Читать книгу Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - Страница 6

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Als die beiden Schwestern das Haus verlassen hatten, setzte Theresa Wasser auf und goss es später in die Kanne mit den Kräutern jener Sorte, die Sara, ihre Freundin, bevorzugte. Ein Tee, der glücklich machte, betonte sie jedes Mal aufs Neue. Und ja, das empfand Theresa ebenso, wenngleich sie insgeheim der Meinung war, dass dies nur ihren Köpfen entsprang. Tees jeglicher Güte waren für sie heißes Wasser, abgesehen, selbstverständlich, vom Almkräuter-Tee, der war schon etwas Besonderes. Außerdem machte natürlich der würzige Wiesenhonig der Familie Lambacher ein jedes Kraut genießbar.

Einen Moment überlegte sie, dann entschied sie, dass sie bereits heute die Gerstensuppe aufsetzen konnte, die sie alle so gern mochten und die man so schön sich selbst überlassen konnte, während sie köchelte.

Vor sich hinsummend machte sie sich an die Arbeit. Nachdem sie den Speck klein geschnitten hatte, gab sie ihn zum Zerlassen in den Topf und röstete ihn später mit Gerste und Wurzeln, um dann alles mit dem Selchfleisch und Salz zu mischen. In zwei Stunden würde die Gerstensuppe fertig sein.

Anschließend nahm sie Tee und Honig und ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das rote Sofa und schaute sich zufrieden um. Wie glücklich sie sich schätzen durfte! Alles war gut. Ihre Kathi würde sich am Sonntag verloben, ihr Mann ging seiner Arbeit nach, die er von Herzen liebte, und sie selbst war zufrieden mit ihrem Leben – ihren Aufgaben und der Tatsache, dass sie völlig stressfrei werken und wirken konnte, wie sie wollte. Und dass sie manchmal vom quirligen Stadtleben träumte wie in Meran, war schließlich normal. Selbst ihre Eltern waren nach vielen Jahren von Kastelruth nach Meran gezogen, weil dort ihrem Vater eine gute Stellung als Postbeamter angeboten worden war und ihre Mutter als Servicekraft in einem Vier-Sterne-Hotel arbeiten konnte. Auch nach dem Tod ihres Vaters war ihre Mutter dort wohnen geblieben, obwohl Theresa ihr mehrmals angeboten hatte, zu ihnen auf den Hof zu ziehen. Doch ihre Mutter hatte sich an die Lebendigkeit der Stadt gewöhnt und wollte in ihrer Wohnung bleiben. Bei ihr gab es zum Glück keine gesundheitlichen Probleme und auch finanziell war sie gut aufgestellt. Dennoch hätte Theresa sie lieber in ihrer Nähe gewusst. Allerdings wohnte ihre Schwester Gerti nur fünf Minuten Fußweg von ihrer Mutter entfernt.

Sie konnte ihre Mutter natürlich verstehen. Sie selbst spürte eine innige Liebe zu Meran, wo sie mit ihren Eltern nur wenige Jahre verbracht hatte, bis sie mit Bruno auf die Alm gezogen war.

Es gab so viele romantische Plätze in dieser Stadt – die wunderschöne Postbrücke mit der vergoldeten Brüstung, das Bozner Tor aus dem 14. Jahrhundert, den Altstadtkern mit den 400 Meter langen Lauben, wo sie selbst mit ihren Eltern gelebt hatte. Nicht zuletzt die Pfarrkirche mit dem 83 Meter hohen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt. Dahinter lag das Steinach-Viertel, das älteste Stadtviertel Merans, in dem sich auch ihre Wohnung befunden hatte. Wie hatte sie ihre abendlichen Spaziergänge mit ihren Freundinnen oder Bruno geliebt, durch jene drei engen Straßen und die verwinkelten Gassen, mit all den architektonischen Details, von alten Straßenlaternen in heimeliges Licht getaucht! Besonders oft war sie auf der Gilfpromenade gegangen, die an der rauschenden Passer entlangführte, mit dem aufregenden Blick in die nur wenige Meter breite Gilfschlucht, deren zahlreiche Rastbänke mit eingravierten Versen zum gemütlichen Verweilen einluden. Im Frühling hatte es sie oft in die Gärten Trauttmansdorff mit ihrer verschwenderischen Blütenpracht gezogen, oder auf den Meraner Höhenweg. Ja, Meran gehörte ihr ganzes Herz, so sehr sie auch die Seiser Alm liebte. Die mediterrane Ausstrahlung der Stadt verzauberte sie noch heute voll und ganz.

