Читать книгу Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - Страница 9
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Sie zog die Jacke von den Schultern, denn jetzt fröstelte sie nicht mehr, sondern sie hatte einen Schweißausbruch. Aufgewühlt begab sie sich weinend auf den Heimweg. Bevor sie ins Haus trat, schlich sie in die Scheune und versteckte die Jacke im hintersten Winkel eines Holzregals. Unbemerkt von ihrer Mutter oder gar Kathi, erreichte sie schließlich ihr Zimmer.
Es dauerte keine fünf Minuten, da fiel ihr ein, dass sie ja ihrer Freundin Linni versprochen hatte, sie morgen ins Krankenhaus zu bringen, um sie zu einer Brustkrebsuntersuchung zu begleiten. Die Voruntersuchung hatte kein eindeutiges Ergebnis gezeigt, und nun stand ihr eine MRT-Aufnahme bevor. Danach würde sie noch ein paar Tage bei Linni in Meran bleiben. Bis zu Kathis Verlobung musste sie allerdings zurück sein, wenn es denn dazu kommen sollte. Sie hätte nicht sagen können, ob sie diese herbeisehnte oder befürchtete.
In Windeseile packte sie eine Reisetasche, dann ging sie in das Zimmer ihrer Mutter.
Theresa saß an ihrem kleinen Tischchen unter dem Fenster und tippte in ihren Computer.
»Mama, darf ich dich einen Moment stören?«
Theresa schaute lächelnd von ihrem PC hoch, an dem sie mit Online-Banking beschäftigt war. Dies war keine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, vor allem, da Kathi ihr erst vor Kurzem gezeigt hatte, wie es funktionierte. »Aber sicher, Schatz. Was gibt’s?«
»Ich hab dir doch von Linnis Anruf erzählt, in dem sie mich gebeten hat, sie für ein paar Tage zu besuchen«, brachte Alice mit halbwegs normaler Stimme hervor. »Gestern hat sie wieder angerufen.«
»Ach, wie nett. Wie geht es ihr denn?«
»Ganz gut, aber ihr steht eine Untersuchung im Krankenhaus bevor, vor der sie sich fürchtet, und ich möchte sie begleiten. Ihr Mann befindet sich auf einer Lesereise und wir haben uns lange nicht gesehen. Sie hat ein paar Tage Urlaub genommen, damit wir gemeinsam etwas unternehmen können.« Tommaso, Linnis Mann, hatte nach erfolgreicher Arbeit als Brückenbauer in aller Welt seinen Job an den Nagel gehängt und genauso erfolgreich begonnen, Krimis zu schreiben. Nicht nur der erste, sondern auch die beiden folgenden waren Bestseller. Mit dem letzten war er nun auf Lesereise gegangen.
»Eigentlich wäre es ja besser, sie käme herauf zu uns.«
»Nein, nein, lass nur. Ich bin ganz froh, mal wieder in Meran zu sein. Dort können wir genauso schöne Spaziergänge machen.«
»Stimmt«, nickte Theresa. »Aber zur Verlobung bist du doch wieder hier?«
»Natürlich.« Seltsam. Die Welt lag zerbrochen zu ihren Füßen, aber die Stimme gehorchte immer noch.
Sie umarmte ihre Mutter herzlich. »Ich muss mich beeilen, dann bekomme ich noch den Bus. Pass auf dich auf, Mama.«
»Dann mach’s gut, mein Schatz. Und grüß mir Linni.«
Alice rannte beinahe zur Straße. Keine Minute vom Hof entfernt fuhr der Bus zum Compatsch, den sie unbedingt noch erreichen wollte.
Nachdem sie eingestiegen war, hatte sie allerdings Mühe, die Tränen zu unterdrücken.
Die 15 Jahre ältere Linni und sie hatten sich im Krankenhaus kennengelernt, als beiden der Blinddarm entfernt worden war. Sie hatten sich während ihres Aufenthalts in der Klinik ihr Leben erzählt, und diese Freundschaft hatte die Tage im Krankenhaus überdauert und bestand noch immer. Linni gehörte zu ihren besten Freundinnen.
