Читать книгу Psychosomatische Grundversorgung in der Geriatrie - Gabriele Röhrig-Herzog - Страница 15
2.1.7 Patienten mit Migrationshintergrund
ОглавлениеIm Jahr 2019 lebten in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, von denen etwas mehr als 2 Millionen mindestens 65 Jahre alt waren. Die Gruppe der Türkeistämmigen machte dabei mit 2,8 Millionen die größte Gruppe aus, gefolgt von Polenstämmigen (2,2 Millionen) und Menschen der russischen Föderation (1,3 Millionen) (Statistisches Bundesamt DESTATIS 2020). In den nächsten Jahren ist mit einer deutlichen Zunahme hochaltriger und pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund zu rechnen, wobei das Durchschnittsalter dieser Gruppe mit 62,1 Jahren unter dem der Gesamtbevölkerung mit 72,2 Jahren liegt (Marquardt et al. 2016; Kohls 2012).
Während die Datenbasis im Forschungsbereich über psychotherapeutisches Arbeiten mit Migranten in den letzten Jahren erfreulich gewachsen ist, bleibt die Datenlage zu gerontopsychosomatischen Problemen betagter Migranten trotz wachsender Population bisher noch dünn. Als Gründe können dabei neben sprachlichen Barrieren auch traditionelle Vorstellungen von Krankheit und Alter vermutet werden, aber auch fehlende Kenntnis über therapeutische Möglichkeiten. Die Kindheit und Jugend der heute betagten ersten Generation türkeistämmiger Migranten der 1950er Jahre war geprägt von sehr traditionellen Vorstellungen in Bezug auf strenge Familienhierarchien und feste, geschlechtsabhängige Rollenzuschreibungen, harte manuelle Arbeit auf dem Land und der Unterordnung individueller Vorstellungen und Lebenskonzepte unter das familiäre Kollektiv zu dessen Wohl (Kizilhan 2015). Diese Vorstellungen waren so internalisiert, dass das Erleben der völlig anders ausgerichteten Kultur des Gastlandes oft wie eine Kollision wirkte und zum Empfinden psychischer Anspannung und Zerrissenheit führte (Kizilhan 2015). Solange während der Zeit körperlicher Gesundheit und Arbeitsfähigkeit eine Fortsetzung der internalisierten Rollenerfüllung möglich blieb und innerhalb der Familie die traditionellen Vorstellungen und Lebenskonzepte weitergelebt wurden, konnten diese seelischen Belastungen meist verdrängt werden. Doch mit Ausstieg aus dem Arbeitsleben und Abnahme der körperlichen Gesundheit wird auch für diese Patienten das Altern zur Entwicklungsaufgabe, allerdings mit besonderen Aspekten: Generationskonflikte mit den in Deutschland aufgewachsenen Kindern, die sich der Kultur des Residenzlandes verbundener fühlen als der des Herkunftslandes, können zu starken intrafamiliären Spannungen führen; körperliche Erkrankungen und die Entwicklung physischer Einschränkungen mit Pflegebedarf stellen das eigene Rollenbild infrage, was besonders bei streng hierarchischen Familienstrukturen enorme Anspannungen bewirken kann; im Fall einer kognitiven Erkrankung kann die psychische Belastung infolge Tabuisierung der Veränderung verstärkt werden. Demenzpatienten mit Migrationshintergrund werden in der Literatur auch als »dreifach fremd« bezeichnet, aufgrund des Alters, der Demenzerkrankung und des Migrationserlebens (Hauser 2018). Manche Autoren fügen als vierte Fremdheit zusätzlich den demenzbedingten Verlust der Zweitsprache Deutsch hinzu (Uzarewicz und Dibelius 2006). Dieser letzte Verlustfaktor hat eine ganz besondere Relevanz für diagnostische und therapeutische Situationen, da viele der im geriatrischen bzw. gerontopsychosomatischen Umfeld eingesetzten Assessmentinstrumente auf die sprachlichen, kulturellen und bildungsbezogenen Fähigkeiten des Residenzlandes ausgerichtet sind. Oft erklären sich Angehörige bereit zu übersetzen, allerdings kann es hier aufgrund fehlender Objektivität, inhaltlicher Missverständnisse und Tabuthemen zu falschen Testinterpretationen und schlimmstenfalls zu Fehldiagnosen kommen. Inzwischen wurden einige etablierte psychometrische Testverfahren auch in der türkischen Fassung hinsichtlich Reliabilität und Validität geprüft, allerdings setzen diese Tests auch eine gute Bildung voraus, weswegen der Aussagewert dieser Tests für Menschen aus ländlichen Gegenden mit geringer Schulbildung nur sehr begrenzt ist (Kizilhan et al. 2013).
Eine häufig gestellte Diagnose bei Patienten mit Migrationshintergrund ist die Somatisierungsstörung (Glier und Erim 2007). Dieser Ausdruck psychischer Belastungen in Form körperlicher Beschwerden kann in unserer primär somatisch ausgerichteten Schulmedizin zu interaktiv schwierigen Situationen führen, wenn die körperlichen Befunde in keinem Verhältnis zu den geschilderten Beschwerden – oft Schmerzen – zu stehen scheinen. Diese Schmerzen können aber als symbolischer Ausdruck für den empfundenen psychischen Leidensdruck gewertet werden, der den Patienten jedoch nicht bewusst ist. Zur Entlastung entwickeln die Patienten dann oft ein sehr regressives und appellatives Verhalten, das die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Vertrauenspersonen sicherstellen soll. Diese Zuwendung kann dann als sekundärer Krankheitsgewinn angesehen werden, während der primäre Krankheitsgewinn in der (unbewussten) Abwehr der psychischen Belastung durch die nach außen dargestellten Schmerzen erfolgt. Gerade im stationären Bereich der Akutgeriatrie, in der das Konzept der aktivierenden Pflege den Patienten wieder zu mehr Selbständigkeit verhelfen soll, kann so ein regressives Verhalten zu unerwünschten Spannungen im Stationsalltag führen. Hinsichtlich der zu erwartenden Zunahme geriatrischer und gerontopsychosomatischer Patienten mit Migrationshintergrund ist für alle mit diesen Patienten befassten medizinischen Berufsgruppen der Erwerb transkultureller Kenntnisse wünschenswert.