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7. Kapitel Stellaluna
ОглавлениеAm Morgen nach diesem Gespräch zogen meine beiden Zeitreisegefährten und ich in den entgegengesetzten Teil der Stadt. Meine Mutter, die ihre Meinung immer gern der ihrer Umgebung anpaßte, glaubte mich auch diesmal in guten Händen. Ein Onkel zum Anfassen sei allemal besser als ein Vater, der seiner Familie höchstens für ein paar Stunden im Jahr ein Gastspiel gebe, fand sie; und Küken-Benno schämte sich nicht, sie für diese späte Erkenntnis zu loben.
Ich glaube, insgeheim sympathisierte sie von Anfang an mit der Anarchie der Blumenkinder, vorausgesetzt, daß sie sich nicht in ihrer eigenen Wohnküche abspielte. »Die Jugend muß wohl revoltieren«, redete sie dem Zeitgeist nach dem Munde. »Die einen brüllen Parolen und tragen Transparente gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze durch die Straßen, die anderen singen: ›We shall overcome one day‹. Die einen fordern Liebe statt Krieg, die anderen mögen keinem Menschen ab dreißig mehr über den Weg trauen ...«
Die anderen waren ihr lieber, denn »die Apo-Studenten mit den Mao-Bibeln unter dem Arm sind so humorlos«, bedauerte sie. »Und sie sprechen eine Sprache, die unsereins nicht versteht.«
So entschloß sich meine Mutter, über vierzigjährig, ein spätes Blumenkind zu werden. »Unsere Herbstzeitlose«, nannte sie Ben.
Mir ging sie auf die Nerven mit ihrem weinerlichen Hippie-Getue und den albernen Kostümierungen. Sie trug eine Lammfelljacke über bodenlangen Büßergewändern als Zeichen ihrer pazifistischen Gesinnung und jede Menge Klunker um Arme und Hals. Von nun an zählte auch sie sich zum Anti-Establishment, und je älter sie wurde, desto beharrlicher hielt sie fest an ihrem einmal übernommenen flower-power-Konzept. Kiffen, lieben und diskutieren, das sei schon immer nach ihrem Geschmack gewesen, verkündete sie, der ihr gemäße »way of life«; es hätte ihr bisher nur niemand gesagt, daß es so etwas gebe. Erst durch Woodstock mit seiner halben Million Wallfahrer sei ihr klargeworden, zu welch globaler Bewegung von »love and peace« sie nun gehöre.
Als Nachfolger von Karotto suchte sie sich blutjunge Hippies aus, »anschmiegsam und androgyn«, hieß es in ihren Annoncen in Szeneblättern, »Kommunarden mit wilden Bärten unerwünscht«. Gern sprach sie auch von ihrer Vorliebe für »zivilisierte Zwanglosigkeit und Poesie im Alltag«, auf ein Minimum an Kontrolle, glaubte sie, könne der Mensch allerdings nicht verzichten.
Sie kannte Stellaluna nicht. »Nur wer Chaos im Herzen trägt, kann Sterne gebären«, hätte meine neue Freundin dazu gesagt. Doch die schloß sich erst Monate später unserer Wohngemeinschaft an. Meine Mutter sollte sie nie kennenlernen. Sie und ich sahen keinen Grund mehr, unser Mutter-Tochter-Drama um Erwartung und Verweigerung, Starrsinn und Schwäche fortzusetzen. Wir verloren einander aus den Augen wie flüchtige Bekannte, deren Wege sich kreuzen und wieder trennen, wenn sie einen bestimmten Punkt erreicht haben.
Stellaluna war blaß und blond wie eine Botticelli-Madonna und hieß im bürgerlichen Leben Isolde. Julian und sie teilten irgendein Kindergeheimnis, so wie Ben und ich, und hatten einander beinahe vergessen, bis ein mittelalterlicher Jahrmarkt, auf dem Julian als Minnesänger engagiert war und sie als Sterndeuterin, die beiden wieder zusammenführte.
Erkannt hätte sie ihn, so erzählte sie, an seinen beiden Herzen, und da wir sie vermutlich ansahen, als redete sie, ihrem extraterrestrischen Künstlernamen entsprechend, in fremder Zunge, fügte sie hinzu: »Jeder, in dem das Feuer der Rache brennt, beherbergt zwei Herzen in seiner Brust, das eines wildernden Wolfes und das des Lammes, welches seiner eigentlichen Natur entspricht.«
Sogleich forschten Ben und ich in Julians Zügen nach Spuren dieser verborgenen Doppelnatur.
