Читать книгу Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - Страница 8

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Alice hatte sich irgendwann tatsächlich zu einem Spaziergang aufgerafft. Die Kopfschmerzen waren natürlich nur vorgetäuscht. Der Schmerz, den sie empfand, ging viel tiefer als ein rein körperlicher Schmerz.

Erst ein Anruf Ennios vor dem Frühstück hatte es geschafft, sie überhaupt aus dem Haus zu treiben. Vorher hätte sie am liebsten den Kopf unter die Bettdecke gesteckt und sich nicht gerührt.

Mit der Verlobung Kathis am kommenden Sonntag würde deren Heirat besiegelt, so viel stand fest. Bisher war sie immer davon ausgegangen, dass sich noch irgendwo irgendein Wunder auftun würde. Nicht, dass er Kathi verließe, sondern dass Kathi zu der Entscheidung gelangen würde, dass Ennio nicht der richtige Mann für sie wäre. Das hätte bedeutet, dass sie, Alice, nach einer längeren Zeitspanne den ehemaligen Freund ihrer Schwester heiraten durfte, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Doch bisher sah nichts, aber auch gar nichts danach aus. Kathi war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Und das durfte sie, Alice, nicht zerstören. Niemals könnte sie auf dem Unglück ihrer Schwester ihr Leben aufbauen. Ihre Leidenschaft für Ennio bestand erst seit dem letzten Dezember. Sie war mit dem Auto spätabends unterwegs gewesen, um den bestellten Käse für den nächsten Tag abzuholen. Normalerweise brachte Ennio ihnen die Produkte vorbei, doch an diesem Tag streikte das Auto der Lambachers und so war sie ihm in den Keller gefolgt. Irgendwann fiel die Tür des Kellers ins Schloss und das Licht erlosch. Sofort überfiel sie ein panischer Schreck. Nur so konnte sie sich erklären, dass sie sich angsterfüllt an Ennio krallte.

»Hoppla«, murmelte er dicht an ihrem Ohr.

»Was … was ist da los?«, stotterte sie. »Mach doch bitte die … die Tür wieder auf.«

»Geht nicht«, erwiderte er, ohne sie loszulassen, was ihr in diesem Moment nur recht war.

»Wie … wieso geht das nicht?«, stotterte sie. Dunkelheit war für sie selbst als Erwachsene noch immer ein angsteinflößender Zustand. Als Kind hatte stets die Zimmertür einen Spalt offen stehen müssen. Gegen das Licht der Nachttischlampe hatte sich Kathi, die Furchtlose, die sich mit ihr das Zimmer teilte, immer vehement gewehrt. Nur der Türspalt wurde von ihr geduldet. Heute hatte jede natürlich ihr eigenes Zimmer, und so schlief sie nach wie vor jeden Abend mit brennender Nachttischlampe ein.

»Es geht nicht, weil mein Neffe und seine Schwester den Schlüssel abgezogen und von außen zugeschlossen haben, und erst einmal ihren Spaß genießen sollen«, murmelte er. Und dann küsste er sie, und zu ihrem Entsetzen gefiel ihr dieser Kuss.

»Verdammt, du riechst einfach fantastisch«, murmelte er und nagte zärtlich an ihren Ohrläppchen.

Oh Gott, wie gut erst er roch! Doch das verriet sie ihm nicht. »Wir … das … das dürfen wir nicht.«

»Nein, das dürfen wir nicht.« Dann küsste er sie erneut – und seitdem war sie ihm verfallen, anders konnte sie es nicht nennen.

Danach sahen sie sich jeden Tag. Und jeder Tag war aufregend, wundervoll, und wühlte sie dermaßen auf, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Und dann machte er ihr den ersten Heiratsantrag. Da stand bereits sein Verlobungstermin mit Kathi fest. Und seitdem war keine Nacht vergangen, in der sie sich nicht in den Schlaf geweint hatte.

Sie schlich aus dem Haus, ohne dass ihre Mutter sie sah. Leise schloss sie die schwere Haustür und wandte sich nach links, auf den gleichen Fahrweg vor dem Haus, den zuvor auch Kathi genommen hatte. Doch dann überquerte sie nicht die rechts liegenden Wiesen, sondern ging nach links und erreichte nach fünf Minuten das kleine Wäldchen, das den Lambacher-Hof vom Brandtner-Hof trennte.

Eigentlich war dieser Wald mit den mächtigen Bergkiefern, deren starke Äste von den langen Armen der Flechten geschmückt wurden, einer ihrer Lieblingsplätze im Frühling. Dann stimmten die Vögel ihr Lied an, unerschrocken vor dem Morgen, so wie jetzt, da sie ihn bereits erahnten, obwohl noch alles im Schnee versank. Aber diesmal hatte sie kein Ohr für die lieblichen Melodien. Auch keinen Blick für das Aquamarinblau des Himmels, noch für das Glitzern feinster Eiskristalle in der Luft, das die Natur im Sonnenlicht mit Zauber erfüllte.

