Читать книгу Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - Страница 11
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Während sie hinüberschlenderte zu Lion, ließ Kathi sich Dominics Angebot durch den Kopf gehen. Der Gedanke war ihr völlig neu, aber er hatte etwas ungeheuer Reizvolles. Sie liebte seine Schnitzereien. Sie konnte sich sogar vorstellen, dass sie die Maltechniken unter der Anleitung von Dominics Mutter lernen könnte. Unbegabt mit den Händen war sie nicht. Ihre Mutter hatte ihr früh das Nähen beigebracht, sie handarbeitete und bastelte seit jeher mit Freude und sie wusste, dass ihr die Sache Spaß machen könnte. Einen Versuch wär’s vielleicht wert, aber eigentlich hatte sie keine Zeit für so etwas. Außerdem hatten ihr die paar Monate Ruhe vor dem Sturm immer ganz gutgetan, sinnierte sie und öffnete die Tür der Buchhandlung von Lion Wieser.
Die Buchhandlung von Lion Wieser, dem 32-jährigen Inhaber dieses Paradieses, erfreute Kathi genauso wie die Schnitzereien von Dominic. Ebenso wie bei Dominic erstreckte sich die Buchhandlung über zwei lang gezogene Räume. Und auch bei Lion schloss sich hinter dem zweiten Raum die Werkstatt an. Hierbei handelte es sich um eine Buchbinderei, sein zweites Standbein und, wie er selbst bekundete, seine Leidenschaft, gleich nach dem Buchverkauf. Diese Werkstatt war, anders als die von Dominic, komplett vom Laden getrennt und von diesem aus uneinsehbar. Sie besaß große Fenster, die natürliches Licht hereinließen, ganz im Gegensatz zu den Verkaufsräumen, die vor allem von künstlichem Licht erhellt wurden, allerdings auf so wunderbare Weise, dass überall kleine Lichtinseln entstanden waren, in denen Tische mit kleinen Cocktailsesseln zum Schmökern in einem neuen Buch einluden.
»Hallo, Servus, Lion!«
»Grüaß di, Kathi!« Lion und sie kannten sich vom Chorsingen, an dem Kathi noch heute zusammen mit Alice teilnahm. Unter anderem war das der Grund, warum sie die Schwaige stets bereits um 18 Uhr schlossen, somit versäumten sie keine Proben. »Wie geht’s?«
»Wie soll’s einem schon gehen, wenn man kurz vor der Verlobung steht«, antwortete sie heiter. Im Gegensatz zu Dominic hatte sie bei Lion bereits vorher die geplante Verlobung erwähnt.
Er grinste. »Angespannt, ruhelos, panisch, würde ich vermuten.«
»Nichts von alledem. Mir geht’s sehr gut, du unverbesserlicher Single«, schmunzelte sie. »Was macht das Geschäft? Ziemlich ruhig, vermute ich.«
»Logisch. Die Leute müssten mehr zum Bücherlesen animiert werden, aber auf mich hört ja niemand.«
»Kastelruth sollte sich in die Bücherdörfer wie zum Beispiel Montereggio einreihen«, entgegnete sie nachdenklich. »Du weißt, wie erfolgreich die sind. Eine Woche lang ein ganzes Dorf bestückt mit Regalen voller gebrauchter oder gar antiquarischer Bücherschätze, vor jeder Haustür, an jeder Ecke, in Cafés, Scheunen oder Garagen – das zieht Gäste und Besucher an und weckt bei jedem die Lust aufs Lesen.«
»Genau. Unser Besuch in Montereggio war wirklich toll. Ich denke, da braucht es hier bei uns noch einige Überzeugungsarbeit, bis man das auf die Beine stellen kann. Außerdem hätte ich dazu momentan kaum Zeit.«
»Ach, und warum?«
»Erzähl ich dir gleich. Komm erst mal mit, ich brauche dringend was zum wach werden. Ich konnte vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen.« Er ging voraus und betrat seine Werkstatt. In der Ecke vor der Fensterreihe standen zwei schmale Stühle an einem winzigen Tisch aus Marokko, wo er täglich an die zehn Espressi zu sich nahm, wie Kathi vermutete.
Er wies auf einen der Metallstühle. »Espresso?«
»Gern.«
Er stellte zwei kleine Tassen unter die Düsen einer monströsen, funkelnden Kaffeemaschine, die er mehr liebte als sein Auto – was man verstehen konnte. Die Espresso-Maschine war ein modernes Wunderwerk der Technik, während sein Auto nur mit großem Aufwand vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden konnte.