»Stimmt«, bestätigten wir.
Stellaluna war zur Zeit jenes Mittelalterspektakels gerade dabei, sich aus alten, unliebsamen Bindungen zu befreien, »sich selbst zu erlösen«, wie sie es nannte. Aus dem Grund war sie obdachlos und ohne regelmäßige Einkünfte und sah sich den Jahrmarkt schon als Bettelweib verlassen.
Julian zitierte Bens »Man darf niemanden vergessen«-Spruch, bevor er die einstige Gespielin dazu einlud, das Gleichgewicht der Geschlechter in unserer Wohngemeinschaft wiederherzustellen. Ich fand seinen Impuls mehr als überflüssig und haderte insgeheim mit dieser unerwünschten Wendung. Wie konnte mein grünäugiger Troubadour nur so instinktlos sein, unsere gelungene ménage à trois zu erweitern, bevor diese Konstellation ausgereizt war! Gerade erst hatte ich begonnen, mein Bett mit Ben zu teilen, um mir, wohlwissend, was ich tat, das Spielzeug einzuverleiben, das vor Jahren dem Kind gegen seinen Willen in die Hand gedrückt worden war. Nur so würde ich beenden können, was Bennos unreifes Gemüt mir einst aufgezwungen hatte, und es würde eine besondere Schönheit darin liegen, den alten Bann zu brechen. Gleichzeitig hoffte ich, daß Julian, dem unser Treiben in dieser Wohnung ohne Türen nicht lange verborgen bleiben konnte, das Feuer fing, das ich woanders legte. Er begehrte mich wie beinah jeder Mann in meiner Umgebung, daran zu zweifeln wäre weltfremd, doch schien ihm das Talent oder die Lust zur Leidenschaft gänzlich zu fehlen.
Wir Frauen müßten die Männer nur gehörig schmachten lassen, damit sie gute Liebhaber abgäben, hatten meine Sonnenhuren mich gelehrt. Julian aber dachte gar nicht daran zu leiden. Er suchte sich Arbeit, notfalls auch auf dem Jahrmarkt, sang dort mittelalterliche Minnelieder und schleppte uns am Ende diese blonde Zigeunerin mit dem Gesicht einer Nonne ins Haus. Ben spielte den Großzügigen, und mich hatten sie gar nicht erst gefragt.
Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich schwankte zwischen Feindseligkeit, die mich zu allerlei kindischen Einfällen verpflichtet hätte, und einer völligen Mißachtung der neuen Situation. Doch bald schon mußte ich einsehen, daß beides Energieverschwendung wäre. Stellaluna war von einer Aura der Unanfechtbarkeit umgeben, der weder freche Sprüche noch alltägliche Gemeinheiten etwas anhaben konnten. Vermutlich würde sie sogar gegen jedweden Schadenzauber immun sein. Sie hatte, obwohl gut zehn Jahre älter als ich, immer noch den schmächtigen Körper eines Kindes, darin aber steckte eine Frau, die mir weiser und stärker vorkam als alle meine bisherigen Freundinnen. Nichts konnte Stellaluna aus der Ruhe bringen; sie blieb in jeder Situation so ausgeglichen, daß es schon beinah aufreizend wirkte, zumindest auf eine Unruhestifterin wie mich. Auch sprach sie nur das Nötigste, und dabei neigte sie ihren Kopf lauschend zur Seite, als sammelte sie Informationen aus der Luft.
»Wie bringst du es bloß fertig, so gleichmütig zu bleiben?« fragte ich sie einmal, nachdem einer ihrer Klienten ihr ein Glas Wasser in den Schoß gekippt hatte, nur weil er sich von ihr durchschaut fühlte. Dieser Mann hatte sein Leben lang Energie von anderen Menschen abgezapft, indem er versuchte, sie zu kontrollieren und ihre Gedanken zu manipulieren. Stellaluna hatte ihm in ihrer behutsamen Art klargemacht, daß er damit so etwas wie ein geistiger Vampir sei, er aber wollte das nicht hören.