Den Kopf gesenkt, verschwand sie nach einer knappen Viertelstunde hinter einem mächtigen Holzstapel, von dem aus man das stolze Anwesen der Lambachers sehen konnte und wo man dennoch vor den Blicken der Bewohner geschützt war. Sie stand nicht lange da, angespannt, den Blick fest auf das schöne Bauernhaus gerichtet, in dessen Blumenkästen im Sommer die stolzen Geranien, bunten Petunien oder fragilen Fuchsien weithin leuchteten. Sie wurden dank der Pflege Sara Lambachers von Jahr zu Jahr schöner. Jetzt waren die leeren Kästen noch mit den üppigen, grünen Zweigen der Bergkiefer und mit Wurzelwerk bedeckt, umrahmt von den roten Tupfen der Holzäpfel, die Sara auf den Holzbrettern ausgebreitet hatte, was wie die Farben im Sommer die Schönheit des Bauernhauses unterstrich.

Als Ennos kräftige Gestalt sich dem Holzstoß näherte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Kaum, dass er sie erreicht hatte, riss er sie an sich und küsste sie leidenschaftlich.

»Ich muss mit dir reden. Komm mit«, befahl Ennio mit leiser Stimme.

Sie nickte nur, unfähig, ihm eine Antwort zu geben. Sie wusste ja, was kommen würde.

Er merkte, wie sie zitterte, zog seine graue Strickjacke mit dem typischen Zopfmuster, wie sie die Menschen auf der Seiser Alm gern trugen, aus, und legte sie über ihre Schultern.

»Alice, du weißt, worüber wir reden müssen.«

Sie nickte erneut wortlos.

Er packte mit festem Griff ihre Hand und zog sie weiter in den Wald hinein, jenseits des schmalen Weges, wo sie von niemandem gesehen werden konnten, selbst wenn jemand den Pfad benutzen würde. Dann erreichten sie eine kleine Holzhütte.

Alice kannte diese Hütte, bei der es sich eigentlich nur um einen Holzverschlag handelte, in dem alte Gerätschaften aufbewahrt wurden, für ein geplantes Museum beiseitegelegt, da sie zu schade zum Entsorgen waren.

Er schloss sie auf. Sie betraten sie und er verschloss sofort wieder die starke Holztür. Der Raum war dämmrig, denn es gab keine Fenster, und nur durch einen Spalt zwischen Dach und Seitenwand fiel ein schmaler Lichtstreifen.

Sie sanken auf den Schlafsack über der Wolldecke und lehnten die Köpfe gegen die beiden prall gefüllten Kissen an der Schmalseite des Schuppens – ein provisorisches Lager, das er irgendwann einmal hier errichtet hatte.

Immer hatte Alice das Gefühl, zurück in die heimlichen Rendezvous mit Verehrern ihrer Teenagerzeit zu fallen, wenn sie sich hier trafen, und dennoch genoss sie jede Sekunde, die sie in der Hütte verbrachten.

»Alice, es gibt drei Dinge, die eine Tatsache sind: Erstens, ich liebe dich. Und diese Liebe ist größer, als sie zu Kathi je war, und größer, als sie mit Kathi jemals sein kann. Nichts ist zu vergleichen mit dem, was wir zwei gerade fühlen. Das bedeutet, ich kann mich keinesfalls mit Kathi am kommenden Sonntag verloben. Das führt drittens dazu, dass wir zwei heiraten.«

»Und du weißt genau, dass das nicht möglich ist«, entgegnete sie leise. Dies war bereits der dritte Heiratsantrag, doch was nützte er? Nichts.

Er riss sie heftig an sich. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals, als er ihren Kopf mit seinen warmen Händen ergriff und sie küsste.

Ein letzter Kuss, dachte sie flüchtig. Dann zerstreute sich dieser Gedanke. Doch als Ennio – nicht zum ersten Mal – versuchte, ihr den Pullover hochzuschieben, nahm sie seine Hände und stieß ihn zur Seite.

»Nein, Ennio. Du weißt, dass ich das nicht kann. Nicht unter diesen Umständen«, beharrte sie, selbst als sie den Ärger in seinen Augen erkennen konnte. Sie war schon dabei, ihre Schwester zu betrügen, doch bis zum Letzten …, nein, das ging nicht. Ein Rest von Anstand hielt sie zurück, sich ihm völlig hinzugeben – wonach ihr Körper unmissverständlich rief.