Die Seilbahn brachte sie nach Seis, wo Linni mit dem Auto bereits auf sie wartete. Sie begrüßten sich herzlich. »Aber was ist los mit dir?«, fragte Linni und blickte sie neugierig an. »Du siehst ehrlich gesagt schrecklich aus.«
Alice war nicht böse über Linnis Bemerkung. Linni war eine ihrer ältesten Freundinnen und es würde ihr guttun, mit ihr über ihre schrecklich-schöne Liebe zu reden. Natürlich hatte Alice bereits gleich zu Beginn mit ihr über diese unmögliche Liebe gesprochen. Ohne die Freundin wäre sie an ihrem Liebeskummer erstickt.
Alice strich sich über die weichen Locken. »Na, warum wohl? Selbstverständlich wegen Ennio. Und die Verlobung mit Kathi steht an … und … na, du weißt schon. Ich habe Liebeskummer – wie wahrscheinlich die Hälfte der weiblichen Bevölkerung dieser Erde.«
»Willkommen im Club«, entgegnete Linni trocken.
Alice musste fast lachen. Gab es etwas Schöneres, als eine enge Freundin, mit der man alles bereden konnte?
Sie hatte bis zu ihrer Affäre mit Ennio immer jemanden zum Reden gehabt. Als Kind waren da ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, die immer ein offenes Ohr für ihre Wehwehchen, Sorgen und Nöte gehabt hatten. Gleich danach kam ihre Großmutter mütterlicherseits. Und natürlich gab es immer Kathi. Ihr Verhältnis war im Vergleich zu manch anderen Schwestern sehr gut. Bis jetzt, da sie begonnen hatte, diese innige Beziehung aufs Spiel zu setzen.
Willkommen im Club? Erschrocken betrachtete Alice das liebevolle, attraktive Gesicht ihrer Freundin, als ihr endlich aufging, was Linni da vorgebracht hatte. »Bitte, sag nicht, dass es Probleme mit deinem Tommaso gibt.«
»Mit Tommaso nicht, aber mit seiner blöden Agentin. Also, der neuen. Die alte hat aufgehört, nachdem sie Zwillinge zur Welt gebracht hat. Aber die neue ist hinter ihm her wie der Teufel. Wenn ich nicht aufpasse … die kennt kein Pardon vor einer Ehe, glaub mir. Die Lesereise von Tommaso ist für sie ein gefundenes Fressen.«
Alice wusste um die Eifersucht, die an ihrer Freundin sehr rasch nagte. Und sie kannte natürlich auch Tommaso, der ein Frauentyp erster Güte war. »Und da lässt du Tommaso mit ihr auf Lesereise gehen?«
Linni zuckte die Achseln. »Das erste Gebot unserer Ehe heißt Vertrauen. Ich hab ja Vertrauen in ihn. Aber ich kenn auch die Frauen. Und zu denen hab ich nicht immer Vertrauen. Weißt ja selbst, wie die sind.« Sie fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund. »Oh, entschuldige, damit warst natürlich nicht du gemeint.«
Alice ersparte sich eine Antwort. Irgendwo hatte ihre Freundin ja recht.
