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EIN BLICK IN DEN PANZERSCHRANK Wie ich das Geheimrezept der Sachertorte fand
ОглавлениеKaum etwas wird in Österreich so geheim gehalten wie das Rezept der Sachertorte. Wie viel Schokolade, wie viel Kakao, wie viele Eidotter, wie viel Mehl sind vonnöten, um den weltberühmten Geschmack der Wienerischen Süßspeise zu erreichen? Franz Sacher hat die Torte im Jahr 1832 kreiert, mir gelang es im Jahr 2007 zum ersten Mal, das Rezept zu veröffentlichen. Dazwischen lagen 175 Jahre ungeduldigen Wartens.
Manchmal muss man hartnäckig sein. Es war im Herbst 1989, da feierte die Frau Sacher ihren 100. Geburtstag. Man bat aus diesem Anlass zu einem kleinen Empfang nach Baden bei Wien, dem Stammsitz der alten Hoteliers- und Tortendynastie. Mein Interesse an dieser Veranstaltung galt weniger Smalltalk, Speis und Trank als der Geschichte der Familie Sacher, vor allem aber: dem Rezept der Sachertorte, das seit jeher in ähnlicher Weise geheim gehalten wird wie die Aufmarschpläne der Vereinigten Staaten von Amerika.
Tatsächlich wollen Generationen von Hausfrauen und Konditoren wissen, wie viel Zucker, Eidotter und Marmelade die weltberühmte Süßspeise benötigt, um ihren unvergleichlichen Geschmack zu erreichen. Bisher vergeblich, weder die Familie Sacher noch die Familie Gürtler, in deren Besitz sich das Wiener Traditionshotel vis-à-vis der Staatsoper seit 1934 befindet, waren bereit, das Rezept aus der Hand zu geben. Und so hat noch nie irgendjemand außerhalb dieser beiden Familien und einiger weniger Mitarbeiter, die unmittelbar mit der Tortenproduktion befasst sind, Einblick in das weltweit bestgehütete Patissier-Geheimnis bekommen.
Auch ich war zunächst chancenlos. Über die Familie Gürtler probierte ich’s erst gar nicht, die hatte das allergeringste Interesse, das Geheimnis der Sachertorte zu lüften, stellt doch der Verkauf der edlen Süßspeise einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Geschäftstätigkeit dar, wobei das Mysterium um das Rezept längst zur bewährten Marketingstrategie gehört.
Aber auch Frau Carla Sacher hatte an ihrem 100. Geburtstag anderes zu tun, als sich mit mir über die Zubereitung jener Torte zu unterhalten, die Franz Sacher, der Großvater ihres Mannes, 1832 kreiert hatte. Und ihre bei der Feier anwesende Enkelin Irène Schuler-Sacher lehnte höflich, aber bestimmt ab: »Nein, wir belassen es dabei, das Rezept bleibt im Safe!«
Meine Hartnäckigkeit zog sich in diesem Fall fast zwei Jahrzehnte hin. Frau Carla Sacher ist wenige Monate nach ihrem 100. Geburtstag gestorben. Doch ihre Enkelin sah ich in den darauffolgenden Jahren immer wieder durch Zufall, da oder dort, ohne je darauf zu vergessen, »das Rezept« anzusprechen.
Das Jahr 2007 sollte ein doppelt ereignisreiches Sacher-Jahr werden, wurde doch einerseits die gleichnamige Torte 175 Jahre alt, andererseits gedachte man auch des 100. Todestages ihres Schöpfers Franz Sacher. Jetzt oder nie, dachte ich. Und bat Frau Irène Schuler-Sacher um ein Treffen, das dann im damals nach wie vor familieneigenen Hotel Sacher in Baden stattfand.
Das nunmehrige Oberhaupt der Familie war durchaus meiner Meinung, dass man das Sacher’sche Jubiläumsjahr nicht sang- und klanglos vorüberziehen lassen sollte. Doch es gäbe nur einen Weg, so erklärte ich, die Öffentlichkeit für das Thema zu interessieren: das Rezept!
