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1. Kapitel Genoveva im Schnee
ОглавлениеAm Anfang war Lilith. Ich erinnere mich noch an den Ort – ein verwahrloster Park hinter einem düsteren Gebäude – und die Jahreszeit, zu der ich diese Worte erst dachte, dann in den frischgefallenen Schnee auf dem Brunnenrand schrieb, dann neunmal laut vor mich hinsprach. Ich hatte den Text einer vergessen geglaubten Schöpfungsgeschichte wiederentdeckt und brauchte irgendein Ritual, um ihn der Menschheit zurückzugeben. Ein Ritual unter Zeugen.
Die heidnische Genoveva auf ihrem Sockel über den zugefrorenen Wassern schien mir genau die richtige zu sein. Sie war auch nicht allein. Ihre Linke ruhte auf dem Hals eines Fabeltieres; weißhäuptig vom nächtlichen Neuschnee, schaute es ergebenen Blickes zu ihr auf. Sie war eine Magierin aus den Wäldern Galliens und konnte sich in eine Hirschkuh verwandeln, wenn sie eine Jagdgesellschaft zum Narren halten wollte. Tagelang, so wollte es die Sage, ließ sie sich von der Meute jagen, fangen jedoch niemals ...
Auch die Geschichte drohte in Vergessenheit zu geraten, dabei hatte die Figur der Genoveva schon an ihrem Platz in der Brunnenmitte gestanden, als Park und Gebäude noch nicht der Kirche gehörten. Eiszapfen unter dem Kinn ließen die weiße Hindin an jenem Tag wie eine ganz gewöhnliche Ziege aussehen.
Trotz des Frostes trug ich nur ein ausgefranstes Wolltuch über dem vorgeschriebenen Schulkleid. Mäntel mochte ich nicht. Auch meine stumme Schwester aus Stein besaß nicht mehr als ein Lumpenhemd und langes Haar, das ihr die Schultern wärmte. Ich war froh, daß unsere Schule wenigstens Genovevas Namen trug. Zuvor hatten anonyme Kirchenväter oder deren fromme Töchter ihr allerdings eine andere Legende auf den bloßen Leib geschrieben: An eine keusche Pfalzgräfin, der die eheliche Treue mehr bedeutete als ihr Leben, wollten sie uns glauben machen. An eine »heilige« Genoveva, die in ihrem Versteck im Wald ein heiliges Kind gebar, das sie Tristan nannte. Eine heilige Hirschkuh, die es nährte.
Das Denkmal draußen im Brunnen paßte ganz und gar nicht zu dieser Version, doch das störte niemanden drüben im Haus. Man durfte den Nonnen keinen Glauben schenken. Sie waren geradezu versessen auf jungfräuliche Gemahlinnen und schmerzensreiche Mütter. Ich aber wußte es besser: Eine Göttin wie Genoveva verkannte und verbannte man nicht. Niemals wäre sie das Opfer einer höfischen Intrige geworden, kein armer Schelm namens Golo hätte es gewagt, sie aus verschmähter Liebe in ein Drama zu verwickeln. Genoveva war wie Lilith, unantastbar und nicht allein von dieser Welt. Durch mein Ritual hatte ich nur zusammengeführt, was zusammengehörte. Ich bewunderte Lilith, wäre aber nicht weniger gern eine Zauberin wie Genoveva gewesen, mit nichts als Luft bekleidet sein und die Haare hängen lassen. In einem Land leben, in dem es keinen Winter gab ...
Was ich jenem Frosttag sonst noch draußen im Park wollte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nur ungehorsam sein; mit einer Zigarette im Mund Rosen unter dem Schnee suchen und mir dabei frühreife Spiele für meinen ersten Liebhaber ausdenken. Es kann auch alles ganz anders gewesen sein. Die Erinnerung ist der größte Dichter. Der Schule, dem ödesten Ort auf dieser Erde, fühlte ich mich zu der Zeit längst entwachsen. Zehn lange Jahre hatte ich es geduldet, daß man uns Gebote lehrte, ohne sie zu begründen, Gebete, bei denen wir nichts empfanden, und Theorien, die abstrakt blieben, weil es uns nicht erlaubt war, sie mit Erfahrungen zu füllen. Die Hoffnung, daß wir noch einmal zum Wesentlichen kommen würden, hatte ich schon in den unteren Klassen aufgegeben. Die anderen brauchten einfach zu lange, um zu verstehen. Sie kannten wichtige Worte ihrer eigenen Sprache noch nicht, übten aber wie die Papageien, in fremden Zungen zu reden, was man ihnen vorsprach. Sie gehorchten den obszönen Befehlen der einzigen weltlichen Person im Haus des Erzbischofs, einer magersüchtigen Turnlehrerin, die das Tamburin schlug und mit brüchiger Stimme zum Beinegrätschen und Bockspringen einlud. Im Spagat den staubigen Fußboden küssen oder wenigstens mit der Stirn berühren. Quälten ihren armen Geist mit mathematischen Gleichungen, die ein Verrückter sich ausgedacht hatte, Zeichen der Willkür ohne sinnlich wahrnehmbare Bedeutung. Die wirklichen Abenteuer hatten in den Köpfen stattzufinden; diese Spielregel kannten wir alle. Wer sich nicht darin hielt, wurde in ein abgegriffenes Buch eingetragen, eine Art Pranger für Unbelehrbare. »Elisa gibt laufend Widerworte, hat grundlos gelacht, unter dem Tisch fragwürdige Lektüre gelesen.« Eine Chronik pädagogischer Hilflosigkeit.
