Читать книгу Ich, Lilith - Gabriele M Göbel - Страница 9
4. Kapitel Am Anfang war Lilith
ОглавлениеNach gründlicher Lektüre der nun vollständigen Schrift über »Die erste Eva« fügte ich unserer nur allzu bekannten Schöpfungsgeschichte ein aufregend neues Kapitel hinzu: »Und sollte es nicht wahr sein, so ist es doch wahrer als das, was wir in der Schule gelernt haben«, behauptete ich einfach.
Nachdem ich meine verschiedenen Informationen in eine schöne Sprache gekleidet hatte, denn darauf legte ich Wert, fand ich den Text viel zu lang für eine normale Schülerzeitung, in der ja leider jede Jahrgangsstufe zu Wort kommen sollte. Ich ließ daher, auf eigene Rechnung und ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen, ein achtseitiges Sonderheft drucken und schummelte es am letzten Schultag unseren Abiturientinnen und deren Eltern unter ihr Festprogramm.
Während der Schulchor »Die Himmel rühmen« sang, saßen die Ehrengäste, einschließlich aller Schwestern, in den ersten Reihen und lasen mit sich rötenden Gesichtern, was ich für sie herausgefunden hatte.
Schon unsere Bibel, so schrieb ich, kennt zwei unterschiedliche Versionen der Schöpfungsgeschichte, die eine steht in »Genesis I«, die andere in »Genesis II«. Es lohnt sich, diese beiden einmal miteinander zu vergleichen, vor allem die Zeilen über »Die Erschaffung des Menschen«. Wir alle haben während unserer gesamten Schulzeit mit folgender Geschichte vorlieb nehmen müssen:
»Da ließ Gott der Herr einen Tiefschlaf auf Adam fallen, so daß er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloß deren Stelle mit Fleisch.
Gott der Herr baute die Rippe, die er dem Menschen entnommen hatte, zu einer Frau aus und führte sie ihm zu. Da sprach der Mensch:
›Das ist nun endlich Bein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Diese soll man Männin heißen; denn vom Manne ist sie genommen‹.«
(Genesis II, 21–23)
Die beiden kleinen Worte »nun endlich« verraten im Grunde alles. Adam hatte nämlich schon einmal eine Frau; und so steht es geschrieben: »Dann sprach Gott: ›Lasset uns Menschen machen nach unserem Abbild; uns ähnlich; sie sollen herrschen über des Meeres Fische, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über alle Landtiere und über alle Kriechtiere am Boden!‹
So schuf Gott den Menschen nach Seinem Abbild, nach Gottes Bild schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.
Gott segnete sie und sprach zu ihnen: ›Seid fruchtbar und mehret euch, füllet die Erde und machet sie untertan.‹«
(Genesis I, 26–28)
Diese zweite Version der Erschaffung von Mann und Frau wird uns von der christlich-jüdischen Geschichte meist zugunsten der ersten verschwiegen. Aus der Sicht der Männer eine ebenso verständliche wie wünschenswerte Wahl (nicht umsonst heißt ja das englische Wort für Geschichte »hisstory«!), aus der Sicht der Frau aber eine tragische Entscheidung, gibt sie doch von Generation zu Generation den Mythos von der weiblichen Unterlegenheit weiter. Eine Frau aus der Rippe des Mannes kann nun einmal nicht dieselbe Gottähnlichkeit haben wie er, was ihre Verführbarkeit durch die Schlange dann auch prompt bestätigt. Die Frau ist die moralisch schwächere.
Nicht einmal der Name von Adams erster Frau wird uns im Religionsunterricht verraten. Ihr Name war »Lilith«, und die Mythen der Welt wurden in all den vergangenen Jahrtausenden nicht müde, von ihr zu berichten. So war Lilith die dreifache Muttergottheit, die »Große Schlangenbraut«, der frühen matriarchalischen Stämme. In Mesopotamien wurde sie schon vor viertausenddreihundert Jahren von den Sumerern als Göttin verehrt, und auch das beinah doppelt so alte Gilgamesch-Epos besingt ihre Schönheit und Verführungskünste. In der jüdischen Mythologie lebt sie seit dem zehnten Jahrhundert vor Christus, und zwar zunächst als Göttin, bevor die Furchtsamkeit der Männer sie zur Dämonin machte.
