ausgestorben und die wenigen Passanten beachteten sie nicht. Zuerst zaghaft, dann resoluter, drückte sie das Tor auf. Vertrocknete Büsche, hüfthohes Gras und ein riesiger, morscher Ast hinter dem Eingang machten das Betreten des verwilderten Grundstücks zu einem Erlebnis. Eine Machete wäre durchaus hilfreich gewesen. Das flache Gebäude erwies sich als größer als gedacht. Es war tatsächlich, so wie sie bereits vermutet hatte, in den Hang gebaut. Von der Straße aus sah man nur die Rückfront. Ein Seitenflügel zog sich ein ganzes Stück den Hang hinab, und wenn sie es richtig erkannte, befand sich unter dem letzten Stück eine Art Keller oder Schuppen. Das Dach des Haupthauses war an einigen Stellen eingefallen und die Terrasse, die gewiss einmal sehr schön gewesen war, lag mehr oder weniger in Trümmern. Es schien, als wäre der Boden einst mit Mosaik ausgelegt gewesen, davon waren aber nur noch Bruchstücke übrig.
Riesige, vertrocknete Rosenbüsche gruben ihre Äste in das Mauerwerk, und ein baumartiges Gewächs, von dem sie annahm, es könnte eine Art Blauregen gewesen sein, umrankte mit seinen abgestorbenen Ästen eine bröckelnde Säule. Fast alle Fenster waren zerborsten und eine einst sicher schöne Doppeltür hing schief in den Angeln. Der Garten, sofern man das, was davon übrig war, noch so nennen durfte, zog sich in Terrassenform den Hang hinab. Trotz Verfall übte er auf Alex eine unerklärliche Faszination aus.
Direkt vor der zugewucherten Terrasse fand sie eine noch halbwegs intakte Steinbank. Vorsichtig wischte sie vermoderte Blätter und Blüten beiseite und setzte sich. Ihr Blick glitt langsam über das Chaos. Je länger sie hinsah, umso deutlicher schälte sich ein anderes Bild heraus. Der Garten verwandelte sich vor ihren Augen. Wo trockene, tote Büsche waren, erblühten Blumenrabatten, wo Bäume sich mit letzter Kraft an den Boden klammerten, wuchsen sattgrüne Obststauden. Die kaum mehr erkennbaren Wege wurden wieder sichtbar und schlängelten sich, mit weißem Kies bedeckt und sauber geharkt, durch die diversen Terrassen. Rosen und Bougainvilleas rankten sich an den Säulen einer mit blau-weißem Mosaik ausgelegten Veranda empor, weiß getünchte Mauern erstrahlten im Licht der Nachmittagssonne. Alex legte ihre Hände an die Säule und konnte beinahe fühlen, wie das Haus nach und nach zum Leben erwachte. Plötzlich wusste sie es: Hier, und zwar genau hier könnte sie den Traum, den sie seit dem Studium hatte – etwas mit Pflanzen zu machen –, verwirklichen. Ein sonniger Garten, immer warm, umgeben von Berghängen, die Regen garantierten – hier würde mit ein wenig Pflege alles gedeihen. Mit den eigenen Händen dieses Stück Land in ein Paradies zu verwandeln, was für eine wundervolle Vorstellung.
„Señora, darf ich fragen, was Sie hier tun?“
Die Stimme klang zwar nicht freundlich, jedoch irgendwie vertraut. Es fiel Alex schwer, die Vision des sich verändernden Gebäudes abzuschütteln und in die Realität zurückzukehren. Noch ein wenig verwirrt wandte sie sich um. Kein Geringerer als Marcos aus der Art Bodega stand mit zusammengezogenen Brauen vor ihr. Musste ausgerechnet er sie hier finden? Immerhin befand sie sich widerrechtlich auf dem Grundstück. Verflixt aber auch.
„Bitte entschuldigen Sie, ich habe das Haus von Ihrer Terrasse aus gesehen und musste es mir einfach anschauen. Es sah unbewohnt aus, ich …“ Weiter kam sie nicht. Ihre Stimme musste etwas panisch geklungen haben, denn er lenkte rasch ein.
„Schon gut, ich will Sie ja nicht festnehmen. Ich möchte nur nicht, dass Ihnen hier etwas passiert. Es ist nicht ungefährlich in diesem alten Gemäuer. Haben Sie das Schild nicht gesehen?“ Wenigstens blickte er nun nicht mehr ganz so finster.
Sie zuckte entschuldigend die Achseln. „Nein, welches Schild?“
„Sekunde.“ Ohne ein weiteres Wort stapfte er davon.