»Da, wo ich herkommen, haben wir die Kraft der Gedanken zu verstehen gelernt«, antwortete sie mir, sobald ihr Graf Dracula uns, ohne zu bezahlen, verlassen hatte.
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts, was du nicht schon selbst erfahren hättest, Elisa. Oder was hältst du von der Wahrheit Nummer eins, die da lautet: ›Alles, was wir denken, fühlen wir auch, und alles, was wir fühlen, trägt die Tendenz, sich zu verwirklichen, bereits in sich.‹«
Ich dachte an meine früheren Experimente mit Schadenzauber und Verwünschungen. »Ja«, sagte ich. »Und?«
»Nun, wenn du diese Wahrheit wirklich verstanden hast, hältst du ganz von selbst alle negativen Gedanken von dir fern«, antwortete Stellaluna, während sie ihren pitschnassen Rock auszog.
»Das heißt, du läßt keine an dich heran und sendest auch keine aus.«
Verblüfft starrte ich auf ihre merkwürdig geformten blassen Beine, deren Oberschenkel kaum dicker waren als die Knie. Wächsern und makellos glatt, erinnerten sie mich an ein Paar Altarkerzen ... Vielleicht trug sie deswegen meist mehrere Röcke übereinander.
»Da, wo ich herkomme ... sagtest du«, wiederholte ich langsam. »Wo kommst du denn her?«
Stellaluna wrang lächelnd ihre Röcke aus, antwortete mir aber nicht.
»Ich würde gerne lernen von dir«, bat ich sie, bevor sie hinter dem nachtblauen Samtvorhang verschwand, den wir mitten durch unser Wohnzimmer gezogen hatten, damit sie halbwegs ungestört ihre wenigen Klienten empfangen konnte.
»Du willst von mir lernen?« wunderte sie sich auf der anderen Seite des Vorhangs. »Als gehörtest du zu denen, die nicht wissen, wie sie erfahren können, was sie bereits wissen!«
Ich mußte lachen. Stellaluna war wirklich nicht dumm.
»Ich will es beschleunigen«, sagte ich.
»Was willst du hören?«
»Alles, was du weißt. – Alles außer Astrologie, denn daran glaube ich nicht.«
»Ach!« Jetzt lachte sie. »Du magst nicht glauben, daß unser Universum ein System energetischer Vorgänge ist?«
»Doch, schon.«
»Na siehst du! Wenn aber das ganze Weltall von Kräften und Strömen durchzogen ist, sollten dann nicht auch die Gestirne Einfluß auf uns haben oder zumindest Informationen über uns vermitteln?«
»Schon, aber ich glaube nun mal nicht, daß jemand Fieber kriegt, nur weil der Saturn gerade hier oder da steht.«
»Das brauchst du auch gar nicht zu glauben«, beruhigte mich Stellaluna. »Jemand kriegt Keuchhusten, während Saturn irgendwo da oben seine Bahn zieht, nicht weil. Das Wörtchen ›weil‹ stimmt nicht. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Planeten. Und trotzdem ist es kein Zufall. Es ist wie bei einem Fieberthermometer. Das Thermometer mißt das Fieber, aber es erzeugt es nicht. So ist auch die Astrologie ein Meßinstrument, das etwas anzeigt. Ein Meßinstrument der Wirklichkeit, mehr nicht.«
Ich hörte sie ihren Stuhl ganz nah an den Vorhang schieben, bevor sie weitere Worte hindurchschickte, einem Orakel gleich, das dem Ratsuchenden gerade so viel zumutet, wie er verstehen kann. Der dicke Samt dämpfte auf angenehme Weise ihre Stimme, die sonst immer etwas blechern klang. Keinem von uns beiden wäre es in den Sinn gekommen, den Vorhang zur Seite zu ziehen.
Stellaluna sprach über die Astrologie, die so alt sei wie die Menschheit selbst. Um mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten, hätten die Menschen von jeher Bilder und Symbole gebraucht. Für sie, Stellaluna, seien die Tierkreiszeichen unveränderliche Ursymbole. Sie beschäftige sich daher weniger mit der Lehre von den Sternen, als mit der von den Urprinzipien, den archetypischen Kräften, die den gesamten Kosmos durchzögen. »Und im Augenblick«, so schloß sie ihre Ausführungen, »interessiert mich dabei die Lilith am meisten.«
Ich verschluckte mich fast am Saft einer Orange, die ich auslutschte, während ich der Stimme hinter dem Vorhang zuhörte.