Stumm schaute sie ihm bei der Zeremonie zu und keine Minute später durchzog der wundervolle Espresso-Duft den Raum. Sie gab zwei gehäufte Löffel Zucker in die winzige Tasse und führte sie zum Mund. Köstlich!
Wer oder was mochte Lions Ruhe gestört haben? Eine Frau, das wäre schön gewesen. Doch Frauen lockten diesen zurückhaltenden, beinahe schüchternen Mann selten aus der Reserve. Er war ein Bücherwurm und glücklich in seiner stillen Welt. Dabei hätte er Chancen im Überfluss, vor allem bei mütterlichen Frauen, im normalen Leben war er nämlich manchmal unbeholfen. Der Buchladen hingegen war sein ureigenes Refugium, in dem er sich selbstsicher und voller Begeisterung bewegte, wodurch er Menschen, die nur einmal vorbeischauen wollten, nicht selten zum Kauf animierte. Diese Leidenschaft für das geschriebene Wort beschränkte sich nicht nur auf die literarischen Werke, sondern umfasste sämtliche Genres. Kathi war sich sicher, dass er aufgrund seines fotografischen Gedächtnisses einen Großteil der Bücher, die er verkaufte, selbst gelesen hatte. Und er war in der Lage, noch Wochen später den Inhalt exakt wiederzugeben.
Lion trank ebenfalls von seinem Kaffee. Dann setzte er die Tasse ab und sie bewunderte, wie so oft, seine schönen schmalen Hände. Er schüttelte den blonden Lockenkopf, schaute sinnend aus dem Fenster und begann:
»Ich sitze also gestern nichts ahnend hier in meiner Werkstatt, da klingelt es im Laden. Ich bin fast erschrocken, weil das zu dieser Zeit nicht gerade oft vorkommt. Und dann steht da ein Mann vor mir, den ich schon einmal in meinem Laden angetroffen hatte. Ich erinnerte mich gut an ihn, denn er ließ ein Vermögen springen«, grinste er. »Um es kurz zu machen: Er gab mir, dem Buchbindermeister Lion Wieser, den Auftrag, seine Folianten, die er aus verschiedenen aufgelösten Klöstern erworben hatte, zu restaurieren. Als ich wieder in der Lage war, meine Stimme zu gebrauchen, teilte ich ihm mit, dass ich das zwar gerne machen würde und natürlich auch perfekt ausführen würde –, leider jedoch nicht in seiner Villa in Bozen arbeiten könne, sondern nur hier, damit der Laden geöffnet bliebe. Wenn ich nämlich den einmal schließe, brauche ich ihn nie wieder zu öffnen, dann hat man hat das Bücherlesen endgültig aufgegeben. Und zu meiner großen Überraschung erklärt sich dieser wunderbare Mann doch wie aus der Pistole geschossen damit einverstanden, dass ich hier in meiner Werkstatt arbeiten kann. Ich war heute Morgen bei ihm, und er gab mir gleich das erste Buch mit – oder das, was von ihm noch übrig geblieben ist«, fügte er kopfschüttelnd hinzu. »Ich muss sagen, ich bin so was von begeistert. Nachdem ich ihm zu verstehen gab, dass diese Arbeit zeitintensiv ist und ich diese Riesenaufgabe vor allem in der Zeit ohne Kundenverkehr erledigen muss, meinte er doch, bei dem, was er mir zu zahlen bereit wäre, könnte ich mir spielend eine Aushilfe leisten. Er bat um eine ungefähre finanzielle Einschätzung, und ich überschlug die Kosten für dieses erste Buch. Was natürlich so schnell schwierig ist. Ich setzte sie also nicht zu niedrig an. Trotzdem bat er, als er die Summe hörte, ich solle mich sofort auf die Suche nach einer Verkaufshilfe machen. Auf meine Frage, woher er das Vertrauen nähme, antwortete er, mit Naivität wäre er nicht dahin gekommen, wo er jetzt finanziell stünde. Natürlich hätte er sich, bevor er seine Schätze in fremde Hände gäbe, über mich und meine Arbeit schlaugemacht. Durch den Abt vom Stift Melk in Österreich kenne er meinen Namen. Vor allem meine letzte Arbeit für das Kloster, zwei kostbare Bibeln, die ebenfalls sehr aufwendig gewesen war, habe ihn überzeugt. Ich muss sagen, mir schlug das Herz bis zum Hals. Und jetzt kommst du hereingeschneit, meine liebste Kundin. Da kommt mir natürlich sofort eine super Idee.« Er schwieg erwartungsvoll.
