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3. Kapitel Hexen der Nacht
ОглавлениеWochen darauf kam so viel Bewegung in unsere häusliche Szenerie, daß ich die Schöpfungsgeschichte für eine Weile vergaß.
Mein Vater machte den zwanghaften Ritualen von Schuldzuweisungen und Hysterie ein Ende, indem er einfach von zu Hause fortblieb. Er hatte uns verlassen, das ließ sich bald nicht mehr übersehen. Er konnte mein wirklicher Vater nicht sein, wiederholte mein kindlicher Gerechtigkeitssinn. Da er nur sporadisch Geld schickte, sah sich meine Mutter, die nie in ihrem Leben berufstätig gewesen war, gezwungen, ihren Teil selbst zu verdienen. Sie erledigte Schreibarbeiten in einer Ohrenarztpraxis und vermietete eines unserer drei Zimmer an einen Studenten der Theologie.
Ich sah gleich, daß er gut zu mir paßte. Karl-Otto besaß nichts außer einem Goldfischglas, einer Gitarre und einer Sammlung heiliger Schriften. Er hatte hellrotes Haar wie ich als kleines Kind. Ich nannte ihn »Karotto« und ließ ihm Zeit. Zeit, mit meiner Mutter die lang entbehrten Freuden der Liebe zu teilen. Zeit, sich auf das vorzubereiten, was ich eines Tages mit ihm anstellen würde. Denn die Künste meiner prüden Mutter, da war ich mir sicher, würden ihn bald langweilen.
»Alle Ehefrauen sind schlecht im Bett«, hatten mir meine Sonnenhuren verraten, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Der Engel, den die Großmutter bei meiner Geburt gesehen haben wollte, mochte mir möglicherweise die Lippen versiegelt haben – die Kerbe unter meiner Nase war wirklich ausgeprägt genug –, nicht aber die Quelle des Wissens jenseits der Worte. Jedenfalls konnte ich mir die Spielarten der körperlichen Liebe noch sehr gut vorstellen. Der Student Karotto, den meine Mutter hofierte, als wäre er der Mann ihres Lebens, sollte mein erstes Versuchsobjekt werden. Dazu war er ausersehen worden, und nicht nur von mir, denn an den Zufall glaubte ich schon damals nicht.
Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, saß ich, noch ganz das brave kleine Mädchen, auf seinem Schoß und blätterte in seinen Büchern. Mehr als die Evangelien, die ich ja zum Teil aus der Schule kannte, interessierten mich Schriften mit dem geheimnisvollen Namen »Die Apokryphen«.
»Kann ich diese Schriften mal lesen?« fragte ich.
Karotto lachte schallend. »Du schreckst auch vor nichts zurück, bella Elisa! In deinem Alter lesen kleine Mädchen allenfalls Pferdebücher. Die Apokryphen aber sind jahrhundertealte Geheimschriften, außerbiblische Überlieferungen, die immer nur einem nicht allzu großen Kreis von Eingeweihten bekannt waren.«
»Und worum geht es dabei?«
»Um religiöse Texte, von denen die Kirche nichts wissen will.«
Schon das Wort »Geheimschriften« hatte mein Herz höher schlagen lassen, nun aber begann mir die Kopfhaut unter dem Lockenfell zu kribbeln und auch die Sohlenhaut meiner empfindlichen Füße.
»Dann müssen die Texte wahr sein«, behauptete ich.
»Ich glaube, ja«, sagte Karotto ernst. »Wenn etwas in der Lehre der Kirche nicht vorkommt und auch von der Religionsgeschichte verschwiegen wird, verbirgt sich dahinter häufig eine unliebsame Wahrheit.«
Zufrieden lehnte ich mich zurück an Karottos schmale Theologenbrust. »In der Schule nennen sie mich eine ›Ketzerin‹, wenn ich nicht glauben will, was in der Bibel steht.«
»Über die wichtigsten Themen lernt man nichts in der Schule und auch nichts an der Universität«, bestätigte mein Herr Student. »Mit den wirklich brennenden Fragen der Theologie stehst du allein, sobald du sie stellst.«
Genau das hatte ich hören wollen. Diesen Karotto mußte mir der Himmel geschickt haben, wenn nicht die Hölle! Überschwenglich küßte ich sein bärtiges Kinn.
Bei meiner nächsten Sitzung auf Karottos Schoß bemerkte ich außer gewissen Regungen, die mir nicht wenig Vergnügen bereiteten, ein Buch mit dem Foto einer Steinskulptur – ein »sumerisches Relief« nannte es mein leicht verlegener Lehrer -, das mich auf der Stelle gefangennahm. Es zeigte eine nackte Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Besonders bemerkenswert erschienen mir die riesigen Flügel an ihren Schultern und ihre überlangen Raubvogelfüße mit den scharfen Krallen. Sie hatte wunderbar gerundete Brüste und auf dem Kopf eine hohe Haube, deren Form mich an ein Schneckenhaus erinnerte. In jeder Hand hielt sie eine Art Ring. Es sei das Omega-Symbol, sagte Karotto. Ich hatte so ein Wesen noch nie gesehen, und es berührte mich tief. Bestimmt war sie eine Göttin oder Zauberin. Geheimnisvoll lächelnd stand sie auf dem Rücken von zwei in die entgegengesetzte Richtung blickenden Löwen, während zu ihrer Rechten und Linken zwei große Eulen saßen, die ihr bis zu den Knien reichten und dieselben Flügel und Füße besaßen wie die Göttin selbst.
Als ich mich von meinem Staunen erholt hatte und mir ein wohliger Schauer nach dem anderen über den Rücken lief, las ich den Text, der dazu gehörte, erst leise, dann laut, damit auch Karotto sich damit beschäftigte: »›Furchtbar ist sie, ungestüm ist sie, sie ist eine Göttin, schrecklich ist sie. Sie ist wie ein Leopard. Ihre Füße sind diejenigen eines Vogels. Ihr Schrei ist der einer Eule. Ihre Hände sind schmutzig. Ihr Gesicht ist das eines starken Löwen. Ihre Haare sind aufgelöst, ihre Brüste sind entblößt. Ihre Hände sind im Fleisch und Blut. Sie dringt durch das Fenster ein, sie schleicht sich an wie ein Schlange. Sie tritt in das Haus ein, sie geht aus dem Haus wieder weg ...‹«
Vor Aufregung versagte mir die Stimme. »Wer ist das?« krächzte ich.