»Du interessierst dich«, wiederholte ich hustend, »für Lilith?«
»Nicht, woran du denkst«, vermutete Stellaluna. »Bei meiner Arbeit geht es nicht um die Dämonin aus der Bibel, sondern um den ›Schwarzen Monds‹, genannt Lilith.«
Wovon in aller Welt redete sie?
»Meinst du den Neumond?«
»Nein, Elisa, ich denke an etwas ganz anderes: Der Mond dreht sich, wie wir alle gelernt haben, in einer elliptischen Bahn um die Erde. Diese Ellipse, und das dürfte weniger bekannt sein, hat zwei Brennpunkte, der eine ist die Erde und der andere der Schwarze Mond. Er wurde bereits in der babylonischen und assyrischen Astrologie berechnet. Für mich ist der Schwarze Mond ein sensitiver Punkt, vergleichbar den Mondknoten, andere halten ihn für einen echten Trabanten. Zuletzt soll er Ende des vorigen Jahrhunderts von mehreren Personen in Greifswald beobachtet worden sein.«
»Und der heißt Lilith?« flüsterte ich, ganz ergriffen von dieser Neuigkeit.
»So ist es. Und es kommt noch besser: Lilith, beziehungsweise der Schwarze Mond, symbolisiert den Archetyp der Großen Göttin, das heißt, das Verlangen nach dem Absoluten.« Auch Stellalunas Stimme klang bewegter als sonst. »Ich bin ja bei weitem nicht die einzige, die sich mit dem Thema beschäftigt, Elisa. Astrologinnen in der ganzen Welt sind unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis gekommen wie ich: daß nämlich von Lilith eine destruktive Wirkung ausgeht, wenn sie, besser gesagt, ihre Stellung im Horoskop eines Menschen, dominierend ist.«
»O je!« Ihre Worte ließen mein Herz höher schlagen, aber nicht vor reiner Freude. »Hältst du es für möglich, daß ich ...? Andererseits – ist das Verlangen nach dem Absoluten doch nichts Destruktives – oder vielleicht doch?«
Mit einem unangenehmen Geräusch, so, als würde etwas zerrissen, tat sich der Vorhang auf, und Stellaluna stand vor mir in einem bodenlangen, durchsichtigen Kaftan, den ich noch nie an ihr gesehen hatte.
»Habe ich dich erschreckt?« Beruhigend klopfte sie mir auf die Schulter. »Du darfst das alles nicht überbewerten. Lilith ist lediglich ein Katalysator für bestimmte Tendenzen, die schon in dir angelegt sind.«
»Sag doch gleich, daß du dabei an perverse und morbide Neigungen denkst«, versuchte ich sie zu provozieren.
Stellaluna hatte sich hinter meinen Stuhl gestellt und drängte sich nun so dicht an mich, daß ich ihre Beckenknochen in meinem Rücken spürte und ihre Eingeweide in ihrem flachen Bauch rumoren hörte.
»Ach, weißt du, in den Horoskopen, die ich bisher untersucht habe, gab es zwar einen Zusammenhang zwischen der Position des Schwarzen Mondes und den Themen Tod, Schmerz, Zerstörung, oft aber blieben diese auf der Ebene des Unbewußten.«
Ich spürte, daß ich langsam gereizt wurde, wie immer, wenn meine Gedanken den Gefühlen nicht folgen konnten.
»Du hast Hunger«, stellte ich fest. »Ich mache uns jetzt etwas zu essen!«
Da ich wußte, daß Stellaluna die Dinge der Welt in Streicheleinheiten maß, egal, ob es um Stoffe, Mahlzeiten oder Wohnungen ging, fragte ich sie nach ihrer Prognose zur Bewertung einer Ofenpizza.
»Neun«, sagte Stella, und das war ihre Höchstzahl.
Zu viert lebten wir uns an den Rand des Möglichen; alle gleichzeitig und jeder auf seine Weise. Während Julian um seine Urheberrechte an einer Bluesballade kämpfte, die ihm jemand geklaut und glänzend vermarktet haben sollte, und Ben längst verjährte Erbansprüche gegen meinen Vater Wiederaufleben ließ, bemühte Stellaluna sich darum, ganz ohne Drogen mein Alltagsbewußtsein zu erweitern.