Immerhin gestand Irène Schuler-Sacher, dass es die Backanleitung in zweifacher Ausführung gäbe – einmal im Sacher in Wien und einmal in Baden – in beiden Fällen hinter dicken Panzertüren versperrt. »Meine Großmutter hat das Rezept 1980 für mich niedergeschrieben«, erzählte Irène und zeigte mir vorerst einen Brief, der dem Rezept beilag:
»Meiner lieben Enkeltochter Irène zur Erinnerung an ihre Omi Sacher. Anbei das Rezept der Sachertorte, wie ich es von der Köchin Marie Lahner gelernt habe.« Marie Lahner war bis zum Tod des Torten-Erfinders Franz Sacher in dessen Diensten und mit der Anfertigung der weltberühmten Torte betraut. Carla war es ab dem Zeitpunkt, da sie im September 1911 in die Sacher-Dynastie eingeheiratet hatte, gestattet, ihr bei der Zubereitung zuzusehen und zu assistieren.
Nun bedurfte es nur noch kleinerer diplomatischer Finessen meinerseits, um Frau Schuler-Sacher zur Öffnung ihres Safes und damit zur Herausgabe des Rezepts zu bewegen. »Es wäre doch wirklich … Nach so langer Zeit … Ihre Großmutter hätte sicher nichts dagegen … Und Franz Sacher schon gar nicht …« – ich ließ kein Argument aus, das beim Zustandekommen des »Projekts Sachertorte« behilflich sein konnte.
Und dann geschah das Wunder. »Also gut«, sagte meine charmante Gastgeberin. Sie erhob sich, entriegelte den großen Metallschrank, entnahm ihm das Schriftstück – und händigte es mir aus.
Und hier ist es, handgeschrieben von Frau Carla Sacher:
Als ich das Rezept in Händen hielt und gelesen hatte, lieferte mir Frau Schuler-Sacher noch eine Erklärung: »Meine Großmutter hat diese Zeilen im Alter von 91 Jahren niedergeschrieben, weil unser Familiensafe nach dem Krieg von russischen Besatzungssoldaten geplündert und dabei Franz Sachers Rezept vernichtet wurde. Meine Großmutter hielt sich ganz genau an die Angaben, die ihr von der langjährigen Köchin des Sachertorten-Erfinders überliefert worden waren. Damit es nicht verloren geht.«
Frau Schuler-Sacher überreichte mir das Rezept für »zwei grosse Torten« und sagte mir zu, es publizieren zu dürfen. Zum ersten Mal nach 175 Jahren!
Franz Sacher war gerade 16 Jahre alt, als er die Torte 1832 erfand. Seine Ururenkelin Irène Schuler-Sacher kennt natürlich deren Entstehungsgeschichte ganz genau: »Franz Sacher war Kocheleve beim Staatskanzler Fürst Metternich. Als eines Tages die Fürstin mit dem Großteil des Personals inklusive Chefkoch zur Kur in Karlsbad weilte, rief er den einzigen in Wien verbliebenen Küchenjungen zu sich und beauftragte ihn, für seine Gäste ein Abendessen anzufertigen. Und das war der Franz Sacher, der nun ein mehrgängiges Diner zubereitete und zum Abschluss eine Schokoladentorte servierte, die den Fürsten Metternich und seine Besucher begeisterte.«
Später trat Franz Sacher eine Stelle als Fürstlicher Mundkoch bei der Familie Esterházy in Budapest an, ehe er im Revolutionsjahr 1848 nach Wien zurückkehrte und sich selbstständig machte. In Sachers »Erster Wiener Wein- und Delikatessenhandlung mit Tischen«, die Ecke Kärntner Straße/Weihburggasse etabliert war, ging bald die feine Wiener Gesellschaft ein und aus, man schätzte den Tafelspitz, die Leberknödelsuppe, die warmen Pasteten und das Gulyás. Zum Verkaufsschlager wurde aber jene Torte, deren Rezept einst beim Fürsten Metternich so großen Anklang gefunden hatte.