»Manche halten sie für die Große Göttin ›Inanna‹, die sich die Männer von der Straße in ihren Tempel holt, andere für ›Ischtar‹, die heilige Dirne«, antwortete Karotto. »Schwer zu sagen, wer recht hat, dieses Relief ist schließlich dreieinhalbtausend Jahre alt. Für mich kann die Schöne nur eine sein: die Nachthexe ›Lilith‹!«
»Und was tut eine Nachthexe?« Unruhig rutschte ich auf Karottos Schoß hin und her.
»Sie und ihre übermütigen Töchter, die Lilim, verführen keusche Geistliche und solche, die es werden wollen.«
»Und wie machen sie das?« Ich wagte es kaum, auf eine Antwort zu hoffen, doch Karotto schien vollkommen vergessen zu haben, daß es angeblich noch Kinderohren waren, die ihm zuhörten. Oder er hatte mich als einziger erkannt.
»Wenn ein solcher Mann, zum Beispiel ein Mönch, tief schläft, hockt sich eine der Lilim über ihn und treibt es so heftig mit ihm, daß er nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Manch geplagter Mensch hat sich des Nachts schon ein Kruzifix an seinem Ding befestigt, um damit die Nachthexen abzuwehren. Hatte er dann trotzdem einen feuchten Traum, erscholl – so wird erzählt – das unflätige Gelächter Liliths in den Klostergängen.«
Der rote Karotto schien zu wissen, wovon er sprach, mir war, als hätte auch er ein eisernes Kreuz unter seinen Jeans versteckt.
»Deine Lilith gefällt mir!« sagte ich, und er drückte mich noch fester an sich.
»Sie ist die ärgste Herausforderung des mönchischen Lebens. Darum sollte ich mich lieber nicht mit ihr beschäftigen«, sagte er mit einem Seufzer. »Sie war übrigens Adams erste Frau.«
»Die erste Frau hieß aber Eva, das weiß nun wirklich jedes Kind!«
Alles glaubte ich unserem Herrn Studenten in seiner momentanen Verwirrung dann doch nicht.
Er schüttelte heftig den Kopf. »So lernt man es im christlichen Religionsunterricht. Die jüdische und babylonische Mystik aber weiß es besser, und auch in den aramäischen Zaubertexten steht, daß Adam schon vor Eva eine Frau hatte, die Lilith hieß. Und sie war auch nicht aus seiner Rippe geschaffen, sondern aus der gleichen Erde wie er.«
»Ich hab’s doch gewußt!« Karotto schrie vor Schmerz, so wild ritt ich auf seinem Schoß.
»Was hast du kleines Luder gewußt?«
Meine Mutter, die wir durch meinen Temperamentsausbruch nicht hatten nach Hause kommen hören, öffnete die Tür, sah uns in die erhitzten Gesichter und zog die falschen Schlüsse.
»Daß die Geschichte von Adam und Eva eine Lüge ist«, sagte ich; dann strich ich meinen Rock glatt und stieg unter Mutters argwöhnischen Blicken vom Schoß ihres Schatzes.
Sie war Eva und ich Lilith. Lilith würde siegen.
In der Nacht träumte ich von einem smaragdgrünen Pfau, der ein Rad schlug. Imposant sah er aus, sich seiner Wirkung vollkommen bewußt. Die großen goldumrandeten Augen seiner Schwanzfedern betrachteten eine barleibige Frau, die eine Feige aß. Soviel sie auch aß, die Feige blieb frisch und heil. Schließlich bot sie dem Pfau ihre purpurfarbene Frucht an. Der aber schloß seine vielen Augen, eines nach dem anderen, und sagte:
»Da du den bunten Vogel liebtest, hast du ihn geschlagen und ihm die Flügel gebrochen, da du den Löwen liebtest, grubst du ihm Gruben, sieben und abermals sieben, da du liebtest das schlachtenfromme Roß, hast du ihm Stachel und Peitschenschnur bestimmt und sieben Doppelstunden zu rennen, da du deines Vaters Palmgärtner liebtest, der ständig Körbe voll Datteln dir brachte, täglich prangen ließ deinen Tisch, hast du ihn geschlagen und in den Schatten seiner selbst verwandelt, auch ließest du ihn wohnen inmitten von Strapazen ...«
Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und liebst du auch mich, so machst du mich jenen gleich.«
Die barleibige Frau aber lachte ihn aus. »Und hättest du die Frucht genommen, die ich dir bot, so hättest du von meinem Fleisch gegessen.«
Ich erwachte von einem Pfauenschrei, der mein eigener war.
Benommen setzte ich mich auf, der Mund war mir wie ausgedörrt, das Gesicht tränennaß. Nie zuvor hatte mir eine Traumstimme eine so lange Botschaft überbracht. Bestimmt war sie sehr wichtig und würde nicht wiederholt werden. Wenn ich nicht sofort notierte, was ich gehört hatte, würde ich bis zum Morgen alles vergessen haben. Ich suchte Papier und Bleistift und schrieb auf, was ich behalten hatte. Sollten wirklich all diese Worte aus dem Schnabel eines Pfaus gekommen sein? Ich versuchte, mich in mich selbst zurückzuziehen wie in meiner Kinderzeit, mich mit geschlossenen Augen in einer Spirale zu verlieren, bis ich den Punkt erreicht hatte, an dem mein Ich sich auflöste. Nur von da aus würde ich die Antwort erhalten.
Doch wieder war es nicht still genug in der Wohnung. Nebenan vergnügte sich meine Mutter mit meinem zukünftigen Liebhaber, und sie tat es mit Absicht so geräuschvoll wie möglich. Noch nie hatte ich sie dabei so laut stöhnen gehört. Menschen, die bei der Liebe keuchten und stöhnten wie bei einem Ringkampf, waren mir ebenso zuwider wie solche, die nächtelang stritten. Eines klang so lächerlich wie das andere. Von Karotto kam kein Laut. Durch einen Türspalt sah ich das Auf und Ab seines Körpers über dem ihren; er bewegte sich schnell und rhythmisch wie eine Maschine. Karotto hatte die Augen fest zugekniffen, sein ganzes Gesicht war eine verzerrte Maske. Auch meine Mutter lag in einer Pose erstarrt da, mit seltsam verrenkten Beinen, mit ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt. Karotto hielt ihre Handgelenke fest umfaßt; er ließ ihr keinen Spielraum unter seiner Last. Meine Mutter konnte wie immer außer ihrem Mund nichts bewegen. Es war alles nur Theater.