Was ich über den Mythos der Lilith bereits herausgefunden hatte, fand sie zwar erstaunlich, »vor allem für eine Nonnenschülerin«, aber noch zu sehr vom »alten Denken« geprägt.
»Diese Schulen verbilden uns nur, Elisa«, erklärte sie mir. »Dein Ansatz ist vielversprechend, aber wir müssen darüber hinausgehen. Was wir brauchen, ist ein völlig neues Weltbild.«
»Und wie sollte das deiner Meinung nach aussehen?«
»Das müssen wir eben herausfinden, du und ich. – Weißt du, was ›New Age‹ bedeutet?«
»Na klar.« Schließlich hatte ich auch das Musical »Hair« gesehen, von dem sie alle redeten. »Soviel ich weiß, ist damit der Wechsel vom Zeitalter der Fische zu dem des Wassermanns gemeint.«
Stellaluna nickte. »Das ist die astrologische Ebene. Aber was symbolisiert sie?«
Sie wartete meine Antwort gar nicht erst ab. »Eine astrologische Verschiebung bringt immer Veränderungen mit sich, nicht nur beim einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft. In unserer Zeit wird es dabei sogar um einen Quantensprung des menschlichen Bewußtseins gehen.«
Mir war immer noch nicht klar, worauf sie hinauswollte.
»Von gesellschaftlichen Veränderungen reden auch die Linken«, versuchte ich ihr zu folgen.
»Schon. Aber sie bleiben im Gesellschaftlichen stecken, statt ihre Möglichkeiten auszudehnen. Ich finde es viel interessanter, Begrenzungen aufzuheben.«
»Ich doch auch!« freute ich mich. »Ich habe noch nie auf die Gesellschaft mit ihren Allgemeinplätzen hören wollen. Was ›man‹ tut und läßt, kümmert mich überhaupt nicht ...«
»Das ist ja auch nur das Geschwätz des kollektiven Bewußtseins«, unterbrach mich Stellaluna. »Warum solltest du das nachmachen! Als multidimensionale Persönlichkeiten, die wir in Wahrheit sind, dürfen wir uns in keinem Fall davon beeinflussen lassen. Du bist eine spirituelle Rebellin, Elisa, keine gesellschaftliche!«
Das hatte sie schön gesagt, und im Gegensatz zu mir würde sie wohl wissen, wie es gemeint war. Sie war wirklich brillant; es sah ganz danach aus, als hätte ich in ihr schon meine Meisterin gefunden. Und mehr verlangte ich im Augenblick nicht.
Eher als erwartet, machte mich Stellaluna zu ihrer Assistentin. Sie kam darauf, nachdem ich ihr die langen glatten Haare gebürstet hatte und sie dabei in Ekstase geraten war. Das, gestand sie mit schleppender Stimme, sobald sie wieder sprechen konnte, geschehe ihr zwar manches Mal beim Haarekämmen, aber nur, wenn sie es selbst tue. Ihre Pupillen waren noch ganz weit vor Lust. Sie betrachtete meine Hände von allen Seiten und gab der Energie, die davon ausging, die Streicheleinheit neun.
»Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du heilende Hände hast, Elisa?«
Ich war so berührt von dem, was ich bei ihr ausgelöst hatte, daß ich gar nicht antworten mochte. Stellaluna, die gleichmütige, beherrschte, gab das Gesicht einer Frau auf dem Höhepunkt ihrer Lust preis, und dieses Gesicht war aufregend schön. Ich griff zur Bürste, um zu sehen, ob sich dieser Erregungszustand, wenn nicht steigern, dann doch wenigstens für eine Weile aufrechterhalten ließ. Sie aber hielt mir die Hände fest.
»Die sind viel zu schade, um nur mir allein Wohltaten zu erweisen«, entschied sie und schlug vor, daß ich einigen ihrer Klienten im Anschluß an ihre Beratung die Hände auflegen sollte. Einfach nur so, als Experiment. Hatte ich damit Erfolg, würde dies Stellalunas Arbeit sehr bereichern – und unsere magere Haushaltskasse womöglich ebenso. Ich sollte allerdings nur im verborgenen und auf Spendenbasis arbeiten, um nicht mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten. Das Schild, welches meine Meisterin gleich unten an der Haustür anbringen ließ, beschränkte sich auf: STELLALUNA + LILITH – STUDIO FÜR LEBENSBERATUNG UND ASTROLOGIE.