Kathi lächelte. »Ich freu mich enorm für dich. Super.«
»Ja, und? Was sagst du zu meiner Idee?«
»Das mit der Aushilfe finde ich gut, so hättest du genügend Ruhe, dich ganz deiner diffizilen Arbeit hinzugeben.«
»Ja, und weiter?«
»Was ja, und weiter?«, fragte sie ein wenig konfus.
»Na, du sollst natürlich diese Aushilfe sein. Wenn ich recht informiert bin, öffnet ihr eure Schwaige erst wieder im Juni. Da hättest du doch fast den ganzen April und den Mai Zeit, bei mir zu arbeiten – zumindest halbtags, da ist in den ruhigen Monaten ohnehin tote Hose. Und dann noch im Oktober, November … das würde mir schon wahnsinnig helfen.« Wieder blickte er sie mit seinen blauen Kulleraugen an, die so sanft wie eine Käthe-Kruse-Puppe schauten.
»Das Tollste ist, jetzt ist meine Buchbinderarbeit endlich die Haupteinnahmequelle geworden, wie ich es mir immer gewünscht habe. Der Mann hat drei Folianten in Aussicht gestellt, dazu einige Inkunabeln. Der muss Geld wie Heu haben.«
»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber was sind Inkunabeln?«, fragte sie interessiert. Sie hatte das Wort zwar schon gehört, wusste aber dennoch nicht, worum es sich genau handelte.
»Inkunabeln? Als Inkunabeln oder Wiegendrucke werden die zwischen der Fertigstellung der Gutenberg-Bibel im Jahr 1454 und dem 31. Dezember 1500 mit beweglichen Lettern gedruckten Bücher, Briefe, Predigten und Flugschriften bezeichnet. In dem Zeitraum entstanden etwa 19.000 verschiedene Schriftstücke in insgesamt 500.000 Exemplaren«, dozierte er. »Ein Wahnsinn, gell?«
»Kann man wohl sagen.«
»Jetzt, also«, fuhr er fort, »wäre mit deiner Hilfe der Laden das Hobby und nicht meine Buchbinderei, und somit hätte ich das Finanzamt beruhigt.«
Die Glocke der Ladentür ertönte. Er entschuldigte sich. »Das ist sicher die Post. Ich hole sie rasch.«
Als er zurückkam, war er bereits dabei, einen Brief zu öffnen. »Entschuldige, aber das ist wichtig«, sagte er mit ernster Miene und sank auf den wackeligen Stuhl.
Oh je, dachte sie, hoffentlich keine schlechten Nachrichten.
Aber dann blickte er hoch. »Ich fasse es nicht!« Er schwieg, doch sie erkannte, dass es sich nicht um eine schlechte Nachricht handelte, denn er strahlte wie eine Weihnachtskugel.
»Ich habe tatsächlich momentan eine echte Glückssträhne.«
»Jetzt sag schon«, forderte sie ihn lächelnd auf, denn nun war auch ihre Neugierde geweckt.
»Da fragt mich doch tatsächlich das Kölner Stadtarchiv, ob ich ihnen bei der Restaurierung ihrer Bücher helfen könne. Sie kommen ebenfalls über den Abt auf mich, der sich gleich nach dem schrecklichen Unglück mit ihnen in Verbindung gesetzt hatte.«
»Was war da passiert in Köln?«
»Bauarbeiten am U-Bahn-Netz waren der Auslöser, dass das Gebäude des Stadtarchivs in die Erde versank und mit ihm tausende, unendlich wertvolle Bücher, deren einzelne Blätter durch Beton und Staub schwer beschädigt worden waren. Die Zahl der Werkstätten, die sich an die Restaurierung machten, ist hoch, doch man hat erkannt, dass man noch weitere Hilfe benötigt. Und da kommen sie zu mir.«
»Du liebe Güte, Lion, das ist ja wie ein Ritterschlag.« Kathi war voller Bewunderung.