Zwei Stunden später wurde es draußen vor meinem nackten Fenster endlich hell. Ich hätte ohnehin nicht mehr einschlafen können. Graublaues Zwielicht kündigte einen jener Tage an, die uns daran erinnern, daß das Leben kurz ist, viel zu kurz, um es mit Nichtigkeiten zu vergeuden. Ich täuschte Halsschmerzen vor und blieb liegen, bis meine Mutter – sie war aufgekratzt wie nach einer Ballnacht – und ihr Traumtänzer die Wohnung verlassen hatten. Sofort lief ich hinüber in Karottos Bude, um ungestört in seinen Büchern zu stöbern. Da ich gründlich vorgehen wollte, begann ich mit dem Alten Testament, mußte mich aber nach zeitraubender Suche mit einer einzigen Zeile begnügen, in der wenigstens Liliths Name erwähnt wurde: »... Fuchs und Luchs begegnen sich, struppige Böcke treffen einander, auch die Lilith wird dort rasten, eine Ruhestatt finden für sich.«
Soweit der Prophet Jesaias. Zumindest legten seine Worte nahe, daß Lilith allgemein bekannt gewesen war. Eine aufschlußreichere Textstelle oder einen Hinweis auf Liliths Verbindung zu Adam fand sich nicht; ich hatte auch gar nicht damit gerechnet. Wie jedermann weiß, ist unsere gute alte Bibel im Laufe der Jahrhunderte mehrfach falsch abgeschrieben und nach Belieben überarbeitet worden. Selbst unser müder Haus geistlicher hatte das in einer schwachen Stunde zugeben müssen. Zum Glück gab es noch etwas anderes als die Bibel. Ich nahm jede von Karottos alten Schwarten in die Hand und blätterte darin, ohne etwas Brauchbares zu entdecken. Gern hätte ich mich hier und da festgelesen, vor allem in einem verschrobenen »Ehzuchtbüchlein« aus dem 16. Jahrhundert, in dem es hieß:
Er ist die Sonn’ sie ist der Mond.
Sie ist die Nacht, er hat Tagesmacht.
Was nur von der Sonnen, am Tag ist verpronnen.
das kühlt die Nacht, durch des Mondes Macht.
Hörte sich ganz gut an, aber würde es mich zu Lilith führen?
Erst als ich alle Bücher aus dem Regal geräumt hatte, sah ich, daß Karotto dahinter Stapel von schlecht gedruckten, lose zusammengehefteten Papieren verwahrte, wahrscheinlich Raubkopien irgendwelcher Bücher, die er sich nicht leisten konnte. Das am stärksten vergilbte und daher kaum noch lesbare Bündel hatte einen Titel, der mich nicht weniger elektrisierte als gestern das Lilith-Relief: Die erste Eva – über den dunklen Aspekt des Weiblichen, las ich. Das mußte es sein, mein Buch der Bücher! Ich hätte es zu gerne gleich und in Karottos Bett liegend verschlungen, doch an seiner Steppdecke haftete noch der Geruch meiner Mutter, und so trug ich meine kostbare Beute hinüber zu mir und kuschelte mich damit in meine eigenen Kissen. Ich las wie im Rausch, obwohl mir der Magen knurrte und ich seit dem Pfauenschrei in der Nacht auch nichts mehr getrunken hatte. Bald wußte ich, daß es eine Fülle von Lilith-Quellen gab, wie man sie sich aufregender kaum wünschen konnte. Die Frau, nach der ich forschte, hatte ebenso viele Namen wie Eigenschaften, wurde Lamaschtû und Lamia genannt, auch Lahvla, Leila, Karina und Inanna. Kaum ein weiblicher Name, der nicht zu ihr gehörte. Ebenso facettenreich war ihr Charakter, und einem Mann zeigte sie sich immer ganz anders als einer Frau. Lilith verkörperte die göttliche Dirne, die Verführerin aller Männer, aber auch das Wüstengespenst, die kinderwürgende Dämonin und die furchtbare, den Nachwuchs verschlingende Mutter. Sie war die Herrin über das Dunkle, zugleich aber die Eingeweihte, die ihren Geliebten für das Höhere begeisterte und ihn an seine göttliche Herkunft erinnert. Welche Rolle Adam, ihr erster Mann, dabei spielte, war mir noch nicht ganz klar geworden; zumindest schien er Lilith als weibliche Gottheit verkannt zu haben, doch das konnte noch nicht alles sein. Lilith entzog sich jeder Eindeutigkeit.
»Sie konnte der Sonne Licht schenken und dem Wind Musik«, schwärmten die einen, während andere sich mit babylonischen Bannsprüchen gegen sie wappneten wie: »Du sollst deine Füße nicht in den Abdruck meiner Schritte setzen. Wohin ich gehe, sollst du nicht gehen. Wo ich eintrete, sollst du nicht eintreten.«
Im jüdischen Talmud wurden die Jünglinge gar gewarnt: »Man darf nicht allein in einem Haus schlafen, denn wer in einem Haus allein schläft, wird von der Lilith überfallen.«
Was für ein Fund! Frohlockend legte ich die wundersamen Papiere zur Seite. Ich schloß die Augen und öffnete sie gleich wieder. Wenn ich meiner Mutter nicht begegnen wollte, sollte ich das Haus jetzt lieber verlassen. Ich stand auf und ging unter die Dusche, betrachtete amüsiert meine Füße im Wasser. Sie waren zu lang und viel zu empfindlich. »Mehr Vogelklauen als Menschenfüße«, hieß es in der Lilith-Literatur. Jedenfalls nicht normal – und damit meinen eigenen ähnlich. Auch Liliths Eigenschaften entsprachen den meinen, von den bereits vorhandenen bis zu den gewünschten. Von der Kindermörderin, die meine Mutter immer noch in mir sah, über die Eingeweihte, die ich aus mir sprechen hörte, sobald ich meine Worte nicht bewußt wählte, bis zur Männerverführerin, die ich einmal werden wollte. Kurz, die schillernde Lilith schien mehr mit mir zu tun haben, als ich es mir gestern abend noch hatte träumen lassen. Ganz berauscht durch meine Entdeckung, beschloß ich, den Nachmittag in Belcantos Eiscafé zu verbringen, dem Treffpunkt aller Schulschwänzer und Tagediebe. Auf dem Weg dorthin fiel mir ein, daß ich mich als kleines Kind ja stets »Lili« genannt hatte. Mit Karottos Schriften unter dem Arm tanzte ich über die Straße, als hätte die Frühlingsluft mich betrunken gemacht.