Sie war in Kastelruth in einer kleinen Wohnung, bestehend aus zwei Schlafzimmern, Wohnzimmer und Küche, in einem schlichten Mietshaus aufgewachsen. An einem 30. April, am frühen Abend, war dort ihr Bruno mit seinen Musikanten aufgetaucht.

Die Mittagsglocken hatten geläutet, als die »Moidnpfeifer« – die Maienpfeifer – ihre Runden begonnen hatten, bis die Mittagsglocken am 1. Mai dem Spiel ein Ende setzten. Moidnpfeifer gab es nur in der Gemeinde Kastelruth. Als Pfeifer bezeichnete man Musikanten und Spielleute, die seit jeher Abwechslung und Unterhaltung in den Bauernalltag brachten. Zwei Eier für jeden Musikanten hatte es früher gegeben, und die gab es auch heute noch – neben einem Schnapsl oder einem Essen, wie damals, als Bruno zum ersten Mal am Abend bei ihren Eltern erschienen war.

Die Moidnpfeifer mussten sich an strenge Regeln halten. Als Musikinstrumente waren ein Flügelhorn als erste Melodiestimme, Klarinette, Tenorhorn, Tuba sowie Posaune als Begleitinstrumente erlaubt. Auch die Bekleidung war genau festgelegt: Ein schwarzer Lodenhut, mit allerlei Wiesenkraut und einer langen, bunt glänzenden Hahnenfeder verziert, eine geblümte Weste über dem weißen Rupfenhemd und eine blaue Schürze über der schwarzen Lodenhose.

Begleitet wurden die Pfeifer vom »Aufheber«. Dieser – damals war es Bruno – bewahrte in einem Traggestell, einem mit Gras ausgepolsterten und mit Wiesenblumen geschmückten Weidenkorb, die gesammelten Eier auf. Er hatte aber noch eine zusätzliche Aufgabe: Er war der Unterhalter der Truppe. Je nach Tages- oder Nachtzeit gab es dann eine Marende, eine Süßigkeit oder eben ein Frühstück, und immer etwas zu trinken, denn das Blasen eines Instruments trocknet bekanntlich die Kehlen aus.

Nach Musik, Tanz und Unterhaltung eilten die Moidnpfeifer zum nächsten Hof weiter, während der »Aufheber« die Eier entgegennahm.

Ihre Mutter hatte ihnen feine Kasspatzln vorgesetzt und von da an hatten Bruno und sie kaum die Blicke voneinander abwenden können. Ja, sie hatten es gut miteinander. Wie jeden Tag dankte Theresa ihrem Herrgott für dieses ruhige, geordnete Leben. Nicht erst seit kein Vieh mehr zu betreuen war, Alice und Kathi die Schwaige bewirtschafteten und es dank Brunos Arbeit bei der Feuerwehr keine finanziellen Probleme gab, ging es ihr wirklich gut. Das einzig Schwierige war das Zusammenleben mit ihren Schwiegereltern gewesen, auch wenn die später im Austragshaus gewohnt hatten. Sie hatten gemeinsam auf dem Hof gelebt und Theresa hatte sie respektiert. Mehr aber leider auch nicht. Beide Frauen gaben sich Mühe, doch zu mehr als gegenseitigem höflichem Verhalten hatte es nicht gereicht. Auch die spätere Pflege der beiden bis zu ihrem Tod war natürlich auch nicht leicht gewesen.

