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5. Kapitel Something bigger than life

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Endlich, so redete ich mir ein, konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Doch nachdem ich tagelang ebenso ziellos wie freiheitstrunken durch die Stadt getaumelt war, brachte mich meine alte Kinderfrage »und wozu?« wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich besaß nämlich weder die Mittel, aus der mütterlichen Wohnung auszuziehen, noch den geringsten Anhaltspunkt, wie ich zu der von mir ersehnten Lebensschule finden sollte, deren Meister – oder besser noch: »Meisterin« – nur darauf warteten, mit ihrem Wissen den Hunger meines Geistes zu stillen. Völlig unvorbereitet schlug mich die Erkenntnis, daß ich auch nicht mehr mit mir anzufangen wußte als meine phantasielose Mutter. Ich bekam einen Vorgeschmack auf die Krisen des Lebens und fand wenig Gefallen daran.

Auf dem Höhepunkt meiner Verwirrung – ich war drauf und dran, in einem Kloster oder Harem der Welt zu entsagen, mich auf dem Sklavenmarkt der Lust zu verkaufen oder, als Mann verkleidet, der Fremdenlegion anzuschließen – standen eines Abends vor unserer Wohnungstür zwei als Bürgerschreck verkleidete Gestalten, von denen einer behauptete, er sei mein Onkel Ben aus Amerika.

»Man darf«, sprach er mit einstudiertem Akzent, »niemanden vergessen, der uns einmal geliebt hat.«

Meine Mutter schlug irritiert die Tür zu, und ich öffnete sie wieder.

»Woher willst du wissen, daß er die Wahrheit sagt, Elisa? Ich erinnere mich kaum noch an ihn.«

»Ich dafür um so besser, Mama. Einen wie Küken-Benno würde ich selbst mit verbundenen Augen erkennen. Also sei nicht kindisch, und bitte die beiden herein!«

»›And all the world is a stage and all the men and women merely players, they have their exits and their entrances, and one man in his time plays many parts‹«, schrieb ich, einer plötzlichen Eingebung Meister Shakespeares folgend, um Mitternacht in fetten Lettern auf das letzte Blatt meines Schulzeichenblocks und heftete es von innen an die Wohnungstür. Eine Schulbildung, die es einem erlaubte, seine Stimmungen durch klassische Zitate aufzuwerten, war vielleicht doch nicht ganz zu verachten, mußte ich mir eingestehen.

We are merely players ... – das hatte Elisa als Kind schon gewußt. Und wenn es einen Regisseur in dem Stück gab, das wir aufzuführen hatten, dann hätte der mir keinen größeren Gefallen tun können, als an jenem Abend Ben und seinen Freund Julian bei uns auftauchen zu lassen. Allein zu meiner Rettung waren sie erschienen. Nachdem sie zehn Tage lang bei uns gewohnt und uns all ihre erlebten oder erfundenen Abenteuer zum besten gegeben hatten, packten wir unsere Siebensachen, sie und ich, um das Leben zu dritt miteinander auszuprobieren.

Meine Mutter war so erschöpft von dem Chaos, das die beiden Künstler und Weltverbesserer in ihren Haushalt gebracht hatten, daß sie uns ohne große Widerrede gehen ließ. Ben und Julian waren nämlich in Amerika zu Hippies geworden, was soviel wie »sentimentale Anarchisten« zu bedeuten schien. Sie redeten von »New Age« und »freier Liebe«, sie redeten überhaupt sehr viel, außer wenn sie kifften oder ihre Songs einübten. Julian war der Sänger, Ben der Gitarrist. Das poetisch-naive »blowin’ in the wind« gehörte zu ihren Lieblingsliedern und natürlich »San Francisco«. Ben stieg jedesmal wieder das Wasser in die Augen, wenn Julian sein »if you are going to San Francisco« anstimmte. »Be sure to wear some flowers in your hair«, sang dann auch Ben, nicht besonders schön, aber um so gefühlvoller. Ben hatte in Frisco, als er einmal zu Fuß und ohne die Absicht, sich umzubringen, über die Golden-Gate-Bridge spazierte, eine Vision gehabt, von der er meinte, daß sie sein Leben verändert hätte.

