Читать книгу Psychosomatische Grundversorgung in der Geriatrie - Gabriele Röhrig-Herzog - Страница 9
2 Psychosomatische Besonderheiten älterer Menschen 2.1 Besonderheiten im Umgang mit älteren Patienten 2.1.1 Der Alterungsprozess als Entwicklungsaufgabe
ОглавлениеIm höheren Lebensalter kommt es zu einer engeren Verzahnung der körperlichen, funktionalen, seelischen und sozialen Ebenen von Gesundheit, die bei > 60-Jährigen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Bisher wichtige Zentralthemen werden abgelöst: Berufliche Probleme lösen sich bei den meisten älteren Patienten durch den Eintritt der Rente von allein auf; familiäre Sorgen treten durch die inzwischen meist erwachsenen und selbständigen Kinder in den Hintergrund und finanzielle Herausforderungen wie Hausbau und Autokauf haben sich bei vielen älteren Menschen bis zum Rentenalter infolge erfolgter Abbezahlung relativiert. Es kommt zu einer Neuorientierung der Zentralthemen, oft verbunden mit dem Wunsch nach Realisierung langgehegter Wünsche (»wenn ich mal in Rente bin, dann …«). Nicht selten führt diese Neuorientierung jedoch zu einer Diskrepanz zwischen subjektivem Erleben und objektivem Befund, wobei funktionelle Defizite sowohl unter- als auch überschätzt werden können. So kann zum Beispiel eine neurogen bedingte Gangstörung bei diabetischer Polyneuropathie zu einer Überschätzung der Gangstabilität führen und einen Sturz provozieren. Ebenso kann eine unterschätzte Herzinsuffizienz während der Realisierung der langersehnten Nordkaptour am Steuer des Wohnmobils infolge Überanstrengung zu einem akuten Myokardinfarkt führen.
Andererseits aber kann auch ein erlebtes einmaliges Stolper-Sturzereignis ein so starkes Vermeidungsverhalten nach sich ziehen, dass aus Angst vor erneutem Sturz übervorsichtig auf den ersehnten Schwarzwaldurlaub verzichtet wird und sogar der vollständige Rückzug vom sozialen Leben droht.
Durch die neu aufgetretenen eigenen gesundheitlichen Probleme aber auch diejenigen der Partner und Verwandte oder Freunde sehen sich viele ältere Menschen mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert. Der Tod eines nahestehenden Menschen kann dabei unmittelbar die Angst vor dem eigenen Tod verstärken und zu pathologischen Trauerreaktionen führen. Daneben können auch eine problematische Krankheitsverarbeitung und chronisch seelische Belastungen ebenso wie konflikthafte soziale Situationen Anzeichen für eine problematische Bewältigung der Entwicklungsaufgabe »Altern« sein. In der Kasuistik 3.1 wird diese Problemkonstellation fallbasiert dargestellt: Bei der betreffenden Patientin fließen eine problematische Krankheitsverarbeitung sowie nie aufgearbeitete chronisch seelische Belastungen zusammen und begünstigen die Entwicklung einer pathologischen Trauerreaktion ( Kap. 3.1).
Ein anderer Aspekt der Entwicklungsaufgabe Altern zeigt sich in der Kasuistik 3.7 ( Kap. 3.7). Hier haben die veränderten Lebensumstände mit Tod des Partners, Alleinleben, Wegfall der kontrollierenden Instanzen, Schwiegereltern und Entbindung von sozialen Verpflichtungen dazu geführt, dass sich das Selbstwertgefühl der Patientin im hohen Alter beginnen konnte, zu entwickeln und die Patientin einen Individuationsprozess durchläuft. Dieser eigentlich sehr begrüßenswerte Prozess erfolgte initial jedoch unbewusst und ging mit auffallenden Verhaltensänderungen einher (Liegenlassen von Rechnungen, Reduktion von Kontrollverhalten, Lockerungen des früher sehr streng strukturierten Tagesablaufes), welche innerhalb des sozialen Umfeldes (Kinder, Familie-/Freundeskreis) auf Unverständnis stieß. Die dadurch entstehenden Konflikte haben dazu verholfen, dass die Patientin sich im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung Unterstützung suchte und fand.
Das Schwierige an der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe ist, dass die meisten Menschen sich mit ihr eher unvorbereitet konfrontiert sehen, da in vielen (westeuropäischen) Gesellschaften Themen wie Alter, Krankheit und Tod einer relativen Tabuisierung unterliegen: Man möchte sich in gesundheitlichem Topzustand und bei beruflichem Karriereschub nicht mit dem eigenen Tod oder dem Älterwerden auseinandersetzen, auch wenn diese unbestritten als Teile des Lebens akzeptiert werden. Das Altern wird damit zu einer Entwicklungsaufgabe.