Glücklicherweise hatten sie den Wunsch ihres einzigen Sohnes geachtet, als er seinen Entschluss, Feuerwehrmann zu werden, kundtat. Dass deshalb das Vieh und die Wiesen verkauft werden mussten, war unumgänglich. Sie nahmen das jedoch ohne Murren hin, denn die Bewirtschaftung des Hofes hatte sie beide aufgezehrt und sie waren froh, nicht weiter der harten Arbeit nachgehen zu müssen. Franz und Lenie hatten dann vom Holzverkauf und Lenies Arbeit als Serviererin gelebt. Den Wald hatten sie natürlich behalten, während die Wiesen an die Lambachers gegangen waren.

Theresa ergriff ihren Roman, der neben dem Sofa auf dem kleinen runden Beistelltisch darauf wartete, von ihr gelesen zu werden, legte die Füße hoch und widmete sich der heiteren Liebesgeschichte. Genauer, sie versuchte zu lesen. Doch nach einer Weile legte sie das Buch auf ihre Knie. Das, was ihr in letzter Zeit allerdings ein wenig Sorgen bereitete, war Alice. Wenn sie sich nicht ganz und gar täuschte, und sie täuschte sich selten, was ihre Familie anbelangte, dann ging es Alice schon seit geraumer Zeit nicht gut. Und dieser Zustand wurde nicht besser seit ungefähr drei Monaten. Darauf deuteten auch ihre häufigen Spaziergänge hin, die sie stets allein machte, was früher nie vorgekommen war. Es schien, als wäre da eine unglückliche Liebe im Spiel. Eine unglückliche Liebe war immer schlimm, aber dass Alice darunter litt, zerriss Theresa das Herz.

Alice war die Sensiblere der beiden Schwestern, in der sich jedoch eine mentale Stärke verbarg, die Theresa erst später erkannt hatte. Bereits äußerlich unterschieden sie sich stark und niemand, der sie nicht kannte, vermutete, dass sie Schwestern waren. Die schwarzen, schulterlangen Locken unterstrichen das helle Grau von Alices Augen. Mit ihrem vollen Mund im ovalen Gesicht, ihrer hellen Haut, die kaum einen Sonnenstrahl vertrug, und ihrer weiblichen Figur war sie genau das Gegenteil von Kathi, einer hoch gewachsenen Frau, deren schlanke Figur an Magerkeit grenzte, und die dennoch Kraft für zwei hatte. Theresa wusste nicht, wann Kathi je eine Erkältung gehabt hatte, wohingegen Alice regelmäßig darunter zu leiden hatte. Die scheinbar zerbrechliche Statur Kathis verbarg, wie viel Kraft sich dahinter befand.

Alices Hände waren weich, rund und schmeichelnd; sie zogen unweigerlich Kinder, Katzen und Hunde an, um sich von diesen Händen streicheln zu lassen.

Kathis Hände hingegen schrien nach Creme, ebenso wie ihre ganze Haut, und so verwendete sie keinen geringen Teil ihres Geldes für den Kauf der teuersten Kosmetika, während Alice sich mit Allzweckcreme begnügte.

Wenn Alice traurig war, stand es ihr ins Gesicht geschrieben.

Wenn Kathi traurig war, wurden ihre Lippen schmal, sie fluchte wie ein Stallknecht und schmiss die Türen zu. In ihren Augen stand aber kein solcher Schmerz wie bei Alice. Kathis braune Augen sprühten Funken, die jeden Holzklotz zum Brennen gebracht hätten. Und natürlich flossen bei ihr keine Tränen – jedenfalls nicht vor anderen Menschen. Sie verbarg sie sogar vor ihrer Mutter.

Alice hingegen war nah am Wasser gebaut.

Schön waren sie beide.

Theresas Sorgen – wenn sie denn am Horizont auftauchten – hatten stets mehr Alice gegolten als ihrer stolzen, starken Kathi. Aber das war natürlich ihr ureigenstes Geheimnis, das sie sorgfältig vor den anderen verbarg. Nur Bruno hatte sie durchschaut. Ihm konnte sie wirklich gar nichts verheimlichen, dachte sie seufzend, wenn auch mit einem Lächeln. Ihr lieber Bruno kannte sie halt durch und durch.

Abendrot auf der Seiser Alm

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