Lilith verkörperte den Lebensdrang, der sich nicht assimilieren lassen wollte – das aber war den Menschen schon immer suspekt. Aus der kanonischen christlichen Bibel mußte sie sogar ganz verschwinden, weil man die Hinweise auf ihre Existenz nicht als göttlich inspirierte Eingebung anerkennen wollte, und den Patriarchen des Mittelalters erschien sie so unheimlich, daß sie selbst Liliths Töchter, die Lilim, noch fürchteten und verteufelten.
Die wichtigeste Quelle meiner Geschichte war das »Alphabet des Ben Sira« (9.–10. Jahrhundert n. Christus), das ursprünglich in aramäischer Sprache abgefaßt wurde und außer dem Leben des Autors am Hofe des neubabylonischen Herrschers Nebukadnezar (600 v. Chr.) auch die entscheidenden Szenen zwischen Adam und Lilith beschreibt. Und ich gestehe, daß ich um der Erzählung willen auch das eine oder andere Wort hinzugedichtet habe, denn sonst hätte mir das Schreiben keinen Spaß gemacht.
Ich widme meine Arbeit den Abiturientinnen unserer Schule, so schloß ich, »weil ich glaube, daß sie es mit ihrem »Zeugnis der Reife« verdient haben, auch von der Existenz Liliths zu wissen, war sie doch die erste Frau in der Geschichte der Menschheit, die den Herrschaftsanspruch des Mannes angefochten hat. Sich ihr verwandt zu fühlen, kann unser Leben verändern.
Ich appelliere an Euch, die nun erwachsenen Töchter Genovevas, diese Spur aufzunehmen, die ich für uns entdeckt habe, denn »es ist niemals falsch, sich auf die Suche nach dem zu machen, was die Seele braucht«.
An die Tür unserer alten Aula gelehnt, vergewisserte ich mich, daß mir alle, die begonnen hatten, in meiner Zeitung zu lesen, bis zu dieser Stelle gefolgt waren. Daraufhin stahl ich mich still davon. Den Rest, die eigentliche Geschichte über »Adams erste Frau« sollten die einmal auf den Geschmack Gekommenen ohne mich lesen. Und den Tumult, der unweigerlich folgen würde, konnte ich mir an einem schöneren Ort ausmalen.
»Du Elisa, bist eine Ketzerin und wirst immer eine Ketzerin bleiben«, orakelte die Schwester Oberin, nachdem meine Strafen verhängt und mein Schicksal beschlossen waren.
Ich versprach, mein Bestes zu tun. Daraufhin schwieg sie ausgiebig, und ich erwiderte ihr Schweigen. Das letzte Wort sollte sie sprechen müssen.
»Woran denkst du?«
Ich stand mit dem Rücken zum Licht und beobachtete meinen Schatten.
»Sprich, damit ich dich sehe«, sagte der Priester zur Delinquentin in der Todeszelle. Wenn ich mir das nicht gerade ausgedacht hatte, mußte es aus einem Theaterstück sein.
Hildegardis’ Stimme kam aus der finstersten Ecke der alten Bibliothek. Die Schwestern hatten ganze Wände voll frommer Werke, aber nur eine einzige Leselampe. Wer hier nach Erkenntnis suchte, würde sich die Augen verderben.
»An eine Hellseherin, die im Dunkeln sitzt, ehrwürdige Mutter.«
Ich wiederholte mein Wortspiel, weil ich es für besonders gelungen hielt und sicher sein wollte, daß die Schwester es nicht überhörte. Sie ließ sich aber von mir nicht provozieren. Ich wünschte, sie würde sich der Geschichte zuliebe eine letzte Blöße geben, doch den Gefallen tat sie mir nicht. Minuten später merkte ich, daß sie den Raum durch eine Büchertür, die ich nicht kannte, verlassen hatte. Das Spiel war aus und niemand applaudierte. Mir fehlte das Publikum, zu guter Letzt doch.
»Was sagst du dazu, Lilith? Sprich, damit ich dich sehe!«
Mit angehaltenem Atem wartete ich auf Antwort.
Die wurmstichigen Holzregale bogen sich unter der Last der alten Wälzer. In regelmäßigen Abständen knackte es im Holz, und in den Pausen wehte plötzlich ein Wispern aus den Falten des Fenstervorhangs hinüber zu mir. Ich spitzte die Ohren und verstand es wohl: »Was kümmert dich das Publikum, Elisa? Pfeife drauf, falls du das gelernt hast. Mädchen, die pfeifen ... Du weißt schon. Und erwarte niemals Beifall, Gunst oder Gegenliebe von anderen, auf daß du nicht Schaden nimmst an deiner Lebensfreude inmitten von Strapazen!«
»Hörst du etwa Stimmen, Elisa?« hatte die lammfromme Laetitia mich einst gefragt, als mein Benehmen sie an meinem oder ihrem Verstand zweifeln ließ.