Ich kam mir vor wie eine Hochstaplerin, doch Stella sah das anders:
»Und wenn schon, das ist doch kein Schimpfwort, Elisa! Um eine gute Hochstaplerin zu sein, braucht man psychologisches Wissen und theatralische Fähigkeiten«, zerstreute sie meine plötzlichen Skrupel. »Und du hast das Zeug dazu.«
Die Kunde von den zwei schönen Frauen, die jeder aufsuchen konnte, der sich mühselig und beladen fühlte, sprach sich in unserem Viertel schnell herum. Auch die geringen Kosten für eine oft stundenlange intensive Zuwendung zog viele an. Während Stellaluna für jeden Hilfesuchenden komplizierte Behandlungspläne unter besonderer Berücksichtigung des Schwarzen Mondes austüftelte, tat ich mit meinen Händen, was ich konnte, ohne zu wissen, was ich tat. Manchmal spürte ich gar nichts, und ich versuchte einfach nur, meine Energie gleichmäßig fließen zu lassen, ohne irgendwelche Störfelder finden zu wollen. Bei anderen Gelegenheiten schien es mir, als zögen meine Finger ganze Fäden oder sogar unsichtbare Knäuel kranker Materie aus den verschiedenen Körperteilen. Und obwohl ich meine Hände anschließend immer heftig ausschüttelte und in Stellalunas Tinkturen tauchte, fühlte ich mich dann oft selbst unwohl und geschwächt.
Lieber waren mir die heimlichen Genießer, die ihre körperlichen Beschwerden nur vortäuschten, um sich von mir mit einer erotischen Massage verwöhnen zu lassen. Diese Leute zahlten dann auch gerne, und schon nach wenigen Wochen waren die Massagekunden in der Überzahl. Sie wußten, was sie bekamen, während die Kranken zunächst einmal glauben mußten, daß ihnen durch mein Händeauflegen geholfen würde.
Stellaluna sah, was ich tat, und schwieg.
»Lilith ist die Schutzgöttin der Dirnen«, glaubte ich mich einmal nach einer offensichtlich stimulierenden Ganzkörperbehandlung bei einem meiner Lieblingskunden vor Stella rechtfertigen zu müssen, wobei ich gleichzeitig einen Hunderter vor ihren Augen tanzen ließ.
»Deine heilenden Hände wurden dir in die Wiege gelegt, Elisa, aber du bist noch nicht genügend entgiftet, um feinstoffliche Vorgänge wahrzunehmen«, sagte sie schmallippig. »Und du weiß nicht, wer du wirklich bist.«
»Dann entgifte mich und sag mir, wer ich bin!«
»Warte es ab!« Jetzt lächelte sie doch, aber nur mit dem Mund. O allwissende Stellaluna, du hattest natürlich längst erfaßt, daß die Geduld zu meinen Tugenden nicht zählte! Schon nach einem halben Jahr glaubte ich, mit deinen Künsten hinreichend vertraut zu sein, dabei hätte ein halbes Leben kaum dazu ausgereicht.
Stellaluna war eine vielseitige Lehrerin, zu ihrem Repertoire gehörte neben dem Heilen mit Blütenessenzen und Kristallen auch das Befragen von Tarot und I-Ging, das Lesen der Handlinien und das Deuten der Aura. Außerdem hatte sie, so erfuhr ich eines Tages aus einem Gespräch mit Julian, Zugang zur sogenannten »Akasha-Chronik«.
»Was hat er damit gemeint, Stella?«
Sie massierte mir meine schmerzenden Schulterblätter, als es mir einfiel, sie danach zu fragen.
»Tut es hier weh?« fragte sie zurück.
Ich stöhnte hinter zusammengebissenen Zähnen. Bei mir führte das stundenlange Händeauflegen immer noch zu Verkrampfungen. Ich fand das unprofessionell und ärgerte mich.
»Und auf der anderen Seite?«
Ich stöhnte noch mehr.