»Du warst zwei Wochen nicht hier«, sagte Belcanto vorwurfsvoll; trotzdem spendierte er mir eine große duftende Tasse Capuccino, die ich gar nicht bestellt hatte. »Und du wirst jeden Tag schöner. Eine wie du ist für die Nonnenschule viel zu schade.«
Belcanto, der Schaumschläger. Seine eigene Tochter, kaum weniger hübsch als ich, saß in meiner Parallelklasse. Ich hatte an dem Tag keine Lust, auf seine Komplimente einzugehen, so schmeichelhaft sie auch waren. Er zuckte die Achseln und bediente schweigend eine mächtige dunkelhäutige Frau am Nachbartisch. Mit ihrem hohen gewundenen Kopfputz und einem smaragdgrünen Umhang sah sie höchst theatralisch aus, wie eine Opernsängerin aus »Aida«. Sie lächelte mich an, und ich lächelte zurück, bevor ich mich wieder in meine Quellen vertiefte, wo ich schon nach einigen Seiten auf eine Textstelle stieß, die beinahe wörtlich dem entsprach, was mir der Pfau in meinem Traum erzählt hatte. Es handelte sich um ein Zitat aus dem berühmten Gilgamesch-Epos. Gilgamesch, König von Uruk, beschimpft darin die Göttin Ischtar, weil es ihr durch ihre unwiderstehliche Schönheit immer wieder gelungen war, Götter, Halbgötter, Menschen und Tiere zu verführen und nachher zu verderben:
»Da du den bunten Vogel liebtest, hast du ihn geschlagen, ihm die Flügel gebrochen. In den Wäldern weilt er nun, um seine Flügel klagend ...«, flüsterte ich, fröstelnd vor Ergriffenheit.
Nach einer Weile fühlte ich mich beobachtet und blickte auf. Die geheimnisvolle Diva vom Nachbartisch hatte sich zu mir gesetzt und starrte mich aus ihren schwarzen Neumondaugen unverwandt an. Wie lange mochte sie schon hier sein, und wieso hatte ich nichts davon gemerkt? Irritiert hörte ich zu flüstern auf und breitete wie ertappt meine Arme über die Seiten.
Sie schob mir einen Zettel hin.
Wie alt bist du? stand darauf.
Ich sah sie fragend an. Sie legte einen Finger über ihre Lippen. Ein dunkler Engel, der sein Schweigen bewahren wollte.
»Siebzehn«, log ich.
Deine Füße sind zu groß, sonst bist du vollkommen, schrieb sie auf einen zweiten Zettel.
Ich lachte. »Wer sind Sie?«
Scheba – die Königin von Saba, schrieb sie mir. Mit dem Kopf deutete sie auf mein Manuskript, ließ sich das erste Blatt herüberreichen, kritzelte etwas darauf und gab es mir zurück.
Siehe das »Alphabet des Ben Sira«, Midrasch aus der geonischen Epoche, Seite 95/96, entzifferte ich und schüttelte den Kopf. »Das habe noch gar nicht entdeckt«, sagte ich.
Die Frau aber war verschwunden.
Wenn ich jetzt Belcanto nach ihr frage, wird er sagen, er habe sie nicht gesehen, dachte ich.
»Ist dir die Frau am Nebentisch aufgefallen, Belcanto, die mit dem Turban?«
»Na und ob! So ein Prachtweib übersieht man doch nicht!« bestätigte mein Freund. »Aber ich kenne sie nicht. Sie muß zum erstenmal hier gewesen sein.«
»War sie stumm, Belcanto?«
»Nein«, meinte er. »Nur ein bißchen heiser.«
Und plötzlich wußte ich, daß sie mich an den Pfau aus meinem Traum erinnerte.
»Sie war die Königin von Saba«, sagte ich.
»Und ich bin Pavarotti!« Schon begann Belcanto seine Lieblingsarie zu schmettern: »Un bel di vedremo ...«
Ich umarmte ihn hastig. »Ciao, amigo!«
Wenn ich mich jetzt nicht verabschiedete, würde er sein ganzes Puccini-Repertoire zum besten geben wollen.
Zum Glück war ich vor Karotto zu Hause. Ich wußte, er würde am Nachmittag noch in der Universitätsbibliothek zu tun haben, so daß mir Zeit genug blieb, in seinem Sammelsurium von Raubkopien nach dem Text mit den angegebenen Seiten zu fahnden, bevor ich die Bücher wieder einräumte. Karotto war ein ordentlicher Student, der seine Texte beschriftete und durchnumerierte, das erleichterte die Suche. Trotzdem hatte ich kein Glück. Wahrscheinlich hat es einen »Ben Sira« nie gegeben, tröstete ich mich, geschweige denn ein Alphabet in seinem Namen. Mehr zum Spaß schlug ich in Meyers Handlexikon aus dem Jahre 1883 nach und erfuhr zu meiner Überraschung, daß ein solcher Mensch im sechsten Jahrhundert am Hof von Nebukadnezar gelebt hatte, einem König von Babylon, der Syrien und Palästina unterwarf und Jerusalem zerstörte. Das ominöse Alphabet wurde leider nicht erwähnt.
Als Karotto nach Hause kam, war ich noch immer mit seinen Lexika beschäftigt. Er schien nicht sehr erbaut zu sein, mich in seinem Zimmer zu finden.
»Was ist ein Midrasch?« fragte ich sofort, damit er sich nicht einbildete, ich hätte auf ihn gewartet.
»Eine erzählende Darstellung«, antwortete er unwillig.