Die Wein- und Delikatessenhandlung florierte dermaßen, dass Franz Sacher es sich leisten konnte, für jeden seiner beiden Söhne ein Hotel zu gründen: 1876 für Eduard das Sacher in Wien, fünf Jahre später für Carl das Sacher in Baden.
Während nach Eduards Tod dessen Witwe, die legendäre Zigarren rauchende Anna Sacher (1859–1930), das Wiener Hotel übernahm, ging das Sacher in Baden nach Carls Tod an dessen Sohn Carletto über. Als dieser 1960 starb, trat seine Witwe Carla (1889–1989) die Nachfolge an, die es bis ins hohe Alter führte. Sie war es, die ihrer Enkelin Irène das Rezept hinterließ.
Die Aufregung war groß, als ich das Rezept der Frau Sacher am 8. April 2007 in meiner Kolumne im Kurier veröffentlichte. Halb Österreich muss die Torte »nachgebacken« haben, so viele Leute sprachen mich auf den Artikel an, und auf die Internetseite des Blattes gab es Tausende Zugriffe. Elisabeth Gürtler lud ein paar Tage später zu einer Pressekonferenz, in der betont wurde, dass es nur eine Original Sacher-Torte gäbe, deren Einzigartigkeit dadurch unterstrichen wurde, dass man Opernstar Montserrat Caballé einflog, die vor laufenden Kameras ein Stück der Kalorienbombe anschnitt.
»Das Geheimnis der Torte liegt in der Marmelade und in der Glasur«, erklärte mir indes der Sacher-Patissier in Baden. »Die Marillenmarmelade gibt die gewisse Säure als idealen Kontrast zur süßen Schokolade. Und die relativ weiche Glasur wird durch eine geringere Zuckermenge erreicht. Der Sachertorte aus Baden ist etwas mehr Marillenmarmelade beigemengt als der aus Wien«, die sich als einzige Original Sacher-Torte nennen darf. »Wir in Baden halten uns jedenfalls weitestgehend an das von Carla Sacher überlieferte Rezept Franz Sachers.«
Und dann gibt es noch die Sachertorte vom Demel. Stellt sich nur noch die Frage, welche die beste aller Sachertorten ist. Friedrich Torberg fand einen listigen Ausweg, um sie zu beantworten. Als der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, dass nur das Wiener Sacher seine Süßspeise Original Sacher-Torte nennen dürfe, nicht jedoch die k. k. Hofzuckerbäckerei Demel, gelangte Torberg zu dem Schluss: »Solange es bei Sacher noch den unvergleichlichen Tafelspitz gibt und bei Demel noch die unvergleichliche Crème du Jour, solange Sacher noch der Demel unter den Restaurants ist und Demel noch der Sacher unter den Konditoreien, sollten sie einander nicht ein Etikett streitig machen, das entweder beiden gebührt oder keinem. Möge ihnen dieser Appell zu Herzen gehen. Er kommt aus denkbar objektivster Quelle. Er kommt von einem, dem die Sachertorte in beiderlei Gestalt, mit Marmelade wie auch ohne sie, überhaupt nicht schmeckt.«
Das Geheimnis ist die Marmelade: Franz Sacher, Erfinder der heute in aller Welt berühmten Torte
Bei mir ist die Sache hingegen ganz anders gelagert. Mir schmeckt die Sachertorte leider in jedweder Gestalt ganz ausgezeichnet.
Beim Demel.
Beim Sacher in Wien.
Und beim Sacher in Baden.
Am allerbesten mit Schlag.
Irène Schuler-Sacher – hier mit ihrer Großmutter Carla Sacher an deren 100. Geburtstag – vertraute mir das Rezept der Sachertorte an.
Aus der Kurier-Kolumne »Geschichten mit Geschichte« (8. April 2007)