Ich habe nie verstanden, was sie sich davon versprachen, und sammelte Tadel wie andere Briefmarken oder Heiligenbildchen. Wagte ich es dann immer noch, den Dämmerschlaf im Klassenraum durch Gelächter oder vorlaute Fragen zu stören, durfte ich draußen im Flur auf und ab gehen, bis mich der elende Geruch der Feuchtigkeit und Küchenmief ausdünstenden Schulmäntel wieder reumütig an meinen Platz zurücktrieb oder ganz hinaus in den Park. Das allerdings kam einer Todsünde gleich. »Schülerin E. hat das Haus ohne Erlaubnis verlassen. Eigenmächtig.« – eine ganz und gar nicht erwünschte Fähigkeit.
»›Herr, dein Wille geschehe‹, heißt unser tägliches Gebet«, behaupteten seine selbsternannten Stellvertreter. »Ob es dir nun gefällt oder nicht, Elisa! Wo kämen wir denn hin, wenn jeder täte, was ihm in den Sinn kommt?«
Jawohl, Herr Pastor, Fräulein Doktor, ehrwürdige Mutter. Behaltet eure Worte, ich kenne sie schon alle. Nicht nur Genoveva konnte sich in eine andere verwandeln, um ihren Peinigern zu entkommen. Ich konnte es auch.
Am Anfang war Lilith. Ich allein hatte das herausgefunden und damit den letzten Akt einer Kindheit eingeleitet, deren Ende ich herbeisehnte wie die Erlösung von einem Übel. Es ging dann auch alles sehr schnell. Wenige Wochen nachdem ich unseren Abiturientinnen die frohe Botschaft in aller Öffentlichkeit kundgetan hatte, durfte ich die Schule mit dem schönen Namen für immer verlassen. Die großherzige Genoveva hätte sich zweifellos mit einer Ketzerin verbündet, statt sie zu vertreiben, nicht so die frommen Frauen auf der anderen Seite des Parks, darunter meine Lieblingslehrerin Laetitia, die jedes Jahr zu Karneval mit soviel Inbrunst das Lied vom »treuen Husar« schmetterte. Immer hatte ich dahinter einen nie verwundenen Schmerz vermutet, von dem sie womöglich selbst nichts mehr wußte und der nur einmal im Jahr zum Vorschein kam. In allen übrigen Tagen zeigte sie eine andere Seite: Vollkommen entrückt sah sie aus, wenn sie zusammen mit den Schwestern Psalmen sang; es war unmöglich, ihre Stimme aus denen der anderen herauszuhören. Im Chor legten sie Wert darauf, wie aus einem Mund zu singen, dezent und verhalten. Niemand durfte sich besonders hervortun. »Ave Maria« ... Vokale wie Weihrauch. Sie stiegen himmelwärts und vergingen.
Ich liebte Laetitia wegen dieses Geheimnisses, das sie vermutlich hütete. Eine Zeitlang hatte ich sogar um ihre Freundschaft gebuhlt, in der Hoffnung, daß sie sich mir eines Tages anvertrauen werde. Sie aber wich mir aus, als würde der kostbare Schatz, der im Herzen einer Klosterfrau begraben war, zu Staub zerfallen, wenn man ihn berührte.
Laetitia fand kein Wort zu meiner Verteidigung. Stumm stand sie neben der Schwester Oberin und sah mich an wie eine Fremde.
»Wie konntest du die Schöpfungsgeschichte so entstellen, Elisa? Gott lästern und unseren Glauben verraten?«
Die Brillengläser der Oberin funkelten im heiligen Zorn.
»Sollten wir die Texte nicht wenigstens kennen, die man im Laufe der Zeit aus dem Alten Testament entfernt hat? Nicht einmal fragen, wann und in wessen Interesse sie gestrichen wurden? Wenn Sie eine Frau wären, ehrwürdige Mutter, würden Sie es wissen wollen!«
Nein, so antwortete ich ihr nicht, nicht mit diesen Worten und mit anderen auch nicht. Ich lachte nur auf dreierlei Weise, verführerisch, dämonisch und göttlich, so wie die Lilith in meiner Geschichte.
»Was bist du nur für ein Menschenkind, Elisa?«
Die Frage meiner ratlosen Mutter aus dem Mund dieser Schwester.
Es war einmal und ist noch nicht vorüber. Die Ereignisse wiederholen sich so lange, bis wir ihren Sinn erkennen.