»Und das Alphabet des Ben Sira?«
Er stöhnte. »Was willst du denn damit, Elisa? Hast du nichts Besseres zu tun, als in meinen Sachen herumzukramen?«
Ich ignorierte seine Frage und wiederholte meine eigene.
»Kennst du es, oder kennst du es nicht?«
»Zum Teufel, nein! Und ab morgen werde ich meine Zimmertür abschließen, damit du dich nicht ganz bei mir einnistest.«
»Tu das, Karl-Otto«, sagte ich kühl. »›Wo ich mich aufhalte, sollst du dich nicht aufhalten. Wo ich mich setze, sollst du dich nicht setzen. Du sollst nicht in mein Haus eintreten. Du sollst mein Haus nicht verzaubern.‹«
Ich stand am Fenster, als ich den babylonischen Bannspruch gegen Lilith aufsagte, wobei ich genüßlich jedes Wort betonte.
Karotto trat hinter mich – es hörte sich an, als stampfte er dabei mit dem Fuß auf – und hielt mir den Mund zu.
»Schweig, du kleine Hexe!«
Ich wandte den Kopf unter seinen Händen und schaute ihm ins Gesicht. Sein Blick sagte alles. Er senkte die Augen. Zu spät. Ich hatte seine Wünsche verwildern gesehen; er konnte sich nicht mehr vor mir verstecken.
»Mach’s mir nicht so schwer«, bat er.
Mein kleiner Student war ein Feigling.
»Paß auf, was ich als nächstes tue! « sagte ich, bevor ich ihn seinen heimlichen Gelüsten überließ.
Zur Strafe erzählte ich ihm nichts von Gilgamesch und dem Pfauentraum, kein Wort über meine Begegnung mit der Königin von Saba. Auch an den darauffolgenden Tagen ließ ich Karotto links liegen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis ich ihn wieder brauchte. Ich hatte mir vorgenommen, in der Zwischenzeit bei den Schwestern ein paar Pluspunkte zu sammeln, denn als »enfant terrible«, das die Schule schwänzte, Entschuldigungen fälschte und mit Wonne provozierende Fragen stellte, war ich auf dem besten Wege, mir die Sympathien aller zu verscherzen. Ich mußte mein Programm ändern, sonst würde niemand mich ernst nehmen, wenn ich einmal wirklich wichtige Dinge zu sagen hätte. Irgend etwas in mir bereitete sich darauf vor, gehört werden zu wollen, und zwar bald, das spürte ich.
Es hatte sich herumgesprochen, daß ich ganz gut schreiben konnte. Brachte ich meine Worte in aller Ruhe zu Papier, so wurden sie oft besser verstanden, als wenn ich einer dösenden Klasse leidenschaftliche Monologe hielt. Ich brauchte also lediglich eine Schülerzeitung zu gründen und sie mit selbstgemalten Bildchen zu füllen, die der Schwestern Herz erfreuten. Nonnen waren zweifellos gutmütige Tiere. Schon bald würden sie mir eine gewisse Narrenfreiheit einräumen, worauf ich das Blatt für meine eigenen Zwecke nutzen könnte. Natürlich hätte ich die Zeitung gerne »Lilith« genannt, doch dazu war die Zeit noch nicht reif. Meine Freundinnen und ich gaben ihr den Namen Genovevas Töchter, das klang auch nicht übel. Die Schülerzeitung war mein Kind, und so ernannte ich mich, unangefochten von den anderen, die gern taten, was man ihnen sagte, zu ihrer Chefredakteurin. Wochenlang verwandte ich meine Energie darauf, zu lernen, wie man Mitarbeiterinnen anheuerte, bei Firmen Anzeigen einholte und ein Layout herstellte. Dann hatten wir es geschafft: Genovevas Töchter wurde schon mit der dritten Ausgabe Landessieger im Schülerzeitungswettbewerb.
Die Schwester Oberin gratulierte uns persönlich bei dünnem Kakao und nach Mottenpulver riechenden Plätzchen und lobte mich als »höchst unbequeme, aber zweifellos kreative Person«.
Ich bedankte mich mit Worten, die mein Unterbewußtsein, oder was auch immer, mir in den Mund legte: Erkenntnisse ohne Grenzüberschreitung, behauptete ich, seien schlechterdings unmöglich.
Die ehrwürdige Mutter hob warnend ihren fleischigen Zeigefinger, widersprach mir aber nicht. Ganz geheuer war ich ihr nie. Vielleicht konnte sie mir die Hintergedanken auch von der Stirn ablesen, behielt dies aber für sich, solange ich der Schule Ehre machte. Sie brauchte die Spenden begüterter Eltern, und der Erfolg von Genovevas Töchtern, über den mehrere Tageszeitungen berichteten, war eine willkommene Reklame für ihr Haus.
Um zu testen, wie weit ich gehen konnte, veröffentlichte ich in der nächsten Ausgabe, Karotto sei Dank, den »Katechismus der Vernunft für edle Frauen« von Friedrich Schleiermacher. Das von mir leicht gekürzte Glaubensbekenntnis des evangelischen Theologen aus dem 18. Jahrhundert besagte:
1. Ich glaube an die unendliche Menschheit, die bereits da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und Weiblichkeit annahm.
2. Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen, sondern um zu sein und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.
3. Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die Würde der Kunst und den Reiz der Wissenschaft ...
Von Schleiermachers »Zehn Geboten«, eines noch kühner als das andere, traute ich mich indessen nur eine Auswahl abzudrucken:
2. Du sollst dir kein Ideal machen, weder eines Engels im Himmel, noch eines Helden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbstgeträumten oder phantasierten.
3. Du sollst von den Heiligtümern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen.
5. Ehre die Eigentümlichkeit und die Willkür deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlergehe und sie kräftig leben auf Erden.
8. Du sollst nicht geliebt sein wollen, wo du nicht liebst.
9. Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken.
10. Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre.
Mit wohlüberlegten Worten forderte ich Genovevas Töchter dazu auf, sich mit diesem ungewöhnlichen Katechismus auseinanderzusetzen. Sie sollten ihre Meinung dazu in Form von Leserbriefen äußern dürfen, je kontroverser, desto besser.