Neben gesundheitlichen (körperlichen und oder psychischen) Problemen spielen bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Altern auch soziale (Fehlen familiärer Bindungen, kein Netzwerk an Freunden und Bekannten) sowie finanzielle Faktoren eine wesentliche Rolle. Auch dürfen gerade in unserer multikulturellen Gesellschaft keineswegs die besonderen Belastungen durch ein kulturfremdes Umfeld infolge Flucht oder Migration übersehen werden (sprachliche Barrieren, unterschiedliche Traditionen), die ebenfalls Einfluss nehmen auf die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Altern. Auch die Anzahl der belasteten Lebensphasen kann offenbar Einfluss darauf nehmen, wie ein älterer Mensch diese Entwicklungsaufgabe bewältigt. Eine Arbeitsgruppe der Universität Münster untersuchte die Lebenszufriedenheit älterer Menschen abhängig von Lebensphasen mit mehr Belastung als Unterstützung. Während einige der Befragten über viele belastende Lebensphasen berichteten, andere dagegen über gar keine, zeigte sich, dass die Gruppe der Befragten, die einmal eine große Belastung erlebt hatten, die größte Lebenszufriedenheit aufwies (Schneider et al. 1999). Die Autoren interpretierten das Ergebnis dahingehend, dass die für die Überwindung der Belastungssituation notwendigen Strategien erlernt und in Erinnerung behalten wurden, um in Folgesituationen vergleichbarer Belastung abgerufen zu werden. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung einer stabilen psychischen Gesundheit für die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Altern.
Aufgrund der großen Bedeutung für den Umgang mit älteren Menschen sei hier noch auf einen weiteren wichtigen Faktor verwiesen, der die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe negativ beeinträchtigen kann: die Traumareaktivierung im Alter, bei der durch Schlüsselreize ein zurückliegendes Trauma neu erlebt wird. So kann zum Beispiel ein harmloses Silvesterfeuerwerk bei kriegstraumatisierten Patienten die Erinnerung an Bombardierungen hervorrufen, die heftige Panikreaktionen auslösen kann. Im klinischen Alltag kann bei sexuell misshandelten Patientinnen beispielsweise auch ein nächtlicher Katheterwechsel die verdrängte Erinnerung an den Vergewaltigungsakt hervorrufen und zu starken Abwehrreaktionen führen, die von nichtsahnenden und in guter Absicht arbeitenden Pflegemitarbeitern missverstanden werden können. Hier ist eine erklärende Aufarbeitung mit den betreffenden Mitarbeitern ebenso dringend notwendig wie die Vermeidung weiterer potenzieller Konfliktsituationen im Umgang mit der Patientin. Die Vermeidung von Konfliktsituationen ist ganz besonders wichtig bei der Arbeit mit Patienten mit kognitiver Einschränkung, da hier nicht auf eine Reflexionsfähigkeit und eine rationale Erläuterung der Situation gehofft werden kann. Gerade bei kognitiv eingeschränkten Patienten mit beginnender Demenz können Traumareaktivierungen zusätzlich auch zur Entwicklung eines Delirs sowie einer weiteren Verschlechterung der Hirnleistung führen. Fällt bei einem Patienten mit bisher eher »leichter Demenz« eine akute Verschlechterung auf, sollte hier neben organischen Ursachen auch ein mögliches reaktiviertes Psychotrauma in Erwägung gezogen werden. In einigen Fällen kann dabei die Fremdanamnese über Partner oder Kinder weiterhelfen.
Abzugrenzen ist die Traumareaktivierung von der Retraumatisierung, bei welcher eine erneute Traumatisierung auf ein bereits zurückliegendes, abgewehrtes Trauma trifft. Dabei können die früheren Abwehrmechanismen versagen und es kann sich im schlimmsten Fall eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Wurde eine ältere Dame als junge Frau einmal überfallen und ausgeraubt, so kann sie dieses Erlebnis mit Hilfe von Abwehrmechanismen ins Unterbewusstsein verbannen. Wird diese junge Frau dann als ältere Dame erneut Opfer eines Raubüberfalls, bei dem ihr die Handtasche oder zu Hause alle Wertsachen gestohlen werden, dann können die damals erfolgreich eingesetzten Abwehrmechanismen versagen und sich eine starke seelische Belastung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln, die sich auf den ersten Blick für den nichtwissenden Außenstehenden vermeintlich in keinem Verhältnis zum erlebten (zweiten) Trauma befindet. Hier ist es sinnvoll, eine stabile Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen und der Patientin dann die Möglichkeit einer Traumatherapie in der Hand erfahrener Traumatherapeuten anzubieten.