In Lions Augen standen tatsächlich Tränen, und sie freute sich für ihn mit, denn sie wusste, dass er manches Mal kurz vor der Schließung des Buchladens gestanden hatte. »Wirst du den Auftrag annehmen?«
»Kathi, Schatz, was für eine Frage! Natürlich werde ich das. In der Vergangenheit hatte ich höchstens Aufträge für Gästebücher, Rezeptbücher oder Diplomarbeiten. Aber Fakt ist, dass ich mich dann kaum noch um den Laden kümmern kann. Und da kommst du als rettender Engel hereingeflogen. Ich muss sagen … na, was sagst du?«, endete er selig und verschüttete vor Begeisterung seinen Espresso.
Kathi zögerte mit ihrer Antwort. Wie seltsam, da wurden ihr mit einem Schlag gleich zwei Jobangebote gemacht. Beide reizten sie sehr. Aber die Zeit der Erholung zwischen dem Ansturm der Touristen auf ihre Schwaige hatte sie bitter nötig, gerade in diesem Jahr, das besonders heftig gewesen war.
»Jetzt sag doch nicht sofort nein, überleg dir die Sache einmal in Ruhe«, schlug er hastig vor. »Jetzt, wo ich Geld verdiene – also Aussicht darauf habe«, schränkte er grinsend ein, »könnte ich dich sogar bezahlen.« Er untertrieb, wie sie vermutete, denn sie wusste, dass er die erste Etage über dem Geschäft vermietet hatte.
»Ich werde es mir wirklich überlegen. Es klingt verlockend, es ist nur so, dass gerade eben mir Dominic das Gleiche vorgeschlagen hat.«
»Was, Bücher zu verkaufen?«, fragte er, naiv wie er manchmal sein konnte.
»Schmarr’n. Ich könnte bei seiner Mutter das Bemalen der Schnitzereien lernen, weil sie dazu wegen ihrer schlimmen Arthritis kaum noch in der Lage ist. Und …«
»Unsinn, bei mir wirst du dringender gebraucht«, unterbrach er sie ungeduldig.
»Nein, du verstehst nicht. Auch bei Dominic würde ich nur einen halben Tag arbeiten, vorzugsweise nachmittags. Das mit der Aushilfe hier könnte also durchaus klappen – selbst wenn ich mich für Dominic entschiede, was ich noch nicht getan habe. Ich weiß ja gar nicht, ob ich so diffizile Arbeiten überhaupt machen kann«, gab sie zu bedenken.
»Mir egal. Hauptsache, du sagst mir deine Anwesenheit zu. Du liest viel und du bist intelligent genug, meine Bücher zu verkaufen«, gab er für seine Verhältnisse recht energisch von sich. »Und wenn du nur einen halben Tag Zeit hast, dann ginge das zur Not auch. Den Rest des Tages würde mir meine Mutter helfen, das hat sie ohnehin schon des Öfteren gemacht, wenn ich mal einen Auftrag zum Restaurieren hatte.«
»Ihr überrumpelt mich ja beinahe«, lachte sie. Es tat gut, gebraucht zu werden, dennoch würde sie absagen, aber sie wollte die beiden Männer nicht sofort enttäuschen. Morgen würde sie sie anrufen und ihre Angebote abschlagen. Sie sagte jedoch: »Ich werde es mir auf jeden Fall überlegen.«
In diesem Moment ging erneut die Türklingel. »Ja, überleg es dir in meinem Sinn«, legte er ihr nahe und stand auf.
»Man wird sehen.« Sie stand ebenfalls auf, und sie gingen in den Verkaufsraum, in dem eine Kundin auf ihn wartete. Versonnen deckte Kathi sich mit neuem Lesestoff ein und bezahlte, jedoch nicht ohne ihm zu versprechen, ihn spätestens morgen anzurufen und ihre Entscheidung mitzuteilen.
Zurück auf der Seiser Alm versuchte sie erneut, Ennio zu erreichen, doch wieder meldete sich nur seine Mailbox. Sie kniff angestrengt die Brauen zusammen.
Was stimmte hier denn nicht? War er so eingespannt mit diesem Besuch bei der Genossenschaft?
Seufzend entschied sie, sich auf den Weg zu den Lambachers zu machen. Es hatte einfach keinen Sinn, weiter in ihrem Zimmer zu grübeln, wo Ennio steckte, ob ihm möglicherweise etwas passiert war. Wenn ja, dann wusste seine Familie sicherlich Bescheid. Doch dann erhielt sie einen Anruf einer Freundin, die sie lange nicht gesehen hatte, und das Gespräch zog sich in die Länge.