Unsere Schwester Hildegardis warnte mich auch diesmal, nicht zu weit zu gehen. Schließlich sei mein Herr Schleiermacher Protestant gewesen und schon allein aus dem Grund mit Vorsicht zu genießen. Sie wolle uns die Freude an der Diskussion aber einstweilen nicht nehmen. Noch gefiel sie sich in der Rolle der toleranten Schulleiterin. Ermutigt durch soviel Milde, klärte ich meine Mitschülerinnen schon in der nächsten Nummer über die Herkunft der Heiligen Schrift auf.
Das Wort »Bibel«, so schrieb ich, leitet sich von »Byblos« ab, einer Stadt in Phönikien (Syrien), die Stadt der Großen Mutter mit dem ältesten ununterbrochen benutzten Tempel der Welt. Die Göttin dieses Tempels war die Schutzpatronin des Lernens, und ihre Priesterinnen gründeten eine Bibliothek aus Papyrosrollen, die sie selbst zusammengetragen hatten. Für die Griechen war daher jeder Papyros ein »byblos«, ein heiliges Buch.
Besonders erwähnenswert fand ich, daß in mehreren Büchern der Bibel das Wort für »Gott« nachweislich falsch übersetzt wurde; statt dessen hätte es »Göttinnen« heißen müssen.
Die Bibel, das zu betonen war mir wichtig, ist eben in einem langen Prozeß entstanden, der bis heute andauert. Ständig wurde sie überarbeitet und verändert. Die letzte Revision erfolgte erst kürzlich, im Jahr 1952, als zwölf Verse aus dem Ende des Markus-Evangeliums getilgt werden mußten, weil sie auf späteren Einschüben beruhten, die schlichtweg falsch waren, darunter so folgenschwere Worte wie: »Wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.«
Gern hätte ich dem letzten Satz noch einen ätzenden Kommentar hinzugefügt, doch das wäre wohl zu gewagt gewesen.
Die Zeitungen waren noch nicht ganz verteilt, da wurde ich schon zur Schwester Oberin gerufen. Sie muß sich sofort auf deinen Artikel gestürzt haben, dachte ich nicht ohne Stolz.
»Was versprichst du dir von dieser abenteuerlichen Art der Bibelforschung, Elisa?«
»Ich möchte, daß sich alle Mädchen und Frauen ihrer spezifisch weiblichen Göttlichkeit bewußt werden!« Ich hatte diese Frage erwartet und mir die Antwort sorgfältig zurechtgelegt: »Der Ursprung der Bibel läßt solche Schlüsse zu, Schwester Hildegardis.«
»Dazu hättest du aber die Bedeutung der Heiligen Schrift als von Gott diktiertes Wort nicht relativieren müssen!«
Ich fand es klüger, zu schweigen und mein scheinheiliges Lügengesicht aufzusetzen. Sogleich war die Schwester besänftigt.
»Es ist eine Dummheit, Elisa, alles auszuplaudern, was man einmal irgendwo aufgeschnappt hat. Ich hätte dich für gescheiter gehalten.«
»Aber ...«
»Überlaß die Theologie denen, die etwas davon verstehen, mein Kind.«
»Den Männern, ehrwürdige Mutter?«
»Keine Wissenschaft wird bereits dadurch besser, daß Frauen sie betreiben.«
Ich protestierte schwach.
»Wie auch immer. Die Theologie ist kein Kinderspiel; sie sollte reifen Menschen vorbehalten bleiben, die sie gründlich studiert haben und fest im Glauben sind. Ich werde die letzten Sätze in deinem Artikel persönlich widerlegen.«
Was sie dann aber vergaß.
Der Schlüssel zu den wirklich wichtigen Offenbarungen würde, davon war ich überzeugt, in jenem »Alphabet des Ben Sira« zu finden sein, das ich nirgends zu Gesicht bekam, so eifrig ich in den Bibliotheken der Stadt auch danach suchte. Meine Königin von Saba konnte mir auch nicht weiterhelfen, denn sie beehrte Belcantos Café nie wieder mit ihrem Besuch.
Vielleicht sollte ich Karotto noch einmal anzapfen; es war ohnehin an der Zeit, mit ihm zu tun, was ich tun mußte.
In einer hellen Nacht aus Mondlicht und Sternenstaub ging ich hinüber zu ihm, um mich zu entjungfern. Es war Sommer, und Karotto schlief nackt; kein Kruzifix schützte ihn vor den Hexen der Nacht. Trotz der Hitze hatte ich eine Gänsehaut vor Erwartung. Mehr noch als mein Vorhaben selbst erregte mich die Ungewißheit, ob ich es würde zu Ende bringen können, bevor er erwachte.
Mit einer flackernden Kerze in der Hand, die mir diesmal kein Teufelchen ausblies, sah ich ihn mir genau an, Zentimeter für Zentimeter. Besonders lange verweilte ich auf dem goldfarbenen Kleinod in seiner Mitte, das meine alternde Mutter so stolz war, für sich gewonnen zu haben. Ich verglich es mit Erinnertem und Erdachtem und befand es für erfreulich wohlgeraten, glattglänzend und unter meinem begehrlichen Blick bereits halb aufgerichtet in seinem Kranz rötlicher Locken.
Wie die Lilim wollte ich es machen, von denen er mir so anschaulich erzählt hatte. Mit klopfendem Herzen hockte ich mich über den zukünftigen Gottesmann, bis sich alles so zusammengefügt hatte, daß ich auf ihm tanzen konnte. Mein Leib hatte ohne weiteres die Trophäe meiner Mutter geschluckt und fand sie wie für sich geschaffen. Einmal war mir, als blinzelte Karotto mir zu unter seinen hellen dichten Pferdewimpern, und es machte mir Vergnügen, mich mit seinen Augen zu betrachten. Ich trug nichts als ein rotes, straßbesetztes Samthalsband auf meiner weißen leuchtenden Haut und schwarze Spitzenstrümpfe bis über die Knie. Mein üppiges Haar hatte ich in Spiralen hochgesteckt wie die geheimnisvolle Göttin auf dem Relief der Sumerer. Ich war, dem Kokon des kindlichen Körpers gerade erst entschlüpft, ebenso wunderbar gewachsen wie sie, mit hochangesetzten runden Brüsten und einer sehr schlanken Taille. Zwar fehlten mir die Flügel, nicht aber die breiten Schultern und die langen, muskulösen Beine. Kein Mann, der mich so sah, würde unberührt bleiben können; keinem Mann würde ich es gestatten, mich zu berühren. Feuchte Hände auf meiner Haut, indiskrete Finger, die sich an Stellen verirrten, die nur mir gehörten, waren nicht nach meinem Geschmack.