»Ich war in der Mitte stehengeblieben«, erzählte er, »um das Vibrieren unter den Füßen zu spüren – das ist ein viel intensiveres feeling, als nur ins Wasser zu sehen. Ich schwöre dir, Lisa, ich hatte an dem Tag keinen einzigen Joint und an dem Tag davor auch nicht; trotzdem geriet ich in einen tranceähnlichen Zustand, in dem ich Szenen aus einer fernen Vergangenheit nicht nur betrachten konnte, sondern ganz unmittelbar erlebte. Ich war Mönch, stellt euch vor, ich und ein buddhistischer Mönch! In einem safrangelben Gewand und in Holzsandalen sah ich mich über eine Holzbrücke gehen, die zu meinem Kloster im tibetischen Hochland führte. Ich war schon sehr alt und wußte, daß ich diese Welt bald verlassen würde. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich während der Abendmeditation die wichtigsten Begebenheiten meines Mönchslebens an meinem inneren Auge vorbeiziehen ließ. Nach dieser Rückschau, also in meiner damaligen Gegenwart, fand ich mich jedoch in einer völlig fremden Kulisse wieder, so utopisch wie für uns Heutige das Leben der Extraterrestrischen: Ich stand auf einer kühn konstruierten Brücke und starrte ins Wasser, bis ich das Gefühl hatte, selbst aus Wasser zu sein und mich ganz darin aufzulösen ... Als ich wieder in mein normales Bewußtsein zurückkehrte, war ich am anderen Ende der Golden-Gate-Bridge angekommen. – Es kam mir vor, als wäre ich mindestens einen Tag lang woanders gewesen, in Wirklichkeit waren nur ein paar Minuten vergangen. Seitdem«, schloß Ben, indem er blaue Marihuanakringel zwischen seine Worte blies, »weiß ich, daß wir nicht nur ein Leben haben.«

»Und daß es so etwas wie Zeit nicht gibt«, ergänzte Julian.

Er, der gebürtige Kalifornier, sprach im Gegensatz zu Ben ein beinahe akzentfreies Deutsch; es klang so akademisch, als käme er geradewegs vom Campus.

»Zeit ist eine Fiktion«, meinte er. »Gegenwart und Vergangenheit können sich je nach dem Zustand deines Bewußtseins überlagern.«

Ich mußte lachen, weil ich ähnliche Sätze in den letzten Tagen immer wieder aus dem Mund dieser beiden New-Age-Apostel gehört hatte.

»Ihr mit eurem Bewußtsein!« neckte ich sie und animierte sie damit zu weiteren Sentenzen. Sie wären in der Tat auf der Suche nach something bigger than life, erklärten sie mir.

Wer nicht? Ich nickte erfreut.

Materie, so erfuhr ich, könne nun einmal nicht in der Zeit reisen, wohl aber das Bewußtsein, da es an Zeit und Raum ja nicht gebunden sei. Von einer höherdimensionalen Warte aus schrumpften die zeitlichen Abstände gegen Null. Es herrsche »Gleich« zeitigkeit.

Mit Verschwörermiene, als ginge es um ein Spionagegeheimnis, nannten sie mir die Namen von amerikanischen Physikern, die schon seit vielen Jahren vermuteten, daß wir in unendlich vielen Parallelwelten gleichzeitig existierten.

Ich fand den Gedanken wirklich spannend, dennoch hatte er einen Schönheitsfehler: »Was weiß denn die eine Existenz von den anderen?«

»Meistens nichts, Lisa, und wenn doch, so hält man sie für psychisch gestört.«

Wir saßen alle um den Küchentisch meiner Mutter und aßen und rauchten, während wir versuchten, in die Mysterien der Zeit einzudringen. Ben nahm eine Gemüsezwiebel in die Hand.