»Das, meine Ärmste, sind die Engelflügelpunkte, die Stellen, wo deine Flügel einmal waren«, scherzte meine Meisterin. »Du hast Phantomschmerzen, glaube mir.«
Ich nickte zerstreut und wiederholte meine Frage: »Was ist das, eine ›Akasha-Chronik‹? Ich habe das Wort noch nie gehört.«
»Es kommt aus dem Sanskrit und bedeutet ›Buch des Lebens‹. Eine planetarische Bibliothek, wenn du so willst. Alle menschlichen Gedanken und Taten sind als Bilder im Äther der Welt gespeichert wie in einem überdimensionalen kosmischen Computer.«
»Eine lebendige Bibliothek?« staunte ich und dachte an die langsam zu Staub zerfallenden Folianten im Gehäuse der Nonnen. »Und wer kann darin lesen?«
»Medien, wer sonst?« Stellaluna strich mir mit einer schwarzweißen Vogelfeder die Wirbelsäule entlang, was bei mir ein Gefühl erzeugte, als würden mich elektrische Ströme durchfließen.
»Noch gibt es hierzulande nicht so viele Medien. Doch das läßt sich ändern. Falls ich jemals in meinem Leben zu Geld komme, werde ich eine moderne Mysterienschule gründen, in der Eingeweihte und Lichtarbeiter ihre Kenntnisse im Sinne einer geistig beseelten Wissenschaft weitergeben ...«
»Hohe Priesterinnen wie du und kleine Ketzerinnen wie ich werden mit Schwingungen und Energie heilen«, fuhr ich fort, denn Stellas Traum von einer Mysterienschule war mir wohlvertraut, sprach sie doch seit Wochen von nichts anderem. Jeden Pfennig sparte sie dafür.
Meine Engelflügelpunkte, die ich selbst nur schwer erreichen konnte, hatten sich unter Stellalunas tanzenden Fingerspitzen schon wieder ganz entspannt. Ich stand auf und legte meinen Kopf in ihren Schoß, denn ich wußte, daß sie mir von dort aus keine noch so dumme Bitte abschlagen würde.
»Lies mir etwas aus der Akasha-Chronik vor, Stella! « bat ich in die Falten ihrer wollenen Röcke, die einen leicht erdigen Geruch verströmten. Wahrscheinlich hatte die Gute sie seit ihrem Mittelalterjahrmarkt nicht mehr gewaschen.
Mit allen zehn Fingern versuchte Stellaluna, mein krauses Langhaarfell zu entwirren. »Deine Locken stehen dir um den Kopf, Elisa, wie ein Haufen rostroter Fragezeichen. Wenn du nichts dagegen tust, werden sie dir noch ganz verfilzen.« Sie räusperte sich. »Wen soll ich dir denn vorführen?«
»Du kannst alle Leben sehen, die es auf dieser Erde jemals gegeben hat?«
»Theoretisch ja.«
»Dann möchte ich am liebsten der historischen Königin von Saba begegnen.«
»Oh!« Sie zögerte. »In dem Fall muß ich vorher in Trance gehen.«
»Wozu?«
»Damit ich die damit verbundenen Informationen wie in einem Film vor meinem geistigen Auge ablaufen lassen kann ... Es gibt nämlich eine Gen-Erinnerung in unseren Zellen, die weit in die Vergangenheit hineinreicht. Es ist alles in uns gespeichert, verstehst du, und es funktioniert wie bei einem Hologramm, bei dem jedes Bild eines Teiles sogleich Informationen über das Ganze enthält. Das gesamte Universum ist ein Hologramm, nehme ich an, und das menschliche Gehirn ebenso. Sobald ich meinen inneren Bildschirm anschalte, kann ich sehen.«
Wie selbstverständlich sie das sagte! Mir lief ein Kribbeln über die Kopfhaut, und ich wußte wieder nicht, was stärker war, meine Neugier, wenn nicht gar Neid, auf Stellalunas unglaubliche Fähigkeiten oder die Angst, mich in ihrem magischen Theater zu verlieren.
Zitternd vor Erregung, empfing ich ihre Durchgaben und versuchte möglichst viel davon zu behalten, um es später als die »Lehren der Stellaluna« in meine Tage- und Nachtbücher mit aufzunehmen.