Eine Frau, so dachte ich, die beim ersten Liebesspiel die Handelnde war, würde auch in Zukunft Meisterin ihres Geschickes sein. Meine Mutter, die Dulderin, hätte von mir lernen können, was sie mir vorenthalten mußte.
Ich ritt Karotto, tat Dinge, die niemand mir beigebracht hatte, und ich genoß es. Das Recht der ersten Nacht gebührte mir allein. Die Entjungferung war ein heiliger Akt, eine Art Initiation; ich erlaubte es meinem Geist nicht, bei dem kleinen Unbehagen zu verweilen, welches damit verbunden war, daß irgendwo in mir ein sorgsam zu hütendes Siegel riß. Kein flüchtiger Schmerz sollte die Lust trüben, endlich geöffnet zu sein Ich erwartete keine ekstatischen Gefühle von meiner ersten Liebesnacht, dazu mußte ich zu achtsam sein, denn Karotto, so hatte ich es beschlossen, durfte seinen Höhepunkt erst erreichen, wenn ich nicht mehr um ihn war. Ob er wirklich die ganze Zeit über schlief oder nur so tat, als ob, war mir letzten Endes gleichgültig. Mein Blut auf seinen Schenkeln würde ihm schon verraten, daß seine Traumbilder in dieser Nacht keine Illusion gewesen waren.
Gerne hätte ich meiner Mutter am Morgen ein beflecktes Laken präsentiert oder es wenigstens, einem archaischen Impuls gehorchend, zum Fenster herausgehängt; allein der Triumph erschien mir dann doch zu billig. In unserem ehemaligen Weinberghaus oberhalb des alten Dorfes hätte ich damit Aufsehen erregen können, hier in der Stadt aber fragte niemand nach der Jungfräulichkeit von Nachbarstöchtern.
Meine Freundinnen in der Nonnenschule wollten mir meine »Geschichte der ersten Nacht« gar nicht erst abnehmen.
»Wenn ich demnächst in unserer Zeitung Tabuthemen aufgreifen will, und das sind in Wahrheit die einzigen, die mich interessieren«, versuchte ich mich verständlich zu machen, »muß ich doch wissen, worüber ich schreibe. Oder?«
Die Freundinnen rümpften die Nase.
»Du bist frühreif, Elisa, das sagen alle«, behaupteten sie und waren nicht einmal neugierig. Unbegreifliche Wesen, diese gefügigen Nonnenkinder!
Drei lange Nächte überließ ich Karotto dem Liebeshunger meiner Mutter, dann aber ging ich eines Morgens, als es schon tagte und sie sich gesättigt unter ihre eigene Bettdecke verkrochen hatte, wieder zu ihm. Behutsam hockte ich mich über den Schlafenden, um das Nachthexenspiel, diesmal gelöster und mit größerem Lustgewinn für mich, fortzusetzen.
Karotto sah so unschuldig aus mit seinem entspannten Schlafgesicht; seine zerzausten Haare erinnerten mich an ein rennendes Kind, an Camael, wenn wir getobt hatten. Auf seine Hinterlist war ich nicht vorbereitet. Noch ehe ich reagieren konnte, bäumte mein Heiliger sich auf, schüttelte mich ab und warf sich über mich. Die Zange seiner Beine preßten meinen Leib zusammen, seine Arme versuchten, mich auf seiner harten Matratze festzunageln.
»Bist du irre, Karotto, ich bin es doch, nicht sie!« schrie ich ihn an.
»Verflucht sei der Mann, der die Frau zum Himmel und sich selbst zur Erde macht!« hörte ich ihn aus irgendeiner vermaledeiten Theologenschrift zitieren. »So steht es geschrieben!«
Unser Herr Untermieter schien im religiösen Wahn zu reden. Ich hatte ihm, außer meiner nur einmal zu vergebenden Jungfräulichkeit, eine Variante der Liebeskunst für sein ganzes zukünftiges Leben geschenkt, er aber wollte seine alte Nummer abziehen, der Barbar!
»Hüte dich vor der Missionarsstellung der Paschas und Ehemänner!« hatten die Freudenmädchen mich damals beschworen. »Sie ist der Alptraum aller empfindsamen Frauen.«
Ich trat mit den Füßen nach Karotto, hämmerte mit den Fäusten gegen seine knochige Brust. »Laß mich los, du Tier!«
»Schrei nicht so, du, du, du ...«
»Sonnenhure!« half ich ihm, das passende Wort zu finden.
»Oder willst du, daß deine Mutter dich hört?«
Er hielt mir schon wieder den Mund zu mit seinen ungeschickten Händen, und wieder kam seine Vorsicht zu spät. Meine Rivalin stand bereits mitten im Zimmer; keiner von uns beiden hatte auch nur ein Dielenbrett knarren gehört. So laut waren wir doch gar nicht gewesen! Wahrscheinlich hatte sie längst auf der Lauer gelegen, war auf leisen Sohlen hinter mir hergeschlichen, um ihren lange gehegten Argwohn bestätigt zu sehen.
Jeder noch so unliebsame Gedanke trägt den Keim seiner Verwirklichung in sich, mußte ich denken. Nun war sie es, die schrie. Mehr Laute als Worte, sinnloses Zeug, kaum zu verstehen, genauso wie früher in den Szenen mit meinem Vater. Sie würde es nie lernen. Als sich endlich Sätze aus dem hysterischen Geschluchze formten, bestanden sie aus maßlosen Vorwürfen und Verwünschungen. Natürlich gab sie mir die Schuld, nicht nur an der Untreue ihres Schatzes, sondern an jedweder Wunde, die das Leben ihr geschlagen. Um alles sollte ich sie gebracht haben, sogar um ihr Studium, die Freuden der Mutterschaft, den einzigen Sohn und nun auch noch um den Mann ihres Lebens. Die Litanei nahm kein Ende und gipfelte in der Drohung: »Das werde ich dir heimzahlen!«
Schierer Haß funkelte in ihren Augen, und ich wußte, sie würde Wort halten.