»Stell dir vor, daß jede dieser Zwiebelschalen eine unabhängige parallele Welt ist, eine Realität für sich«, schlug er vor. »Alles geschieht nebeneinander und gleichzeitig.« Er stach mit einem Messer in die Zwiebel. »Und schon ein winziger Spalt erlaubt es uns, von einer Schale in die andere einzudringen, von der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft.«

Ich stimmte ihm zu, denn ich mußte an Elisas Babanonna-Geschichten und andere frühe Rückerinnerungen denken, die sich in das Parallelweltkonzept der Physiker fügten, als hätte das Kind sie eigens dafür abgerufen. Elisa hatte schon immer gewußt, daß es so etwas gab, nur die Erwachsenen weigerten sich, dem nachzugehen. Sie bestanden auf dem umgekehrten Vorgang: Um ernst genommen zu werden, so hatten sie es miteinander vereinbart, mußte ein Phänomen erst beweisen, daß es mit den derzeit bekannten Naturgesetzen übereinstimmte. War das nicht der Fall, durfte man es getrost ignorieren.

Ich mußte lange nachdenken, bis ich Worte fand, die intelligent genug wiedergaben, was ich meinte. Als Studierende ohne Schulabschluß war ich mir das schuldig.

»Mich müßt ihr nicht überzeugen«, sagte ich schließlich. »Die Zeit gehört zu den Themen, die es schon bei der geringsten Informationslücke ausschließen, daß man sich darüber unterhält.« Das klang wirklich gut und war nicht einmal angelesen.

Küken-Benno, der Heuchler mit seinem »Man darf niemanden vergessen, der uns einmal geliebt hat«, mochte von mir halten, was er wollte, allein seinem Freund Julian hatte ich Lust zu gefallen. Seine Augen, die so grün waren wie Blätter, sahen mich erwartungsvoll an.

»Du glaubst auch nicht, daß es so etwas wie Zeit gibt, Eliza?«

Er nannte mich »Eliza«, und wäre ich nicht schon Lilith, hätte ich es ihm gern erlaubt, den Professor Higgins zu spielen und mit mir im Duett »Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen« zu singen!

»Ich brauche es nicht zu glauben«, sagte ich. »Ich weiß es. Zeit ist für jeden etwas anderes. Für mich ist sie nichts weiter als das Echo eines Midrasch aus der Vergangenheit.«

Endlich hatte ich mein Stichwort gefunden.

Ich erzählte den beiden von meinem Gilgamesch-Traum, von Belcantos Café mit der Königin von Saba, von all den scheinbaren Zufällen, die mich am Ende zu Lilith geführt hatten.

»Wollt ihr meine Version der Schöpfungsgeschichte lesen?« fragte ich dann.

Wer sich jetzt zierte, hätte sich als Banause entlarvt.

Ben runzelte die Stirn. »Meinst du dieses Märchen vom Garten Eden? Deine Mutter sagt, du seist deswegen von der Schule geflogen.«

»Ja, aber es ist kein Märchen. Und jemand wie meine Mutter kennt immer nur die halbe Wahrheit.«

»Second hand ist nie gut«, bemerkte Julian. »Nur du kannst uns sagen, was du geschrieben hast, Eliza. Du bist – wie sagt man? – die Quelle.«

Flugs holte ich zwei Abiturzeitungen aus meinem Zimmer und gab sie den beiden. Ben las nur die ersten Sätze. Bekifft, wie er war, ließ er das Blatt gleich wieder sinken. »Verschwende deine Zeit nicht mit Theologenkram, Kleines«, belehrte er mich. »Highsein ist subversiver als Ketzerei!«

Julian dagegen überflog die erste Seite und wünschte dann, daß ich ihm die ganze Geschichte von Anfang an vorläse.

Mit mehr Herzklopfen als nötig tat ich ihm den Gefallen. Und während ich meiner eigenen Stimme zuhörte, die da etwas von einem »verschollenen Mythos« murmelte, bevor sie tapfer den eigentlichen Bibeltext vortrug, wurde mir die Geschichte mit jedem Wort fremder.

Jemand anderer als ich mußte sie geschrieben haben.

Ich, Lilith

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