Sie vernahm einen derben Fluch und ein Knacken, dann kam Marcos zurück. Sichtlich verärgert fuhr er sich durch das schulterlange, heute offene Haar. „Diese kleinen Kröten klauen alles, was nicht angeschweißt ist. Ich weiß nicht, wie oft das Schild ‚Betreten auf eigene Gefahr‘ inzwischen an irgendwelchen Kinderzimmertüren prangt.“ Mittlerweile sah er nicht mehr so wütend aus. „Dann sage ich es Ihnen eben persönlich. Wenn Ihnen hier etwas passiert, sind Sie selbst schuld. Warum wollten Sie die alte Burg eigentlich unbedingt sehen?“
Wie sollte sie ihm das auf die Schnelle erklären? „Also, Kurzfassung. Ich liebe Blumen und ich liebe alte Dinge. Dieses Haus hat mich geradezu magisch angezogen, warum auch immer. Vor meinen Augen hat sich der Garten in ein wahres Blumenmeer verwandelt, mit alten Obstbäumen und Pflanzen, die sicher nur in einer Umgebung wie dieser wachsen können. Ein wirkliches Paradies.“
„Aha.“ Marcos steckte die Hände in die Taschen seiner ausgewaschenen Jeans und ließ seinen Blick über das Grundstück schweifen. „Also wirklich, Ihre Fantasie möchte ich auch gerne haben. Ich sehe nur Verfall und Moder.“
Ihn nicht allzu auffällig anzustarren war nicht leicht, dann auch noch vernünftig zu antworten erst recht nicht. Er machte den Anschein, als halte er sie für etwas verrückt.
„Gut möglich, dass man dazu Fantasie braucht. Für mich war das ganz leicht. Es ist so schön hier.“ Ihre Arme beschrieben einen großen Bogen über das Grundstück.
„Wenn Sie meinen. Gut, vor vielen Jahren war es wirklich recht hübsch, aber seit die einstigen Besitzer verstorben sind und die alte Donna Rosalia das Anwesen geerbt hat, verfällt es.“
„Will sie denn nicht hier leben?“
Marcos musterte sie, als zweifle er endgültig an ihrem Verstand. „Hier? Die alte Frau? Die ist ja schon froh, wenn sie in Puerto de Mogán aus ihrer Nobelwohnung bis zum Supermarkt kommt. Nein, die will nicht hierhin und ihr Sohn lebt in Barcelona. Der hat auch keine Ambitionen, in ein langweiliges Bergdorf zu ziehen.“
„Langweilig ist Ansichtssache. Ich finde es hier herrlich.“ Erneut sah Alex hinaus in das weitläufige Tal.
„Respekt, da gehören Sie zu einer elitären Minderheit.“ Er musterte sie interessiert. „Aber noch mal zurück auf Anfang. Wie kommen Sie denn eigentlich hierher? Sie waren doch letzte Nacht auf dem Fest? Ich kann mich an Sie erinnern.“
Toll, ganz toll! Sie spürte, wie sie rot wurde. „Wirklich? Das wundert mich. Aber ja, ich war dort, mit der Top-Seller-Gruppe meines Mannes.“ Verdammt, wieso erzählte sie ihm das? „Sie haben wirklich toll getanzt, sehr eindrucksvoll.“
„Danke für das Lob. Ja, ich tanze, seit ich klein bin. Ich mag es einfach.“
Eindrucksvoll? Alex hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Ihre Flirtfähigkeiten waren eindeutig im Nirwana verschwunden.
„Heute haben wir eine Inselrundfahrt gemacht. Es war wirklich schön, ich habe es genossen. Die anderen sitzen in dem Lokal in der Nähe Ihres Cafés. Das war mir zu langweilig da. Ich wollte mich bewegen.“
Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Dazu haben Sie jetzt wahrscheinlich jede Menge Gelegenheit. Die Jeeps sind vorhin an mir vorbeigefahren, und zwar alle. Aber das ist nicht so schlimm, wie es scheint. Ich schätze, Sie werden knapp zwei Stunden zurück brauchen. Wenn Sie gerne zu Fuß gehen, schaffen Sie das locker.“
Nun erschrak Alex doch. „Oh Gott, wie spät ist es denn bitte?“
„Beinahe halb sechs. Warum? Haben Sie es eilig?“
„Kann man so sagen. Erstens wird mein Mann toben, weil ich mich hier verzettelt habe, und zweitens ist um acht Uhr das große Galadinner. Mist, das schaffe ich ja nie.“ Verflucht noch eins!
„Na, na. Ihr Mann soll sich nicht so anstellen. Schließlich hätte er Sie ja auch suchen können. Was, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre? Bleiben Sie ruhig, Sie sind ja ganz blass.“
Gut, zumindest einer machte sich Sorgen um sie und wieder war es nicht Holger. Eilig nahm Alex ihren Rucksack und blickte sich hektisch um. „Könnten Sie mir bitte sagen, wie ich am schnellsten nach Puerto de Mogán komme?“ Das war jetzt doch sehr unangenehm. Holgers Predigt konnte sie sich gut vorstellen. Wobei er ja tatsächlich nach ihr hätte suchen können. Dass er es tatsächlich getan hatte, glaubte Alex keine Sekunde. Das hier war seine typische Art, ihr angebliche Verfehlungen vorzuhalten.
Marcos’ Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, ich kann Ihnen den schnellsten Weg verraten. Sie kommen mit mir ins Café, ich hole meine Autoschlüssel und bring Sie runter. Ich muss sowieso dorthin, weil ich mich mit Freunden im La Terazza treffe. Kennen Sie das?“
Alex verneinte und war gleichzeitig verflixt erleichtert. „Ich will Ihnen aber keine Umstände machen.“
Lachend wandte Marcos sich zum Gehen. „Machen Sie nicht. Dafür erzählen Sie mir im Auto bitte mal, warum Ihnen der Gedanke, zu spät zu kommen, den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Das würde mich ja nun doch interessieren.“