Читать книгу Abendrot auf der Seiser Alm - Gabriele Raspel - Страница 5
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Kathi Brandtner saß mit ihrer Mutter Theresa am Frühstückstisch, gemeinsam mit Alice, ihrer jüngeren Schwester. Der Vater, Bruno Brandtner, befand sich wie gewöhnlich in der Feuerwehrwache von Bozen, wo er Dienst hatte.
Durch das Küchenfenster, wie alle Fenster in diesem alten Bauernhaus ein Kastenfenster, in dem die Blumen so prächtig gediehen, schaute sie hinaus auf die Terrasse, die sich bis zum Austragshaus nebenan zog, und auf das Sträßchen, das die Höfe, Hotels und Pensionen auf der Seiser Alm miteinander verband. Auf der anderen Seite des schmalen Fahrwegs erstreckten sich die tief verschneiten Wiesen, durch die etliche Loipenspuren gezogen waren. Ein letzter Schnee-Einbruch hatte die Winterlandschaft in Südtirol Ende März noch einmal weiß aufleuchten lassen und die unermüdlichen Schnee-Enthusiasten erneut auf die Bretter gelockt.
Jenseits der Wiesen erfreuten Hänge mit leichten und perfekt präparierten Pisten die Alpin-Skiläufer – auch sie selbst, denn diese zu bewältigen kostete nicht allzu viel Mut. Den schwierigen, schwarz markierten Pisten war sie nicht gewachsen. Sie liebte das einfache Abwärtsschwingen, das ihr erst recht bei Pulverschnee wie ein Gleiten mit Flügeln vorkam, fast schwerelos bei perfekten Konditionen wie heute – Neuschnee, minus 3 Grad, Windstille. Noch jedes Mal hatte sie dabei Lust gehabt, laut zu singen.
Doch das Langlaufen auf meisterhaft präparierten Loipen genoss sie ebenfalls. Hier konnte man ganz bei sich sein, in der Stille der Landschaft.
Das Licht der Pistenraupen am letzten Abend hatte bewiesen, dass man erneut eifrig damit beschäftigt war, das Gelände für die nächsten Skitage vorzubereiten. Bis Ende April würde die Schneepracht sicher erhalten bleiben, jedenfalls jene aus Kunstschnee, auf den auch die Seiser Alm nicht verzichten konnte.
Sie seufzte zufrieden. Wie sollte sie den freien Tag heute nutzen? Sollte sie spazieren gehen, hinauf zur Brandtner-Schwaige? Das war ihre Almhütte, die sie mit Alice in der Hauptsaison im Winter und Sommer bewirtschaftete. Oder sollte sie Ennio vom Lambacher-Hof, ihren Freund, besuchen? Oder einfach die Langlaufbretter hervorholen und eine Runde auf der Alm drehen?
»Mama, hast du noch etwas für mich zu tun?«, fragte Kathi.
»Nein, Liebes. Wir haben heute frei. Gestern waren wir fleißig genug.«
In der Tat. Gemeinschaftlich hatten sie das weitläufige Haus, einen Bauernhof von 1756, der jedoch schon längst nicht mehr bewirtschaftet wurde, zum Glänzen gebracht, einschließlich des Austragshauses dahinter. Dabei waren sie besonders gründlich vorgegangen, galt es doch, am folgenden Sonntag ihre Verlobung zu feiern, wenn auch nur im Kreise der Familie, von denen jedoch einige bei ihnen übernachten würden, und mit den engsten Freunden. Alice und sie hatten die Zimmer gesäubert, Wäsche gewaschen und gebügelt. Für heute hatten sie, wie gewöhnlich, bereits vorgekocht. Sie bereiteten fast immer die Gerichte für den nächsten Tag vor, außer natürlich Fisch und frische Salate. Die Mahlzeiten, ebenso die Einkaufsliste, standen fest.
»Fein, dann geh ich hinauf zur Schwaige, nach dem Rechten sehen«, entschied sie.
»Und was hast du heute vor, Alice?«, erkundigte sich Theresa bei ihrer Jüngsten.
Die hob erstaunt den Kopf, als erwachte sie aus einem Traum, wenn auch keinem heiteren, wie Kathi bemerkte, die ihre Schwester so gut kannte. »Ich denke, ich werde auch ein wenig spazieren gehen. Das Wetter heute ist so wunderbar.«
»Dann komm doch mit mir mit«, schlug Kathi vor.
Alice schüttelte den Kopf. »Nein, danke, heute nicht. Ich möchte nur einen kleinen Spaziergang machen, ich hab ein bisschen Kopfweh.«
»Möchtest du eine Tablette?«, kam wie aus der Pistole geschossen Theresas Frage. Alice lächelte gequält und Kathi warf ihr einen verschmitzten Blick zu. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Sara Lambacher, einer erklärten Kräuterfrau, war Theresa immer rasch mit Tabletten bei der Hand. Sie vertrat die Meinung, dass man bei dem ganzen Konsum ungewollter Chemikalien, die einem die Industrie aufzwang, von den chemischen Pillen durchaus profitieren sollte.
»Nein, ich denke, etwas frische Luft ist jetzt besser.«
»Schön, dann seid ihr ja alle versorgt«, stellte Theresa fest. »Zu Mittag macht sich jeder selbst etwas. Vaters Dienst ist heute um vier beendet. Wir essen dann um sieben.«
Kathi betrachtete sie mit liebevollem Blick. Theresa war jetzt 56 Jahre alt und eine hübsche Frau mit schwarzem Haar, einer dominanten Nase und großen braunen Augen. Den Humor hatte ihre Mutter von ihrem Vater geerbt, die Zähigkeit von ihrer Mutter.
Eigentlich könnte sie auch zu Ennios Hof spazieren, überlegte Kathi. In zwanzig Minuten zu Fuß erreichte man ihn.
Ennios Vater, Christoph Lambacher, war der beste Freund ihres Vaters Bruno. Vor 25 Jahren hatten beide entschieden – natürlich nach eingehender Beratung mit ihren Familien – sich ihren Jugendtraum wahr zu machen und sich in Bozen zu Berufsfeuerwehrmännern ausbilden zu lassen. Fabio, der ältere Bruder Ennios, war gerade 18 Jahre alt geworden, als Christoph ihm das Angebot machte, den Hof zu übernehmen, wobei er ihm natürlich seine volle Unterstützung zusicherte. Fabio war vor Freude beinahe übergeschnappt – und Ennio hatte sich für ihn mitgefreut. Fabio war leidenschaftlicher Almbauer und nicht nur bereits in der Lage, einen Hof zu leiten, sondern auch mit ganzem Herzen für diesen Hof zu kämpfen, während sich Ennio, wie Kathi sinnierte, nur halbherzig der Arbeit auf dem Hof widmete. Natürlich arbeitete er ebenso hart, aber man spürte, dass ihm die Leidenschaft fehlte, die Fabio ausmachte.
Kathi wusste, dass Ennios größter Wunsch ein eigenes Restaurant war. Und wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag, hatte sie sich manchmal dem Traum hingegeben, mit ihm die Schwaige zu führen. Aber das würde Alice um ihr Einkommen bringen, also war es unmöglich. Halt nur ein Traum.