Er verschränkte die Arme. Seine Stimme klang längst nicht so warm wie normalerweise, wenn sie zusammen waren. Im Gegenteil, jetzt war mehr als nur eine Spur von Kälte herauszuhören. »Alice, ich kenne Kathi so gut wie du, und sie ist, wie wir beide auch, davon überzeugt, dass man niemals jemanden heiraten soll, wenn man in Gedanken einen anderen liebt. Also, noch einmal: Möchtest du mich heiraten? Egal, was die anderen sagen? Möchtest du mit mir dein Leben verbringen, bis ans Ende aller Tage?«

Der Blick seiner braunen Augen, die unter den zusammengewachsenen Brauen so finster schauen konnten, aber auch so leidenschaftlich und liebevoll, war beschwörend auf sie gerichtet.

»Natürlich möchte ich das.«

Seine Augen begannen zu leuchten und ihr finsterer Ausdruck verschwand so rasch, wie er sein Gesicht verdunkelt hatte.

»Aber Ennio, in deinem Innern weißt du doch, dass das schlichtweg unmöglich ist. Allein der Gedanke, dass wir Kathi heute sagen müssten, dass sie die Verlobung vergessen kann … Wir, also sie und ich, wir leben zusammen, wir arbeiten zusammen – wie stellst du dir das vor? Sie würde mich bis ans Lebensende hassen. Meine Eltern würden dich ablehnen. Ich hätte keine Arbeit mehr, denn die Schwaige gehört uns beiden gemeinsam. Sie könnte darauf bestehen, und ich bin mir sicher, dass sie es täte, denn ich weiß, wozu sie in ihrer Wut fähig ist«, fügte sie düster hinzu, »dass ich ihr ihren Anteil ausbezahle, wozu ich natürlich nicht in der Lage wäre …«

»Das Geld ist doch kein Problem. Ich würde es dir natürlich geben«, unterbrach er sie. »Und dann könnten wir beide die Schwaige führen. Und du würdest zu uns auf den Lambacher-Hof ziehen und …«

»… und ganz sicher auch noch die Freundschaft zwischen unseren Eltern zerstören.« Ihre Stimme schwankte, als sie fortfuhr: »Nein, Ennio, es … es geht einfach nicht, so gern ich es auch möchte.« Nach diesen Worten brach sie in Tränen aus.

Ennio küsste sie auf die Wange, aber ihm schienen die Worte ausgegangen zu sein, ebenso wie ihr.

Sie schluckte und wischte sich mit dem Taschentuch, das er ihr reichte, über die Augen.

»Bitte, entscheide dich für mich, und dann verlassen wir die Alm sofort«, flehte er. »Nach einer gewissen Zeit wäre alles zwischen unseren Familien wieder eingerenkt. Ich habe eine Stelle als Koch im ›Edelweiß‹ in Brixen in Aussicht, und für dich würden wir auch etwas finden. Bei einem Freund könnten wir beide fürs Erste unterkommen.«

Er machte eine kleine Pause. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Wenn du allerdings meinen Heiratsantrag endgültig ausschlägst, dann werde ich noch heute von der Seiser Alm weggehen.«

Sie nahm voller Trauer den letzten Funken Hoffnung in seiner Stimme wahr, aber es gab keinen Ausweg. »Nein, tut mir leid. Das alles ist unmöglich. Nichts als Träume. Das Band zwischen unseren Familien wäre für immer zerstört. Und selbst wenn ich Kathi wieder unter die Augen treten könnte, so würde sie mir nie verzeihen. Heirate Kathi, wie ihr es vorhattet. Dann machst du wenigstens sie nicht unglücklich.«

Er ließ sie los. »Dann ist das also dein letztes Wort?«

»Ja. Definitiv. Versprich mir, es dir noch einmal zu überlegen – also Kathi zu heiraten.«

»Ich werde es mir überlegen. Sollte ich mich tatsächlich für sie entscheiden, erwarte ich von dir, dass unser Verhältnis ein Geheimnis bleiben wird.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf. Diesmal half er ihr nicht beim Aufstehen, sondern ging sofort zur Tür und öffnete sie.

Wortlos ging sie an ihm vorbei, zum ersten Mal wütend auf ihn. Was glaubte er denn? Sie würde doch niemals jemandem, oder jedenfalls nicht Kathi, von ihrer Liebe zu ihm etwas sagen. Dann könnte sie ihn ja gleich heiraten. Also wirklich!

Er verschloss die Tür. Die Jacke überließ er ihr, als er den Wald mit großen Schritten in Richtung seines Hofes verließ.

Alice rannte davon.

Sie wusste, sie hatte ihn für immer verloren.

Abendrot auf der Seiser Alm

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