»Du kannst ihn haben, deinen Lustknaben«, versuchte ich einzulenken. »Ich schenke ihn dir!«
Aufreizend langsam und ohne mich meiner Blöße zu schämen, verließ ich Karottos Bett. Dann stellte ich mich seelenruhig vor sie hin. Sollte sie doch schwarz werden vor Neid auf soviel Schönheit und Jugend!
»Ich kann so einen Milchbubi wie ihn wirklich nicht brauchen«, bekräftigte ich.
Sie aber schlug mir ins Gesicht.
Das hätte sie nicht tun dürfen. Schon in meiner Kindheit fand ich es unverzeihlich, wenn sie ihre Hand gegen mich erhob, denn ich erinnerte mich noch an die eine oder andere Person, die ich einmal gewesen war, während sie rein gar nichts von sich wußte.
»Das wird dir noch leid tun!« erwiderte ich und ballte die Fäuste vor Wut.
Zuerst dachte ich an einen neuen Schadenzauber, schrecklicher denn je, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, doch dem fühlte ich mich ebenso entwachsen wie den mütterlichen Ohrfeigen. Viel mehr Witz würde es haben, die Absichten meiner Feindin zu durchschauen und zu vereiteln. Sie würde so bald wie möglich bei unserer Obernonne aufkreuzen, um sie über meinen wahren Charakter aufzuklären. Das zu erraten war nicht schwer, denn sie liebte Auftritte und Intrigen.
Also kam ich ihr zuvor, bat um eine Unterredung mit Schwester Hildegardis und schilderte in bewegenden Worten die Geschichte meiner Kindheit in einem chaotischen Elternhaus. Meinen Vater entlarvte ich als verantwortungslosen Spieler und Trinker, die Mutter als lebensuntüchtige Depressive. Ich brauchte nicht einmal zu lügen.
»Sie wissen ja, Schwester Hildegardis«, hauchte ich, »gebrochene Gemüter sehen nichts Falsches darin, selbst die Gemüter der eigenen Kinder zu brechen.«
Die Schwester wußte Bescheid. Und da ich gehört hatte, daß ihr das Thema des Kindesmißbrauchs besonders am Herzen lag und jede Schülerin, die in der eigenen Familie so etwas witterte, bei ihr ein kaum zu erschöpfendes Interesse fand, erinnerte ich mich an jenem Tag besonders gut an die Episoden mit Küken-Benno.
Am Ende weinten wir beide; sie drückte mich an ihre weiche Brust und meinte, nun endlich begreife sie, warum sie und die anderen Schwestern immer das Gefühl gehabt hätten, daß ich ein unglückseliges und gefährdetes Mädchen sei. Es liege an meiner Ausstrahlung, und diese sei das Ergebnis meiner schweren Kindheit.
Doch die Gebete der Nonnen, gepaart mit meiner selbstlosen Arbeit an der Zeitung, die man trotz gelegentlicher Einwände im Haus durchaus zu schätzen wüßte, würden meinen Charakter schon noch festigen.
Unter Tränen lächelnd, gestand ich, mir aus eben diesem Grund das Schreiben ausgesucht zu haben, denn wer schon in frühester Jugend so schonungslos mit der Welt der Erwachsenen in Berührung gekommen sei wie ich, hätte es beizeiten gelernt, seine Zunge zu hüten.
Was für eine Posse! – Schwester Hildegardis nickte verständnisvoll. Sie entsann sich noch etlicher großer heiliger Frauen mit ähnlichen Biographien und gab mir die prophetischen Worte mit auf den Weg:
»In dir steckt mehr als in den anderen Mädchen, Elisa, das ist auch uns nicht verborgen geblieben. Mag sein, daß der Allmächtige noch viel mit dir vorhat!«
Da ich derselben Meinung war, konnte ich sie nun getrost verlassen. Nach der Schule streunte ich für gewöhnlich noch ein wenig durch die Kaufhäuser, bevor ich mich auf den Heimweg machte. Wenn es sein mußte und mir das Risiko gering erschien, klaute ich auch gern ein paar Kleinigkeiten. Zur Übung gewissermaßen. An dem Tag aber ersparte ich mir weitere Aufregungen. Zu Hause ging ich sofort in mein Zimmer und schloß mich ein, bis mich gegen Abend der Hunger in die Küche trieb.
Meine Mutter und ich sprachen nicht mehr miteinander, doch verriet mir ihr Gesichtsausdruck, daß sie irgendeine Gemeinheit plante. Karotto konnte ich nicht danach fragen, denn auch ihn strafte ich mit Mißachtung, und je mehr ich das tat, desto anziehender wurde ich für ihn. Ständig suchte er meine Nähe. Also schien es zu stimmen, was in seinem Buch geschrieben stand, dachte ich mit der ganzen Hybris meiner Jugend und angelesenen Gelehrsamkeit, daß nämlich ein Mann nach einer Erfahrung mit einer Nachthexe nicht länger durch die Liebe einer sterblichen Frau befriedigt werden könne. Durch mich, Elisa, hatte unser Untermieter folglich seine Unschuld verloren.
Eines Abends, als ich ziemlich spät und ein wenig angeheitert aus Belcantos Café nach Hause gekommen war, denn dort hatte ich ganz allein meinen sechzehnten Geburtstag gefeiert, fand ich auf meinem Kopfkissen zwei vergilbte Manuskriptseiten. Sie hatten Stockflecken, eingerissene Ränder und waren in einer Art Spiegelschrift geschrieben. Niemand außer mir hätte sie entziffern können, denn ich war nicht aus der Übung gekommen und hatte auch in der Nonnenschule hin und wieder Texte in verdrehter Schrift abgegeben, wenn ich mich wieder einmal interessant machen oder einer Aufgabe entziehen wollte.
Die beiden Blätter trugen unleserliche Seitenzahlen und enthielten als letzte Steinchen eines Mosaiks, das ich in den vergangenen Monaten vergeblich versucht hatte, zu einem Ganzen zusammenzufügen, das legendäre Alphabet des Ben Sira. Ich las es und staunte. Schwester Hildegardis hatte recht gehabt: Es gab für mich etwas zu vollbringen, womöglich sogar etwas »Großes«, aber es würde ganz gewiß nicht das sein, was sie von mir oder ihrem Herrgott erwartete. Doch darauf konnte ich nun keine Rücksicht mehr nehmen.