»Und Sie, Laetitia, hören Sie etwa keine? Nein? Dann fürchte ich, wird man Sie niemals heiligsprechen!«
Lilith hatte recht. Was meine Texte über den Tag hinaus mit dem Schulvolk machte, brauchte mich nicht mehr zu interessieren. Ich hatte das Resultat meiner Suche nach dem Baum der Erkenntnis allen mitgeteilt, ob Genovevas Töchter seine Früchte nun kosten oder verschmähen wollten, ging mich nichts mehr an. Ich brauchte ihre Nähe nicht länger zu suchen. Ein nie wiedergutzumachendes Sakrileg hatte die Oberin mir eben noch vorgeworfen. Was wollte ich mehr ...
Am Abend hieß ich die dreizehnte Fee zu Hause bleiben, als die ich mich eigentlich ungeladen unter die Gäste des Abiturballs hatte mischen wollen. Leicht fiel mir der Entschluß nicht. Zu lange schon hatte ich mich an der Vorstellung geweidet, wie ich mich in meine viel zu kleinen roten Schuhe zwängen würde, um mich darin genüßlich zu Tode zu tanzen – fürwahr, ein Schauspiel nach Liliths Geschmack! Oder wie ich um Mitternacht im geliehenen Bauchtanzkostüm aufträte, um inmitten der höheren Töchter meinen mit falschen Diamanten geschmückten Bauchnabel kreisen zu lassen. Eines der Straßenmädchen hatte mir diese Kunst beigebracht und behauptet, ich sei ein echtes Naturtalent. Eine orientalische Nacht unter Nonnen wäre ein letztes Wagnis wert gewesen ...
Nun aber ließ ich Scheherazade in meiner Phantasie bauchtanzen und leistete statt dessen meiner unglücklichen Mutter Gesellschaft. Bei einer lange gehorteten Flasche zähflüssigen Eierlikörs – der einzige Alkohol, den sie vertrug – stimmte sie ihr Lamento über den »Prototyp des frühreifen und verdorbenen Teenagers« an und meinte damit Elisa, die Tochter.
»Sie lügt, sie hintergeht, und das Schlimmste: Sie gibt niemals etwas zu«, klagte sie einem unsichtbaren Zeugen, denn der rote Karotto hatte beizeiten das Weite gesucht. (Das Weite suchen, dachte ich, was für eine Metapher! Das Weite suchen und das Weitere finden ... Weiß der Himmel, das wollte ich auch!)
»Vielmehr macht sie sich einen Spaß daraus«, fuhr meine Mutter fort, »Zweifel und Unsicherheit zu säen. Und diese scheinheiligen Schwestern ...« – dies war ihr nun beinah das Ärgste – »lehnen jede Verantwortung dafür ab. Sie waschen ihre Hände in Unschuld wie Pontius Pilatus in ihrer Bibel. – Stell dir vor, Lisa, was ich ihnen zu sagen hatte, interessierte sie überhaupt nicht. Wie findest du das?«
Nicht einmal rächen konnte sie sich ohne mich!
»Haben sie dir denn keine Adresse gegeben? Kein Heim für gefallene Mädchen genannt? Keine Schule für Schwererziehbare? Keine geschlossene Anstalt?« erkundigte ich mich teilnahmsvoll. Ich war ja kein Unmensch, ganz im Gegenteil: Ich wollte alle Welt glücklich sehen, von der Unwissenheit befreit. »Irgendein Knast wird ihnen doch eingefallen sein!«
Sie schüttelte erbittert den Kopf. Man hatte die Tochter von der Schule gewiesen und die Mutter mit ihren Sorgen allein gelassen.
»Dann weiß ich auch nicht, was du mit mir anfangen sollst, Mama. Am besten überläßt du es mir.«
Ob es an der Süße des Eierlikörs lag oder an der des Wortes »Mama«, das ich seit Jahren nicht mehr in den Mund genommen hatte, wer weiß. Jedenfalls gestattete mir meine Mutter nach dem fünften Glas, ihr die Last meiner Erziehung ein für allemal von den müde gewordenen Schultern zu nehmen.