Sie erreichten das schöne alte Haus in Meran unweit der Passer und stiegen aus. »Ach, du bewohnst ein wunderbares Haus. Und verstehst dich gut mit deiner Familie, hast sogar eine neue Schwester toleriert, was sicher nicht einfach war. Wenn man mit 39 Jahren aus heiterem Himmel erfährt, dass die ebenfalls ahnungslose Schwester eine Zwillingsschwester hat, und diese dann auch noch zu einem ins Haus zieht – nicht einfach. Aber ich glaube, du hast es überstanden, gell?« Sie erinnerte sich, als Linni ihr von ihrer Eifersucht erzählte, die sie schier überwältigt hatte, nachdem sie und ihre Schwester Ella plötzlich erfuhren, dass ihre Eltern die Zwillingsschwester Ellas, Noemi, verschwiegen hatten, wie auch die Tatsache, dass Ellas leibliche Mutter noch lebte. Dass sie damit, sowie mit ihrer Eifersucht auf die neue Schwester, fertiggeworden war, hatte sie nur Tommaso zu verdanken. Ohne ihre rasche Heirat wäre das Zusammenleben schwierig gewesen, denn die Zwillingsschwestern Ella und Noemi hatten von Anfang an eine starke Zuneigung verspürt. Zum Glück kehrte zur gleichen Zeit Tommaso von seinem Auslandsaufenthalt zurück. Sie verliebten sich ineinander und Linni zog zu ihm ins Nachbarhaus.
Sie nahmen Alices Tasche und stiegen an der äußeren, überdachten Treppe des Hauses hinauf zu Tommasos und Linnis Wohnung. Unter dem Dach hatte Linni ihr Reich für sich. Es war ein großzügiger Raum, in dem eine bequeme Schlafcouch stand. Daneben gab es einen runden Glastisch mit einer modernen Leselampe. Unter der einen Schräge war über die gesamte Breite ein Schrank eingebaut, und der gegenüberliegende, voll verglaste Giebel schenkte dem Raum dank der Holzvertäfelung ein schimmerndes Licht.
»Dein Zimmer ist immer noch so schön, da möchte man als Gast nie wieder ausziehen«, lächelte Alice.
»Wehe, du verrätst das Tommaso.«
Da musste Alice wirklich lachen – zum ersten Mal an diesem Tag. »Ach, du Dummerchen. Der Mann liebt dich doch, das sieht jeder Blinde.«
»Bis zum Ende unserer Tage, toi, toi, toi«, nickte Linni.
Lachend liefen sie die Treppe hinunter in die moderne Küche mit den bequemen Stühlen aus gebogenem Birkenholz und dem riesigen Tisch. »Den hat Tommaso entworfen«, informierte Linni sie.
»Hm, toll. Er hat sogar vier Beine. Dazu diese … äh … große Tischplatte, ich bin wirklich begeistert«, grinste Alice angesichts des Tisches, der sich in ihren Augen in nichts von seinen abertausend Brüdern und Schwestern unterschied.
»Mach dich bloß nicht über meinen Designer lustig, das hab ich bereits hinter mir und hab es nur knapp überlebt. Es ist nicht zu fassen, aber dieser Mann hat sich tatsächlich zwei Jahre lang einen Kopf gemacht, wie man wohl einen besonderen Esstisch herstellen könnte. Schließlich führte dann sein Brainstorming aber doch zu einer Tischplatte und vier Beinen. Allerdings aus Birke«, schmunzelte Linni.
Alice mochte Tommaso, den attraktiven Krimi-Autor, doch bei Mädelsgesprächen war er, wie Männer generell, überflüssig. Sie hatte ihn erst vor zwei Jahren kennengelernt, wusste aber von Linni, dass diese immer schon in ihn verliebt gewesen war. Er war zweifellos sehr attraktiv. Sein lockiges, schwarzes Haar, das noch kaum von silbernen Fäden durchzogen war und die hellblauen Augen noch mehr betonte, seine schlanke, jedoch muskulöse Figur mit den breiten Schultern und seine schönen, schmalen Hände hatten noch jedes Meraner Dirndl hingerissen von ihm träumen lassen, wie sie von Linni erfahren hatte. Deren Hochzeit vor zwei Jahren war ein Traum gewesen.
Ach, sann Alice sehnsüchtig, wenn sie das doch auch einmal von ihrer Hochzeit sagen könnte. Momentan war ein solches Fest für sie so weit entfernt wie eine Reise zum Mond. Nein, so weit wie eine Reise zum Mars.